Für Regina
Es ist für mich eine merkwürdige Vorstellung, dass meine Eltern sich kennenlernten. Für mich waren sie ja immer schon da, als Ursache für meine Existenz. Ihr Vorhandensein glich dem der Sonne und des Mondes. Jedoch gab es eine Zeit, in der sie nichts voneinander wussten. Nichts führte sie zwangsläufig zusammen, sie hätten einander genauso gut knapp verpassen und sich nie begegnen können: dann wäre ich jetzt nicht hier, als zufällig Lebender. An der ganzen Sache gibt es überhaupt nichts Zwingendes, und so ist es ein kleines Wunder, wie jeder Zufall. In meinem Fall ereignete sich das Wunder in einem Strandbad am Luganersee, an einem warmen Sommertag in den Fünfzigerjahren. Auf dem Bikini-Atoll wehte der heiße Wind der Atompilze den Leuten die Haare aus der Stirn und Elvis, damals noch irgendein Sänger, bändigte in der Garderobe seine Haare mit Brillantine. In einem Strandbad also sah meine Mutter meinen Vater zum ersten Mal, einen Burschen, der ihr gefiel, sie sagte später, wegen seiner weißen Badekappe. Ihr fiel schon auf, dass er viel rauchte, filterlose Zigaretten, eine nach der anderen. Die Gier fiel ihr schon auf. Aber viele rauchten damals viel, warum auch nicht, die wirkliche Gefahr für die Gesundheit ging von den Atombomben der Russen aus. Mein Vater rauchte vor und nach dem Baden, und irgendwann muss ihm das braun gebrannte hübsche kleine Mädchen aufgefallen sein: ihre Blicke. Sie war wirklich klein, kaum eins fünfzig groß, una bellezza aus dem Tessin mit haselnussfarbenen Augen, schwarzen Haaren – und frech. Vermutlich sprach sie ihn an, eine tolle Badekappe trägst du da – ich weiß nicht, ob man schon toll sagte. Aber ich bin ziemlich sicher, dass sie den ersten Schritt machte – auf ihr Unglück zu, muss man im Nachhinein sagen. Ihr gefiel der falsche Mann an einem sonnigen, warmen Tag, an dem der See glänzte und die Birken im Wind flirrten, nur eine einzige Wolke stand am Himmel. Wahrscheinlich bot er ihr eine Zigarette an, aber sie rauchte nicht. Mag sein, er behauptete, das Segelboot am Steg gehöre einem Freund von ihm.
Meine Mutter besaß schon etwas Lebenserfahrung, sie war mit achtzehn allein nach Amerika gereist, auf einem Frachtschiff. Von ihrer Abreise existiert ein Zeitungsfoto, denn ihr Tessiner Heimatdorf nahm an dem Abenteuer Anteil, auf der ersten Seite der Lokalzeitung wurde darüber berichtet. Auf dem Foto sieht man ein hübsches Mädchen, rundes Gesicht, hoher Haaransatz, das schüchtern in die Kamera lächelt und mit beiden Händen sein Portemonnaie festhält, darin das Geld und der Reisepass.
In Amerika lernte meine Mutter Ted Kennedy kennen und tanzte mit ihm auf einem Fest. Die spätere Berühmtheit Kennedys führte zu einer Fokussierung der Erinnerungen meiner Mutter an ihre Amerikareise auf diesen Tanz mit Kennedy und auf ihren Eindruck, er trage einen Apfel in der Hose. Sie sagte, ich war so naiv damals, ich dachte, er hat einen Apfel in der Hose. Sie schilderte Kennedy als netten, aber langweiligen Tanzpartner, außerdem linkisch, er sei ihr auf die Füße getreten. Wenn ich Ted Kennedy später in den Nachrichten sah, gehörte ich zu den wenigen, die über seine Ausstattung Bescheid wussten. Ein Apfel mag nach nicht viel klingen, aber für eine Zeugung hätte es gereicht – jedoch wäre dann nicht ich geboren worden, sondern ein anderer.
Mir wurde sozusagen mein Vater zugeteilt, der Bursche mit der weißen Badekappe. Ein Jahr nach ihrer Rückkehr aus Amerika tanzte meine Mutter eng mit ihm, und er war offenbar nicht linkisch, nicht langweilig, und Obst war auch da. Kurz nach dem ersten Tanz zeugten die beiden mich auf dem Sofa seiner Großmutter in einer Ortschaft namens Engelberg. Das Sofa ist mir bekannt. Mit vier oder fünf Jahren saß ich selbst einmal darauf während eines Besuchs bei meiner Urgroßmutter. Ich saß auf meinem Zeugungsort, einem braunen Sofa mit quietschenden Sprungfedern, an die Farbe, das Quietschen und den muffigen Geruch erinnere ich mich.
Meine Eltern heirateten jung, sie war erst zwanzig, er drei Jahre älter. Eine Kinderhochzeit fast noch, jedenfalls gingen sie mit wenig Erfahrung in die Ehe, und schon schrie ein Kind in der Wiege. Mein Vater hatte soeben erst sein Studium der Zahnheilkunde abgeschlossen, und da junge Zahnärzte Wanderarbeiter sind, die dorthin gehen, wo eine Assistentenstelle vakant wird, zogen die beiden in ein, man muss sagen belangloses Städtchen im sogenannten Mittelland. Der Chef meines Vaters war ein Romand, ursprünglich aus Genf stammend, aus den Rebhügeln am Lac Léman, ihn begleitete das Ploppen der Korken süffiger Weißweine. Am späteren Nachmittag wechselte er zu Cognac. Er brauchte eine ruhige Hand, um die biegsame Nadel der Betäubungsspritze am Zahnhals entlang unter dem Fleisch hindurch zu jenem Punkt zu führen, den Zahnärzte suchen.
Dieser Mann, so behauptete meine Mutter später, habe meinen Vater das Trinken gelehrt. Sie hasste ihn. Sie sah in ihm, dessen Name mir nicht mehr einfällt, den Ursprung. Mit ihm begann ihrer Meinung nach alles. Ich bin allerdings nicht sicher, ob mein Vater einen Mephisto brauchte, um das Trinken zu lernen.
Eine der ersten Erinnerungen meines Lebens ist die, wie mein Vater schwankt. Er steht spätnachts im Dunkel der schmalen Toilette gegenüber von meinem Zimmer. Er dreht sich zu mir um und schwankt. Dieses Schwanken und die Dunkelheit sind mir gleichermaßen unverständlich. Ich sehe, es ist mein Vater, aber ich kann ihn nicht mit seinen beängstigenden Bewegungen in Verbindung bringen. Verstehe nicht, warum er schweigt. Warum er mich nur anschaut aus dem Dunkeln heraus, in dem er sich versteckt, so kommt es mir vor. Etwas stimmt nicht mit ihm, aber auch mit mir nicht: Warum bin ich wach um diese Zeit? Warum bin ich aus meinem Bett gestiegen, jetzt, da alles dunkel ist? Ich kenne die Nacht noch nicht gut, sie ist noch fremd für mich, ich staune vielleicht sogar darüber, dass man jetzt überhaupt wach sein kann.
