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Walter Burk

Doppelrolle

Zweiter Teil der Alpsteinkrimi-Trilogie

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Autor Walter Burk

ISBN 978-3-8392-4608-5

TEIL 1

Sonntagmorgen, Mitte August, BerggasthausStaubern(Prolog)

Als Roger Marty den Schrei hört, weiß er sofort, was passiert ist.

Er beschleunigt seine Schritte und spürt, dass sein Körper trotz der frühen Morgenstunden bereit ist, die Leistungsbereitschaft zu erhöhen. Der Alkohol des Vorabends, den er während der langen, inspirierenden und schönen Unterhaltung mit Monika konsumiert hat, scheint sich auf seinem Morgenspaziergang verflüchtigt zu haben. Wobei sich Roger durchaus bewusst ist, dass er sich bei dieser Interpretation mehr auf Illusion und Wunschdenken als auf Wissenschaft abstützt. Denn dafür war der Spaziergang zu kurz, der ihn von der Staubernkanzel, wo das Berggasthaus ›Staubern‹ steht, über den Staubernfirst bis zur Gabelung, wo der Weg hinunter ins Rheintal nach Frümsen abzweigt, führte. Und wo – für die meisten Wanderer unbekannt – auf der Nordwestseite noch die Ruine des ersten Berggasthauses ›Staubern‹ steht.

Mehr als Grundmauern, welche durch ein rostiges Blechdach geschützt werden, sind vom Wanderweg auf dem First aus nicht zu erkennen, der Weg zur Ruine ist nur für Eingeweihte zu finden. Wer diesen aber einmal gefunden hat, wird durch eine herrliche Aussicht von dieser kleinen Hochebene aus auf den Säntis, den Sämtisersee mit dem ›Plattenbödeli‹ und auf den Hohen Kasten belohnt. Nur eine kleine, gelbe Tafel neueren Datums mit der Aufschrift ›STAUBEREN 1619 m Staubere‹ deutet noch auf die Geschichte hin, die in diesem Haufen aus Steinen, Balken und Schutt verborgen liegt.

Roger liebt solche Orte, hortet sie als sein ganz persönliches Geheimnis. Orte, die nicht allgemein bekannt sind und zu denen er sich zurückziehen kann, ohne andere Wanderer zu treffen, wo er nur mit sich alleine die Faszination und Ruhe des Alpsteins genießen kann. Noch ist dies möglich, doch der geplante Wiederaufbau des alten Berggasthauses, das dann einen Spaziergang durch die Vergangenheit und Geschichte ermöglichen soll, wird auch diese Oase zum Verschwinden bringen. Bereits wurde von den Besitzern der heutigen ›Staubern‹ ein Gönnerverein gegründet, der dieses Projekt finanzieren soll, und auch erste Pläne eines Architekten für eine mögliche Rekonstruktion liegen vor.

Die letzten Meter zum Berggasthaus legt Roger im Laufschritt zurück, betritt dieses kurz vor halb sieben Uhr durch die Eingangstür auf der Rheintalerseite, durchquert zügigen Schrittes die Gaststube, in welcher Monika, die Servicemitarbeiterin, wie versteinert steht und ihn mit starrem Blick fixiert, und steuert direkt auf die Küche zu. Eher instinktiv als bewusst lässt er Monika einfach stehen und biegt zielstrebig beim Eingang zur Küche direkt links ab zur Treppe, die zum Keller führt.

Die Tür ist offen, im Keller brennt Licht. Roger steigt die Holztreppe hinunter – nichts zu sehen, nichts zu hören. Er biegt links ab, durchquert den ersten Raum, der mit PET-Flaschen und Lebensmittelvorräten gefüllt ist. Auch im nachfolgenden, links liegenden Raum, der schlecht beleuchtet ist und der ebenfalls als Lager für Getränke dient, ist nichts zu erkennen – außer, dass die Verbindungstür zum ›Stübli‹ offen steht. Dieser Raum steht den Gästen für Sitzungen und Seminare zur Verfügung oder einfach auch, um nach der Polizeistunde und dem offiziellen Schluss der Bewirtung im Berggasthaus noch weiterfeiern zu können.

