Dick Francis
Verrechnet
Roman
Aus dem Englischen von
Malte Krutzsch
Titel der 1996 bei
Michael Joseph Ltd., London,
erschienenen Originalausgabe:
›To the Hilt‹
Copyright © 1965 by Dick Francis
Die deutsche Erstausgabe
erschien 1998 im Diogenes Verlag
Umschlagillustration von
Tomi Ungerer
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2015
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23138 0 (6. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60641 6
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
Mehr braucht man nicht zu wissen,
bevor man aufbricht zu jener plötzlichen Reise,
als was der Seele zugerechnet wird,
an Gutem und an Bösem, nach dem Sterbetag.
Bedes Sterbelied
[7] 1
Ich glaube nicht, daß mein Stiefvater noch sehr am Leben hing. Daß er mich beinah mit in den Tod nahm, war eigentlich nicht seine Schuld.
Meine Mutter schrieb mir eine Karte – »Ich wollte es Dir nur sagen, Dein Stiefvater hatte einen Herzanfall« –, die ich ungläubig vor der abgelegenen schottischen Poststelle las, bei der ich alle zwei Wochen meine Briefe abholte. Die Karte war vor etwa zehn Tagen gekommen.
Obwohl mein Stiefvater mir nicht sehr nahestand, ging ich bestürzt wieder in den kramigen kleinen Laden und bat, telefonieren zu dürfen.
»Gegen Erstattung der Gebühr, Mr. Kinloch?«
»Selbstverständlich.«
Mit dem Kopf nickend klappte der mürrische alte Donald Cameron die Schranke an der Theke hoch und ließ mich an sein eifersüchtig gehütetes Wandtelefon. Er war es gewohnt, Kunden bei sich telefonieren zu lassen, denn der eigens für die wenigen Bewohner der Gegend aufgestellte Münzfernsprecher draußen überstand keine Reparatur länger als eine halbe Stunde. Da Donald fürs Anrufen immer einen Aufpreis verlangte, glaubte ich insgeheim, daß er den nicht so rentablen Fernsprecher vor seiner Tür regelmäßig selbst außer Betrieb setzte.
[8] »Mutter?« sagte ich, als ich sie schließlich in London erreichte. »Hier ist Al.«
»Alexander«, verbesserte sie unwillkürlich, da ihr die Kurzform mißfiel, »bist du in Schottland?«
»Ja. Was ist mit dem alten Herrn?«
»Dein Stiefvater ruht«, sagte sie zurechtweisend.
»Ehm… wo ruht er? Im Krankenhaus? In Frieden?«
»Im Bett«, sagte sie.
»Er lebt also?«
»Natürlich lebt er.«
»Aber nach deiner Karte…«
»Kein Grund zur Aufregung«, sagte sie ruhig. »Er hatte Schmerzen in der Brust und war zur Untersuchung und Stabilisierung acht Tage im Krankenhaus, und jetzt ruht er sich hier zu Hause aus.«
»Soll ich kommen?« fragte ich. »Brauchst du Hilfe?«
»Er hat einen Pfleger«, sagte sie.
Manchmal kam es mir vor, als beruhe die unerschütterliche Gelassenheit meiner Mutter auf einer angeborenen Gefühlsarmut. Noch nie hatte ich sie weinen sehen, nie Tränen in ihrer Stimme gehört, nicht einmal, als ihr erster Mann, mein Vater, bei der Jagd im Moor versehentlich erschossen wurde, als ich siebzehn war. Mich hatte sein plötzlicher Tod zutiefst verstört. Meine Mutter ermahnte mich trockenen Auges, mich zusammenzunehmen.
Ein Jahr später hatte sie ernst und würdevoll Ivan George Westering geheiratet, Baronet, Bierbrauer, Stütze des britischen Jockey-Clubs, meinen Stiefvater. Kein herrischer Mensch, eher großherzig; aber er mißbilligte, wie ich lebte. Wir waren höflich zueinander.
[9] »Wie krank ist er?« fragte ich.
»Du kannst kommen, wenn du willst«, sagte meine Mutter. »Es liegt ganz bei dir.«
Trotz des beiläufigen Tons, der sorgsam gewahrten Zurückhaltung klang das mehr nach einer Bitte, als ich es gewohnt war.
»Morgen bin ich da«, sagte ich kurz entschlossen.
»Bestimmt?« Von Erleichterung, von Freude jedoch keine Spur.
»Bestimmt.«
»Na gut.«
Ich drückte Donald das Wuchertelefongeld in die aufgehaltene Klaue und ging raus zu meinem vollgeladenen, verbeulten alten Geländewagen. Er hatte einen guten Vierradantrieb, gute Bremsen, gute Reifen, aber nicht mehr viel Lack auf dem Blech. Im Augenblick enthielt er Lebensmittel für zwei Wochen, eine große Flasche Butangas, Batterien, Tafelwasser, Insektenvertilger und drei braune Postpakete mit Material, das ich für meine Arbeit benötigte.
Ich war Maler. Ich lebte in einer verfallenen ehemaligen Schäferhütte an einem schottischen Berghang mit viel Wind und ohne Strom. Meine Haare gingen bis auf die Schultern. Ich spielte den Dudelsack. Meine zahlreichen, ziemlich wohlgeborenen Verwandten hielten mich für komisch.
Mancher kommt als Sonderling zur Welt, mancher lernt erst, es zu sein, anderen wird die Rolle aufgedrängt. Mir waren Einsamkeit und Farben lieber als der trickreiche Lachsfang oder die Pirsch auf irgendwelches Wild; die Künste und Fertigkeiten meiner ländlichen Vorfahren lagen mir nur unvollkommen im Blut. Ich war der [10] neunundzwanzigjährige Sohn des (toten) vierten Sohns eines Grafen und besaß keine unverdienten Reichtümer. Ich hatte drei Onkel, vier Tanten und einundzwanzig Vettern und Cousinen. In einer so großen (und konventionellen) Familie mußte irgend jemand komisch sein, und offenbar hatte es mich getroffen.
Mir war es gleich. Der verrückte Alexander: kleckst mit Farben herum. Und noch nicht mal mit Öl, Herrschaften, sondern mit hundsgemeinem Acryl.
Hätte Michelangelo Acrylfarben haben können, sagte ich immer, dann hätte er sie mit Freuden verwendet. Acryl war unendlich vielseitig und verblaßte nicht. Es war dem Öl in jeder Hinsicht überlegen.
Mach dich nicht lächerlich, Alexander!
Ich gab meinem Onkel (dem jetzigen Grafen, »Höchstselbst« genannt) als Miete für die Bruchbude, die ich auf seinem Land bewohnte, pro Jahr ein Gemälde. Das Motiv durfte er frei wählen. Meistens wollte er Bilder von seinen Pferden und Hunden. Ich malte sie ihm gern.
Meinen Papierkram erledigte ich an diesem bedeckten, trockenkalten Septembermorgen gleich vor dem Postamt in meiner jeepähnlichen alten Kiste. Es waren nur ein paar Briefe durchzusehen und zu beantworten. Dazu kamen zwei Schecks für verkaufte Arbeiten, die ich meiner Bank schickte, und aus Amerika war wieder eine Eilbestellung für sechs Bilder mitgekommen – je schneller, je lieber. Der verrückte, lächerliche Alexander war auf seine komische Art ganz gut im Geschäft; doch das posaunte er nicht aus.
