Über die Autorinnen
Lena Hach, geboren 1982, lebt als freie Autorin in Berlin. Sie besuchte eine Schule für Clowns, studierte Literatur und Kreatives Schreiben und arbeitete als Journalistin. Bei Beltz & Gelberg erschienen bislang die Romane »Wanted. Ja. Nein. Vielleicht«, »Kawasaki hält alle in Atem« und »Zoom. Alles entwickelt sich«.
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Marie Geißler lebt und arbeitet als Illustratorin in Berlin, seit Oktober 2009 ist sie Mitglied der Ateliergemeinschaft »Musenstube« in Neukölln. Sie hat Visuelle Kommunikation mit Schwerpunkt Illustration in Weimar und Valencia studiert.
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Impressum
Ebenfalls lieferbar »Kawasaki hält alle in Atem« im Unterricht
in der Reihe Lesen – Verstehen – Lernen
ISBN 978-3-407-62985-2
Beltz Medien-Service, Postfach 10 05 65, 69445 Weinheim
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Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-74727-3)
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© 2014, 2016 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
Neue Rechtschreibung
Einband- und Innenillustrationen: Marie Geißler
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74574-3
Für Oscar
(L. H.)
Die alte Marmeladenfabrik
In der alten Marmeladenfabrik, gleich am Flussufer, brannte in der Wohnung ganz oben links das Licht oft bis tief in die Nacht hinein. Orangegolden leuchtete es aus den riesigen Fenstern. Spaziergänger, die so spät noch unterwegs waren, weil sie nicht schlafen konnten, sahen hin und wieder den Schatten eines kleinen Mannes an den Scheiben vorbeiflitzen.
Wenn die Schlaflosen etwas näher an der alten Fabrik entlang liefen, reckten sie ihre Nasen in die Luft und schnupperten. Wehte ihnen da der Duft von Karamell und reifen Pflaumen entgegen? Und war das nicht der Geruch von süßen Himbeeren? Aber die nächste Brise schickte den Leuten wieder den Maschinenölduft der schnarchenden Schiffe in die Nasen. Sie schüttelten den Kopf und lachten über sich selbst. Immerhin war die alte Fabrik schon seit Jahren stillgelegt! Woher sollten sie auch wissen, dass in dieser einen Wohnung tatsächlich immer noch Marmelade gekocht wurde?
»Für eine Marmeladenfabrik gehört sich das so!«, hatte Hubertus Nussbaum, der Mieter der Dachwohnung, beschlossen. Und weil Hubertus Nussbaum tagsüber in der großen Bibliothek der Stadt Bücher abstauben, einsortieren und aussortieren musste, hatte er das Marmeladekochen auf nachts verlegt. Dabei hörte er stets Musik, am liebsten Beethoven. Denn Hubertus Nussbaum hatte festgestellt, dass eine Marmelade erst durch die Mondscheinsonate wirklich köstlich wird. »Nur bei einem Gelee rate ich zu Mozart, sonst wird es klumpig«, pflegte Hubertus Nussbaum zu sich selbst zu sagen. Er sprach fast ausschließlich mit sich selbst, da er überaus schüchtern war.
Manchmal jedoch nahm das nächtliche Einkochen ein frühes Ende. Denn Herr und Frau Schnitte, die in der Wohnung unter Hubertus Nussbaum wohnten, hatten es sich leider angewöhnt, nachts zu schlafen. Und gegen Gewohnheiten kommt man schwer an.
Wenn, meist so gegen Mitternacht, die ersten Takte der Mondscheinsonate erklangen, blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu dem Besen zu greifen, der neben dem Bett bereitlag. Dann stellte Herr Schnitte sich breitbeinig auf die Matratze, was ein nicht zu unterschätzendes Gespür für Balance erforderte, und Frau Schnitte kletterte über die Hüfte ihres Ehemannes auf seine Schultern. Sobald sie ihn mit ihren Beinen so fest umschlungen hielt, dass ihm die Luft wegzubleiben drohte, reichte er ihr den Besen – und Frau Schnitte klopfte und klopfte und klopfte, bis ihr der Putz auf den Kopf rieselte. In dem Moment sahen Herr und Frau Schnitte aus wie ein Akrobatenpärchen in einer Schneekugel.
