„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“
Erich Kästner
Schreiben musste ich selbst,
aber ohne euch wäre das alles
nicht möglich gewesen.
Danke
Elke, Simon, Christof, Peter, Enrico, Torsten
Thomas Hochgeschurtz
Konsequent.
Das Buch zum Nicht-Technischen-Training
77815 Bühl/Baden • http://www.ikotes.com
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2. Auflage, ISBN 978-3-941626-01-0
© 2009/2013 ikotes Verlag, Postfach 1651, D-77806 Bühl
http://www.ikotes.com
Überarbeitung und Herstellung: Peter Müller, ikotes Verlag
Dieses Werk erscheint auch als
Hardcover ISBN 978-3-941626-00-3
Hörbuch ISBN 978-3-941626-04-1
Jetzt war ich wer – oder?
Jung, dynamisch, … erpressbar
Schlag auf Schlag
Zeig, was du kannst!
Am Ende?
Ausgerechnet der!
Sicherheit
Qualität
Produktivität
Mitarbeiter
Fehlverhalten und Konsequenz 1
Fehlverhalten und Konsequenz 2
Teamentwicklung und Commitments
Umgang mit dem Betriebsrat
Üben, üben, üben, …
NTT – Nicht-Technisches-Training
Ausgerechnet er!
Ein Mitarbeiter ist nur so gut, …
„Dein Telefon geht!“, rief mir ein Kollege zu. Das Rheinland ist wohl einer der Landstriche Deutschlands, in welchem sich das Telefon nicht durch Geräusche, sondern durch Fortbewegung bemerkbar macht. Ich hatte nach dem Studium meine erste Stelle bei Brackets, einem amerikanischen Wasch- und Reinigungsmittel-Konzern als Prozessingenieur angetreten und befand mich in der Einarbeitung. Die Frühschicht meines Linientrainings, ein dreiwöchiges „Mitlaufen“ in einem Produktionsteam, hatte ich an diesem Tag hinter mich gebracht und arbeitete gerade die Führungsleitlinien des Unternehmens durch.
Der Personalleiter bat mich zu einer sofortigen Unterredung. „Sofort?“ Im Schnelldurchlauf überprüfte ich auf dem Weg durch das Verwaltungsgebäude mein Verhalten in den ersten Tagen. Hatte ich gegen eines der ungeschriebenen Gesetze im Unternehmen verstoßen? Erst gestern erzählte mir ein Kollege von zwei Neueinsteigern, die die Probezeit nicht überstanden hatten. Drohte mir das Aus? Zum Glück liefen noch mehrere Bewerbungen bei anderen Unternehmen, daher fühlte ich mich sicher. Ich nahm mir vor, selbstbewusst aufzutreten, und warf auf der Toilette noch einen schnellen Blick in den Spiegel. Der dunkelblonde Mann, der mir entgegenstrahlte, war schlank und für seine 1,85 Meter Körpergröße etwas zu dünn. Die gleichmäßigen Gesichtszüge wurden von einer Narbe unter dem linken Auge durchbrochen. Sie war das Ergebnis einer ungestümen Fahrradtour. Durch meinen letzten Studentenjob in einem Gartenbaubetrieb hatte mein Gesicht noch eine gesunde Farbe.
Mit meinen 24 Jahren stand ich nun energiegeladen und hoch motiviert am Anfang meiner Berufslaufbahn. Ich holte tief Luft und klopfte an die Tür des Personalleiters.
Wenige Minuten später befand ich mich schon wieder auf dem Rückweg zu meinem Arbeitsplatz, korrekter: zu meinem ehemaligen Arbeitsplatz. Natürlich war Stillschweigen vereinbart worden. Ich war gespannt, wie meine Freundin Klara die Neuigkeit aufnehmen würde.