Als die Schreibarbeit getan war, fuhr ich Richtung Norden, zuerst auf normaler Straße, dann auf grobem Schotter und schließlich einen langen, nur an seinen Furchen [11] erkennbaren Weg hinauf, der nirgendwo hinführte außer zu meiner namenlosen Hütte in den Monadhliathbergen. »Zwischen Loch Ness und Aviemore«, erklärte ich immer; und, nein, das Ungeheuer sei mir noch nicht begegnet.
Die unbekannten Erbauer meiner uralten Schutzhütte hatten ihren Standort gut gewählt: Sie war direkt in einen gewinkelten Granitfelsen hineingebaut, der sie nach Norden und Osten abschirmte, so daß die Schneestürme im Winter meist über sie hinwegfegten. Nach vorn zu lag ein kleines Felsplateau mit einem Steilabfall am anderen Ende und freier Sicht auf Täler, Hügel und die Landstraße tief unten.
Der Haken an der Landstraße war, daß sie mich immer wieder an die real existierende Außenwelt erinnerte, denn meine Behausung war von dort unten aus zu sehen, und viel zu oft fanden Fremde den Weg zu mir, kurzbehoste Wanderer mit Landkarten, zentnerschweren Bergstiefeln und unerschöpflicher Energie. Kein Fleckchen Erde war vor Neugierigen sicher.
Als ich mit Mutters Postkarte nach Hause kam, schnüffelte gleich ein ganzes Quartett ungehemmt dort herum. Männer. Blaue, rote, orangefarbene Rucksäcke. Brillen. Südenglischer Dialekt.
Die Zeiten, da ich Besucher zu gemütlicher Plauderei bei einer Tasse Tee eingeladen hatte, waren längst vorbei. Gereizt hielt ich vor den Störenfrieden auf dem Plateau, schaltete den Motor aus, zog den Schlüssel ab und ging auf meine Haustür zu.
Die vier Männer hörten auf herumzuschnüffeln und bauten sich im Zickzack vor mir auf.
[12] »Keiner zu Hause«, rief einer von ihnen. »Alles dicht hier.«
»Was wollen Sie denn?« fragte ich ruhig.
»Wir wollen zu dem, der hier wohnt«, gab einer zurück.
»Sind Sie das vielleicht?« sagte ein anderer.
Irgend etwas kam mir plötzlich merkwürdig vor. Die drucksten nicht herum wie ertappte Eindringlinge. Keiner trat von einem Bein aufs andere. Ihre Mienen baten nicht um Verständnis oder Entschuldigung, sondern waren grimmig konzentriert.
Ich blieb stehen und fragte noch einmal: »Was wollen Sie?«
Der mich zuerst angesprochen hatte, sagte: »Raus damit.«
Ich verspürte den starken Drang, Reißaus zu nehmen, und wünschte hinterher, ich hätte auf die uralte Stimme der Vorsicht gehört, aber so ganz erschienen kniezeigende Wandersleute irgendwie nicht als Bedrohung.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sagte ich und beging den Fehler, ihnen den Rücken zu kehren und wieder in Richtung Jeep zu gehen.
Ihre schweren Treter knirschten hinter mir auf dem steinigen Boden, aber wirklich Unheil schwante mir erst, als sie mich dann packten und rumdrehten und gezielt und entschlossen auf mich einschlugen. Wie aus wechselnden Facetten zusammengesetzt sah ich die bösen Gesichter, den Widerschein grauen Tageslichts auf ihren unpassenden Brillen, die hammerhart fliegenden Fäuste und das wegkippende Panorama der unbeteiligten Berge, als ich mich, schwer in den Unterleib getroffen, vor Schmerzen krümmte. [13] Nackenschlag. Kurze Haken in die Rippen. Das klassische Muster. Wieder und wieder. Zack, zackzack, zack.
Ich trug Jeans, Hemd und Pullover: als Panzerung so gut wie Pauspapier. Von ernsthafter Gegenwehr konnte keine Rede sein. Ich kam nicht zu Atem. Wütend schlug ich um mich, aber sie waren ein vielarmiger Krake. Pech.
Einer der Männer sagte beharrlich immerzu: »Raus damit! Raus damit!«, aber seine Kollegen nahmen mir die Möglichkeit, zu fragen, womit.
Meinten sie Geld? Ich hatte nur wenig bei mir. Das durften sie gern haben, dachte ich benommen, wenn sie mich dafür in Ruhe ließen. Mein schmaler Schlüsselbund flog mir aus der Hand, und schon hatte ihn sich einer gekrallt.
Irgendwie stand ich plötzlich mit dem Rücken am Jeep: es ging nicht weiter. Einer der vier griff mir in die Haare und knallte meinen Kopf aufs Blech. Ich zerkratzte ihm die Backe und bekam dafür einen Kopfstoß, der von meinem Schädel direkt in die wegknickenden Knie fuhr.
Alles verschwamm. Ich ging mit dem Gesicht voran zu Boden. Sah aus nächster Nähe graues Granitgestein und kümmerliche dürre Grashalme, mehr braun als grün.
»Raus damit!«
Ich gab keine Antwort. Rührte mich nicht. Schloß die Augen. Ließ mich treiben.
»Der ist weg«, sagte eine Stimme. »Habt ihr ja toll hingekriegt.«
Unsanft wurden meine Taschen durchsucht. Widerstand hätte mir nur noch mehr blaue Flecke eingebracht. Ich war nicht bei vollem Bewußtsein und blieb still liegen, wie [14] eingelullt, wütend, aber saft- und kraftlos, zur Untätigkeit verurteilt.
Nach einer Zeit des Dahintreibens spürte ich ihre Hände wieder auf mir.
»Lebt er noch?«
»Ja, auch wenn ihr nichts dafür könnt. Er atmet.«
»Lassen wir ihn liegen.«
»Schmeißt ihn da runter.«
Mit »da runter« meinten sie den Rand des Plateaus, aber das begriff ich erst, als sie mich über den Boden geschleift, mich gepackt und hinuntergeworfen hatten. Schnell und immer schneller rollte ich den Steilhang hinab, prallte fast wie ein Ball von Fels zu Fels und konnte mir noch immer nicht helfen, den Fall nicht bremsen, spürte nur undeutlich, wie Strudel von Schmerz mich durchströmten.
Ich schlug auf einem größeren Fels auf und blieb halb auf der Seite, halb auf dem Bauch dort liegen. Die Freude war gering. Ich fühlte mich gerädert. Erschlagen. Benommen. Blendete mich aus.
Eine verrückte Art von Bewußtsein stellte sich bald wieder ein, aber die Übersicht kam erst viel später.
Verdammte Wanderer, dachte ich schließlich. Unvergessene Gesichter. Ich konnte sie zeichnen. Es waren Dämonen in einem Traum.
Dann wußte ich auch wieder, wer ich war und wo ich war.
Ich versuchte aufzustehen. Ein Fehler.
Mit der Zeit ging es vielleicht wieder. Laß dir Zeit.
Die Wanderer waren real gewesen, begriff ich, ob Dämonen oder nicht. Ihre Fäuste waren real. »Raus damit!« war [15] real. Trotz allem mußte ich ein wenig lächeln. Sie hatten vielleicht gar nicht genau gewußt, was sie wollten. »Damit« konnte alles sein, was dem Opfer am Herzen lag. Und auch wer damit herausrückte, konnte noch in den Abgrund geworfen werden.
Sieh nach, wie spät es ist, dachte ich. Ich schaute auf mein linkes Handgelenk, aber die Uhr war fort.