Man muss ja seine Eltern erst einmal kennenlernen. Sie sind zwar von Anbeginn an da, aber was weiß man schon über sie, wenn man klein ist? Wenn man Glück hat, braucht man als kleines Kind nichts über sie zu wissen. Man fühlt sich dann einfach wohl, ohne etwas über sie zu wissen, fühlt sich geliebt, aufgehoben und dergleichen. Mir sagte einmal ein Arzt, ein gesundes Herz spürt man nicht. Wenn man Glück hat, verhält es sich mit den Eltern genauso. Der Vater steht dann nicht schweigend in einer dunklen Toilette und schwankt, als sei er krank. Er starrt einen nicht an und verliert sein Gleichgewicht. Es ist dann kein Rätsel um ihn. Manche Leute, wenn sie Pech haben, verbringen ein Leben damit, ihre Eltern kennenzulernen. Es ist ein Prozess, der nicht immer zu einem Ende kommt.
Von einer Schiffsreise, die meine Eltern ohne mich unternommen hatten, als ich fünf war, kehrten sie mit der Erzählung zurück, der Kapitän des Kreuzfahrtschiffes habe sich anlässlich des Captain’s Dinner öffentlich über ihre Ähnlichkeit mit Richard Burton und Elisabeth Taylor geäußert, und die anderen Passagiere hätten dem zugestimmt. Auf den Fotos jener Kreuzfahrt, die sie durchs Mittelmeer geführt hatte, einschließlich der arabischen Länder, aus denen mein Vater krumme Dolche mitbrachte, sieht man: Sie waren tatsächlich ein gut aussehendes Paar. Mein Vater im blauen Blazer mit goldfarbenen Knöpfen, er trägt dazu eine weiße Hose mit scharfer Bügelfalte und weiße Lederschuhe. Meine Mutter mit Turmfrisur, falschen Wimpern und einem roten Seidenkleid, dazu italienische Lackschuhe mit Schleife. Es besteht auch durchaus eine Ähnlichkeit meiner Mutter mit Elisabeth Taylor, während die meines Vaters mit Burton weniger offensichtlich ist.
Jedenfalls hüteten meine Eltern das Kompliment des Kapitäns wie eine Urkunde, die ihren Anspruch auf Glanz bestätigte. Ein Dasein als Hausfrau und Zahnarzt in einem unbedeutenden, mittelländischen Städtchen füllte sie nicht aus. Die Hälfte ihrer inneren Landkarte bestand noch aus Wildnis, aus geheimnisvollen Dschungeln, namenlosen Wüsten und glitzernden Städten oder besser: die noch unerforschten Seelenräume meines Vaters bestanden aus Wildnis, die meiner Mutter aus glitzernden Städten und Cocktailpartys. Mein Vater sehnte sich nach Nashörnern, auf die er seinen Fuß setzen konnte, und meine Mutter trug, wenn sie in dem kleinen Städtchen zum Markt ging, um Kartoffeln zu kaufen, bis zum Ellbogen reichende weiße Handschuhe und im Winter einen Pelzmantel aus Leopard, den mein Vater gern selbst für sie geschossen hätte.
Er war ein attraktiver Mann: das markante Kinn, die großen, braunen Augen, elegante Postur, die Proportionen stimmten. Er zog sich gut an, ihm stand, was er trug, und er hatte Stil. Die anderen Männer im Städtchen im Mittelland trugen Hosen und Hemd, damit sie nicht gerade nackt waren. Nicht so er, er kleidete sich absichtsvoll, um eine Wirkung zu erreichen. Und er verstand sich auf diesen Kapitänsblick, der den Frauen gefällt. Er konnte in die Ferne blicken, als wisse er genau, ohne jeden Zweifel, wohin die Reise führt. Und sie führte zu den Wasserbüffeln, den Nashörner und Löwen, und ins Wilde Kurdistan, später zu den Tonton Macoute in Haiti. Jedoch war es eine Reise, die er allen nur vortäuschte, am erfolgreichsten sich selbst.
Mein Vater war ein häuslicher Mensch, und, wie gesagt, zugleich von der Sehnsucht nach Abenteuern erfüllt. Er holte sich folglich die Attribute des Abenteuers nach Hause. Er dekorierte das Wohnzimmer mit alten Musketen, einem Bärenfell, Schwertern und Hellebarden. Das Bärenfell lag vor seinem Miller Chair, es war ein vollständiges Fell mit Kopf und Zähnen – den aufgerissenen Mund konnte man unterschiedlich interpretieren: Der Bär brüllte, aber man hätte auch sagen können, er gähnte.
Bei einem Maskenball zu Fasching verkleideten sich meine Eltern als Marc Anton und Kleopatra, also als Burton und Taylor im Film Kleopatra. Sie gewannen den ersten Preis und nahmen ihn sehr ernst. Es war eine mit Goldfarbe angepinselte Banane – eine Früchteschale, es sollte ja, da Fasching, witzig sein – und auf der Schale stand, 1. Preis Maskenball des Fastnachtsvereins. Eine Weile stand die goldene Frucht auf der Kommode im Flur, bis meine Mutter sie meinem Vater an den Kopf warf. Es war die Zeit, in der sie begannen, sich in der Manier ihrer Vorbilder zu streiten. Es wurde geschrien, es wurden Türen zugeknallt, ich floh in mein Bett und drückte mir die Ohren zu. Meine Mutter stürzte in mein Zimmer, hab keine Angst, sagte sie, er kommt nicht hier rein. Sie versteckte seine Whiskeyflaschen in der Kiste mit meinen Spielsachen, strich mir über den Kopf und verschwand wieder, um Türen zuzuwerfen.
Man kann sagen, sie waren in ihren Rollen als Burton und Taylor am überzeugendsten, wenn mein Vater trank und meine Mutter ihm vergiftete Beleidigungen an den Kopf warf. Sie stritten sich auf glamouröse Weise, laut, unerbittlich, perfid und gut aussehend. Mein Vater stand barfuß, mit offenem weißen Hemd und einem Whiskeyglas in der Hand in der Küche und lachte überlegen, während meine Mutter in einem hellblauen Babydoll ihm die Fetzen des Fotos einer Frau ins Gesicht warf, das sie in seiner Nachttischschublade entdeckt hatte.
Ich merke: Ich erzähle nicht chronologisch. Wie könnte ich es aber auch, da doch in meiner Empfindung die Geschehnisse damals in der Art von Bombenanschlägen sich ereigneten. Man weiß: die Grundlage für solche Anschläge ist gegeben. Man weiß, es wird wieder geschehen, da es schon vorher oft geschehen ist. Wenn es dann geschieht, unterscheidet es sich kaum vom Anschlag zuvor und dem vor dem zuvor. In der Erinnerung wird einer wie der andere.