Meistens hatten sie mit ihrer Nummer Erfolg und die Musik über ihnen verstummte. Hin und wieder jedoch konnte Frau Schnitte, die zehn Jahre Blockflötenunterricht hinter sich hatte, nicht anders, als im Takt zu klopfen. Das wiederum verstand Hubertus Nussbaum als Zustimmung und drehte die Musik lauter. In solchen Nächten standen irgendwann zwei müde Gestalten in gestreiften Pyjamas vor seiner Wohnungstür und klingelten Sturm. Beim Anblick der vor Wut erdbeerroten Köpfe seiner Nachbarn konnte Hubertus Nussbaum nicht anders, als an die prächtige Marmelade zu denken, die ihm soeben gelungen war.
Doch Hubertus Nussbaum war ein sehr höflicher Mensch; er wollte niemandem auf die Nerven fallen. Also stellte er seinen Untendrunter-Nachbarn am nächsten Tag zur Entschuldigung ein Glas frisch gekochte Marmelade vor ihre Wohnung. Dann eilte er durch das Treppenhaus weiter nach unten. Draußen wich er dem seltsamen Mädchen aus, das er insgeheim »Hofmädchen« getauft hatte, weil es den ganzen Tag dort herumsaß, und verließ die Marmeladenfabrik in Richtung Bibliothek.
Dort war er für die Sachbuchabteilung zuständig. Am liebsten verbrachte Hubertus Nussbaum seine Stunden ganz hinten, bei den Regalen, die für die Geografie reserviert waren. Hier wurde er nur selten gestört. Zwischen den dicken Atlanten, zusammengerollten Landkarten und Bildbänden über Vulkane und Erdschichten, Wüsten und Ozeane kannte Hubertus Nussbaum sich prima aus. Wenn man Hubertus Nussbaum zum Beispiel fragte: »Ich fahre nächsten Sommer in die Toskana, haben Sie dazu vielleicht ein schönes Buch?«, nickte er spätestens bei dem Wort »vielleicht« und sagte: »Zwei Regale in diese Richtung, bitte, drittes Regalbrett von unten.«
Oder wenn ein besorgter Schüler in die Bibliothek eilte, um sich in letzter Minute auf ein Referat über Erdbeben vorzubereiten, griff Hubertus Nussbaum sekundenschnell alle nötigen Bücher. Dazu konnte er noch verraten, dass in diesem Buch Seite 30 besonders wichtig und in jenem eigentlich nur die Zusammenfassung am Schluss lesenswert war.
Bei all der Begeisterung für Geografie könnte man vielleicht annehmen, dass Hubertus Nussbaum selbst viel reiste. Aber weit gefehlt: Hubertus Nussbaum hatte die Stadt noch nie, nicht ein einziges Mal, verlassen. Nun gut, einmal war er in Paris gewesen, sogar auf dem Eiffelturm. Aber weil Hubertus Nussbaum sich nicht mehr daran erinnern konnte, zählte es nicht so richtig. Vielleicht lag es daran, dass er zu dem Zeitpunkt noch mit seiner Zwillingsschwester Sasa um den Platz im Bauch ihrer Mutter geboxt hatte.
Hubertus Nussbaum war zum Reisen einfach viel zu schüchtern. Wie er überhaupt für alles Mögliche zu schüchtern war. So fiel es ihm beispielsweise nur in der Bibliothek leicht, mit anderen Menschen zu reden. Denn hier trug er ein kleines, weißes Schildchen an der Brust, das verriet, dass er sich auskannte. Da sprachen die Leute ihn an, weil sie was von ihm wollten. Aber Hubertus Nussbaum hätte eher einen Globus verschluckt, als einen Fremden anzusprechen. Und für Hubertus Nussbaum war eigentlich jeder fremd. Aus diesem Grund verbrachte er seinen Urlaub stets in seinem Schrebergarten zwischen den Hochhäusern. Hier erntete er die Zutaten für seine Marmeladen und Gelees. Das war alles Mögliche mit »Beeren« hintendran. Himbeeren und Erdbeeren, Stachelbeeren und Johannisbeeren. Doch als Hubertus Nussbaum vor nicht allzu langer Zeit beim Abstauben in der Bibliothek das Buch Schmackhaftes Indien auf den Kopf gefallen war, wurde er neugierig, auch einmal eines dieser merkwürdigen Chutneys auszuprobieren. Das war angeblich eine Art süßsaure Marmelade. Von so etwas hatte Hubertus Nussbaum noch nie gehört! Stundenlang hatte er in dem Kochbuch gelesen, das Wasser war ihm im Mund zusammengelaufen. Schließlich war ein Spuckefaden direkt auf einem Rezept für Kürbis-Rosinen-Chutney gelandet. »Das ist ein Zeichen«, hatte Hubertus Nussbaum gemurmelt und beschlossen, in seinem Garten Kürbispflanzen zu setzen.