Vorbei war es mit dem Prozessingenieur, vorbei mit langweiligen technischen Detailanalysen. Eine Führungsaufgabe würde es sein, Teamleiter sollte ich werden! Der Inbetriebnahmeleiter für das laufende Großprojekt war in ein anderes Werk versetzt worden und nun wurde ein Nachfolger benötigt, da die Umstellung der 20 Spültabmaschinen hier im Werk Burscheid in den nächsten 6 Monaten realisiert werden musste. Ein 18-köpfiges Team sollte von mir geführt werden. Die bunten Wandstreifen begleiteten mich fröhlich zu meinem ehemaligen Büro.
„Führung kann nicht so schwer sein“, ging es durch meinen Kopf. Schon während meines Studiums hatte ich schließlich diverse Führungserfahrung als Trainer einer Basketballmannschaft gesammelt.
Wie hatte Charles Handy in seinem Buch „Ich und andere Nebensächlichkeiten“ geschrieben? „Der Erfolg im Leben hängt nicht davon ab, dass man weiß, was man will, bevor man handelt, sondern umgekehrt. Nur indem man handelt, Erfahrungen sammelt, Fragen stellt und erneut handelt, kann man herausfinden, wer und was man eigentlich ist.“ Es war also an der Zeit, neue Erfahrungen zu sammeln!
Zwei Tage später, auf dem Weg zum Mittagessen, sah ich eine Menschentraube, die sich vor dem Schaukasten am Kantineneingang gebildet hatte. Ich drängelte mich durch, um den Aushang lesen zu können. Von hinten klopfte mir jemand auf die Schulter: „Gratulation, Tim!“ Ein flüchtiges „Danke!“ huschte mir über die Lippen. Jetzt erst sah ich die Mitteilung, die mich offiziell zum Teamleiter machte:
Die Personalabteilung der Brackets GmbH informiert:
Marc Frommers, zurzeit Leiter Inbetriebnahme SABT, übernimmt ab 1. Mai die Funktion Personal in unserem Werk in Lüttich/Belgien. Herr Frommers berichtet in seiner neuen Funktion an Ed van Heyden, General Manager Werk Lüttich.
Tim Simon, zurzeit in Einarbeitung, übernimmt ab sofort die Leitung Inbetriebnahme. Herr Simon berichtet in seiner neuen Funktion an Jochen Uhl, Leiter Support Abteilung.
Den eigenen Namen am Schwarzen Brett zu lesen, gab mir das warme Gefühl des Erfolges. Vielleicht etwas früh für jemanden, der erst ein paar Wochen in dieser Firma weilte. Aber jetzt war ich wer – oder?
Der neue Job sollte kein Problem für mich sein. Ich musste einfach nur meine Führungserfahrung aus der Studienzeit nutzen. Mein damaliges Erfolgskonzept kam mir in den Sinn:
Vielleicht würde ich sogar mal ein Buch über Mitarbeitermotivation verfassen! Ich nahm mir vor, wesentliche Erfahrungen auf einem Lernzettel zu sammeln, nicht ahnend, dass diese Sammlung noch sehr wertvoll für mich werden sollte. Auf dem Lernzettel notierte ich mein Erfolgsrezept in einem Stichwort:
Nach dem Mittagessen traf ich mich mit meinem neuen Vorgesetzten Jochen Uhl, einem 30-jährigen Maschinenbauingenieur. Sein Büro war schlicht eingerichtet und ohne erkennbare persönliche Note. Entweder hatte er dieses Einzelbüro noch nicht allzu lange oder er war ein spartanischer Mensch.