Aus dem Raum strömt der bissige Geruch abgestandenen Rauches – ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Gäste gestern Abend die Gelegenheit genutzt haben, dass das ›Stübli‹ vom generellen Rauchverbot im Berggasthaus ausgenommen ist. Roger Marty beugt sich vor und versucht sich einen Überblick zu verschaffen. Im Raum stehen zwei Tische, auf denen noch zahlreiche leere Flaschen und benutzte Gläser stehen, neben den Stühlen bietet eine Eckbank weitere Sitzmöglichkeiten, auf der rechten Seite stehen auf einem kleinen Buffet frische Gläser, Tassen und all das, was die Gäste hier unten noch benötigen könnten, dahinter führt eine weitere Tür ins Freie. Der Raum wird von dem durch die Fenster einfallenden Morgenlicht und von zwei gelblich leuchtenden gläsernen Lampen beleuchtet, welche an Reh- und Hirschgeweihen befestigt sind. An den Wänden hängen eingerahmte Fotos.

Was Roger in diesem Bild stört, ist aber weniger Wirtin Janine Dietsche, die wie versteinert in der Mitte des Raumes steht, als vielmehr ein eingetrockneter, rotbräunlicher Blutstreifen, der sich von der Ablagefläche der Eckbank über diese erstreckt und in einer Blutlache auf dem Boden endet.

Am Vortag, BerggasthausStaubern

Monika freut sich sehr, als sie erkennt, dass Roger Marty ins Berggasthaus ›Staubern‹ kommt. Wann hat sie ›Rotscher‹, wie er sich nennt, das letzte Mal gesehen? Das muss schon lange her sein. Dem letzten längeren philosophischen Austausch im ›Plattenbödeli‹ vor Jahresfrist folgten einige wenige Kontakte, bevor sie sich aus den Augen verloren.

Denn Monika Inauen hatte nach vier Jahren als Serviceangestellte im Berggasthaus ›Plattenbödeli‹ Lust auf Veränderung verspürt. Nicht primär beruflich, sondern in erster Linie örtlich. Seit 28 Jahren, seit ihrer Geburt, hatte sie ihr Leben in Appenzell Innerrhoden verbracht, blieb ein Leben lang ›an die Scholle gefesselt‹, hatte es nicht geschafft, sich von ihrem Heimatkanton zu lösen.

Der Begriff ›an die Scholle gefesselt‹ hatte Monika schon immer fasziniert, weil sie sich selber so fühlte und sich bisher nicht hatte überwinden können, sich von diesen Fesseln zu lösen. Obschon der Ausdruck ursprünglich einen Fortschritt und etwas Befreiendes beschrieb, beinhaltet er auch etwas Traditionelles, etwas Bindendes. In alten germanischen Gesetzen definierte er, dass der Knecht nicht ein Sklave ist, mit dem der Eigentümer machen kann, was er will, sondern dass der Leibeigene nicht ohne Boden verkauft werden kann und somit dem Grundbesitzer zu folgen hat. Doch erst als die bäuerliche Produktion den Menschen sesshaft machte, fesselte sie ihn wirklich an die Scholle und forderte ihm seine gesamte Arbeitsleistung ab.

Gegen Ende des Vorjahres war für Monika der Zeitpunkt gekommen, sich von ihren Wurzeln und Freunden zu lösen und wegzugehen. Umso mehr, als sich ihre Hoffnungen, dass sich aus der Begegnung mit Peter ›Pit‹ Keller, dem Kriminalpolizisten, den sie Ende der Saison als Gast im ›Plattenbödeli‹ kennenlernt hatte, etwas ergeben würde, nicht erfüllt hatten. Er hatte ihr versprochen, sich wieder bei ihr zu melden. Doch daraus wurde nichts. Und Monika traute sich auch nicht, sich bei ihm zu melden. Das Wissen darüber, dass der Kontakt zu einem Menschen, den man gerne näher kennenlernen würde, möglichst schnell aufgebaut werden muss, da sonst Befürchtungen und Ängste schnell Oberhand gewinnen, nützte ihr dabei wenig. Sie war – und so schätzte sie auch Pit ein – dafür einfach zu zurückhaltend und zu scheu.

