Clive Cussler
& Paul Kemprecos
Brennendes Wasser
Roman
Aus dem Englischen von Thomas Haufschild
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Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Blue Gold« bei Pocket Books, New York.
E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © 2000 by Clive Cussler
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by Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
Redaktion: Sabine Wiermann
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-15178-2
V003
www.blanvalet.de
Prolog
Flughafen São Paulo,
Brasilien, 1991
Mit kraftvollem Schub der beiden Triebwerke hob die elegante Privatmaschine von der Startbahn ab und stieg in den Himmel über São Paulo empor. Kurz darauf erreichte der Learjet über der größten Stadt Südamerikas seine Reiseflughöhe von zwölftausend Metern und schoss mit einer Geschwindigkeit von achthundert Kilometern pro Stunde in Richtung Nordwesten davon. Auf einem bequemen Sessel im hinteren Teil der Kabine saß mit dem Rücken zur Flugrichtung Professor Francesca Cabral und blickte wehmütig aus dem Fenster auf die flauschige Wolkendecke. Die in Smog gehüllten Straßen und die knisternde Energie ihrer Heimatstadt fehlten ihr schon jetzt. Ein gedämpftes Schnarchen von der anderen Seite des schmalen Gangs riss sie aus ihren Gedanken. Sie warf einen Blick auf den schlafenden Mann mittleren Alters in dem zerknitterten Anzug und fragte sich kopfschüttelnd, was ihren Vater wohl dazu bewogen haben mochte, ihr ausgerechnet Phillipo Rodriques als Leibwächter zuzuweisen.
Francesca zog eine Mappe aus ihrem Aktenkoffer und begann damit, den Rand eines Manuskripts mit Notizen zu versehen. Es enthielt den Text eines Vortrags, den sie auf einer internationalen wissenschaftlichen Umweltkonferenz in Kairo zu halten gedachte. Sie hatte den Entwurf bereits ein Dutzend Mal überarbeitet, doch absolute Gründlichkeit war ihr zur zweiten Natur geworden. Francesca war eine erstklassige Ingenieurin und galt weithin als hervorragende Professorin, aber in einer männlich dominierten Gesellschaft und auf einem ebenso geprägten wissenschaftlichen Fachgebiet musste man als Frau stets ein wenig perfekter sein als alle anderen.
Die Worte auf dem Papier verschwammen. Am Vorabend war Francesca lange aufgeblieben, hatte ihre Sachen gepackt und die Fachunterlagen zusammengestellt. Außerdem war sie viel zu aufgeregt gewesen, um schlafen zu können. Jetzt musterte sie neidisch den dösenden Leibwächter und beschloss, ebenfalls ein Nickerchen zu machen. Sie legte das Redemanuskript beiseite, stellte die Rückenlehne ihres dick gepolsterten Sessels in Ruheposition und schloss die Augen. Das dumpfe Grollen der Turbinen wirkte zusätzlich beruhigend, und schon bald war Francesca eingeschlafen.
Sie träumte. Sie trieb auf dem Meer und stieg in der sanften Dünung wie eine Qualle sachte auf und ab. Es war ein angenehmes Gefühl, bis eine Woge sie plötzlich hoch in die Luft hob und dann wie einen defekten Aufzug steil nach unten stürzen ließ. Ihre Lider öffneten sich zitternd, und ihr Blick schweifte durch die Kabine. Sie fühlte sich seltsam beklommen, als hätte jemand gierig eine Hand nach ihrem Herzen ausgestreckt. Aber alles wirkte normal. Aus den Lautsprechern ertönte leise die betörende Melodie von Antonio Carlos Jobims »One Note Samba«. Phillipo schlief nach wie vor tief und fest. Dennoch blieb der Eindruck, dass etwas nicht in Ordnung war. Francesca beugte sich über den Gang und rüttelte leicht an der Schulter des Mannes. »Phillipo, wachen Sie auf.«
Der Leibwächter schreckte augenblicklich hoch, und seine Hand zuckte zu dem Holster unter der Jacke. Als er Francesca sah, beruhigte er sich wieder.
»Senhora, es tut mir Leid«, sagte er gähnend. »Ich bin eingeschlafen.«
»Ich auch.« Sie hielt inne, als würde sie angestrengt lauschen. »Irgendetwas stimmt hier nicht.«
»Was genau meinen Sie?«
Sie lachte nervös. »Ich weiß es nicht.«
Phillipo lächelte wissend. Er wirkte wie ein Mann, dessen Frau mitten in der Nacht einen Einbrecher zu hören glaubte. Besänftigend tätschelte er Francescas Hand. »Ich schaue mal nach.«
Er stand auf und streckte sich. Dann ging er nach vorn und klopfte an die Tür zum Cockpit. Die Tür öffnete sich, und er steckte den Kopf hindurch. Francesca hörte eine gedämpfte Unterhaltung und leises Gelächter.
Als Phillipo zurückkam, grinste er breit. »Die Piloten sagen, dass alles in Ordnung ist, Senhora.«
Francesca dankte dem Leibwächter, lehnte sich wieder auf dem Sessel zurück und atmete tief durch. Ihre Befürchtungen waren töricht. Die Aussicht, nach zwei Jahren anstrengender Arbeit nicht länger unter solch enormem Druck stehen zu müssen, hatte ihr anscheinend einen regelrechten Schreck eingejagt. Das Projekt hatte sie völlig mit Beschlag belegt, sie zahllose Tag- und Nachtstunden gekostet und ihr Privatleben arg in Mitleidenschaft gezogen. Ihr Blick fiel auf das Sofa, das sich quer über die Rückwand der Kabine erstreckte, und sie widerstand der plötzlichen Regung, sich davon zu vergewissern, dass der Metallkoffer auch weiterhin in dem Versteck hinter den Kissen verstaut war. Sie betrachtete das Gepäckstück am liebsten als eine umgekehrte Büchse der Pandora. Statt Unheil würde Gutes daraus hervorquellen, wenn man den Deckel aufklappte. Francescas Entdeckung würde Gesundheit und Glück für viele Millionen Menschen bedeuten, und die Welt wäre danach niemals mehr wie früher.