So kam es, dass in seinem Schrebergarten jetzt, Mitte Oktober, lauter pralle Kürbisse aufeinandergestapelt ihren Duft verströmten und darauf warteten, zu einem leuchtend gelben Chutney verarbeitet zu werden. Vielleicht würde Hubertus Nussbaum schon heute Abend damit anfangen!
Unerwarteter Besuch
Eine kräftige Windböe wehte Hubertus Nussbaum in seiner Mittagspause geradewegs in die Bäckerei, die gegenüber der Bibliothek die besten Mohnbrötchen der Stadt verkaufte. Wahrscheinlich waren es sogar die besten Mohnbrötchen der Welt. Aber so ganz sicher konnte sich Hubertus Nussbaum nicht sein, da er ja nie woandershin reiste.
Der Verkäufer mit den Wangen wie zwei Kirschplunder lächelte Hubertus Nussbaum zu und reichte ihm eine Tüte über die Theke. Da Hubertus Nussbaum in jeder Mittagspause hier vorbeikam, wusste man, was er wollte (ein Brötchen mit Mohn, eines ohne alles), und er brauchte nicht einmal den Mund aufzumachen. Das kam Hubertus Nussbaum natürlich sehr gelegen. Er schob dem Verkäufer das abgezählte Kleingeld zu, winkte kurz und war schon wieder auf der Straße.
Mit klappernden Zähnen eilte Hubertus Nussbaum über die Steintreppen der Bibliothek. Es war aber auch wirklich ein ausgesprochen kalter Tag! Ihm wurde erst wieder warm, als er in der Pausenküche seine heiße Teetasse mit beiden Händen umfasste. Er nickte seinen Kollegen kurz zu – seinetwegen konnten sie ihn seltsam nennen, aber auf keinen Fall unfreundlich – und machte sich auf den Weg in seine Abteilung.
Da die Besucher keine Getränke in die Bibliothek mitnehmen durften, versteckte Hubertus die Tasse auf dem Weg zu seinem Lieblingsplatz unter seinem geringelten Schal. Gleich würde er es sich zwischen den Regalen Nummer 42 und 43 auf seinem kleinen Hocker gemütlich machen. Hinter Finkes Kleiner Geschichte der großen, weiten Welt würde Hubertus Nussbaum ein kleines Glas Himbeermarmelade hervorholen und die noch warmen Brötchen dick bestreichen. Erst gestern war ein antiquarisches Buch über indonesische Muscheln angekommen, darin wollte er in aller Ruhe schmökern. Hubertus Nussbaum summte vergnügt vor sich hin. Er gab dem alten Globus in Regal 42 einen kleinen Stups und wollte gerade um die Ecke biegen. Da hätte er beinahe seine Teetasse fallen lassen.
Dort hatte es sich jemand in seinem Gang gemütlich gemacht!
Auf seinem Hocker!
In seiner Mittagspause!
Und wenn Hubertus Nussbaum nicht alles täuschte, benutzte dieser Jemand, den er nur von hinten sah, das Buch über die Muschelarten Indonesiens als Fußablage! Hoffentlich waren die Schuhe wenigstens frisch geputzt! Auf den zweiten Blick fiel Hubertus Nussbaum die wild abstehende, watteweiße Haarpracht des Platzdiebs auf. Er hielt die Luft an. Das konnte doch nicht …? Das musste doch …! Jetzt drehte der Platzdieb sich um und rief laut und deutlich bis ans andere Ende der Bibliothek (und wahrscheinlich sogar bis ans andere Ende der Stadt): »Huuubiii!«
Kein Zweifel. Der Platzdieb war keine Geringere als seine Zwillingsschwester Sasa.