»Drei Dinge kann man nicht zurückholen: den Pfeil, der vom Bogen schnellte, das in Hast und Eile gesprochene Wort, die verpasste Gelegenheit«, erinnerte sich Monika an eine Aussage von Hadrat Ali, dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten Mohammad. Wie recht er doch hatte!

So hatte sie sich entschieden, ab Jahresbeginn einige Monate im Ausland zu verbringen, bereiste wie so viele ihrer Kolleginnen und Kollegen Australien, ließ sich faszinieren von der Wärme, die trotz anfänglicher Regenzeit herrschte, von der Lockerheit der Australier und von den Möglichkeiten, neue Menschen kennenzulernen. Monika hatte diese Zeit ausgekostet, hatte sich gehen lassen und es genossen, tun und lassen zu können, was und wie es ihr beliebte.

Doch je näher die bereits im Voraus gebuchte Rückreise kam, desto mehr spürte sie auch, dass ihr ›Down Under‹ die Verbindlichkeit und die Sicherheit der Schweiz fehlte, dass sie sich nach ausgeprägten Jahreszeiten, ja auch nach Kälte und Schnee, zurücksehnte. Und nach dem Alpstein – nach seinen drei Edelsteinen, dem Seealp-, dem Fälen- und dem Sämtisersee – nach den sechs Luftseilbahnen und den 27 Berggasthäusern, nach ausgiebigen Spaziergängen und Bergwanderungen in den Appenzeller Alpen.

So kehrte Monika Ende Juni nach knapp einem halben Jahr auf der südlichen Halbkugel wieder zurück ins beschauliche Appenzellerland, wo sie im Berggasthaus ›Staubern‹ mit ihrer großen Erfahrung als Verstärkung im Team sehr willkommen war. Denn Janine wollte für den erwarteten Ansturm während der Ferienzeit gewappnet sein.

Auf 1.751 Meter über Meer statt auf 1.284 Meter ging es damit für sie weiter in ihrem Beruf, den sie so über alles liebte: die Nähe zur Natur und speziell zu den Bergen, zu ihrem Alpstein, der Kontakt zu den Gästen, die Möglichkeit, neue Menschen kennenzulernen und mit ihnen zu kommunizieren, die Arbeit im Team und die Freude darüber, ihren Gästen ihrerseits eine Freude bereiten zu können und Gastgeberin zu sein.

Der Wiedereinstieg fiel ihr leicht – umso mehr, als sie natürlich einen Großteil ihrer Gäste bereits kannte. Denn wer im ›Plattenbödeli‹ verkehrt, ist mit größter Wahrscheinlichkeit auch in den ›Staubern‹ anzutreffen. Wobei im Gegensatz zum ›Plattenbödeli‹, wo vor allem Wanderer und Gäste aus Appenzell und Umgebung auf einen Drink oder zum Essen vorbeikommen, hier dank der Seilbahnverbindung von Frümsen her mehr Gäste aus dem Rheintal auf die Staubern kommen.

Und auch das Pächterehepaar und ihre Kolleginnen waren ihr nicht unbekannt, denn es ist üblich, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benachbarter Berggasthäuser regelmäßig gegenseitig besuchen. So war Monika schon zu ihren ›Plattenbödeli‹-Zeiten oft an einem ihrer freien Tage vom Sämtisersee über die Rainhütte den steilen, aber gut ausgebauten Bergweg zum Staubernfirst aufgestiegen. Aber auch die etwas längeren Varianten Richtung Hoher Kasten und übers Wänneli hinauf auf den Kamm zwischen Kastensattel und Staubernfirst, oder über die Bollenwees und die Saxer Lücke hinauf auf die Staubern hatte sie schon mehrmals gewählt.