Phillipo brachte ihr eine kalte Flasche Orangensaft. Francesca bedankte sich und musste daran denken, wie sehr ihr der Leibwächter in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft bereits ans Herz gewachsen war. Mit seinem zerknitterten braunen Anzug, dem schütteren grau melierten Haar, dem schmalen Schnurrbart und der runden Brille hätte man ihn problemlos für einen zerstreuten Akademiker halten können. Francesca wusste nicht, dass er viele Jahre darauf verwandt hatte, diesen schüchternen, unbeholfenen Eindruck zu vervollkommnen. Dank seiner sorgsam kultivierten Fähigkeit, wie eine ausgeblichene Tapete mit dem Hintergrund zu verschmelzen, war er zu einem der besten Undercover-Agenten des brasilianischen Geheimdienstes geworden.
Francescas Vater hatte sich mit Bedacht für Rodriques entschieden. Anfangs gefiel es ihr überhaupt nicht, dass ihr Vater auf der Begleitung durch einen Leibwächter bestand. Immerhin war sie bei weitem zu alt für einen Babysitter. Als sie erkannte, dass er wirklich nur aufrichtig um ihr Wohlergehen besorgt war, willigte sie schließlich ein. Allerdings argwöhnte sie, dass ihr Vater sich eher Gedanken um gut aussehende Mitgiftjäger als um eine echte Gefährdung von Francescas Sicherheit machte.
Auch ohne das beträchtliche Vermögen ihrer Familie hätte Francesca die Aufmerksamkeit der Männer erregt. In einem Land mit vornehmlich dunkler Haar- und Hautfarbe stach sie deutlich aus der Masse hervor. Die blauschwarzen mandelförmigen Augen, die langen Wimpern und den nahezu perfekten Mund verdankte sie ihrem japanischen Großvater. Ihre deutsche Großmutter hatte ihr das dunkelblonde Haar, den hohen Wuchs und den teutonischen Starrsinn vererbt, der in ihrem anmutig geformten Kinn zum Ausdruck kam. Und ihre mehr als passable Figur, so hatte sie vor langer Zeit beschlossen, musste wohl mit dem Leben in Brasilien zusammenhängen. Die Körper der brasilianischen Frauen schienen speziell für den Nationaltanz des Landes gestaltet zu sein, die Samba. Francesca hatte die Gaben der Natur zudem durch viele Stunden im Fitnessraum verbessert, wo sie Ablenkung von den Strapazen der Arbeit fand.
Als das japanische Kaiserreich unter zwei Atompilzen zu Schutt und Asche zerfiel, stand Francescas Großvater als untergeordneter Diplomat im Dienst der japanischen Botschaft in Brasilien. Er blieb im Land, heiratete die Tochter eines nun ebenfalls brotlosen Gesandten des Dritten Reiches, wurde brasilianischer Staatsbürger und wandte sich seiner früheren Leidenschaft zu, dem Gartenbau. Dann zogen er und die Familie nach São Paulo, wo er mit seiner Firma als Landschaftsgärtner für die Reichen und Mächtigen arbeitete und im Laufe der Zeit enge Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten aus Regierung und Militär knüpfte. Sein Sohn, Francescas Vater, nutzte diese Kontakte, um mühelos eine hohe Position im Handelsministerium zu erlangen. Ihre Mutter war eine ausgezeichnete Ingenieurstudentin, gab jedoch zugunsten der Ehe und des Kindes die Karriere auf. Sie bereute diese Entscheidung nie – zumindest ließ sie sich nichts dergleichen anmerken –, aber sie war hocherfreut, als Francesca beschloss, in ihre akademischen Fußstapfen zu treten.
Ihr Vater hatte vorgeschlagen, sie mit seinem Privatjet nach New York fliegen zu lassen, wo sie zunächst mit Vertretern der Vereinten Nationen zusammentreffen und dann per Linienflug nach Kairo weiterreisen würde. Sie freute sich über diesen – wenngleich kurzen – Abstecher in die Vereinigten Staaten und wünschte, sie könnte die Maschine schneller fliegen lassen. Das mehrjährige Ingenieurstudium an der Stanford University in Kalifornien würde ihr stets in angenehmer Erinnerung bleiben. Sie sah aus dem Fenster und stellte fest, dass sie nicht wusste, wo genau sie sich derzeit befanden. Die Piloten hatten seit dem Start in São Paulo keinerlei Angaben über den Verlauf des Fluges gemacht. Sie entschuldigte sich kurz bei Phillipo, ging nach vorn und steckte den Kopf ins Cockpit.
»Bom dia, Senhores. Ich frage mich nur gerade, wo wir sind und wie lange der Flug noch dauert.«
Der Kapitän hieß Riordan, ein grobknochiger Amerikaner mit strohblondem Bürstenhaarschnitt und texanischem Akzent. Francesca hatte ihn noch nie zuvor gesehen, aber das war nicht erstaunlich. Genauso wenig wie der Umstand, dass Riordan eine ausländische Staatsangehörigkeit besaß. Die Maschine befand sich zwar in Privatbesitz, doch die Wartung oblag einer einheimischen Fluggesellschaft, die zudem die Piloten stellte.