„Dein Job ist relativ einfach“, versicherte mir Jochen mit einem Grinsen, dass sich mein Selbstvertrauen erst einmal verabschiedete. „Unser neuestes Produkt ist ein 3-Phasen-Reinigungstab für Spülmaschinen, das im kommenden Halbjahr europaweit eingeführt wird. Als Inbetriebnahmeleiter übernimmst du jeden Sonntagabend gegen 22 Uhr eine Maschine von der Bauabteilung, die die Maschine zuvor innerhalb von 48 Stunden umgebaut hat. Du hast dann bis zum kommenden Sonntag Zeit, die Maschine in Betrieb zu nehmen. Dazu stehen dir in drei Schichten je drei Mechaniker und drei Elektriker zur Verfügung.“
„Und was passiert, wenn die Maschine am kommenden Sonntag nicht läuft?“
Jochens Grinsen sah gequält aus. Scheinbar hatte er aufgehört zu atmen. Sein übergewichtiger Körper lag schräg auf dem ächzenden Bürostuhl. Ich war mir nicht mehr so sicher, ob ich die Antwort noch hören wollte: „Wenn du es nicht innerhalb von sieben Tagen schaffst, hast du am Sonntag darauf mit deinem Team zwei Maschinen zu betreuen. Ich glaube nicht, dass du das willst!“, kam es scharf zurück.
Ein Impuls in mir wollte nach eventuellen Freizeiten zwischen den Inbetriebnahmen fragen, aber das schien jetzt nicht der richtige Zeitpunkt zu sein.
„Wann gilt die Maschine als in Betrieb genommen?“
„Du musst die Leistungsdaten der letzten 3 Monate vor dem Umbau erreichen. Das heißt die gleiche Produktivität und die gleiche Qualität. Dazu gehört noch die obligatorische Sicherheitsabnahme. Wenn du das erledigt hast, gilt die Maschine als qualifiziert und an die Produktion übergeben.“
Ich dachte kurz über die Kriterien Produktivität, Qualität und Sicherheit nach und beabsichtigte, diese später auf meinen Lernzettel zu schreiben.
„Während der gesamten Inbetriebnahmephase stehen dir ausreichend Mitarbeiter des Produktionsteams zur Verfügung. In Absprache mit dem jeweiligen Produktionsteamleiter startest du nach Abschluss der Sicherheitsabnahme einen 4-Stunden-Lauf, bei dem die Qualifikationskriterien erfüllt werden müssen“, klärte mich Jochen weiter auf.
„Was passiert, wenn die Kriterien nicht erfüllt werden?“
„Dann musst du einen neuen 4-Stunden-Lauf starten.“
„Und was passiert, wenn wir den 4-Stunden-Lauf schon Donnerstag schaffen?“
Der Stuhl ächzte bedenklich laut, ein schallendes Gelächter kam mir entgegen.
„Jau, dann bist du Donnerstag fertig. Aber schmink dir das ab!“, lachte Jochen und sein ganzer Körper vibrierte heftig. Seine braunen Augen hüpften hin und her und ich spürte sein inneres Ringen, als ob er noch etwas ergänzen wollte. Ich wartete.
„Tim“, erwiderte er nach Ende des Ringkampfes, „das ist vollkommen unmöglich!“ „Warum ist das nicht zu schaffen?“, insistierte ich trotzdem.
„Lern du erst einmal dein Team kennen und bereite dich kommenden Sonntag auf die Aufgaben als Schichtleiter vor. Bei dieser ersten Inbetriebnahme mache ich noch die Inbetriebnahmeleitung. Bei der nächsten wirst du den Job übernehmen.“
Jochen Uhl bereitete das Ende des Gesprächs vor, indem er seinen Stuhl erneut quälte und sich schwungvoll nach vorne warf. „Den Rest der Woche bin ich in unserem polnischen Werk, daher können wir uns erst Sonntagnacht zur Übergabe treffen. Aber in der Nachtschicht haben wir genug Zeit, deine Einarbeitung zu komplettieren.“
Auf dem Rückweg zu meinem Büro dachte ich darüber nach, warum Jochen meine letzte Frage nicht beantwortet hatte. War es Vorgesetztenrecht, Fragen nicht zu beantworten, oder hatte ich selbst kommunikative Fehler gemacht?
Der Rest der Woche war mit dem Abschluss des regulären Einarbeitungsprogramms bei Brackets ausgefüllt.