Es ereignet sich immer plötzlich. Etwa bei einem Abendessen, bei dem man soeben noch zu dritt Risotto con funghi gegessen hat, und man spricht vielleicht über die letzte Folge von Was bin ich? mit Robert Lembke – und völlig unvorhersehbar kommt es zur Explosion. Plötzlich wirft sie das Besteck auf den Teller, steht auf und schmeißt die Esszimmertür zu. Und er grinst, und sagt mit Wilhelm Busch, richte itzo deinen Blick dorthin in die Kellerhöhle. Das heißt, ich soll ihm aus dem Keller Wein holen. Aber hat er nicht schon genug getrunken? Doch, und ich kann das auch schon früh beurteilen, schon mit sechs Jahren, und je älter ich werde, desto besser. Aber wer bin ich, meinen Blick nicht in die Kellerhöhle zu richten? Also gehe ich, aber meine Mutter hält mich auf, verlangt, ich solle den Schlüssel zum Vorhängeschloss des Kellers in meinem Zimmer verstecken. Und dann ruft sie, damit er’s hört: Der hat schon genug gesoffen!
Danach die übliche Eskalation. Schreie. Verfluchungen. Türschmettern. Und so weiter. Ich in meinem Zimmer im Bett, mir die Ohren, die verfluchten Ohren zudrückend, die Ohren, die ich nicht taub kriege, die mich alles hören lassen, was sie im oberen Stock brüllen.
Es chronologisch zu erzählen würde nicht der empfundenen Wirklichkeit entsprechen. Es geschah nicht nacheinander, es geschah immer wieder. Geschah es nicht, wartete man darauf. Geschah es, wartete man, bis es aufhörte. Danach wartete man wieder darauf, dass es erneut geschah. Ewige Wiederkehr. Ich könnte die Ereignisse folglich, selbst wenn ich es für richtig hielte, schwerlich auf eine Zeitlinie packen. Es war eben keine Linie, es war ein Kreis. Die Ereignisse erlangten ihre Bedeutung nicht dadurch, wann sie geschahen, das spielte keine Rolle.
Manchmal geschah auch lange Zeit nichts, so lange, dass ich aufhörte, darauf zu warten. Das waren die glücklichen Zeiten.
Man könnte vielleicht sagen: es gab frühe und spätere Jahre. In den frühen Jahren lebten, wie gesagt, Richard Burton, Elisabeth Taylor und ich in einem gemieteten Einfamilienhaus in einem belanglosen Städtchen. Ich habe den Wellensittich vergessen. In dem Haus lebte außer uns noch der Wellensittich. Er hing in einem an der Decke befestigten Käfig im Wohnzimmer, an der Stelle, die später der Fernseher einnahm. Ich fütterte den Wellensittich mit Jod-S11-Körnchen, er sollte keinen Kropf bekommen. Ich fütterte ihn vorsichtig, denn er war verstört. Er hing ja im Wohnzimmer und konnte sich, wenn es wieder zu einer Explosion kam, nicht wie ich wenigstens in ein eigenes Bett flüchten. Er war den Explosionen unmittelbar ausgesetzt. Mag sein, sein Käfig bekam auch den einen oder anderen fliegenden Teller ab. Es wurde ja viel Geschirr zerbrochen von meiner Mutter, meistens eben im Wohnzimmer, und so wurde der Wellensittich bissig. Einmal hackte er mir seinen gelben Schnabel in den Finger. Seitdem scheuchte ich ihn, bevor ich das Käfigtürchen öffnete, auf die oberste Stange, von wo aus er mit gesträubtem Gefieder zusah, wie ich ihm die gesunden Körner ins Näpfchen schüttete.
Dann kam das Fernsehen. Es war eine neue Erfindung, und man brauchte, um daran teilzuhaben, einen Apparat. Eines Tages, als ich aus der Schule zurückkam, war der Käfig mit dem Wellensittich verschwunden, und an seinem Platz stand jetzt der Apparat der Marke Philips. Mein Vater hatte den Wellensittich ins Empire-Zimmer gehängt, ein im napoleonischen Stil möbliertes Zimmer, in dem meine Mutter selbst Staub wischte, aus Angst, unsere Putzfrau könnte die Brokatbezüge der Sessel beschädigen.
Im Fernseher sahen wir zum ersten Mal die Beatles. Sie standen auf der Gangway eines Flugzeugs und winkten. Ich spürte sofort, es hatte etwas mit mir zu tun. Etwas mit meinem Leben. Mag sein, ich merkte, als ich die Beatles winken sah, zum ersten Mal überhaupt: Es gab so etwas wie mein Leben. Ich hatte noch nie ein Flugzeug gesehen, ich wusste nicht mal genau, was das war, wo die standen. Sie standen jedenfalls oben, und winkten, sie trugen Anzüge mit Krawatten – aber ihre Haare! Wie Mädchen! Es war der Kontrast, der mich faszinierte: diese Anzüge von Männern, aber Mädchenhaare. Meine Mutter steckte mich Ostern und Weihnachten, zu welcher feierlichen Gelegenheit auch immer, in solche Anzüge und schnürte mir den Hals mit einer Krawatte zu. Ich hasste diese Anzüge, der Stoff kratzte an der Innenseite der Schenkel, der Hemdkragen scheuerte, die Krawatte drückte, es waren nicht meine Kleider, meine Mutter wollte es. Aber jetzt wollte ich auch etwas. Ich wollte diese Mädchenhaare. Wenn schon Anzug, dann mit Mädchenhaaren. Die Beatles brachten mich auf die Idee, etwas zu verändern im Rahmen des Möglichen.
Wir zogen zusammen mit dem Fernsehgerät in ein anderes, etwas größeres Städtchen im sogenannten Fürstenland. Mein Vater eröffnete dort eine eigene Praxis und stellte einen Assistenten an. Der Wellensittich folgte uns nicht, er war kurz nach seiner Umhängung ins Empire-Zimmer gestorben, vergoldete Voluten vor Augen.
Wir lebten jetzt in einer Attikawohnung, aber nicht mehr als Taylor, Burton und Kind, sondern als Beatle und modernes Ehepaar. Mein Vater kaufte sich eine Schallplatte von Simon and Garfunkel, meine Mutter Jeans. Das bedeutete: sie musste schlanker werden. Es fiel zum ersten Mal das Wort Diät. Sie hungerte sich aus den Seidenkleidern der Taylor in die engen Schlaghosen. Das Wort Diät hörte ich bald täglich mehrmals aus ihrem Mund. Auch mein Vater wechselte die Garderobe. Keine Hemden, keine Blazer mehr: jetzt Rollkragenpullover und Cordhosen. Er kaufte sich Segeltuchschuhe. Er ließ sich die Haare halb übers Ohr wachsen, meine waren schon auf den Schultern angekommen. Meine Mutter trug, wenn sie zum Markt ging, rote Gogo-Stiefel, und auf dem gläsernen Tisch der Polstergruppe lag die Bunte, darin Berichte über Gunther Sachs und Brigitte Bardot, zu denen meine Eltern übergelaufen waren. Im Herzen noch Burton und Taylor, gaben sie sich nach außen jetzt jünger als sie waren und nahmen sich an Sachs und Bardot ein Beispiel, die beide im selben Alter waren wie sie, aber modern wirkten.