Gegen elf war ich von der Post zurückgekommen…
Ach du Schreck, dachte ich plötzlich. Mutter. Ivan. Herzanfall. Ich wollte doch nach London. Lichtjahre entfernt.
Gar nichts zu fühlen, überlegte ich, wäre das Schlimmste.
Ich fühlte.
Mit einer Willensanstrengung stellte ich fest, daß ich die Finger und die Zehen bewegen konnte. Alles andere tat mir zu weh. Die geschundenen Muskeln verkrampften sich in Notwehr, daß es mir den Atem nahm.
Warten. Still liegen. Frieren.
Wie konnte sich jemand vor der eigenen Haustür überfallen lassen? Peinlich. Ich war keine wehrlose alte Oma, aber ich hatte verdammt alt ausgesehen.
Die Kaltschnäuzigkeit der Wanderer erschien mir extrem. Es war ihnen offenbar gleich, ob ich starb oder am Leben blieb – sie hatten es dem Zufall überlassen. So durften sie dann mit Recht sagen: »Als wir weg sind, hat er noch gelebt.« Mit »Mord« konnte ihnen niemand kommen.
Ein wenig erholte sich mein Körper. Ich konnte mich wieder bewegen, ohne Krämpfe zu bekommen. Jetzt brauchte ich mich nur noch vom Berg loszureißen und in den Zug zu steigen. Schon der Gedanke machte mich fertig.
Nach einiger Zeit war ich sicher, daß ich unerhört [16] Schwein gehabt und mir bei dem rasenden Sturz nichts gebrochen hatte. Wie eine Stoffpuppe. Kleinkinder fallen mitunter glücklich, weil sie sich nicht wehren. Wahrscheinlich war es das gleiche Prinzip.
Mit einem kläglichen Stöhnen kniete ich mich auf den Felsvorsprung und sah mir an, wo ich heruntergekommen war. Der Rand des Plateaus war hinter Felsblöcken verborgen, doch erschreckend weit oben. Der Blick nach unten war fast noch schlimmer, aber da ich seit fünf Jahren dort lebte, wußte ich sofort, wie ich wieder zur Schutzhütte kam. Wenn ich mich rechts hielt und nicht den Halt verlor und noch weiter abstürzte, konnte ich den holprigen Kletterpfad erreichen, der von der Straße unten zu meiner Hütte hinaufführte: den halb versteckten, herausfordernd steilen Weg, der Wanderer an meine Tür brachte.
Die vier Wanderdämonen waren sicher auch dort heraufgekommen. Auf keinen Fall wollte ich ihnen bei ihrem Abstieg begegnen. Wahrscheinlich waren aber Stunden vergangen. Ich wußte, daß ich lange hilflos auf dem Vorsprung gelegen hatte. Sie mußten längst weg sein.
Realistisch gesehen gab es für mich nur den freien Fall in die Tiefe oder den Kletterpfad. Wanderer hin, Wanderer her, es war der einzige Ausweg. Den Weg auf der anderen Seite erreichen zu wollen, der vom Postamt heraufführte, war illusorisch, denn dazwischen lagen eine Felswand und ein Überhang, für die man eine Kletterausrüstung brauchte.
Ich war oft allein in den Bergen unterwegs, und ich paßte immer auf. Was mir jetzt bevorstand, hätte ich normalerweise nicht ohne Pickel und Steigeisen riskiert und schon gar nicht mit diesen bei jeder Bewegung schmerzenden [17] Knochen, aber aus Angst vor einem weniger glimpflichen Sturz, vor einem Beinbruch oder Schlimmerem wurde ich zur Klette, grub die Fingernägel in jedes herausstehende Stück Fels und rückte zentimeterweise vor. Steine lösten sich und rasselten in die Tiefe. Das bißchen Erde bot kaum Halt. Der Fels war alles.
Ich bewältigte den Weg im Sitzen, die Augen auf dem Steilabfall ins Tal, die Hacken in die Wand gestemmt, sachte, sachte… sachte.
Der Pfad, endlich erreicht, war im Vergleich damit ein Boulevard.
Matt und froh verschnaufte ich auf einer der Felsstufen: schlang die Arme um die Knie, ließ den Kopf hängen, suchte Gelassenheit in einem Streß- und Schmerzzustand, der keineswegs leicht auszuhalten war.
Diese Schweine, dachte ich. Die ohnmächtige Wut aller Verbrechensopfer packte mich. In was für einer jämmerlichen Verfassung ich war! Hätte ich mich bloß gewehrt!
Von meinem Platz aus konnte ich den größten Teil des Wegs hinab zur Straße überblicken. Keine roten, blauen oder orangefarbenen Rucksäcke in Sicht. Der Teufel hol sie, dachte ich; verdammtes Pack; so eine Scheiße.
Hinter mir und über mir war es still, da schien niemand zu sein. Daß mir gar keine andere Möglichkeit blieb als nachzusehen, machte den Weg zwar kaum angenehmer, aber ich konnte nicht ewig bleiben, wo ich war.
Mit zaudernden Muskeln und bangen Befürchtungen rappelte ich mich hoch und kletterte weiter.
Keine üblen Visagen grinsten vom Rand des Plateaus. Mein Eindruck, allein zu sein, erwies sich als richtig, und [18] ich kroch das letzte Stück auf allen vieren und riskierte einen vorsichtigen Blick, ohne daß jemand schreiend angehechtet kam und mich mit einem Tritt wieder bergab beförderte.
Für die Stille und die Abwesenheit der Angreifer gab es eine augenfällige Erklärung: mein Jeep war fort.
Ich trat auf das Plateau und stöhnte innerlich. Nicht nur, weil ich meinen Wagen los war, sondern weil die Hüttentür weit offenstand und Sachen von mir draußen lagen – ein Sessel, Kleider, Bücher, Bettzeug. Verdrossen überquerte ich den Platz und fand in der Hütte das reinste Chaos.
Wie alle, die bewußt allein leben und nicht auf Besuch eingestellt sind, hatte ich nur wenig Hausrat. Ich aß meist direkt aus der Pfanne und trank alles aus demselben Becher. Da ich keinen Strom hatte, besaß ich die von Langfingern begehrten Dinge nicht, wie Fernseher, Stereoanlage oder Computer, und auch kein Mobiltelefon, da ich die Batterien nicht aufladen konnte. Ich hatte lediglich einen tragbaren Radiorecorder, um mitzubekommen, ob noch Frieden herrschte zwischen den Sternen, und gelegentlich Musik vom Band zu hören, aber viel wert war er nicht. Ich hatte kein Tafelsilber. Keine Chippendalestühle.
Nur Farben hatte ich. Als ich vor fünfeinhalb Jahren eingezogen war, hatte ich einzig den großen Mittelteil der dreigeteilten baufälligen Hütte hergerichtet. Der Raum, fünf mal drei Meter, hatte ein stabiles neues Dach bekommen, ein großes Doppelglasfenster, und Fußboden und Wände waren gut gegen Feuchtigkeit isoliert. Für Licht, Herd und Heizung hatte ich Gas. Fließendes Wasser lieferte mir ein sauberer kleiner Bach im nahen Gefels, und als Toilette [19] diente mir ein verwittertes Aborthäuschen, das etwas entfernt stand. Ursprünglich hatte ich nur die langen nordischen Sommertage auf dem Berg verbringen wollen, damals im ersten Jahr, doch dann hatte ich meine Abreise immer weiter hinausgeschoben, bis die ewigen Dezembernächte schließlich wieder kürzer wurden, hatte einem eiskalten Januar und Februar getrotzt und seither nicht mehr ans Weggehen gedacht.