»Guten Tag«, erwiderte er mit schiefem Grinsen. Sein gedehnter Tonfall und das furchtbar schlechte Portugiesisch taten Francesca in den Ohren weh. »Verzeihen Sie, dass wir Sie nicht auf dem Laufenden gehalten haben, Miss. Ich hab Sie schlafen sehen und wollte nicht stören.« Er zwinkerte seinem Kopiloten zu, einem untersetzten Brasilianer, dessen muskulöse Statur darauf schließen ließ, dass er häufig mit Gewichten hantierte. Der Mann lächelte einfältig und ließ die Augen über Francescas Körper wandern. Sie kam sich wie eine Mutter vor, die zwei unartige Jungen bei einem Streich erwischt hatte.
»Wie sieht unser Zeitplan aus?«, fragte sie betont sachlich.
»Tja, im Augenblick sind wir über Venezuela. In ungefähr drei Stunden dürften wir in Miami eintreffen. Dann vertreten wir uns ein wenig die Beine, während die Maschine aufgetankt wird, und etwa weitere drei Stunden später müssten wir in New York landen.«
Francescas wissenschaftlich geschulte Aufmerksamkeit richtete sich auf die Monitore in der Instrumententafel. Der Kopilot registrierte ihren Blick und konnte nicht umhin, bei der hübschen Frau Eindruck schinden zu wollen.
»Dieses Flugzeug ist dermaßen schlau, dass es von ganz allein fliegen kann, während wir uns im Fernsehen die Fußballspiele angucken«, sagte er und entblößte seine großen Zähne.
»Lassen Sie sich von Carlos nichts vormachen«, sagte der Pilot. »Das hier ist das EFIS, das elektronische Fluginstrumenten-System. Statt der früheren Zeigerskalen verfügen wir heutzutage über Bildschirme.«
»Danke«, entgegnete Francesca höflich. Sie wies auf ein anderes Instrument. »Ist das dort ein Kompass?«
»Sim, sim«, sagte der Kopilot, der hörbar stolz auf seine fachkundige Unterweisung war.
»Warum zeigt er dann an, dass wir fast genau nach Norden fliegen?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Müssten wir nach Miami nicht eine etwas westlichere Richtung einschlagen?«
Die beiden Männer sahen sich an. »Sie sind ziemlich aufmerksam, Senhora«, sagte der Texaner. »Stimmt genau. Aber in der Luft ist eine gerade Linie nicht immer der schnellste Weg von einem Punkt zum andern. Das hat mit der Erdkrümmung zu tun. Wenn Sie zum Beispiel von den USA nach Europa fliegen, verläuft der kürzeste Weg zunächst nach oben und dann in einem weiten Bogen nach rechts. Außerdem müssen wir den kubanischen Luftraum berücksichtigen. Schließlich wollen wir dem alten Fidel ja keinen Schreck einjagen.«
Wieder dieses schnelle Zwinkern und Grinsen.
Francesca nickte verständnisvoll. »Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, Gentlemen. Es war höchst aufschlussreich. Und jetzt überlasse ich Sie wieder Ihrer Arbeit.«
»Kein Problem, Ma’am. Jederzeit gern.«
Francesca schäumte vor Wut, als sie wieder Platz nahm. Idioten! Hielten die sie für komplett bescheuert? Die Erdkrümmung, lachhaft!
»Alles in Ordnung, wie ich gesagt habe?«, fragte Phillipo und blickte von einer Zeitschrift auf.
Francesca beugte sich über den Gang. »Nein, ganz und gar nicht. Ich glaube, dass dieses Flugzeug vom Kurs abgewichen ist«, sagte sie leise und ruhig und berichtete ihm dann von der Kompassanzeige. »Ich habe im Schlaf irgendwas Seltsames gespürt. Vermutlich war es die Lageänderung der Maschine, als sie die Richtung gewechselt haben.«
»Vielleicht irren Sie sich.«
»Vielleicht. Aber ich glaube, ich habe Recht.«
»Haben Sie die Piloten nach einer Erklärung gefragt?«
»Ja. Sie haben mich mit einer absurden Geschichte abgespeist und behauptet, aufgrund der Erdkrümmung sei die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten keine gerade Linie.«
Er zog eine Augenbraue hoch. Die Erklärung verblüffte ihn offenbar, doch er war noch immer nicht überzeugt. »Ich weiß nicht…«
Francesca fiel noch ein andere Unstimmigkeit ein. »Erinnern Sie sich noch, was die beiden gesagt haben, als sie an Bord gekommen sind? Dass sie Ersatzpiloten seien?«
»Ja, klar. Sie haben gesagt, ihre Kollegen hätten kurzfristig einen anderen Flug übernehmen müssen und sie gebeten, stattdessen einzuspringen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Komisch. Warum haben sie es überhaupt erwähnt? Fast so, als wollten sie von vornherein jede eventuelle Frage abwimmeln. Aber wieso?«
»Ich verstehe auch ein wenig von Navigation«, sagte Phillipo nachdenklich. »Ich werde mich mal selbst überzeugen.« Dann schlenderte er erneut zum Cockpit. Sie hörte die Männer lachen, und nach ein paar Minuten kehrte er lächelnd an seinen Platz zurück. Das Lächeln verschwand, als er sich setzte.
»Im Cockpit befindet sich eine Anzeige, auf der man die ursprüngliche Flugroute sehen kann. Wir befinden uns nicht länger auf der blauen Linie, wie es eigentlich der Fall sein müsste. Und mit dem Kompass haben Sie ebenfalls Recht gehabt«, sagte er. »Wir sind nicht auf dem korrekten Kurs.«
»Was, in Gottes Namen, geht hier vor, Phillipo?«
Seine Miene wurde ernst. »Da ist etwas, wovon Ihr Vater Ihnen nichts erzählt hat.«
»Was denn?«
Phillipo blickte zur geschlossenen Cockpittür. »Ihm ist einiges zu Ohren gekommen. Nichts, das auf eine konkrete Gefahr für Sie hingedeutet hätte, aber genug, um ihn wünschen zu lassen, dass ich mich in Ihrer Nähe befinde, falls Sie Hilfe brauchen.«
»Anscheinend könnten wir jetzt beide etwas Hilfe gebrauchen.«
»Sim, Senhora. Aber leider müssen wir allein zurechtkommen.«
»Haben Sie eine Waffe?«, fragte sie unvermittelt.