Auf dem Schminktisch meiner Mutter stand ein Styroporkopf, über den sie früher ihre brünetten, halblangen Taylor-Perücken gehängt hatte: jetzt hingen da lange blonde Haare. Meine Mutter setzte sich die Perücke zum ersten Mal auf einer Faschingsparty auf, es gibt ein Foto davon: sie als Bardot, mit überschminkten Lippen, in einem Minirock, dazu die Perücke mit nicht ganz mittigem Scheitel. Diesmal gewann sie aber keinen Preis, nicht einmal den dritten. Die Bardot gelang ihr nicht, niemand nahm sie ihr ab.
Mag sein, sie fühlten sich heimatlos in jener Zeit, in die sie sich mit Ach und Krach hinübergerettet hatten. Sie verkleideten sich als Sachs und Bardot wie Ureingeborene das Christentum annehmen, wenn es nicht mehr anders geht. Es gab ja auch viel Gutes in der neuen Zeit. Meine Mutter ging jetzt einfach in Jeans einkaufen, manchmal sogar ungeschminkt, sie sagte, es sei ihr egal, was die Leute denken. Aber dachten die Leute denn etwas? Nein. Die anderen Frauen zeigten sich jetzt ja auch in Jeans und ungeschminkt auf der Straße. Das Wort lässig kam auf. Mein Vater hörte sich, wenn er betrunken war, Bridge over troubled water an, ein Lied, das für ihn als Mann die Entsprechung zu ungeschminkt war. Ein Mann musste jetzt nicht mehr hart sein, es war im Gegenteil unerwünscht. Ein Mann durfte jetzt seiner Frau auch eine Brücke sein, wenn pain all around war und tears in your eyes, wenn sie weary war und sich small fühlte.
Aber mein Vater blieb ein Großwildjäger. Er tarnte sich nur als Bridge over troubled water. Ihm war die melancholische Männlichkeit eines Burton nach wie vor näher als die nicht ganz greifbare eines Sachs, und auch meine Mutter verstellte sich. Sie wollte nicht lässig sein, sondern begehrt, nicht selbstständig sein, sondern getragen werden wollte sie, und zwar nicht von einem Mann, der sich niederlegte. Das Einzige, das sie an der Emanzipation wirklich interessierte, war ein eigenes Auto.
Wie zwei Emigranten saßen sie da. Meine Mutter in der Polstergruppe, mein Vater in seinem Miller Chair. Sie wussten nicht recht, wo und was und warum. Er trank, sie auch in letzter Zeit, nicht so viel wie er, aber doch genug. Sie stritten sich über Tage. Dann Stille. Danach eine Art Versöhnung. Mein Vater begann von Gott zu sprechen, und meine Mutter von einem Mini Cooper. Mein Vater drehte Bridge over troubled water auf volle Lautstärke, meine Mutter riss die Schallplatte unter der Saphirnadel weg und warf sie von der Dachterrasse in den Vorgarten hinunter, wo sie stecken blieb wie ein Pfeil.
Ich erinnere mich, wie ich mit fünfzehn in meinem Einzelzimmer im unteren Stockwerk der Attikawohnung saß und meine spanische Gitarre spielte, mit dem Daumen, wie Richie Havens in Woodstock. Man musste dazu die Gitarre so stimmen, dass jeder Bund einen Akkord ergab. Richie Havens zeigte mir: Man kann auch Gitarre spielen, wenn man’s nicht kann. Allerdings beeindruckte er mich nicht. Havens kam mir alt vor, ich fand ihn nicht attraktiv, vor allem: Er verkündete mir nichts. Ganz anders Marc Bolan. Ich stand total auf ihn, und er verkündete mir, es gebe nichts Erstrebenswerteres als zu werden wie er. Bolan spielte aber nicht auf spanischen Gitarren, nur auf elektrischen, ich brauchte also unbedingt eine solche.
In dem kleinen Provinzstädtchen war es aber gar nicht so einfach, Marc Bolan zu werden. Es gab nur eine Musikalienhandlung, das Musikhaus Felix. Immerhin wurden dort inzwischen nicht mehr ausschließlich Akkordeons, Waldhörner und Geigen angeboten, sondern neuerdings tatsächlich Elektro-Gitarren oder besser eine Elektrogitarre. Ich entdeckte sie auf dem Schulweg im Schaufenster des Musikhauses: Es war eine hellblaue Gitarre mit weißem Schlagbrett, einem Tremolo-Hebel und komplizierten Knöpfen. Sie kostete. Aber das Geld lag bei uns zu Hause herum, und zwar in einer Schublade der Wohnwand, in der auch der Fernseher stand. Mein Vater holte sich einmal wöchentlich aus der Bank ein Bündel und legte es in diese Schublade. Das Bündel war nicht für mich gedacht. Aber ich hatte im Lauf der Zeit herausgefunden: Er merkt es nicht, wenn ich einen oder zwei Scheine daraus wegziehe. Dass er’s nicht merkte, lag unter anderem an der kleinen Bar in der Wohnwand. Mein Vater klappte die Lade der Bar täglich mehrmals hinunter, um sich Whiskey einzugießen der Marke White Label. Dabei sah er jeweils hinter den Flaschen in der verspiegelten Rückwand der Bar sein Gesicht.
Mit dem Geld aus dem Bündel rannte ich über Stock und Stein zum Musikhaus, mir flatterten die geklauten Scheine in der Hand. Jedoch kam ich zu spät. Ein anderer Marc Bolan war mir zuvorgekommen. So knapp waren damals die Ressourcen.
Herr Felix benötigte drei Monate für die Bestellung einer neuen Gitarre, und als sie endlich mir gehörte, gründete ich unverzüglich eine Band, eben nochmals T. Rex. Für T. Rex musste man nur zwei Leute sein, nämlich Marc Bolan und Mickey Finn, der die Congas spielte. Den Part des Mickey Finn übernahm Roland, mein damals bester Freund, der etwas von Musik verstand, er war Orgelschüler in der Sankt-Peter-Kirche. Er konnte Noten lesen, er genoss meinen Respekt. Die Orgel spielte er auf Druck seines Vaters, er war offen für anderes. Da er Bongos besaß, fragte ich ihn, ob er mein Trommler sein wolle. Er war einverstanden.
Es passte ihm aber von Anfang an nicht, dass ich mit dem Daumen spielte.
Das sind keine Akkorde, sagte er.
Meiner Meinung nach waren es aber Akkorde. Sie klangen wie Akkorde, denn ich hatte nun auch die Elektrogitarre nach der Methode des Richie Havens auf den Bund gestimmt. Wenn ich mit dem Daumen alle sechs Saiten drückte, erklang folglich ein Akkord.
Und wie willst du so eine Septime spielen?, fragte Roland.