»Hubi!«, rief sie mit ihrer rauen Stimme jetzt ein zweites Mal. Dabei kniff sie die Augen hinter ihrer silbernen Brille zusammen. »Deine Schultern hängen wie eh und je!«
»Sasa«, hauchte Hubertus Nussbaum und räusperte sich. »Wie schön, dich zu sehen!«
Er gab sich alle Mühe, beim Sprechen nicht nach oben links zu schauen. Denn er hatte gelesen, dass man daran Lügner erkennen konnte.
»Du lügst!«, rief Sasa begeistert und breitete ihre langen Arme aus, wickelte sie um Hubertus Nussbaum und drückte ihn an ihren enormen Busen. Hubertus Nussbaum schnappte nach Luft. Sasa roch nach Flieder und nach einem Hauch Erde, vermischt mit etwas, das zugleich süßlich und vergärt war. Merkwürdig.
Hubertus Nussbaum mochte seine Schwester, er mochte sie wirklich. Er mochte sie so sehr, dass er jede der Postkarten, die sie ihm geschrieben hatte, in seiner Küche aufgehängt hatte. Nur noch neun Fliesen waren blassgelb und postkartenlos. Auf all den anderen klebten neben ausgeschnittenen Marmeladenrezepten verschiedenste Sandstrände und Steilklippen neben Notre-Dame, Big Ben und Mount Rushmore. Sasa war eine ebenso leidenschaftliche wie erfolgreiche Fotografin und reiste durch die ganze Welt, immer war sie auf der Suche nach neuen Motiven. Und von jedem Zwischenstopp schrieb sie ihrem Bruder eine Karte. Nur von Japan hatte Sasa es leider nicht geschafft. Wegen einer Grippe hatte sie nicht mehr als den Flughafen und das Hotelzimmer gesehen. »Und Hotelpostkarten sind nun mal fad wie ungesalzene Mozzarella-Kugeln, Hubi!«, hatte sie damals gesagt. »Da kann ich dir gleich einen Werbeprospekt schicken.«
Jetzt schielte sie verdächtig auf die Brötchentüte in Hubertus Nussbaums Hand.
»Möchtest du vielleicht –?«, begann Hubertus Nussbaum, und da hatte sich Sasa auch schon die Tüte geschnappt und einen Blick hineingeworfen.
»Mohn!«, rief sie begeistert. »Darf ich?«
Hubertus Nussbaum nickte, zog Finkes Kleine Geschichte der großen, weiten Welt ein Stück vor und bot seiner Schwester auch etwas Marmelade an. Gierig tunkte Sasa das erste Brötchen direkt in das Marmeladenglas und leckte sich mit der Zunge über die Lippen. Dabei verschwand die rosa schimmernde Farbe, auf die sie sonst so viel Wert legte.
»Hubiherz, ich bin ja so ausgehungert!«, sagte Sasa und bediente sich wieder an der Marmelade. »Seit 28 Stunden bin ich unterwegs. Sydney, Singapur. Na, du weißt ja, wie das ist.«
Hubertus Nussbaum nickte. Dabei wusste er es natürlich nicht, woher auch? Als Kind hatte er vermutet, Sasa habe einen Turboantrieb an ihrem Körper versteckt. Während sie schlief, hatte er heimlich die Bettdecke angehoben und nach irgendwelchen Generatoren oder Turbinen Ausschau gehalten. Aber alles, was er an Sasa entdeckt hatte, war ein eingerissener Zehennagel. Schließlich hatte Hubertus Nussbaum sich damit abgefunden, dass Sasa einfach so war, wie sie war.
Anstrengend. Und liebenswert.
Hubertus Nussbaum setzte sich auf die speckige Reisetasche seiner Schwester und betrachtete sie. Gut sah sie aus! Ihre grünen Augen strahlten. Jetzt krempelte sie die Ärmel ihres türkisfarbenen Flatterhemds so weit hoch, dass man ihre braun gebrannten Arme bewundern konnte.