»Aber sicher«, erwiderte er und schien leicht amüsiert zu sein, dass diese hübsche und kultivierte Frau ganz nüchtern eine solche Frage stellte. »Soll ich die beiden erschießen?«
»Ich wollte damit… nein, natürlich nicht«, sagte sie niedergeschlagen. »Haben Sie eine Idee?«
»Eine Waffe ist nicht nur zum Schießen da«, sagte er. »Man kann sie auch zur Einschüchterung benutzen und andere Leute dadurch veranlassen, etwas gegen ihren Willen zu tun.«
»Uns beispielsweise in die richtige Richtung zu fliegen?«
»Das hoffe ich, Senhora. Ich gehe nach vorn und bitte die beiden ganz höflich, auf dem nächsten Flughafen zu landen, weil Sie es angeblich so wünschen. Falls die Männer sich weigern, zeige ich ihnen meine Waffe und sage, ich würde sie nur ungern benutzen.«
»Sie dürfen sie nicht benutzen«, warf Francesca beunruhigt ein. »Falls Sie in dieser Höhe ein Loch in die Bordwand schießen, fällt der Kabinendruck ab, und wir alle sind innerhalb weniger Sekunden tot.«
»Gutes Argument. Das wird deren Angst verstärken.« Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Ich habe Ihrem Vater versprochen, ich würde auf Sie aufpassen, Senhora.«
Sie schüttelte den Kopf, als ließe die Angelegenheit sich dadurch bereinigen. »Was ist, falls ich mich irre und die beiden bloß unschuldige Piloten sind, die ihre Arbeit tun?«
»Ganz einfach«, entgegnete er achselzuckend. »Wir melden uns über Funk beim Tower, landen auf dem nächsten Flughafen, rufen die Polizei, klären die Sache und setzen dann unsere Reise fort.«
Er verstummte schlagartig. Die Tür zum Cockpit öffnete sich, und der Kapitän betrat die Kabine. Gemächlich näherte er sich den Fluggästen und musste in dem niedrigen Raum den Kopf einziehen.
»Der Witz, den Sie eben erzählt haben, war wirklich gut«, sagte er mit seinem schiefen Grinsen. »Kennen Sie noch einen?«
»Leider nicht, Senhor«, sagte Phillipo.
»Tja, aber ich hab hier einen für Sie«, erwiderte der Pilot und musterte ihn dabei träge unter schweren Lidern. Alles andere als träge war jedoch die flüssige Bewegung, mit der Riordan auf einmal hinter sich griff und eine Pistole aus dem Hosenbund zog.
»Her damit«, sagte er zu Phillipo. »Schön langsam.«
Behutsam schlug Phillipo das Revers seiner Jacke zurück und gab dadurch den Blick auf sein Schulterholster frei. Dann zog er mit den Fingerspitzen die Waffe daraus hervor. Der Pilot nahm sie ihm ab und steckte sie sich in den Gürtel.
»Danke, Amigo«, sagte er. »Es ist stets angenehm, mit einem Profi zu tun zu haben.« Er nahm auf einer Armlehne Platz und zündete sich mit der freien Hand eine Zigarette an. »Ich habe mich mit meinem Partner besprochen, und wir sind beide der Meinung, dass Sie womöglich Lunte gerochen haben. Irgendwie kam es uns so vor, als wollten Sie uns beim zweiten Besuch im Cockpit ausspionieren, und daher haben wir beschlossen, für klare Verhältnisse zu sorgen, damit es keine Missverständnisse gibt.«
»Kapitän Riordan, was geht hier vor?«, fragte Francesca. »Wohin bringen Sie uns?«
»Man hat mich gewarnt, Sie seien ziemlich clever«, sagte der Pilot und lachte leise. »Mein Kumpel hätte lieber nicht mit der Technik des Flugzeugs prahlen sollen.« Er stieß den Tabakrauch durch die Nasenlöcher aus. »Sie haben Recht. Wir fliegen nicht nach Miami, sondern wir sind unterwegs nach Trinidad.«
»Trinidad?«
»Es soll dort wirklich sehr hübsch sein.«
»Was soll das?«
»Ganz einfach, Senhorita. Am Flughafen wartet bereits ein Empfangskomitee auf Sie. Fragen Sie mich nicht, um was für Leute es sich handelt, denn ich habe keine Ahnung. Ich weiß lediglich, dass wir angeheuert wurden, Sie dort abzuliefern. Alles sollte ganz reibungslos vonstatten gehen. Wir hätten Ihnen erzählt, es sei wegen technischer Probleme eine Zwischenlandung notwendig.«
»Was ist mit den Piloten geschehen?«, fragte Phillipo.
»Die hatten einen Unfall«, erwiderte Riordan und zuckte die Achseln. Dann ließ er die Zigarette fallen und trat sie aus. »Ich sage Ihnen, wie es jetzt weitergeht, Miss. Sie rühren sich nicht vom Fleck, dann gibt’s auch keine Schwierigkeiten. Und was Sie anbelangt, cavaleiro, so bedauere ich, dass Sie dank uns wohl Ärger mit Ihren Bossen bekommen dürften. Ich könnte Sie zwar beide fesseln, aber ich vermute, Sie werden keine Dummheiten machen, solange Sie diese Kiste nicht selbst fliegen können. Ach ja, eines noch. Hoch mit Ihnen, Kumpel, und umdrehen!«
Phillipo glaubte, er solle gefilzt werden, und so gehorchte er widerspruchslos. Francescas Warnung kam zu spät. Der Lauf der Waffe sauste wie ein silbriger Schemen herab und traf den Leibwächter mit einem widerlichen Knirschen oberhalb des rechten Ohrs. Phillipo stieß einen lauten Schrei aus und brach zusammen.