Er behauptete, in Hot Love, dem Stück von T. Rex, das wir einübten, komme eine Septime vor. Er sagte, Havens sei ein Stümper, deswegen höre man ja auch nichts mehr von ihm.
Ich kaufte mir im Musikhaus Felix eine Akkordtabelle, und binnen drei Tagen beherrschte ich die für Hot Love nötigen Akkorde, einschließlich der Septime.
Roland saß mit seinen Trommeln zwischen den Knien auf meinem Bett, während ich auf der Elektro-Gitarre die Akkorde knetete. Man hörte, da mir ein Verstärker fehlte, nur seine Bongos und meinen Gesang und das Türknallen meiner Mutter. Normalerweise stritten sie sich erst abends, aber man konnte nie wissen. Es gab im Grunde kein normalerweise. Die Türen knallten, und Roland fragte, hörst du das?
Das ist nur der Wind, sagte ich.
Das klingt aber nicht wie Wind, sagte er und begann zu horchen. Man hörte etwas scheppern, und dann ein hohes, falsettartiges Geschrei: Das war meine Mutter. Sie hielt den Ton eine Weile, bis ihr, da es ein sehr hoher Ton war, die Stimme versagte.
Ist das deine Mutter?, fragte Roland.
Wir brauchen einen Verstärker, sagte ich, so kann ich nicht spielen.
Ich bestellte im Musikhaus Felix einen Verstärker der Marke Fender, bezahlte ihn mit dem Geld aus der Schublade.
Aber der Verstärker löste nicht das Problem, dass Roland Ohren hatte. Bei ihm zu Hause durften wir nicht üben, seine Eltern waren dagegen. Also saß er in meinem Zimmer, und es war nur eine Frage der Zeit, bis er es mitbekam. Vernünftigerweise hätte ich niemanden zu mir nach Hause einladen dürfen, und ich lud ja auch sonst niemanden ein: aber Roland war wichtig. Ich wollte unbedingt eine Band! Es war ein Risiko, es war aber auch Rebellion: Das sollten sie mir nicht kaputt machen.
Wir übten Ride A White Swan. Laut. Ich drehte den Verstärker jeweils ziemlich auf, aus Lust an der Lautstärke, aber auch, um Roland taub zu machen, falls es oben losging. Er hämmerte auf seine Bongos, und ich brüllte den Songtext, da ich kein Mikrofon besaß. Mir war am wohlsten, wenn wir dauernd spielten. Roland, dem die Hände wehtaten, verlangte nach Pausen. Dann spielte ich allein weiter, bis mir selbst die Finger schmerzten. Notgedrungen musste ich nun aufhören, und es wurde still. Ich horchte nach oben.
An manchen Tagen, eigentlich meistens: nichts. Ganz normaler Haushalt. Mutter kocht, Vater sitzt vor dem Fernseher. Wenn sie sich an Samstagen – meistens übten Roland und ich samstags – morgens schon stritten, rief ich ihn an und lud ihn aus, mit unterschiedlichen Begründungen: ich sei krank, der Verstärker sei kaputt und so weiter. Manchmal war es vorhersehbar, aber üblicherweise eben nicht. Es konnte immer passieren, es gab kein Schema, nichts, wonach man sich hätte richten können. Oft geschah es, wenn man’s nicht erwartete.
Es war also, wie gesagt, nur eine Frage der Zeit, bis Roland es mitbekam. Das war an einem Sonntagnachmittag. Es regnete, es blitzte draußen, wir spielten Ride A White Swan, wir hatten den Song noch immer nicht im Griff, oder ich nicht – und plötzlich stand meine Mutter im Zimmer. Sie hatte die Tür, ohne anzuklopfen, aufgerissen, und nun warf sie sie wieder zu und presste sich dagegen. Atmete, als sei sie über Hürden gelaufen. Sie blickte uns an, sie bemerkte erst jetzt, dass Roland bei mir war. Aber ihr fehlte der Atem für einen Gruß oder eine Erklärung oder eine Notlüge, die auch keinen Sinn gemacht hätte. Ich hörte meinen Vater schon kommen, mein Zimmer war nämlich zum Flur hin nur durch eine dünne Trennwand gesichert, eine Wand aus verputztem Holz, die nun zitterte, als mein Vater sich meiner Tür näherte. Gegen die meine Mutter sich stemmte. Sie holte Atem und schrie durch die Tür, hau ab! Sein Freund ist bei ihm! Sie machen hier Musik! Lass sie in Ruhe!
In den nächsten Wochen erfand Roland kuriose Ausreden, um nicht mehr bei mir üben zu müssen. Er mied mich auch sonst, als sei ich ansteckend. Schließlich erfuhr ich: Er spielte jetzt mit anderen. Als ich ihn darauf ansprach, sagte er, du kannst den Takt nicht halten. Du bist immer einen Sechzehntel zu schnell. Einen Sechzehntel! Ich hörte den Begriff zum ersten Mal. Manchmal sogar einen Achtel!, sagte er. Und mir fehle das Gefühl. Ich würde hölzern spielen. Er spielte, wie gesagt, die große Kirchenorgel, das mächtige Instrument, dessen Basspfeifen über mir aufragten, wenn ich ihm auf der Empore der Sankt-Peter-Kirche manchmal zuhörte. Er spielte Bach, Händel, all diese Namen, er spielte oben auf den Tastaturen, und gleichzeitig trat er mit den Füßen die Bassnoten auf den Pedalen. Mich beeindruckte die Komplexität seiner Bewegungen, er spielte mit dem ganzen Körper und las die Noten so fließend wie ich einen Artikel in der Bravo über Petting. Ein hölzern aus seinem Mund war ein Verdikt, das ich ernst nahm, obwohl ich es ihm mit einem du bist ja nur neidisch vergalt – das neidisch bezog sich auf ein Mädchen, das sich für mich entschieden hatte und nicht für ihn, sie hieß Sonja und roch beim Küssen nach Milch.
Spielte ich also wirklich zu schnell? Gar einen Achtel? Ein Achtel schien mir viel zu sein, viel zu schnell. Aber konnte man das nicht in den Griff bekommen, so wie die Septime? Ich hatte die Akkorde gelernt, warum sollte es mir nicht gelingen, sie nun auch nicht zu schnell zu spielen? Ich kaufte mir ein Metronom und schrummte, allein in meinem Zimmer, zu dessen Takt die Songs, die wir geübt hatten. Bei Hot Love hinkte das Metronom meinen Akkorden immer den Bruchteil eines Taktes hinterher. Dasselbe geschah bei Ride A White Swan und allen anderen Songs von T. Rex, die ich beherrschte. Ich erreichte den nächsten Takt immer eine Spur schneller als das Metronom. Wochenlang strengte ich mich an, die Akkorde im exakten Ticktack zu setzen, Tick E-Dur, Tack E-Dur, Tick A-Dur, Tack A-Dur, Tick E-Septime, Tack E-Septime, Tick H-Septime und so weiter. Manchmal gelang es mir, immer aber nur vorübergehend, stets fiel ich irgendwann wieder in mein Tempo.