»Wie lang bleibst du?«, fragte Hubertus Nussbaum und nahm Sasas Kamera in die Hände.
»Ach Hubi«, seufzte Sasa. »Bis vor Kurzem hatte ich noch gehofft, ich könnte vielleicht mal etwas länger bleiben. Aber dann habe ich diesen Anruf gekriegt.« Sasa fuchtelte mit ihrem Handy in der Luft herum.
»Ein Auftrag, Hubiherz, das kannst du dir nicht vorstellen! Mit dem Helikopter über den Norden Schottlands! Fotos machen für einen Kalender, den die Queen ihren 1256 Angehörigen schenken will. Ich meine, Elizabeth die Zweite!«
»Alexandra Mary«, sagte Hubertus Nussbaum. Sasa schaute ihn irritiert an.
»Ihr zweiter und dritter Vorname«, erklärte Hubertus Nussbaum seiner Schwester. »Elizabeth. Alexandra. Mary. Ich habe erst kürzlich die Neuerscheinung Queen. Mehr als ein Beruf ins Regal geräumt.«
Aber Sasa hörte gar nicht richtig zu. Vor lauter Vorfreude funkelten ihre Augen so sehr, dass Hubertus Nussbaum sich auf ihre Nasenspitze konzentrieren musste, damit ihm nicht schwindlig wurde.
»Das Dumme ist nur, ich muss heute Abend noch abreisen. Eine Elizabeth Alexandra Manuela lässt man nicht warten. Du verstehst?«
»Mary«, verbesserte Hubertus Nussbaum und nickte: »Dann bleibst du das nächste Mal eben einfach länger.«
Er hätte nie zugegeben, dass es ihm so eigentlich ganz recht war. Sasa zu Besuch zu haben bedeutete immer jede Menge Chaos. Das letzte Mal hatte sie sein Badezimmer in eine Dunkelkammer verwandelt, sämtliche Glühbirnen rausgedreht und literweise stinkenden Entwickler in die Wanne gekippt. Als er seine Wäsche aufhängen wollte, trockneten auf dem Ständer bereits lauter Schwarz-Weiß-Fotos, die er »unter keinen Umständen« berühren durfte. Hubertus Nussbaum hatte es versprochen, aber das hatte Sasa nicht gereicht. Sie hatte Hubertus Nussbaum den außerordentlichen Zwillingsschwur dritten Grades abgenommen, für den sie wie zwei Häuptlinge durch das Bad tanzen mussten.
Schließlich hatte er eine Angelschnur quer durch das Wohnzimmer gespannt, um seine nassen Socken und Unterhosen irgendwo unterzubringen. Am gleichen Tag hatte Sasa in seinem besten Kochtopf eine giftgrüne Antifaltenmaske angerührt. Hubertus Nussbaum war sich sicher, dass seine nächste Marmeladenladung nur aus diesem Grund einen gewöhnungsbedürftigen Nachgeschmack gehabt hatte: Gurke und faule Eier.
»Du bist immer so verständnisvoll, Hubi«, seufzte Sasa und schaute auf ihre Uhr. »Oh, ich muss auch schon wieder los.« Sie befeuchtete ihre Fingerspitzen, tupfte die letzten Brötchenkrümel von ihrem Hemd und steckte sie sich in den Mund.
»Lass dich zum Abschied noch mal drücken«, verlangte sie und hatte Hubertus Nussbaum auch schon an sich gezogen. Er schnupperte. Mit einem Mal wusste Hubertus Nussbaum, nach was Sasa roch. Kürbis.
Plötzlich Zahnschmerzen
Hubertus Nussbaum sah seiner Schwester nach. Trotz Gepäck eilte Sasa in beeindruckendem Tempo über die Gänge der Bibliothek davon. Ihre Haare sahen aus wie eine Wolke, die sich verflogen hatte und nun ihren Weg nach draußen suchte. Vor der Drehtür bremste die Wolke plötzlich ab; Sasa war stehen geblieben, um ihrem Bruder noch einmal zuzuwinken. Hubertus Nussbaum winkte zurück und lächelte. Doch auf seiner Stirn waren tiefe Falten zu sehen.