Im ›Staubern‹-Team wurde Monika sofort gut aufgenommen, ihre neue Chefin Janine Dietsche und ihr Mann Martin zeigten Monika deutlich, wie froh sie über ihre Verstärkung waren. Das Team umfasst mit dem Besitzerehepaar in Spitzenzeiten zwölf Personen: Jakob, der die betriebseigene Bahn von Frümsen auf die Staubern bedient, die Portugiesinnen Juliana und Edna, welche für die Zimmer und die Wäsche zuständig sind, Daniel, der zusammen mit Martin in der Küche arbeitet sowie Roswitha und – in einem Teilzeitjob – Anna am Buffet. Und dann natürlich die Kolleginnen im Service: Petra, wie Monika waschechte Appenzellerin, Alexandra, die Stadtzürcherin mit ausgeprägter Liebe zur Bergwelt und die Saisonangestellte Valeska Hovorka aus dem ostslowakischen Košice.

Das Team funktioniert gut, so gut wie im Jahr zuvor im ›Plattenbödeli‹, Janine ist ebenso mütterlich besorgt um ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie damals Fränzi. Mit dem Unterschied, dass ihr im Gegensatz zur alleinstehenden Fränzi mit Martin ein Mann zur Seite steht. Ein Mann, der sehr engagiert ist, immer auch selber zupackt, wenn es notwendig ist, und der permanent an der Weiterentwicklung des Berggasthauses, seiner Infrastruktur und seines Angebotes arbeitet. Und der mit Leidenschaft sein Ziel, den Betrieb der ›Staubern‹ so ökologisch und nachhaltig wie möglich zu gestalten, verfolgt.

Und dann diese Überraschung, die eigentlich keine war, da sie früher oder später erwartet werden konnte, erwartet werden musste: Roger kommt als Gast in die ›Staubern‹! Monika freut sich sehr, Roger wiederzusehen, die Gespräche mit ihm sind ihr in bester Erinnerung geblieben. Es war die Faszination der Unterhaltungen, in welchen so vieles gesagt, ohne dass es ausgesprochen wurde, in denen so viel Raum für persönliche Interpretation blieb. Und in denen sie so viel von dem, was sie beschäftigte, mitteilen konnte, ohne es anzusprechen. Irgendwie fühlte sie sich von Roger angezogen, genoss es, mit ihm zusammen zu sein und war gleichzeitig nach jedem Treffen zutiefst verunsichert. Verunsichert über das, was sie gesagt hatte, verunsichert über das, was sie von ihm gehört hatte – und verunsichert über ihre Gefühle zu ihm.

Lange hatte sie nach dem letzten ausführlichen Gespräch mit Roger im ›Plattenbödeli‹ darüber nachgedacht, ob und wie sie den Kontakt zu ihm aufrechterhalten könnte. Gerne hätte sie eine längerfristige und engere Beziehung zu ihm aufgebaut, trotz des Altersunterschiedes. Denn obwohl sie auch jüngere Männer attraktiv und interessant findet, fühlt sie sich schon seit längerer Zeit zu reiferen Männern hingezogen – zu Männern, die oft beträchtlich älter sind als sie. Männer, die vom Alter her auch ihre Väter hätten sein können. Wenn sie mit ihren besten Freundinnen darüber spricht, stößt sie meist auf Unverständnis und den Erklärungsversuch, dass dies wohl mit ihrer starken Bindung zu ihrem Vater zusammenhängen würde. Deshalb würde sie einen Partner suchen, der ihrem Vater ähnlich ist, einen Vaterersatz. Doch für Monika sind es eine gefühlte Seelenverwandtschaft, ihre Ähnlichkeiten in der Art des Denkens, die Tiefe der Gespräche, die Möglichkeit, von seiner Lebenserfahrung zu profitieren und ihre gemeinsame Liebe zur Philosophie, die sie zu Roger hinziehen.

Doch ihre Australienpläne erübrigten weitere Gedanken. Da sie sich keinen zusätzlichen Abschiedsschmerz auferlegen wollte, suchte sie nicht mehr den Kontakt zu Roger, meldete sich auch nicht bei ihm, als sie ›Down Under‹ war und genoss einmal wieder die Spontaneität und Unverbindlichkeit im Kreise ihrer Alterskolleginnen und -kollegen, den Genuss des Moments.