Ich merkte, es ging um ein inneres Tempo. Ich tickte beim Spielen innerlich zu schnell, nie zu langsam, immer zu schnell. Ich ahnte, ich würde den Takt nie aus mir selbst heraus halten können. Ich würde immer von außen getaktet werden müssen, aber selbst das half ja nur vorübergehend. Selbst wenn mir ein Schlagzeuger den Takt eingehämmert hätte, wäre ich ihm mit der Zeit davongeeilt, wie dem Metronom. Denn der Achtel zu schnell steckte in mir drin und ließ mich den richtigen Takt gar nicht hören, wenn das Metronom aus war. Ohne Metronom stimmte es für mich, ich war sicher, jetzt spiele ich im Takt. Mit anderen Worten: Ich war takttaub. Ein takttauber Musiker. Ich hörte etwas nicht, das die anderen sehr wohl hörten. Roland hatte es gemerkt, andere würden es merken.
Ich liebte die Musik, ich sehnte mich danach, Musiker zu sein und Lieder zu komponieren – aber Sehnsucht und Liebe waren Wünsche. Ich konnte es mir wünschen, bis ich schwarz wurde. Das Metronom tickte und tackte mich wie mit einer Ohrfeige links und einer Ohrfeige rechts in die Wirklichkeit meiner verfluchten Takttaubheit. Marc Bolan werden! Das konnte ich vergessen! Es reichte nicht einmal für Schlagermusik. Es gab keinen Musikstil, der einen Achtel zu schnell tolerierte, in der Musik blieb diese Not immer eine Not, es gab keine avantgardistischen Wir-spielen-zu-schnell-Bands.
Als ich begriff, dass meine Leidenschaft für die Musik durch meine Takttaubheit zu etwas Lächerlichem wurde, konnte ich den Anblick meiner Elektrogitarre nicht mehr ertragen. Ich wollte sie zerschmettern, aber das brachte ich nicht übers Herz. Stattdessen zerschnitt ich mit einer Kneifzange die gespannten Saiten, eine nach der anderen, es war, als würde man einem Tier die Sehnen durchtrennen.
Ich war sechzehn, als mein Vater meiner Mutter einen Mini Cooper kaufte, sie hatte ihn sich für ihre Unternehmungen gewünscht. Sie war, wie gesagt, im Tessin aufgewachsen, in der Sonnenstube der Schweiz. Sie konnte sich nicht an die zähen Nebeltage des Fürstenlandes gewöhnen, an das lastende Grau, die Lichtlosigkeit. Ihre Sehnsucht nach Sonne machte sie zu einer Beobachterin des Himmels. Sie erkannte die Hoffnungsschimmer in der Wolkendecke und saß schon draußen auf der Terrasse, bevor die Wolken sich dann tatsächlich lichteten. Eingehüllt in eine karierte Wolldecke streckte sie ihr Gesicht dem Licht hin. Andächtig und still saß sie da, sie bekam dann etwas Pflanzliches, sie verwertete jeden Sonnenstrahl und wandelte ihn um in Milde. Wenn sie zwischendurch die Augen einmal öffnete, war ihr Blick sanft und versonnen.
In den Bergen war das Wetter im Winter freundlicher, hier schien über dem Nebel die Sonne oft über Wochen jeden Tag: dieser Verlockung konnte meine Mutter nicht widerstehen. Es zog sie hinauf. Sie fuhr mit der Eisenbahn, danach mit dem Postauto in die Höhe, um sich zwei Stunden auf einer Bank in den Voralpen zu sonnen. Doch mit Zug und Bus dauerte die Reise unverhältnismäßig lange für den kurzen Genuss, außerdem war ein Zweitwagen ohnehin überfällig, da standesgemäß für eine Zahnarztgattin.
Mein Vater erfüllte ihr den Wunsch also unverzüglich, auch weil sie ihn in einer Phase der friedlichen Koexistenz geäußert hatte. Sie stritten sich ja nicht permanent, dazu hätten ihre Kräfte nicht ausgereicht. Es gab längere Zeiten der Ermattung, der Versöhnung, der Erholung, sogar der Zärtlichkeit. In diesen Phasen war mein Vater empfänglich für ihre Wünsche, mehr noch: Er beschenkte sie überraschend mit einer brillantenbesetzten Halskette oder Ähnlichem.
Die Reisezeit in die Berge verkürzte sich für meine Mutter nun um zwei Stunden, mit dem Mini war es nur noch ein Katzensprung. Sie fuhr um acht Uhr morgens los, erreichte um zehn schon ihr Bänklein in den Voralpen, von dem aus sie mit von der Bergsonne gerötetem Gesicht zufrieden hinunterschaute auf das Nebeldach über den Tälern. Bis in den Nachmittag hinein saß sie auf ihrem Bänklein, plauderte ab und zu mit einem Bauern, der vorbeikam, und machte sich so ihre Gedanken über dieses und jenes.
So stellte ich mir das jedenfalls vor.
Als sie mich aber einmal mitnahm, um mir zu zeigen, wie schön es dort oben war, verbrachten wir den Tag keineswegs auf einem Bänklein, sondern auf der Terrasse eines Bergrestaurants am Fuße eines Idiotenhügels. Wir schmorten zusammen mit anderen Sonnenanbetern bei lauwarmem Weißwein und gepfeffertem Bündnerfleisch in der Wintersonne, die wegen der Höhenlage einem schnell den Kopf weichkochte. Ein Glas Weißwein verschaffte mir schon einen Schwips, meine Mutter erledigte den Rest der Flasche allein. Sie kannte alle Kellner mit Namen, woraus ich schloss, dass es das Bänklein, von dem sie mir immer erzählte, zwar möglicherweise gab, es aber bei ihren Ausflügen eine Nebenrolle spielte.
Sie fuhr offensichtlich in die Berge, um an der Sonne zu trinken. Mir war früher schon ab und zu ihr Weinatem aufgefallen, mit dem sie aus den Bergen zurückkehrte, aber damals war sie noch mit Zug und Bus hin- und vor allem zurückgefahren. Ich hatte keinen Anlass zur Sorge gehabt. Aber jetzt besaß sie den Mini mit neunzig Pferdestärken. Und sie fuhr gern schnell mit ihm, sie nannte es den Motor ausreizen. Sie fuhr nüchtern in die Voralpen und betrunken wieder nach Hause, den Motor ausreizend. Ich sprach sie auf der Heimfahrt von unserem Ausflug darauf an, aus Sorge, sie könnte eines Tages in einer der engen Kurven die Leitplanke durchbrechen und über die verschneiten Kuhweiden fliegen. Es waren Bergstraßen: eng, unübersichtlich und in den Schattenlagen vereist.
Ich trinke ein Glas Wein, und schon machst du mir Vorwürfe!, sagte sie. Wie wär’s, wenn du mal deinen Vater bitten würdest, weniger zu trinken? Aber das traust du dich ja nicht! Sie fuhr, um mir zu zeigen, dass sie die Straße in- und auswendig kannte, wie sie es ausdrückte, noch schneller. Wenigstens hupte sie manchmal vor einer besonders tückischen Kurve.