Zum Wohnen ein Bett, ein kleiner Tisch, eine Kommode und ein bequemer Sessel, zum Arbeiten drei Staffeleien, Hocker, Leinwände sowie ein Wandregal und ein Küchentisch voller Farbtöpfe und -tuben und anderem Zubehör wie Krügen mit Pinseln und Federmessern und Gläsern mit klarem oder verschmutztem Wasser.
Schon der Raummangel und meine Veranlagung geboten Ordnung und Sauberkeit, aber mehr noch waren es die Acrylfarben selbst, die eine strenge Organisation erforderten: An der Luft trockneten sie so schnell, daß man die Töpfe und Tuben einfach verschließen mußte, immer nur kleine Mengen auf die Palette geben durfte, ständig die Pinsel ausspülen, die Messer abwischen, die Hände waschen mußte. Ich hatte Eimer mit Wasser und Schmutzwasser unterm Tisch stehen und verbrauchte Unmengen Papiertücher in meinem Malerhaushalt.
Bei aller Sorgfalt hatte ich kaum ein Kleidungsstück, auf dem keine Farbflecke waren, und ab und zu mußte ich den Holzfußboden abschmirgeln, um ihn von einer kunterbunten Acrylschicht zu befreien.
Das Chaos, das die vier Dämonen angerichtet hatten, war abscheulich.
[20] Ich hatte auf allen drei Staffeleien angefangene Gemälde stehen gehabt, denn ich malte oft drei Bilder gleichzeitig. Alle drei lagen jetzt mit der Bildseite am Boden, im Wasser aus den umgekippten Eimern. Mein Arbeitstisch lag auf der Seite, Töpfe, Pinsel, Farben rings verstreut. Farbe aus plattgetretenen, geplatzten Tuben. Mein Bett hatten sie umgeschmissen, die Kommode durchwühlt, Aktenordner und Bücher von den Regalen gerissen, sämtliche Schachteln und Dosen ausgeleert, Pulverkaffee und Zucker im Raum verteilt.
Schweine.
Ich stand schlapp in der Tür, sah mir deprimiert den Schaden an und überlegte, was tun. Die Sachen, die ich trug, waren zerrissen und verdreckt, und ich war voller Kratzer und Schrammen. Soweit ich sah, war alles, was ich zu Geld hätte machen können, aus der Hütte verschwunden. Meine Brieftasche und meine Uhr ebenso. Mein Scheckheft war im Jeep gewesen.
Ich hatte gesagt, ich käme nach London.
Also würde ich verdammt noch mal auch fahren.
Der verrückte Alexander. Wozu hatte ich den Ruf?
Abgesehen von dem Sessel und den anderen Sachen, die draußen lagen und die ich wieder reinstellte, ließ ich fast alles, wie es war. Ich suchte mir nur die saubersten Jeans, Hemd und Pullover aus dem verstreuten Kommodeninhalt heraus und zog mich am Bach um, nachdem ich mir mit dem klaren kalten Wasser die blutverkrusteten Schrammen ausgewaschen hatte.
Mir tat alles weh.
Sauhunde.
[21] Ich ging zum Abort, doch da gab es nichts zu stehlen, und sie hatten ihn verschont. Von den verfallenen Seitenteilen der Hütte selbst hatte einer ein Wellblechdach mit grauem Tarnanstrich und diente als Autounterstand; in dem dachlosen anderen standen geschützt die Gasflaschen und ungeschützt die jetzt leeren Mülleimer, denn die Abfallsäcke hatte ich zur Entsorgung an diesem Morgen mit auf die Poststelle genommen. An einer der verfallenen Wände sah man noch Reste eines Kamins mit einem kleinen Backofen daneben. Es mochte einmal eine Küche oder Backstube dort gewesen sein, aber ich kochte lieber in meinem Wohnraum.
In den beiden Seitenteilen war nichts angerührt worden. Glück gehabt.
Ich hob einen zerbrochenen Kohlestift vom Boden der guten Stube auf, steckte ihn in meine Hemdtasche, fand noch einen Skizzenblock mit freien Seiten in dem Durcheinander, und so mit dem Nötigsten versehen verließ ich die Hütte und machte mich auf den Weg zur Landstraße.
Die Monadhliath Mountains, steil ansteigend auf achthundert bis tausend Meter, sind eher wellig als zerklüftet, aber baumlos und von einem schroffen, abweisenden Grau. Der Kletterpfad führte zu heidekrautbewachsenen Hängen und schließlich zu ein paar Kiefern und Grasflächen hinunter. Für mich war der Weg ins Tal immer eine Luftveränderung in mehr als einer Hinsicht: Die rauhen Granitberge standen für ein einfaches, karges, vollkommenes Leben. Dort konnte ich konzentriert arbeiten. Die Anforderungen des Alltags im Tal verstellten mir den Sinn für etwas Wesentliches, auf das die urtümliche Stille der Berge mich [22] einstimmte und das ich in Malerei umsetzte – dabei waren die Arbeiten, mit denen ich mein Brot verdiente, durchaus farbenfroh und beschwingt, und es waren vorwiegend Bilder vom Golfspiel.
Bis ich die Straße erreichte, lag schon mehr als ein Hauch von Abenddämmerung im Licht. Es war die Zeit, um die ich immer aufhörte zu malen. Da wir September hatten, wußte ich auch ohne Uhr, daß es auf halb sieben zuging.
Die Straße war trotz der sie entlastenden A9 von Inverness nach Perth so gut befahren, daß ich ohne weiteres trampen konnte, aber es störte mich dann doch ein wenig, daß die Fahrerin, die anhielt, um den langhaarigen fremden jungen Mann in Jeans mitzunehmen, eine erwartungsvoll blickende Frau in den Vierzigern war, deren Hand nach einer halben Meile zärtlich auf meinem Knie lag.
»Ich muß nur bis zum Bahnhof in Dalwhinnie«, sagte ich lahm.
»Ein Langweiler, hm?«
»Undankbar«, gab ich ihr recht. Und müde und gerädert, aber auch belustigt. Achselzuckend nahm sie die Hand weg. »Wo soll's denn hingehen? Ich könnte Sie bis Perth mitnehmen.«
»Dalwhinnie reicht.«
»Sind Sie schwul?«
»Ehm«, sagte ich. »Nein.«
Sie sah mich von der Seite an. »Haben Sie sich den Kopf gestoßen?«
»Mhm«, sagte ich.
Sie gab es auf mit mir und setzte mich einen halben Kilometer vor den Zügen ab. Wehmütig dachte ich im [23] Weitergehen an das Angebot, das ich ausgeschlagen hatte. Ich lebte schon zu lange enthaltsam. Ich hatte mich daran gewöhnt. Trotzdem schwach, sich so eine Gelegenheit entgehen zu lassen. Meine Rippen schmerzten.
Als ich zum Bahnhof kam, gingen bereits überall die Lichter an, und ich war froh, mich wenigstens in dem kahlen Schalterraum unterstellen zu können, da die Temperatur jetzt am Abend stark abfiel. Fröstelnd und mir auf die Finger blasend führte ich ein Telefongespräch, unendlich froh darüber, daß der Anschluß funktionierte und nicht in der Gewalt eines zweiten Donald Cameron war.