Umso mehr freut sie sich jetzt über das Wiedersehen, welches gleich beim ersten Treffen nach langer Zeit wieder so vertraulich ist, als wären sie immer zusammen gewesen. Schnell tauchen sie wieder ein in philosophische Themen, sprechen über Monikas Veränderungswünsche, tauschen sich über ihre gemeinsam erlebten Erfahrungen und das, was sie zwischenzeitlich alleine oder mit anderen Menschen erlebt haben, aus. Obschon sie als Bauerntochter während ihrer Schulzeit nicht groß auf die Unterstützung ihrer Eltern, welche in der heutigen Zeit wohl als ›bildungsfern‹ bezeichnet würden, zählen konnte, hatte sie im jungen Erwachsenenalter eine spezielle Intelligenz entwickelt. Nicht diese kognitive, verstandesmäßige, an welcher die Kinder in den Schulen gemessen werden, sondern eher eine Lebensintelligenz oder eine gewisse Bauernschläue. Die Intelligenz, sich mit den wirklichen Herausforderungen und Anliegen des Lebens zu befassen, sich mit grundlegenden Themen des Lebens auseinanderzusetzen. So verschlang sie philosophische Bücher und Literatur über Lebensfragen, während sich ihre gleichaltrigen Kolleginnen auf Liebes-, Frauen- und Familienromane oder Sitcoms stürzten.

Monika ist dankbar für die Unterstützung durch Rogers Zuversicht, dass alles gut werde, wenn man geduldig bleibe. Geduld war noch nie ihre Stärke, dessen ist sie sich bewusst. Warten wird für sie oft zur Qual, sie will handeln, will Kontrolle über das haben, was läuft, will auch Einfluss darauf nehmen, wie es läuft oder sich entwickelt. »Im Warten lassen wir das, worauf wir warten, offen«, hatte Monika in einem Aufsatz von Wilhelm Höck über Geduld gelesen und wurde sich einmal mehr bewusst, dass sie sich nur ungern damit abfindet, dass auch etwas Unerwartetes eintreffen kann. Deshalb muss sie das Warten in ein Erwarten umwandeln, um damit umgehen zu können.

Wie damals mit Beat.

Beat war Monikas erster Schulschatz gewesen, zaghaft hatten sie gemeinsam ihre ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gemacht, sich geküsst, gestreichelt, gespürt, dass da etwas Neues, bisher Unbekanntes geschah, hatten versucht, die Grenzen auszuloten, was bereits möglich war. Doch wie die meisten Freundschaften in diesem Alter hielt auch diese nicht lange, bald fragte Beat ein anderes Mädchen, ob sie »mit ihm gehen will«, seine Freundin sein wolle. Das war Monikas erste Erfahrung, dass schlankere, hübschere Mädchen mehr Chancen bei Männern haben – eine Erfahrung, die sie ihr ganzes Leben lang begleiteten sollte.

Monika verfolgte Beats Beziehungen aus der Ferne und erlebte, wie er mit einer Frau zusammenzog und über längere Zeit mit dieser zusammenblieb. Monika gab Beat schon beinahe verloren, als er plötzlich wieder allein war, seine Freundin hatte ihn überraschend verlassen. Monika witterte ihre Chance, sah diese aber schnell wieder schwinden, als Beat für längere Zeit in eine Trennungsdepression abtauchte und sich zurückzog, kaum mehr unter Menschen anzutreffen war. Erst als seine Freunde alles daran setzten, ihn aus diesem Tief herauszuholen, kam auch Monika wieder in Kontakt mit ihm. Nicht wirklich intensiv und nahe, aber immerhin tauchte Beat ab und zu wieder im ›Plattenbödeli‹ auf.

Auch so an einem Nachmittag, als er, wie sich schnell herausstellte, wegen Monikas neuer, jungen und hübschen Kollegin zusammen mit seinen Freunden den halbstündigen Aufstieg durchs Brüeltobel auf sich genommen hatte. Und damit hatte sich auch Monikas Versuch, Beat zurückzugewinnen, bereits wieder erledigt. Beat hatte fortan nur noch Augen für die andere, nahm Monika noch weniger wahr als zuvor.

Monika hatte ihre neue Kollegin in ihren Freundeskreis eingeführt, war viel mit ihr unterwegs, hatte mit ihr eine Menge Spaß. Doch als diese mit Beat zusammenkam, verlor sie nicht nur ihren Wunschpartner Beat, sondern auch eine Freundin. Und wurde sich einmal mehr bewusst, dass sie als stämmige und kräftig gebaute Bauerntochter bei Männern keine Chance hatte gegen so grazile und hübsche Frauen, wie ihre Kollegin eine war.