Francesca sprang von ihrem Platz auf. »Was soll das?«, rief sie trotzig. »Sie haben seine Waffe. Er hätte Ihnen doch gar nichts tun können.«
»Tut mir Leid, Miss, aber ich gehe lieber auf Nummer Sicher.« Riordan stieg über die auf dem Gang liegende Gestalt hinweg, als handelte es sich um einen Sack Kartoffeln. »Um einen Kerl von Unklugheiten abzuhalten, geht wirklich nichts über einen Schlag auf den Schädel. Da drüben an der Wand hängt ein Verbandkasten. Kümmern Sie sich um den Mann. Damit dürften Sie bis zur Landung genug zu tun haben.« Er tippte sich mit der Hand an den Schirm seiner Mütze, ging zurück ins Cockpit und schloss die Tür hinter sich.
Francesca kniete sich neben ihren bewusstlosen Leibwächter, tränkte einige Stoffservietten mit Mineralwasser und drückte sie auf die Verletzung, bis die Blutung gestillt war. Nach einer gründlichen Reinigung besprühte sie die Platzwunde und den umliegenden Bluterguss mit einem Antiseptikum, fertigte aus einer weiteren Serviette einen Umschlag voller Eiswürfel und presste diesen dann auf den Kopf des Mannes, um die Schwellung zu lindern.
Während Francesca dort neben ihm saß, versuchte sie, eine mögliche Erklärung für die Vorfälle zu finden. Eine Entführung aus finanziellen Gründen schloss sie aus. Allein das von ihr entdeckte Verfahren konnte der Anlass für eine solch groß angelegte Aktion sein. Wer auch immer hinter diesem verrückten Vorhaben steckte, wollte mehr als ein maßstabsgetreues Modell und ein paar Unterlagen über Francescas Projekt. Andernfalls hätte man einfach in ihre Arbeitsräume einbrechen oder am Flughafen ihr Gepäck entwenden können. Doch man brauchte Francesca, denn nur sie persönlich war in der Lage, die Details des Prozesses zu überblicken. Die von ihr entwickelte Methode wirkte dermaßen unergründlich, andersartig und abseits der wissenschaftlichen Norm, dass niemand sonst bislang darauf gekommen war.
Das alles ergab keinen Sinn! In ein oder zwei Tagen wollte sie den Ländern dieser Welt das besagte Verfahren völlig unentgeltlich zur Verfügung stellen. Ohne Patente. Ohne Copyright. Ohne Tantiemen. Absolut kostenfrei. Sie spürte immer größere Wut in sich aufsteigen. Diese skrupellosen Leute hielten sie davon ab, das Los vieler Millionen Menschen zu verbessern.
Phillipo stöhnte. Er kam wieder zu sich. Zunächst blinzelte er benommen, dann klärte sich sein Blick.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte sie.
»Es tut höllisch weh, also bin ich wohl noch am Leben. Bitte helfen Sie mir, mich aufzurichten.«
Francesca legte einen Arm um Phillipos Schultern und zog ihn hoch, bis er sich mit dem Rücken gegen einen Sitz lehnen konnte. Sie schraubte den Verschluss von einer Flasche Rum, die sie aus der Bar geholt hatte, und hob sie an seine Lippen. Er nippte vorsichtig an dem Alkohol, stellte fest, dass sein Magen nicht sofort revoltierte, und trank einen kräftigen Schluck. Dann verharrte er einen Moment lang, um die weitere Wirkung abzuwarten. Als er sich noch immer nicht übergeben musste, begann er zu lächeln. »Jetzt geht’s mir schon besser. Vielen Dank.«
Sie reichte ihm seine Brille. »Ich fürchte, die ist bei dem Schlag zerbrochen.«
Er warf das Gestell beiseite. »Das war ohnehin nur Fensterglas. Ich komme bestens ohne zurecht.« Der kühle Blick, mit dem er Francesca nun tief in die Augen sah, war nicht der eines verängstigten Mannes. Er schaute zu der geschlossenen Cockpittür. »Wie lange war ich bewusstlos?«
»Ungefähr zwanzig Minuten.«
»Gut, dann bleibt noch genug Zeit.«
»Zeit wofür?«
Seine Hand glitt hinunter zum Knöchel und kam mit einem stupsnasigen Revolver wieder zum Vorschein.
»Falls unser Freund nicht so versessen darauf gewesen wäre, mir eins überzubraten, hätte er den hier vermutlich gefunden«, sagte er mit grimmigem Lächeln.
Das war eindeutig nicht mehr derselbe zerknitterte Mann, der eher wie ein zerstreuter Professor als wie ein Leibwächter gewirkt hatte, doch Francescas Erleichterung legte sich sogleich wieder. »Was können Sie denn schon ausrichten? Die beiden haben mindestens zwei Waffen, und wir können die Maschine nicht fliegen.«
»Verzeihung, Senhora Cabral, das ist noch so ein Versäumnis meinerseits.« Er klang beinahe schuldbewusst. »Ich habe vergessen zu erwähnen, dass ich vor meinem Wechsel zum Geheimdienst bei der brasilianischen Luftwaffe war. Bitte helfen Sie mir auf.«
Francesca war sprachlos. Welche weiteren Kaninchen würde dieser Mann wohl noch aus dem Hut ziehen? Sie stützte ihn, bis er sich allein auf zitternden Beinen halten konnte. Eine Minute später schien ihn neue Kraft und Entschlossenheit zu durchströmen. »Sie bleiben hier, bis ich Ihnen weitere Anweisungen erteile«, sagte er im Tonfall eines Mannes, der es gewöhnt war, dass man seinen Befehlen gehorchte.