Ein R-Gespräch über die Vermittlung.
Am anderen Ende sprudelte eine vertraute Stimme los, erst an die Vermittlung, dann an mich gewandt: »Selbstverständlich bezahle ich das Gespräch… Sind Sie das wirklich, Al? Was zum Teufel treiben Sie in Dalwhinnie?«
»Ich warte auf den Zug nach London. Den Royal Highlander.«
»Der geht doch erst in Stunden.«
»Ja… Was tun Sie gerade?«
»Ich mache gleich Schluß im Büro, fahre heim zu Flora und esse was Gutes zu Abend.«
»Jed…«
Er hörte mehr in meiner Stimme als nur seinen Namen. »Al? Was ist los?« fragte er scharf.
»Ich, ehm… bei mir ist eingebrochen worden«, sagte ich. »Ich wäre froh, wenn Sie… mir helfen könnten.«
Nach einer kurzen Stille sagte er nur: »Ich bin unterwegs« und legte auf.
Jed Parlane war der Liegenschaftsverwalter meines [24] Onkels, zuständig für die schottischen Ländereien der Kinlochs. Er machte das zwar erst seit vier Jahren, doch wir hatten uns angefreundet und konnten uns aufeinander verlassen. Er würde kommen. Einen anderen hätte ich nicht gefragt.
Jed war sechsundvierzig, ein stämmiger, untersetzter Tieflandschotte aus Jedburgh (daher sein Name), dessen praktischer Sinn meinem Onkel nach der Unruhe und dem Unfrieden, die sein überheblicher Vorgänger gestiftet hatte, wie gerufen kam. Jed hatte die aufgebrachten Pächter beruhigt und mit Geld und guten Worten viele neue Türen geöffnet, und seither lief das ganze riesige Unternehmen für alle Seiten zufriedenstellend. Der gerissene Tiefländer Jed verstand den stolzen Eigensinn der Hochländer und nutzte ihn, und mir hatte er, vielleicht ohne es zu ahnen, oft genug gezeigt, wie man seinen Willen durchsetzte.
Er kam mit langen Schritten in die Bahnstation von Dalwhinnie, zwanzig Kilometer von seinem Büro, sah mich auf der braunen Bank vor der cremefarbenen Wand sitzen und blieb breit vor mir stehen.
»Sie sind ja im Gesicht verletzt«, stellte er fest. »Und Sie frieren.«
Ich erhob mich steif, wobei die Schmerzen mir sicher anzumerken waren. »Funktioniert Ihre Heizung?«
Er nickte wortlos, und ich folgte ihm hinaus zu seinem Wagen. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz, er ließ den Motor an und drehte die Heizung auf, und ich schauderte unwillkürlich vor Erleichterung.
»So«, sagte er und knipste die Innenbeleuchtung an, »was ist denn nun mit Ihrem Gesicht passiert? Sie kriegen ein [25] dickes blaues Auge. Ihre Stirn ist links ganz geschwollen, bis an die Schläfe…« Er schwieg unsicher. Ich sah wohl wirklich nicht so frisch und munter aus wie sonst.
»Ich habe einen Kopfstoß bekommen«, sagte ich. »Man hat mich angefallen, mich verprügelt und beraubt, aber lachen Sie nicht.«
»Wie käme ich dazu?«
Ich erzählte ihm von den Pseudo-Bergwanderern und der Verwüstung der Hütte.
»Die Tür ist nicht abgeschlossen«, sagte ich. »Die haben meine Schlüssel kassiert. Vielleicht könnten Sie also morgen mal mit Ihrem Schlüssel rauffahren – wenn da auch nichts mehr ist, was sich zu stehlen lohnt…«
»Ich nehme die Polizei mit«, versprach er entgeistert.
Ich nickte zerstreut.
Jed zog Kuli und Notizbuch aus der Jackentasche und bat mich, die Sachen aufzuzählen, die ich vermißte.
»Meinen Jeep«, sagte ich düster und nannte ihm das Kennzeichen. »Mit allem, was drin war… Lebensmittel, Haushaltsbedarf und so weiter. Aus der Hütte haben sie mein Fernglas und meine Kamera mitgenommen, meine ganze gefütterte Winterkleidung, vier fertige Gemälde, mein Kletterzeug, eine Flasche Glenlivet… und meine Golfschläger.«
»Al!«
»Na ja, es gibt auch einen Lichtblick. Mein Dudelsack wird gerade in Inverness ausgebessert, und mein Paß liegt zur Verlängerung auf dem Amt.« Ich schwieg. »Sie haben mein Bargeld geklaut und meine Kreditkarte… die Nummer weiß ich nicht, aber die haben Sie im Büro. Würden Sie [26] das melden? Und die alte goldene Uhr von meinem Vater ist auch weg«, sagte ich abschließend. »Könnten Sie mir mit Ihrer Kreditkarte ein Ticket nach London besorgen?«
»Ich bringe Sie ins Krankenhaus.«
»Nein.«
»Dann kommen Sie mit zu Flora und mir. Sie können bei uns schlafen.«
»Danke, nein.«
»Und wieso London?«
»Ivan Westering hatte einen Herzanfall.« Ich ließ ihm etwas Zeit, das zu verdauen. »Sie wissen, daß meine Mutter mich nie um Hilfe bitten würde… aber so gut kennen Sie sie vielleicht auch wieder nicht. Jedenfalls hat sie nicht gesagt, ich solle bleiben, wo ich bin, und das ist so gut wie ein SOS-Ruf – deshalb fahre ich.«
»Die Polizei will sicher eine Aussage von Ihnen.«
»Die Hütte spricht für sich.«
»Fahren Sie nicht, Al.«
»Leihen Sie mir das Fahrgeld?«
Er sagte: »Ja, aber…«
»Danke, Jed.« Ich kramte den Kohlestift aus der Hemdtasche und schlug meinen Skizzenblock auf. »Ich zeichne Ihnen die Leute. Das ist besser, als wenn ich sie nur beschreibe.«
Er sah zu, wie ich damit anfing, und sagte ein wenig verlegen: »Haben die etwas Bestimmtes gesucht?«
Ich warf ihm halb lächelnd einen Blick zu. »Der eine rief dauernd: ›Raus damit!‹«
»Und?« fragte er bang. »Mit Erfolg?«
»Natürlich nicht.«
[27] »Dann hätten sie vielleicht aufgehört, Sie zu schlagen.«
»Vielleicht wären sie aber auch erst weg, nachdem sie mir den Rest gegeben hätten.«
Ich zeichnete die vier nebeneinander, von vorn: Knie, Stiefel, Brillen, bedrohliche Mienen.
»Jedenfalls haben sie nicht gesagt, was sie suchen«, erläuterte ich. »Sie sagten nur, raus damit. Da konnte sonstwas gemeint sein. Vielleicht war es nur auf den Busch geklopft, damit ich rausrücke, was mir lieb und wert ist. Was mir am wertvollsten ist, verstehen Sie?«
Er nickte.
»Sie haben mich nicht beim Namen genannt«, fuhr ich fort. »Jetzt wissen sie ihn, denn er stand auf allen möglichen Sachen im Jeep.« Ich schloß das Gruppenporträt ab und schlug eine neue Seite auf. »Erinnern Sie sich an die Wanderer letztes Jahr im Lake District, die Urlauber bestohlen haben? Wohnwagen und Wohnmobile haben die ausgeräumt.«
»Die Polizei hat sie geschnappt«, nickte Jed. »Aber diese Wanderer haben keine Leute verprügelt oder den Berg runtergestürzt.«
»Könnte trotzdem so was sein. Bloß Gelegenheitsdiebstahl.«
Ich zeichnete den Kopf des »Raus damit«-Mannes, da ich mich an ihn am deutlichsten erinnerte. Die Brille ließ ich weg.