Wie gesagt, ich war sechzehn, das heißt, ich machte mir im Moment Sorgen. Gleich nach der Rückkehr von unserem Ausflug, als der Mini wieder sicher in der Tiefgarage stand, dachte ich wieder ausschließlich an Karin, in die ich verliebt war. Ich machte mir wieder ausschließlich Sorgen, die sie betrafen. Ich hatte ihr kürzlich zu ihrem Geburtstag Maggie May von Rod Stewart geschenkt, damals mein Lieblingslied, und da ich seither von ihr nichts gehört hatte, befürchtete ich, sie habe das Geschenk vielleicht missverstanden. Es ging in dem Song um einen jungen Mann, der eine ältere Frau verlässt – und Karin war ein Jahr älter als ich. In dem Lied wurde die Frau nicht gerade schmeichelhaft besungen, the morning sun, when it’s in your face, really shows your age. Ich hoffte, Karin bezog es nicht auf sich. Und wenn es nicht das war, machte ich mir aus anderen Gründen Sorgen. Sie war größer als ich: störte sie das? Sie war Deutsche, aus Berlin: konnte sie überhaupt einen Schweizer lieben?
Meine Liebe zu Karin erzeugte beständig neue Sorgen. Ich empfand Besorgtheit und Liebe damals sogar als identische Gefühle. Die Quelle meiner Besorgtheit war sowohl was meine Mutter wie Karin betraf, die Liebe – nur liebte ich meine Mutter anders als Karin. Das mag trivial klingen, war aber damals für mich eine neue Erkenntnis: Es gab mehrere Arten der Liebe, und sie unterschieden sich grundlegend. Es gab aufregende und weniger aufregende, dringende und weniger dringende Liebe – und die zu meiner Mutter war weniger aufregend und dringend als die zu Karin.
Mag sein, ich unternahm aus diesem Grund nichts: weil ich Karin dringender liebte, anders. Mag sein, deswegen ließ ich den Dingen ihren Lauf.
Meine Mutter sagte, morgen fahre ich in die Berge, und ich dachte, hoffentlich passiert ihr nichts. Aber ich dachte es zwischen zwei Gedanken an Karin. Ich dachte es beiläufig, bevor ich mit Herzklopfen den Finger ins Loch der Wählscheibe steckte, um Karins Telefonnummer zu wählen. Ich wollte Karin sehen und sie zu diesem Zweck ins Kino einladen.
Ins Kino mit Karin. Ihr dort den Arm um die Schulter legen. Und dann, wer weiß. Das beschäftigte mich. Sie küssen, wenn wir sitzen. Sie also nicht auf mich hinabschaut, wie es im Stehen der Fall gewesen wäre wegen ihrer deutschen Körpergröße. Wir dachten damals alle: Sie ist so groß, weil sie Deutsche ist. Erst hinter all diesen Gedanken ganz klein der an meine Mutter, die betrunken Auto fährt. Ihr wird schon nichts geschehen. Und dann, nach dem Kuss, Karin meine Liebe gestehen. Oder besser vorher?
Ich könnte zu meiner Entlastung sagen: Ich hätte sowieso nichts ausrichten können. Selbst wenn ich mir nicht nur momentane, sondern erwachsene Sorgen gemacht hätte, Sorgen, die zum Versuch führen, die Ursache zu beseitigen: Was hätte ich schon tun können? Meine Mutter am Fahren hindern? Mit meinem Vater sprechen, damit er meiner Mutter ins Gewissen redete? Er fuhr ja selbst zweimal die Woche betrunken vom Restaurant Landhaus, seiner Stammkneipe, nach Hause – eine Zeit lang ohne Führerschein, weil er mit eins Komma neun Promille erwischt worden war. Ich konnte mit meinem Vater nicht über Alkohol sprechen, eher mit dem Papst über den Unterschied zwischen Necking und Petting.
Aber das war es nicht. Es ging nicht darum, dass ich selbst beim besten Willen nichts hätte tun können: Sondern ich versuchte es gar nicht erst. Ich beließ es bei einem fahr vorsichtig, letztlich, weil ich Karin auf eine Weise liebte, die einem mehr gleichkam, mehr als meine Mutter. Darüber darf man sich nicht täuschen: anders bedeutet eben mehr. Meine Mutter war etwas Selbstverständliches in meinem Leben, Karin nicht. Mir stand jetzt aber der Sinn nicht nach Selbstverständlichem, ich hatte den Kopf nicht frei dafür. Und das bedeutete: Niemand unternahm auch nur den Versuch, es zu verhindern.
Es geschah an einem Tag, an dem ich mich mit Karin nach der Schule am Weiher traf. Nach jenem Kinobesuch. Nach einem geglückten Kuss während einer Schlägerei von Bud Spencer und Terence Hill in Zwei Himmelhunde auf dem Weg zur Hölle. Wir küssten uns zum Knallen der Fäuste – unser gemeinsames Lachen, weil die Geräuschkulisse so kurios war, machte die Küsse zu etwas Nebensächlichem.
Beim Treffen am Weiher trug ich meine David-Bowie-Schuhe, rosafarbene Plateau-Schuhe aus Glanzleder, mit weißen Gummisohlen und Zehn-Zentimeter-Absätzen: Ich war damit etwas größer als Karin. Sie stammte, wie gesagt, aus Berlin, einer Stadt, von der ich im Geschichtsunterricht gehört hatte. Bombennächte. Todesstreifen. Ich fand es sonderbar, dass dort überhaupt noch Menschen lebten. Vor einem Jahr war Karin an unserer Schule aufgetaucht, selbst den Turnlehrer um eine halbe Haupteslänge überragend. Sie war eine Attraktion und weckte den Neid der anderen Mädchen, die sie Giraffe nannten. Wir Jungs verstanden auf den ersten Blick, worin dieser Neid begründet war. Mit Karins Größe hatte es nichts zu tun. Sondern sie war anders. Eleganter als die anderen Mädchen, womit innere Eleganz gemeint ist, Geschmeidigkeit der Bewegung aus innerer Ruhe – aber so dachten wir natürlich nicht. Wir merkten nur einfach: Die hat was. Wir mussten hinschauen, und wir mussten Vergleiche ziehen, bei denen die anderen Mädchen schlecht abschnitten. Karin war selbstbewusster, weiblicher, und sie scherte sich nicht um Mode. Sie trug ihr Haar kurz, nicht mal bis zur Schulter, was damals als vorbei galt. Sie trug flache Schuhe, keine Stiefel, sie trug Stoffmäntel, keine afghanischen Lammfellmäntel, sie benutzte richtiges Parfüm und nicht Patschuli. Sie brauchte nicht schön zu sein, sie war es auch nicht, jedoch hübsch durchaus mit ihrem kastanienfarbenen Haar, ihren grünen Augen. Kastanien, Äpfel, ihr heller Teint: Schneewittchen. Wie auch immer, sie berührte in mir alles, das berührt werden konnte. Warum sie sich mit mir einließ, ich wusste es damals nicht. Es interessierten sich alle Jungs für sie, aber sie traf sich an jenem Tag mit mir am Weiher, und ich brachte ihr Ich liebe dich auf Schweizerdeutsch bei.