Dann trat er vor und öffnete die Tür. Der Pilot warf einen Blick über die Schulter. »Na, sieh mal an, wer jetzt schon aus dem Schattenreich zurückgekehrt ist. Ich habe anscheinend nicht hart genug zugeschlagen.«
»Eine zweite Gelegenheit werden Sie nicht erhalten«, sagte Phillipo und drückte dem Texaner schmerzhaft den Lauf des Revolvers hinter das Ohr. »Wenn ich einen von Ihnen erschieße, kann der andere immer noch das Flugzeug fliegen. Meldet sich jemand freiwillig?«
»Verdammt, du hast doch gesagt, du hättest ihm die Waffe abgenommen!«, rief Carlos.
»Ihr Gedächtnis lässt zu wünschen übrig, cavaleiro«, entgegnete der Pilot mit ungerührter Stimme. »Wenn Sie uns umlegen, kann niemand mehr die Kiste in der Luft halten.«
»Doch, cavaleiro. Ich selbst. Leider habe ich meinen Pilotenschein heute nicht dabei. Sie müssen sich schon auf mein Wort verlassen.«
Riordan wandte den Kopf ein kleines Stück zur Seite und sah das kalte Lächeln auf dem Gesicht des Leibwächters.
»Ich nehme zurück, was ich vorhin über den Umgang mit Profis behauptet habe«, sagte Riordan. »Was nun, Kumpel?«
»Geben Sie mir die beiden Waffen. Eine nach der anderen.«
Der Pilot kam der Aufforderung nach, und Phillipo reichte die Pistolen an Francesca weiter, die inzwischen hinter ihm stand.
»Jetzt aufstehen«, befahl Phillipo und wich in die Kabine zurück. »Ganz langsam.«
Riordan blickte zu Carlos und stemmte sich aus dem Sitz. Dann deutete er mit ausgestreckten Fingern eine Drehbewegung an, während sein Körper die Geste vor Phillipo abschirmte. Der Kopilot nickte kaum merklich.
Der Leibwächter trat immer weiter in die Kabine zurück, und der Pilot folgte ihm wie an einer imaginären Leine. »Ich möchte, dass Sie sich mit dem Gesicht nach unten auf das Sofa legen«, sagte Phillipo und behielt die Waffe unterdessen auf Riordans Brust gerichtet.
»Prima, ich habe mich schon auf ein Nickerchen gefreut«, sagte der Pilot. »Das ist wirklich nett von Ihnen.«
Francesca war seitlich auf einen Sitz ausgewichen und hatte die beiden Männer an sich vorbeigelassen. Phillipo bat sie, einige Müllsäcke aus dem Stauraum unter einem der vorderen Plätze zu holen. Er wollte den Piloten mit Hilfe der Plastiktüten fesseln. Sobald Riordan kaltgestellt war, würde der Leibwächter sich nur noch mit dem Kopiloten auseinandersetzen müssen.
Die Kabine war knapp vier Meter lang. Aufgrund der Enge musste Phillipo zur Seite treten, um den anderen Mann passieren zu lassen. Er warnte Riordan, keine Tricks zu versuchen, denn aus dieser Entfernung würde jeder Schuss unweigerlich treffen. Riordan nickte und ging auf die Rückwand zu. Die beiden Männer befanden sich nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, als der Kopilot die Maschine über die linke Seite abkippen ließ.
Riordan hatte mit dieser Aktion gerechnet, wenngleich ohne den genauen Zeitpunkt zu kennen, doch die Heftigkeit des Manövers überraschte ihn. Er verlor das Gleichgewicht, wurde auf einen Sitz geschleudert und schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Phillipo kam ebenfalls ins Straucheln, flog quer durch die Kabine und landete auf Riordan.
Der Pilot bekam den rechten Arm frei und hieb mit seiner großen Faust gegen Phillipos Kinn. Der Leibwächter sah augenblicklich Sterne und hätte fast erneut das Bewusstsein verloren, doch es gelang ihm, die Waffe festzuhalten. Riordan holte zu einem weiteren Schlag aus, den Phillipo jedoch mit dem Ellbogen abblocken konnte.
Beide Männer waren erfahrene Nahkämpfer. Phillipo stieß mit gekrümmten Fingern nach Riordans Augen, doch der Pilot biss ihm in den Handballen. Dann hämmerte der Leibwächter sein Knie in Riordans Unterleib, und als der Pilot den Mund aufriss, ruckte Phillipos Kopf nach vorn und zertrümmerte dem Gegner das Nasenbein. Er hätte wahrscheinlich die Oberhand gewonnen, doch in diesem Moment steuerte der Kopilot das Flugzeug scharf nach rechts.
Die beiden Kontrahenten flogen auf die andere Seite des Ganges. Jetzt lag der Amerikaner oben. Phillipo wollte ihn mit dem Revolverlauf schlagen, aber der Pilot umschlang mit beiden Händen seine Faust, drückte sie erst zur Seite und dann nach unten. Phillipo war stark, doch Riordans beidhändiger Angriff war stärker. Der Lauf näherte sich immer mehr Phillipos Leib.