»Das ist ihr Anführer«, erklärte ich und schraffierte Schatten in das knochige Gesicht. »Mit Dialekten kenne ich mich nicht so aus, aber ich würde sagen, er hatte einen derben südostenglischen Einschlag. Die anderen auch.«
[28] »Harte Burschen?«
»Sicher mit Boxclub-Erfahrung. Kurze Haken wie am Punchingball.« Ich schluckte. »Da hab ich alt ausgesehen.«
»Al…«
»Ich bin mir wie der letzte Idiot vorgekommen.«
»Das ist doch Unsinn. Niemand kann es mit vier Leuten gleichzeitig aufnehmen.«
»Es aufnehmen? Nicht einen Schlag habe ich gelandet.« Die Erinnerung ließ mich verstummen. »Einem habe ich das Gesicht zerkratzt… Das war der mit dem Kopfstoß.« Ich blätterte um und zeichnete ihn, und sein Gesicht entstand mitsamt zerkratzter Wange, funkelndem Blick hinter runden Brillengläsern und einer Gemeinheit, die in die Augen sprang.
»Sie würden ihn wiedererkennen«, sagte Jed beeindruckt.
»Jeden von ihnen.«
Ich gab ihm den Skizzenblock. Bedrückt und mitfühlend sah er die Zeichnungen durch.
»Kommen Sie mit zu Flora und mir«, sagte er. »Sie sehen schlecht aus.«
Ich schüttelte den Kopf. »Morgen geht's mir wieder gut.«
»Der Tag danach ist immer der schlimmste.«
»Sie können einen so richtig aufheitern.«
Nach einer Weile seufzte er schwer, ging in den Bahnhof und kam mit Fahrkarten zurück.
»Für heute nacht haben Sie einen Schlafwagenplatz, und die Rückfahrkarte gilt unbegrenzt. Abfahrt hier um zweiundzwanzig Uhr eins, Ankunft Bahnhof Euston morgen früh sieben Uhr dreiundvierzig.«
»Danke, Jed.«
[29] Er gab mir noch Bargeld. »Rufen Sie mich morgen abend an.«
Ich nickte.
Er sagte: »Sie haben hier im Warteraum die Heizung angestellt.«
Ich drückte ihm dankbar die Hand und ließ ihn heim zu seiner kuscheligen Flora fahren.
[30] 2
Die Nacht konnte man vergessen.
Das Gesicht, das mir aus dem länglichen Spiegel entgegenblickte, als der Zug ratternd in Euston einfuhr, genügte den hohen Ansprüchen meiner Mutter zweifellos noch weniger als sonst. Das blaue Auge bläute sich unerbittlich, mein Kinn war stachlig, und einen Kamm hätte ich selbst auch nicht schlecht gefunden.
Mit Hilfe von Jeds Bargeld und der Bahnhofsdrogerie versuchte ich zu retten, was zu retten war, doch wie vorauszusehen, musterte Mama mich mit gespitzten Lippen, bevor sie mich an ihrer Wohnungstür kurz an sich drückte.
»Wirklich, Alexander«, sagte sie. »Hast du denn gar nichts ohne Farbspritzer zum Anziehen?«
»Wenig.«
»Du siehst mager aus. Du… na, komm erst mal rein.«
Ich folgte ihr in die blitzblanke Diele des architektonischen Juwels, das sie und Ivan am Park Crescent beim Regent's Park bewohnten.
Sie selbst sah wie immer hübsch, gepflegt, feminin und beherrscht aus, mit kurzem, schimmerndem braunem Haar und Wespentaille, und wie immer wollte ich ihr sagen, wie sehr ich sie liebte, und ließ es sein, weil sie solche Gefühlsäußerungen übertrieben fand.
[31] Ich war großgewachsen wie mein Vater, und er hatte mir von klein auf beigebracht, mich um seine zierliche, liebenswürdige Göttin zu kümmern, ihr zu dienen, für sie dazusein und es nicht als meine Pflicht, sondern als Vergnügen anzusehen. Ich erinnerte mich an sein herzhaftes Lachen und ihr stilles kleines Lächeln in meiner Kinderzeit, und er hatte lange genug gelebt, um sich mit ihr darüber zu wundern, daß der Junge, den sie auf die besten Schulen geschickt und auch in den alten Hochlandkünsten der Pirsch und des Fischfangs unterwiesen hatten, völlig aus der Art zu schlagen schien.
Mit sechzehn hatte ich eines Tages gesagt: »Pa… ich möchte nicht studieren.« (Ketzerei) »Ich möchte malen.«
»Ein schönes Hobby, Al«, hatte er stirnrunzelnd erwidert. Jahrelang hatte er mein Zeichentalent gelobt, ohne es je ernst zu nehmen. Er nahm es bis zu seinem Tod nicht ernst.
»Nur damit du Bescheid weißt, Pa.«
»Weiß ich, Al.«
Daß ich gern für mich allein war, hatte ihn nicht gestört. Einzelgänger sind in Großbritannien nicht so schlecht angesehen wie etwa in den USA, wo bereits im Vorschulalter jedem eingetrichtert wird, es sei besser, dazuzugehören, und wo Einzelgänger sein bedeutet, neben der Spur zu sein. Vielleicht war ich also neben der Spur, aber alles andere erschien mir verkehrt.
»Wie geht's Ivan?« fragte ich meine Mutter.
»Möchtest du Kaffee?« sagte sie.
»Kaffee, Rührei, Toast… alles.«
Ich folgte ihr hinunter in die Souterrain-Küche und [32] bereitete mir ein rundes Frühstück, nach dem es mir gleich besser ging.
»Ivan?« sagte ich.
Sie wandte den Blick ab, als wollte sie die Frage nicht hören, und sagte statt dessen: »Was ist mit deinem Auge passiert?«
»Ich bin gegen eine… na, ist doch egal. Erzähl mir von Ivan.«
»Ich, ehm…« Sie war auffallend unsicher. »Die Ärzte sagen, er müßte langsam seine gewohnte Tätigkeit wiederaufnehmen…«
»Aber?« sagte ich, als sie schwieg.
»Aber er tut es nicht.«
Nach einer Pause sagte ich: »Erzähl.«
Das war er dann für uns, der feine Punkt, wo sich das Verhältnis der Generationen umkehrt und das Kind zum Elternteil wird. Nur, daß es bei uns vielleicht früher als bei anderen Familien dazu kam, weil ich seit langem darin geübt war, für sie dazusein, eine Aufgabe, die nach ihrer Heirat mit Ivan zurückgestellt worden war, der ich mich jetzt aber verstärkt widmen mußte. Ich sagte: »James James Morrison Morrison Weatherby George Dupree…«
Sie lachte und ergänzte: »War erst drei, doch er vernachlässigte seine Mutter nie.«
Ich nickte. »James James sprach, zu seiner Mutter sprach James James: ›Vor finsteren Straßen hüte dich, oder geh wenigstens nicht ohne mich.‹«
»Oh, Alexander.« Ihre Stimme bebte vor lebenslanger Zurückhaltung, doch die aufgestauten Gefühle brachen nicht durch.
[33] »Nun erzähl mal«, sagte ich.