I ha di gärn.
Ich. Ha. Dich. Gern.
Nein: I. I ha di gärn.
I. Ha. Die. Gern.
Als sie es sagte, spürte ich: Ich hatte noch ein anderes Herz. Nicht nur das, das schlug, noch ein anderes.
Wir küssten uns am Weiher in beißender Kälte. Ich spürte Karins Zungenspitze in meinem Mund, eine kühle Zunge oder besser: kalt und warm zugleich, wie eine raffinierte Nachspeise. Wir küssten uns unter der Hochnebeldecke, die seit Tagen auf dem Städtchen lag wie der Deckel auf dem Topf. Die Enten im Weiher verharrten reglos, mit aufgeplustertem Gefieder auf den eisfreien Stellen, und Karin warf ihnen die Reste eines Brötchens zu. Sie behauptete, in Berlin gebe es keine Enten. Danach küssten wir uns wieder, spazierten Arm in Arm um den Weiher herum, schweigsam vor Glück.
Und in diesem Moment, als ich glücklich war wie nie zuvor, fuhr meine Mutter über der Nebeldecke, tausend Höhenmeter weiter oben, in ihrem Mini Cooper aus einer der engen Kurven hinaus ins Leere. Sie flog über die verschneiten Kuhweiden, die Vorderräder drehten sich noch in der Luft, die Hinterräder standen schon still, die Motorhaube neigte sich langsam nach unten, und die Windschutzscheibe wurde weiß, als die Kuhweide von unten herauf auf meine Mutter losraste.
Als ich, noch mit Karins Küssen auf den Lippen, nach Hause kam, mit dem Gefühl, dass etwas besiegelt worden war und von nun an eine Verbindung bestand, die mich um einen anderen Menschen erweiterte, sodass ich letztlich nicht mehr allein war – als ich glücklich, richtig glücklich nach Hause kam, war meine Mutter nicht da. Sie war nicht in der Küche, nicht im Wohnzimmer: dort nur mein Vater. Ich dachte: Sie ist schon im Bett. Das wäre nichts Ungewöhnliches gewesen. Nach der Rückkehr von ihren Ausflügen in die Berge legte sie sich manchmal gleich ins Bett, also in ihr Bett, sie schlief ganzjährig im Gästezimmer, auch in Friedenszeiten, wenn sie sich keine Gefechte lieferten.
Mein Vater, wie gesagt, war da, aber ich fragte ihn nicht etwa, ist Mama schon im Bett? So etwas hätte ich ihn nie gefragt. Wir sprachen miteinander nicht über Alltägliches, wir sprachen überhaupt nicht viel miteinander. Wir gingen miteinander sehr höflich um, wir redeten höflich hundert Worte die Woche, die Hälfte davon entfiel auf Hallo und Tschüs, Gute Nacht und solcherlei.
An jenem Tag saß mein Vater wie immer in seinem Miller Chair, wo sonst, er trank seinen White Label in Gesellschaft des Bären, der ermattet, alle viere von sich streckend, flach vor dem Sessel lag und mit seinen Glasaugen glotzte. Mein Vater schaute sich im Fernsehen eine Schlager-Sendung an. Ich erinnere mich an eine Liedzeile, die ich hörte, während ich in der Küche Frankfurter Würstchen warm machte: Warum denn gleich aufs Ganze gehen, die Hälfte ist doch auch ganz schön.
Ich aß, auch das war nicht ungewöhnlich, die Frankfurter Würstchen im Esszimmer allein. Mein Vater aß nicht, wenn er trank. Das heißt, ich weiß nicht, wann und was er aß, ich erinnere mich nicht, ihn während seiner Trinkphasen je etwas essen gesehen zu haben. Wenn er nicht auf White Label war, aßen wir abends hin und wieder zu dritt, im Kreis der Familie. Aber drei machen keinen Kreis, drei sind ein Dreieck, ein spitzwinkliges. Oben meine Mutter, unten ich und mein Vater, der jeweils wenig aß, ohne erkennbaren Genuss. Meistens aber aßen meine Mutter und ich zu zweit, das war gleichfalls kein Kreis, es war ein Gegenüber, das eines Kochs und eines Gastes. Meine Mutter kochte gern und gut, und ich war der Gast, der ihre Gerichte testete, worüber sie manchmal vergaß, selber zu essen.
Wie findest du die Sauce?
Super.
Ich habe diesmal den Rosmarin angeröstet. Man darf ihn nur nicht verbrennen lassen, sonst wird er bitter. Ist er bitter?
Nein, es schmeckt wirklich gut.
Das freut mich, Spätzchen.
Ich erinnere mich: Zwei Tage vor ihrem Unfall nannte sie mich zum letzten Mal Spätzchen. Ich mochte es nicht mehr. Ich war meiner Meinung nach zu alt, um noch so genannt zu werden. Zum Glück schwieg ich, zum Glück ließ ich sie es ein letztes Mal sagen, ohne ein Bitte nenn mich nicht mehr so.
Ich aß also an jenem Abend im Esszimmer allein die Frankfurter Würstchen, ohne Hunger, ich aß sie automatisch, ich konnte an nichts anderes als an Karin denken. Ihr Veilchenduft. Ihr grünes Lächeln. Ihr I ha die gern. Die Verbindlichkeit, mit der sie es gesagt hatte.
Ich glühte vor Glück.
Und in diesem Moment schnitten Feuerwehrmänner oben in den Bergen bei einbrechender Dunkelheit die Tür des Mini Cooper mit Schneidbrennern auf. Sie schnitten meine Mutter heraus, sie trennten Fleisch von Blech. Sie mussten sie zwischen dem Motorblock, der sich in den Fahrerraum geschoben hatte, und dem Lenkrad heraushebeln. Sie verletzten dabei ihren Arm, und es floss noch mehr Blut, aber das spielte keine Rolle, man rechnete nicht mit ihrem Überleben.
Nach den Würstchen ging ich in mein Zimmer, hörte mir fünf oder sechs Mal Maggie May an, onanierte mit innerem Blick auf Karins Mund und ihre Brüste, die ich am besten aus dem Turnunterricht kannte, wenn sie ihr rotes Turnleibchen trug. Danach erledigte ich Hausaufgaben, dann ins Bett. Nicht einmal im Schlaf erreichte mich etwas, irgendeine Ahnung, ein ungutes Gefühl, ein Traumfetzen, in dem meine Mutter mir zuwinkte – nein. Nichts. Ist das nicht ungeheuerlich? Dass man glücklich ist und zufrieden schläft, während zur selben Zeit jemand, den man liebt, stirbt? Fast stirbt?