Jetzt packte der Pilot die Waffe und zerrte daran. Phillipo versuchte, sich die Pistole nicht abnehmen zu lassen, und beinahe hätte er sie auch wieder zu fassen bekommen, aber das Blut, das unaufhörlich aus Riordans Nase strömte, ließ das Metall schlüpfrig werden. Mit einem kraftvollen Ruck riss der Pilot den Revolver an sich, legte den Finger um den Abzug und drückte ab. Es ertönte ein gedämpfter Knall. Phillipo bäumte sich auf und sackte dann in sich zusammen. Die Kugel war tief in seine Brust gedrungen.
Der Kopilot brachte die Maschine wieder in eine waagerechte Flugposition. Riordan ließ die Pistole fallen, stand auf und taumelte in Richtung Cockpit. Dann blieb er stehen und wandte sich um, weil er anscheinend spürte, dass etwas nicht stimmte.
Phillipo hatte den Revolver ergriffen und bemühte sich gerade, die Waffe in Anschlag zu bringen. Riordan stürzte sofort auf ihn zu. Ein Schuss peitschte auf und erwischte den Piloten an der Schulter, ohne ihn dadurch stoppen zu können. Phillipos Gehirn hörte auf zu arbeiten, doch sein Finger krümmte sich noch zwei Mal. Die nächste Kugel traf Riordans Herz und tötete ihn auf der Stelle. Die dritte verfehlte ihn. Als der Pilot krachend auf dem Boden der Kabine aufschlug, fiel Phillipos Hand zurück auf die Brust.
Der gesamte Kampf hatte nur wenige Sekunden gedauert. Francesca war ebenfalls zwischen den Sitzen hin und her geschleudert worden und hatte sich nicht gerührt, als der blutüberströmte Pilot zurück zum Cockpit wankte. Die folgenden Schüsse ließen sie abermals den Kopf einziehen.
Vorsichtig schaute sie hinaus auf den Gang und sah den reglosen Körper des Piloten. Sie kroch an Phillipos Seite, entrang seiner blutigen Hand die Pistole und ging zum Cockpit. Sie war viel zu wütend, um Angst zu empfinden. Ihr Zorn verwandelte sich alsbald in Entsetzen.
Der Kopilot war in sich zusammengesunken und wurde nur durch den Sicherheitsgurt gehalten. In der Trennwand zwischen Kabine und Cockpit befand sich ein kleines Loch. Phillipos dritter Schuss war erst durch die Wand und dann durch die Rückenlehne des Kopiloten gedrungen.
Francesca richtete den Mann auf. Sein Stöhnen verriet, dass er noch am Leben war.
»Können Sie sprechen?«, fragte sie.
Carlos verdrehte die Augen. »Ja«, krächzte er.
»Gut. Sie haben eine Schussverletzung erlitten, aber ich glaube, es wurden keine lebenswichtigen Organe getroffen«, log sie. »Ich werde die Blutung stillen.«
Sie holte den Verbandkasten und dachte dabei, dass jetzt eigentlich ein Ärzteteam aus der Notaufnahme eines Krankenhauses erforderlich gewesen wäre. Als sie das Blut sah, das aus der Wunde des Mannes hervorquoll, den Rücken hinunterrann und sich in einer Pfütze auf dem Boden sammelte, wurde sie fast ohnmächtig. Die Kompresse färbte sich sofort dunkelrot, aber vielleicht ließ sich der Blutverlust dadurch zumindest ein wenig aufhalten. Es war schwer zu sagen. Francesca wusste lediglich, dass der Mann auf jeden Fall sterben würde.
Mit plötzlicher Angst blickte sie auf die beleuchtete Instrumententafel, denn ihr wurde auf einmal bewusst, dass sie auf diesen Sterbenden angewiesen war. Sie musste ihn unbedingt am Leben erhalten.
Sie holte die Flasche Rum und hielt sie Carlos an die Lippen. Der Alkohol tröpfelte sein Kinn hinab, und der kleine Schluck, den er trank, ließ ihn husten. Er bat um noch einen Schluck. Der starke Rum rötete seine bleichen Wangen, und sein glasiger Blick schien an Stärke zu gewinnen.
»Sie müssen fliegen«, flüsterte Francesca ihm ruhig ins Ohr. »Das ist unsere einzige Chance.«
Die Nähe einer schönen Frau wirkte anscheinend zusätzlich belebend auf ihn. Seine Augen waren immer noch leicht getrübt, aber er sah sie aufmerksam an. Er nickte und streckte die zitternde Hand nach dem Funkgerät aus, über das er direkt mit der Flugsicherung in Rio verbunden war. Francesca glitt auf den Pilotensitz und streifte sich das Headset über. Die Stimme des Fluglotsen meldete sich. Carlos sah Francesca Hilfe suchend an. Sie ergriff das Wort und schilderte die missliche Lage.
»Was raten Sie uns?«, fragte sie.
Die Pause schien endlos zu dauern. »Fliegen Sie umgehend nach Caracas.«
»Zu weit«, stieß Carlos unter großer Anstrengung ächzend hervor. »Irgendwo näher.«
Erneut vergingen einige quälend langsame Sekunden.
Der Fluglotse meldete sich zurück. »Ein Stück vor Caracas, in San Pedro, rund dreihundert Kilometer von Ihrer gegenwärtigen Position, befindet sich ein kleiner Provinzflughafen. Ein Instrumentenanflug ist dort nicht möglich, aber wir haben erstklassige Wetterbedingungen. Können Sie das schaffen?«
»Ja«, sagte Francesca.
Der Kopilot machte sich an der Tastatur des Flugcomputers zu schaffen. Unter Aufbietung aller Kräfte erkundigte er sich bei dem Lotsen nach der internationalen Kennung San Pedros und gab sie in den Computer ein.
Das Flugzeug beschrieb wie von Geisterhand eine Kurve.