Schweigen. Dann sagte sie: »Er ist so deprimiert.«
»Ehm… klinisch deprimiert?«
»Da kenne ich mich nicht aus. Aber ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Er liegt die meiste Zeit im Bett. Zieht sich nicht an. Er ißt kaum was. Ich möchte, daß er wieder ins Krankenhaus geht, aber das will er auch nicht, da gefällt's ihm nicht, sagt er, und Dr. Robbiston weiß anscheinend auch kein Mittel.«
»Tja… hat er einen triftigen Grund, deprimiert zu sein? Ist sein Herz arg angegriffen?«
»Bypässe oder einen Schrittmacher braucht er nicht, haben sie gesagt. Sie haben lediglich seine Herzarterie mit einem Katheter erweitert. Und natürlich muß er Tabletten nehmen.«
»Hat er Angst, daß er stirbt?«
Meine Mutter runzelte die glatte Stirn. »Er sagt mir nur, ich soll mir keine Gedanken machen.«
»Soll ich, ehm… raufgehen und ihn begrüßen?«
Sie blickte auf die große Küchenuhr an der Wand über dem riesigen Herd. Fünf nach neun.
»Jetzt ist sein Pfleger bei ihm«, sagte sie. »Eigentlich braucht er keinen, aber er schickt ihn nicht weg. Der Pfleger – Wilfred heißt er, und er ist mir zu unterwürfig – schläft hier im Obergeschoß, in der alten Dachstube, und Ivan hat eine Sprechanlage installieren lassen, damit er ihn rufen kann, wenn er nachts Schmerzen in der Brust spürt.«
»Hat er oft nachts Schmerzen in der Brust?«
»Das weiß ich nicht«, sagte meine Mutter verblüfft. »Ich glaube nicht. Bei dem Herzanfall natürlich schon. Da ist er [34] früh um vier mit Schmerzen aufgewacht, aber er dachte, es sei nur starkes Sodbrennen.«
»Hat er dich geweckt?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie und Ivan schliefen getrennt in nebeneinanderliegenden Zimmern. Nicht aus Mangel an Zuneigung; es war ihnen einfach lieber so.
Sie sagte: »Ich bin zu ihm, um guten Morgen zu sagen und ihm die Zeitung zu bringen wie immer, und er war naßgeschwitzt und preßte sich die Hand auf die Brust.«
»Du hättest mich gleich benachrichtigen sollen«, sagte ich. »Jed hätte mir Bescheid geben können. Dann wärst du nicht ganz auf dich gestellt gewesen.«
»Patsy kam…«
Patsy war Ivans Tochter. Falsche Augen. Sie war besessen von der Angst, Ivan könnte sein Vermögen und seine Brauerei nicht ihr selbst, sondern meiner Mutter vermachen. Ivans gegenteilige Versicherungen nützten wenig; und Patsys Gefühle für mich als den potentiellen Erben meiner Mutter hätten Schwefelsäure zum Gerinnen gebracht. Ich schenkte ihr immer ein freundliches Lächeln.
»Was hat Patsy gemacht?« fragte ich.
»Ivan war schon im Krankenhaus, als sie herkam. Sie hat telefoniert.« Meine Mutter legte eine Kunstpause ein.
»Mit wem?« fragte ich entgegenkommend.
Die dunklen Augen meiner Mutter glitzerten belustigt. »Mit Oliver Grantchester.«
Oliver Grantchester war Ivans Rechtsanwalt.
»War sie unverschämt?« fragte ich.
»Unverschämt direkt, mein Lieber.« Patsy redete alle Leute als ihre Lieben an. Vermutlich würde sie auch »Tut [35] mir leid, mein Lieber« sagen, wenn sie jemandem ein Stilett ins Herz stieß. »Sie hat Oliver erklärt«, schmunzelte meine Mutter, »falls Ivan auf die Idee komme, sein Testament zu ändern, werde sie es anfechten.«
»Und sie wollte, daß du das hörst.«
»Sonst hätte sie ihn ja von woanders anrufen können. Und im Krankenhaus war sie natürlich zuckersüß. Die liebende Tochter. Das liegt ihr.«
»Und sie hat dir gesagt, du brauchtest mich nicht extra aus Schottland kommen zu lassen, sie würde sich schon um alles kümmern.«
»O je, du weißt ja, wie sie auftritt…«
»Wie eine Flutwelle.«
Höflichkeit war oft ein Fluch, fand ich. Patsy mußte einmal auf den Kopf zu gesagt bekommen, sie solle aufhören, die Umwelt mit ihrer honigsüßen Tour zu tyrannisieren; aber beim geringsten Widerstand konnte sie so überzeugend das arme Seelchen spielen, daß man, statt Kritik zu üben, sie unversehens tröstete. Mit vierunddreißig hatte Patsy einen Mann, drei Kinder, zwei Hunde und ein Kindermädchen, die alles daransetzten, es ihr recht zu machen.
»Außerdem«, sagte meine Mutter, »gibt es irgendwelche ernsten Schwierigkeiten in der Brauerei, und ich glaube, der Cup bereitet ihm auch Sorgen.«
»Welcher Cup?«
»Der King-Alfred-Cup, was sonst?«
Ich runzelte die Stirn. »Meinst du das Rennen?« Der King-Alfred-Goldcup, gestiftet von Ivans Brauerei als Werbung für ihr King-Alfred-Goldbier, war ein jeweils im [36] Oktober abgehaltenes großes Hindernisrennen über zwei Meilen und längst fester Bestandteil des Rennjahres.
»Es kann das Rennen sein, es kann der Pokal sein«, sagte meine Mutter. »Ich weiß es nicht genau.«
Das stand noch so im Raum, als plötzlich zwei Damen mittleren Alters die eiserne Außentreppe zum Souterrain herabgepoltert kamen, wie selbstverständlich die Tür aufschlossen und zu uns hereinplatzten.
»Morgen, Lady Westering«, sagten sie. Ein Duo. Vielleicht Schwestern. Sie sahen erwartungsvoll von meiner Mutter zu mir, als hätten sie Anspruch nicht bloß auf eine Vorstellung, sondern eine Erklärung. Meine Mutter ließ sich allzuleicht einschüchtern.
Ich stand auf und sagte freundlich: »Ich bin Lady Westerings Sohn. Und Sie?«
Meine Mutter antwortete: »Edna und Lois. Edna kocht für uns. Lois macht sauber.«
Edna und Lois starrten mich an, ohne ihr Mißfallen in arbeitsplatzgefährdender Weise hervorzukehren. Mißfallen? Ich fragte mich, ob Patsy am Werk gewesen war.
Edna beäugte kritisch die Spuren meiner in ihr Aufgabengebiet eingreifenden Kocherei. Pech. Sie würde sich daran gewöhnen müssen. Mein Vater und ich hatten aus Spaß an der Sache seit jeher gekocht. Angefangen hatte es damit, daß meine Mutter sich das Handgelenk brach: Als es wieder heil war, lag das Kochen für uns drei endgültig in anderen Händen; und da ich die Kochkunst früh erlernt hatte, brachte ich jederzeit ein gutes Essen auf den Tisch.
Meine Mutter und Ivan hatten von Anfang an eine [37] Köchin gehabt, aber Edna – und auch Lois – kannte ich von meinem letzten Besuch noch nicht.