Obwohl sie alles unternommen hatte, um das Warten auf Beat in eine konkrete Erwartung umzuformen, war alles missglückt. Monika war enttäuscht, wurde sich aber sehr schnell bewusst, dass sie weiterhin den Lauf der Dinge mitbestimmen musste, um zu dem zu kommen, was sie sich immer schon so sehnlichst gewünscht hatte.

Und diesem Grundsatz will sie auch in Bezug auf Roger treu bleiben.

Sonntagmorgen, Mitte August, Berggasthaus ›Staubern‹

Im ersten Moment ist auch Roger sprach- und fassungslos. Doch schnell findet er zurück in seinen vermutlich angeborenen Forscherinstinkt, der ihm schon so oft in seinem Leben – und vor allem in jüngster Vergangenheit – geholfen hat, Neues und für ihn Bedeutendes und Wichtiges zu entdecken.

»Gibt es Spuren zu der Lei…, ich meine zu dem Verletzten? Von wem könnte das Blut stammen, was ist hier wohl geschehen?« Die Fragen sprudeln aus Roger heraus, ohne jedoch von jemandem beantwortet zu werden. Janine steht nach wie vor wie angewurzelt im Raum und fixiert mit starrem Blick die Blutspur. Roger eilt zu ihr, packt sie von hinten an den Schultern, schüttelt sie sanft und versucht, sie wieder in die Realität zurückzuholen: »Janine, verstehst du mich, Janine, sag was, komm, wir müssen jetzt was tun, ich brauche deine Hilfe!«

»Blut …, Blut, überall, was ist hier geschehen?«, stammelt die Wirtin. Und wird sich gleichzeitig langsam bewusst, dass hier etwas geschehen sein muss, was ihr Leben und das Leben hier oben auf den Staubern nachhaltig verändern wird. »Ja, von wem stammen diese Blutspuren, wo ist diese Person? Was …, wer …, wo …? Was sollen wir jetzt machen?«, fragt Janine, und wendet sich langsam Roger zu.

»Die Polizei rufen, nichts berühren, alles absichern, schauen, dass keine Gäste hier runterkommen … und den Betrieb sicherstellen«, tönt es aus der Tür, durch die eben Monika ins ›Stübli‹ eingetreten ist. Roger schaut sie ungläubig an, ist erstaunt, wie schnell sie sich aus ihrer Starre, die er kurz zuvor im Vorbeigehen bemerkt hat, lösen und in diese Sachlichkeit wechseln konnte.

»Monika, alles in Ordnung, geht es dir gut?«

»Nein, nicht wirklich … Aber es nützt jetzt nichts, dass wir uns darüber unterhalten, wie es uns geht, wir müssen handeln«, antwortet Monika forsch. Ihre Augen haben von dem starren Blick in einen gewechselt, der Entschlossenheit und Zielstrebigkeit zeigt.

Janine schweigt einige Sekunden, scheint zu überlegen, wendet sich dann ruckartig zu Monika und fragt bestimmt: »Wo sind die anderen, wo sind die anderen Mädchen, Petra, Alexandra, Valeska? Monika, geh hinauf und schau nach, wo sie sind!«

»Janine, Petra kommt erst um halb acht Uhr mit der Bahn hoch, Alexandra am Nachmittag, Valeska ist noch im Zimmer, sie soll um sieben beginnen, das war so vereinbart«, versucht Monika ihre Chefin zu beruhigen.

»Langsam Janine, nur nichts überstürzen, lass uns zuerst mal kurz überlegen, was wir tun sollen. Bevor wir mit unüberlegten Handlungen etwas auslösen, was wir nicht wollen … Und dass wir hier oben nicht eine Panik auslösen, die das, was geschehen ist, unkontrollierbar macht«, interveniert Roger.