Carlos lächelte matt. »Ich hab Ihnen ja gesagt, dass diese Maschine ganz allein fliegen kann, Senhora.« Seine keuchend hervorgestoßenen Worte klangen irgendwie schläfrig. Der Blutverlust schwächte ihn zusehends. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er das Bewusstsein verlieren würde.
»Mir ist egal, wer fliegt«, sagte Francesca barsch. »Bringen Sie uns nur heil nach unten.«
Carlos nickte und erteilte per Computer den Befehl, die Flughöhe automatisch auf sechshundert Meter zu senken. Die Maschine begann mit dem Abstieg durch die Wolken, und schon bald war unter ihnen grüne Vegetation zu erkennen. Der Anblick des Bodens beruhigte Francesca, aber er ängstigte sie auch. Ihre Furcht nahm zu, als Carlos plötzlich wie unter einem Stromschlag erzitterte. Er packte Francescas Hand und umklammerte sie fest.
»Ich schaff’s nicht bis San Pedro«, keuchte er.
»Sie müssen«, beharrte Francesca.
»Unmöglich.«
»Verdammt, Carlos, Sie und Ihr Partner haben uns in diese Klemme gebracht, und Sie werden uns jetzt gefälligst auch wieder herausbringen!«
Er lächelte geistesabwesend. »Was wollen Sie tun, Senhora? Mich erschießen?«
Ihre Augen funkelten wütend. »Sie werden sich noch wünschen, ich hätte es getan, falls Sie diese Kiste nicht landen.«
Er schüttelte den Kopf. »Notlandung. Unsere einzige Chance. Suchen Sie nach einer geeigneten Stelle.«
Durch das große Cockpitfenster war nur dichter Regenwald zu erkennen. Francesca kam es fast so vor, als würden sie über ein endloses Feld voller Brokkoli fliegen. Erneut suchte sie den grünen Horizont ab. Hoffnungslos. Halt. Irgendetwas funkelte im Sonnenlicht.
»Was ist das?«, fragte sie und zeigte darauf.
Carlos schaltete den Autopiloten ab, nahm den Steuerknüppel in beide Hände und hielt auf die Spiegelung zu, die von einem riesigen Wasserfall stammte. Ein schmaler, gewundener Fluss kam in Sicht. Daneben befand sich eine unregelmäßig geformte Lichtung mit gelbbrauner Vegetation.
Auch Carlos schien nun beinahe automatisch zu reagieren. Er flog an dem offenen Gelände vorbei und dann mit dreißig Grad Schräglage in eine Rechtskurve, um sich der Lichtung in weitem Bogen erneut aus der ursprünglichen Richtung anzunähern. Durch eine weitere enge Rechtskurve brachte er das Flugzeug schließlich auf den endgültigen Kurs. Sie befanden sich jetzt in fünfhundertfünfzig Metern Höhe und sanken auf einer lang gezogenen, flachen Geraden nach unten. Carlos fuhr die Landeklappen aus, um die Geschwindigkeit weiter zu senken.
»Zu tief!«, knurrte er. Die Baumwipfel rasten ihnen entgegen. Mit der übermenschlichen Kraft der Verzweiflung streckte Carlos die Hand nach dem Gashebel aus und gab mehr Schub. Die Maschine begann wieder ein wenig zu steigen.
Seine Sicht verschwamm. Ihn verließ der Mut. Es war ein furchtbarer Landeplatz, uneben und winzig wie eine Briefmarke. Ihre Geschwindigkeit betrug zweihundertfünfzig Kilometer pro Stunde. Zu schnell.
Seiner Kehle entfuhr ein rasselndes Pfeifen. Der Kopf sackte ihm auf die Schulter. Ein Blutschwall schoss aus seinem Mund hervor. Die Finger umklammerten auch weiterhin den Steuerknüppel, jetzt nutzlos im Todesgriff darum verkrampft. Sogar noch während seiner letzten Sekunden hatte Carlos hohes fliegerisches Geschick bewiesen und die Maschine perfekt getrimmt. Das Flugzeug blieb auf Kurs, und als es den Boden berührte, sprang es mehrfach wieder in die Luft empor, wie ein Stein, der in flachem Winkel über eine Wasserfläche hüpfte.
Dann schlug der Rumpf endgültig auf und protestierte mit dem ohrenbetäubenden Kreischen gepeinigten Metalls. Die Reibungskräfte bremsten die Maschine ab, doch noch immer betrug die Geschwindigkeit mehr als hundertfünfzig Kilometer pro Stunde, und der Jet durchfurchte den Untergrund wie ein Pflug. Die Tragflächen rissen ab, und die Treibstofftanks explodierten, sodass die Maschine auf den nächsten dreihundert Metern zu beiden Seiten einen Schweif aus orangefarbenen Flammen und tiefschwarzem Qualm hinter sich herzog, während vor ihr viel zu schnell eine Biegung des Flusses in Sicht kam.
Das Flugzeug wäre zerbrochen, hätte der grasbedeckte Boden sich nicht plötzlich in weichen morastigen Uferschlick verwandelt. Der blau-weiße Rumpf des Jets war inzwischen über und über mit Dreck verschmiert und wirkte ohne die Tragflächen wie ein riesiger Wurm, der sich im Sumpf vergraben wollte. Er schlitterte über die Schlammfläche und kam schließlich mit einem Ruck zum Stehen. Francesca wurde nach vorn gegen die Instrumententafel geschleudert und verlor das Bewusstsein.
Dann herrschte weitgehend Stille, lediglich das brennende Gras knisterte leise, der Fluss plätscherte an die Ufer, und Dampf zischte auf, als das heiße Metall der Maschine mit dem Wasser in Berührung kam.
Wenig später tauchten aus den Tiefen des Waldes gespenstische Schatten auf und glitten lautlos auf das Flugzeugwrack zu.