»Trotz Wilfred gehe ich jetzt mal rauf zu Ivan«, sagte ich zu meiner Mutter. »Du bist dann sicher gleich oben in deinem Zimmer.«
Edna und Lois waren sichtlich zwischen Treuepflichten hin und her gerissen. Ich schenkte ihnen mein fröhlichstes, friedfertigstes Lächeln, und meine Mutter folgte mir dankbar die Treppe hinauf in das jetzt ruhige Erdgeschoß, das mit einem Eßzimmer und einem großen Salon für Empfänge ausgestattet war.
»Sag mir nichts«, zog ich sie auf, sobald man uns von der Küche aus nicht mehr hören konnte. »Patsy hat sie eingestellt.«
Sie stritt es nicht ab. »Sie sind sehr tüchtig.«
»Seit wann arbeiten sie hier?«
»Seit einer Woche.«
Sie kam mit mir in den ersten Stock, wo sie und Ivan jeder ein Schlafzimmer mit Bad und einen Tagesraum hatten, in seinem Fall ein kombiniertes Arbeitszimmer und Büro, in ihrem ein meist von beiden genutzter Rückzugsort, gemütlich in Grün und Rosa, mit dicken Armsesseln und Fernseher.
»Lois putzt sehr gründlich«, seufzte meine Mutter auf dem Weg dahin, »aber sie stellt Sachen um. Mir kommt es fast vor, als ob sie absichtlich umräumt, um mir zu zeigen, daß sie Staub gewischt hat.«
Sie stellte zwei Vasen an ihren angestammten Platz links und rechts auf dem Kaminsims zurück. Silberne Kerzenständer kamen wieder neben die Uhr.
[38] »Verbiete es ihr doch einfach«, sagte ich, aber das würde sie genau nicht tun. Sie fuhr Leuten nicht gern an den Karren: das Gegenteil von Patsy.
Ich ging zu Ivan hinüber, der blaß in seinem Arbeitszimmer saß, während nebenan offenbar das Bett gemacht und Flaschen weggeräumt wurden.
Er trug einen karminroten Morgenmantel und braune Lederpantoffel und wunderte sich nicht, mich zu sehen.
»Vivienne sagte, daß du kommen wolltest«, meinte er mit unbeteiligter Stimme. Vivienne war Mutter.
»Wie geht's dir?« Ich setzte mich auf einen Stuhl ihm gegenüber und stellte betroffen fest, daß er älter, grauer und viel magerer aussah als bei meinem letzten Besuch im Frühjahr. Damals war ich auf dem Weg in die Staaten gewesen, mit dem Kopf ganz bei der kommerziellen Seite meines Lebens. Jetzt fiel mir ein, daß er mich unerwartet um Rat gebeten hatte und daß ich zu sehr in Gedanken, zu ungeduldig und ihm gegenüber zu skeptisch gewesen war, um richtig zuzuhören. Es hatte etwas mit seinen Pferden, seinen in Lambourn trainierten Steeplern zu tun, und von da hielten mich außer dringenden Geschäften noch andere Gründe fern.
»Wie geht's dir?« wiederholte ich meine Frage.
Er sagte lediglich: »Warum läßt du dir nicht die Haare schneiden?«
»Keine Ahnung.«
»Locken sind was für Mädchen.«
Er selbst hatte den kurzen Haarschnitt, der zum Geschäftsmann, zum Baronet und zu einem Mitglied des Jockey-Clubs gehörte. Ich wußte, daß er redlich, gerecht [39] und angesehen war, ein Mann immerhin, der von einem Vetter einen kleinen Adelstitel, von seinem Vater die Brauerei geerbt und aus beidem das Beste gemacht hatte.
Es betrübte ihn, daß er keinen Sohn und keine männlichen Verwandten hatte; der Baronetsrang würde wohl mit ihm sterben.
»Was macht das Bier?« hatte ich ihn oft im Scherz gefragt, aber an diesem Morgen erschien mir das unpassend. »Kann ich etwas für dich tun?« fragte ich statt dessen – und bereute es, noch bevor es ganz ausgesprochen war. Nicht Lambourn, dachte ich. Alles, nur das nicht.
Doch das erste, was er sagte, war: »Kümmre dich um deine Mutter.«
»Klar.«
»Ich meine… wenn ich tot bin.« Seine Stimme war ruhig und gefaßt.
»Du bleibst uns noch erhalten.«
Er sah mich mit der gewohnten Nüchternheit an und meinte trocken: »Hast dich mit Gott besprochen, ja?«
»Noch nicht.«
»Du wärst gar nicht so übel, Alexander, wenn du von deinem Berg runterkämst und wieder unter die Menschen gingest.«
Bei der Heirat mit meiner Mutter hatte er mir angeboten, mich in der Brauerei unterzubringen und im Geschäft einzuarbeiten, und ich mit meinen achtzehn Jahren und meinem in unablässigem Farbenrausch schwelgenden inneren Auge hatte Grundlektion eins für den harmonischen Umgang mit Stiefeltern gelernt – wie man höflich nein sagt.
[40] Ich war weder undankbar noch hatte ich etwas gegen ihn; wir waren nur völlig verschieden. Meine Mutter und er waren dem Anschein nach recht glücklich miteinander, und er ließ es ihr an nichts fehlen.
Er sagte: »Warst du dieser Tage schon bei deinem Onkel Robert?«
»Nein.«
Mein Onkel Robert war der Graf – »Höchstselbst«. Er kam immer Ende August nach Schottland, um zu jagen und zu fischen und sich die Highland Games anzusehen. Jedes Jahr lud er mich bei der Gelegenheit zu sich ein, doch obwohl ich von Jed wußte, daß er wieder da war, hatte er sich bis jetzt noch nicht gemeldet.
Ivan schürzte die Lippen. »Ich dachte eigentlich, er wollte mit dir sprechen.«
»Kommt sicher noch.«
»Ich habe ihn gebeten –«, er unterbrach sich. »Das wird er dir selbst sagen.«
Ich empfand keine Neugier. Höchstselbst und Ivan kannten sich seit über zwanzig Jahren; nach wie vor verband sie die Freude am Besitz von Rennpferden. Sie ließen ihre Steepler vom gleichen Stall in Lambourn trainieren.
Höchstselbst hatte die Heirat zwischen Ivan und der Witwe seines geliebten jüngsten Bruders gutgeheißen. Er hatte bei der Trauung neben mir gestanden und mir gesagt, ich solle zu ihm kommen, wenn ich jemals Hilfe brauchte; und das von einem Mann zu hören, der sich um fünf eigene Kinder und um einen halben Clan weiterer Nichten und Neffen zu kümmern hatte, war für mich Vaterlosen damals schon ein großer Trost, der mir viel Sicherheit gab.
[41] Ich war allein zurechtgekommen, aber ich hatte gewußt, daß er da war.
»Mutter glaubt, du machst dir Sorgen wegen des Cups«, sagte ich.
Er zögerte mit der Antwort, dann fragte er: »Was soll damit sein?«
»Sie weiß nicht, ob er dir zu schaffen macht und du darunter leidest.«
»Deine liebe Mutter!« Er seufzte tief.
»Ist etwas mit dem diesjährigen Rennen?« fragte ich. »Habt ihr nicht genug Nennungen oder so?«
»Kümmre dich um sie.«
Mit der Depression hatte sie recht gehabt. Ein Unwohlsein der Seele, äußerlich erkennbar an den müden Handbewegungen und der matten Stimme. Ich konnte da wohl wenig ausrichten, wenn selbst sein Arzt keine Abhilfe wußte.