»Monika hat es bereits angedeutet, wir müssen hier unten die Situation ›einfrieren‹, nichts darf verändert werden, keine möglichen Spuren dürfen verwischt werden. Und niemand sonst außer uns darf diesen Raum betreten. Dann gilt es, oben den normalen Betrieb so gut wie möglich aufrechtzuerhalten, schon bald werden die ersten Gäste ihr Frühstück verlangen, dieses muss dann bereit sein. Das heißt, Monika geht hinauf und weist ihre Kollegin auf die besondere Situation hin, zu der sie aber im Moment nicht mehr sagen kann, garantiert den Frühstücksservice, und wir, Janine und ich, bleiben hier, rufen die Polizei und weisen diese hier ein«, schlägt Roger vor.

»Doch welche Polizei sollen wir rufen? Unser Berggasthaus steht auf Appenzell Innerrhoder Boden, die Bergstation der Seilbahn auf St. Galler Kantonsgebiet. Wer ist denn nun zuständig?«, fragt Janine Dietsche.

Roger wechselt einen kurzen Blick mit Monika, worauf beide wie aus einem Mund antworten: »Appenzell Innerrhoden, Leutnant Bruno Fässler, Leiter der Kriminalpolizei.« »Was nicht nur damit zu tun hat, dass der vermeintliche Tatort, das ›Stübli‹, auf Appenzeller Kantonsgebiet liegt, die Grenze verläuft ja genaugenommen schon kurz nach dem Eingang quer durch die Gaststube«, ergänzt Roger, »es geht vielmehr um die Erfahrung, die Fässler mitbringt. Und da seine Schwester ja das ›Plattenbödeli‹ führt, weiss er auch, was so ein Vorfall für ein Berggasthaus bedeuten kann.«

»Wobei wir ja noch nicht wissen, was hier wirklich geschehen ist«, wirft Monika ein.

»Monika, es ist jetzt bald Viertel vor sieben, geh hinauf und sieh zu, dass das Frühstücksbuffet bereit ist und reibungslos abläuft. Du Janine, rufst Bruno Fässler an, am besten über seine Schwester – es ist ja Sonntag, und Fässler wird wohl nur zuhause erreichbar sein … Er soll so schnell wie möglich mit seinen Leuten hier raufkommen, wohl am besten über Frümsen mit der Seilbahn, alles andere dauert zu lange. Brülisau – Plattenbödeli – Rainhütte oder Brülisau – Hoher Kasten – Staubernfirst beinhalten lange Fußwege, das geht nicht mit dem Material, welches sie mitnehmen müssen. Ich gehe schnell in mein Zimmer und hole meine Kamera, damit ich den jetzigen Zustand festhalten kann. Nicht, dass dann jemand auf die Idee kommt, wir hätten etwas verändert.«

Roger ist in seinem Element, dirigiert, koordiniert, scheint der Einzige zu sein, der trotz der speziellen Situation den Überblick behält. »Und, Janine, instruier dein Personal, dass niemand den Keller betritt – und den Seiteneingang zum ›Stübli‹ schließen wir ab, damit nicht noch jemand zufällig hier reinkommt.«

Die drei schwärmen aus, wissen, was sie zu tun haben, folgen ohne Widerrede Rogers Anweisungen. Janine geht nach oben in die Küche, wo bereits auch Daniel vor dem Herd steht und die warmen und heißen Speisen des Frühstücksbuffets vorbereitet: Rührei, gebratenen Speck, Siedwürste, Rösti. Da sein Chef, Martin, gestern bis spät in den Abend noch in der Küche stand, hat er die Frühschicht übernommen. »Dani, unten im ›Stübli‹ ist etwas passiert, wir wissen noch nicht genau was, ich muss die Polizei rufen, schau du, dass niemand in den Keller geht und dass die Gäste ihr Frühstück bekommen, als wäre nichts geschehen.« Noch bevor Daniel etwas sagen, geschweige denn eine Frage stellen kann, fügt sie an: »Ich muss jetzt sofort Martin wecken, ich brauche seine Hilfe.«

Roger ist unterdessen mit der Kamera, die er aus seinem Zimmer geholt hat, wieder im ›Stübli‹ und fotografiert alle Details, die aus seiner Sicht wichtig sein könnten. Er fotografiert zuerst den ganzen Raum aus verschiedenen Perspektiven, geht dann auf Details ein. Auf die Tische, auf denen noch gebrauchte Gläser und leere Flaschen des Vorabends stehen, schießt auch Bilder des mit Zigaretten- und Zigarrenstummeln gefüllten Aschenbechers, dann die Sitz- und Ablageflächen, die Wände mit den Bildern, die Lampen, die Fenster und Türen. Zu guter Letzt hält er die Blutspur in mehreren Bildern fest, jeden Abschnitt im Detail, in Nahaufnahmen. So engagiert er sich diesen detaillierten Bestandsaufnahmen des vermutlichen Tatortes widmet, so sicher ist er sich, dass diese Aufnahmen vor allem ihm, und weniger – falls überhaupt – der Polizei dienen werden.

Monika arbeitet unterdessen wieder in der Gaststube, wo sie das Frühstücksbuffet weiter herrichtet. Immer wieder schaut sie nervös auf ihre Uhr, bis sie es zwei Minuten vor 7 Uhr nicht mehr aushält. Sie stürmt in die Küche und fordert Daniel auf, sofort mit ihr zu kommen: »Daniel, komm, wir schauen nach, wo Valeska bleibt. Ich brauche deine Unterstützung, du musst mich begleiten!« Monika und Daniel steigen in den zweiten Stock hinauf, wo sich neben dem Fünfer- und Zehnerzimmer auch die Personalzimmer befinden, versuchen leise zu sein, um die Gäste nicht zu wecken. Monika klopft vorsichtig an die Tür von Valeskas Zimmer. Keine Antwort, nichts regt sich. Monika klopft noch einmal, wartet, drückt dann vorsichtig die Klinke runter und öffnet die Tür einen kleinen Spalt: »Valeska, hallo, Valeska, bist du wach?« Als sich noch immer nichts und niemand regt, öffnet sie die Tür etwas weiter und tritt ins Zimmer ein.

Daniel folgt ihr mit kleinem Abstand, wirft einen Blick über Monikas Schulter in den Raum. Das Zimmer ist leer und das unberührte Bett weist darauf hin, dass niemand diese Nacht hier verbracht hat. Plötzlich beginnt Monika vor ihm zu wanken. Daniel sieht noch, wie sie sich zu ihm dreht und den Mund aufreißt. Doch der Schrei bleibt lautlos, die ausgestoßene Luft erreicht die Stimmbänder nicht mehr. Denn obwohl Monika versucht, sich mit einem kleinen Schritt zur Seite aufzufangen, kann sie sich nicht mehr kontrollieren. Wie ein umstürzender Baum fällt Monika vor ihm in einer leichten Rotation der Länge nach hin, ohne irgendwelche Abwehr- oder Schutzreaktionen, ihr Kopf schlägt hart seitlich auf der Bettkante auf, die Haut platzt und Blut fließt aus der gesamten Länge des Risses der Wunde. Alles geht so schnell und passiert so überraschend, dass Daniel ohne Chance bleibt, helfend einzugreifen.

Als Monika nur wenige Sekunden später wieder zu sich kommt, blickt sie in Daniels Gesicht, der sich über sie gebeugt hat. Reflexartig greift sie mit der rechten Hand an ihren Kopf, spürt etwas Warmes und Feuchtes und sieht, als sie ihre Finger zurückzieht, dass diese voll Blut sind. »Was ist passiert, was ist geschehen? Ich wollte doch … Wo ist Valeska?«

»Ruhig Monika, bleib liegen, ich hole Hilfe. Hier, nimm mein Taschentuch, es ist sauber, und presse dieses gegen die Wunde, ich bin gleich wieder zurück«, versucht Daniel, Monika zu beruhigen. Da bereits ein Gast den Kopf zur Tür reinsteckt und fragt, ob er helfen könne, bittet er diesen, kurz bei Monika zu bleiben und eilt hinunter in die Gaststube.

Und noch bevor Daniel diese erreicht, steigt in ihm eine Vermutung hoch, die Monikas Ohnmacht erklären könnte: Das, was unten im ›Stübli‹ passiert ist, hängt mit der Beantwortung der Frage zusammen, wo Valeska ist.