Bisher war eine von zwanzig Geschirrspültabmaschinen umgebaut. Bei dieser Pilotanlage waren die gesamten neuen technischen Bauteile angepasst und ein theoretischer Ablauf für das Projekt festgelegt worden. Laut Plan sollte die jeweils betroffene Maschine freitags um 22 Uhr abgestellt werden. Dann begann der Bautrupp mit der Demontage der alten Baugruppen. Nach der sogenannten „Site Clearance“ wurden die neuen Baugruppen mechanisch installiert, und die elektrische Verkabelung wurde durchgeführt. Mit der Integration der neuen Elektronik in die alte schloss der Bautrupp seine Arbeiten ab und übergab die Maschine Sonntagnacht gegen 22 Uhr an meine Inbetriebnahmegruppe. So war zumindest der Plan.
Unsere Aufgabe war es, die Baumaßnahmen abzunehmen, die neuen Baugruppen Stück für Stück in Betrieb zu nehmen und zuletzt die gesamte Anlage zu starten. Das sollte jeweils bis Dienstagmittag abgeschlossen sein. Dann begann der Wettlauf mit den Qualifikationskriterien.
Freitagmorgen traf ich erstmals mein Team. Eine Truppe mit jeweils neun betriebserfahrenen Mechanikern und Elektrikern.
„Hallo zusammen, mein Name ist Tim Simon!“, rief ich in den Raum und begann an einer Seite, die Hände der einzelnen Teammitglieder zu schütteln. Offensichtlich war es mir gelungen, einen guten ersten Eindruck zu erzeugen, da mich mehr freundliche als gleichgültige Gesichter anschauten. Was hatte mir Klara morgens mit auf den Weg gegeben? „Der erste Eindruck ist nicht immer der richtige, aber der lange Zeit bestimmende!“
Die meisten Kollegen nuschelten mir beim Händedruck ihren Namen entgegen. Einige der Mechaniker wollten ihrer Kompetenz durch besonders viel Kraftaufwand beim Händeschütteln Nachdruck verleihen, was mir einige Schmerzen bereitete.
„Hallo Tim“, begrüßte mich ein kleiner, rundlicher Mitarbeiter mit fröhlichem Gesicht und schwarzem Vollbart. Er musste der Teamsprecher sein.
„Mein Name ist Erich Woya. Willkommen in unserem Team.“
Ich hatte schon gelernt, dass bei Brackets fast überall das Du üblich war, anscheinend auch gegenüber neuen Vorgesetzten. Diese direkte Integration ins Team gefiel mir allerdings gar nicht. Ich überlegte, ob ich meine Positionsmacht verdeutlichen sollte, aber Erich fuhr unbeirrt fort und zerstreute so meine Gedanken.
„Wir haben das Team für kommende Woche schon in die drei Schichten eingeteilt. Du bist Schichtleiter der Schicht 1 in Nachtschicht, damit du die Übergabe am Sonntag mitmachen kannst. Jochen macht die Gesamtinbetriebnahmeleitung. Ab kommenden Sonntag übernehme ich für dich die Schichtleitung auf Schicht 1, die dann auf der Frühschicht ist.“
Erich stellte mir erneut die zwei anderen Schichtleiter vor, wofür ich nicht ganz undankbar war, da ich mir beim ersten Durchgang unmöglich alle Namen hatte merken können. Er behielt weiter die Initiative und zeigte mir die Unterlagen, mit denen die Inbetriebnahme durchgeführt werden sollte. Ich war positiv überrascht. Die Ordner waren sauber nach den einzelnen Baugruppen gegliedert, die einzelnen Tätigkeiten im Detail, oft mit Fotos und Zeichnungen, beschrieben.
„Schau dir Sonntagnacht einfach mal an, wie wir arbeiten“, empfahl mir Erich. Nach kurzem Zögern fragte ich, was denn eigentlich die Aufgabe des Schichtleiters sei.
„Die Schichtleiter treffen sich jeden Morgen um acht Uhr zum Inbetriebnahmemeeting mit allen dazugehörenden Gruppen. Dort berichten sie über den Fortschritt der Arbeiten und adressieren eventuelle Aufgaben an andere Abteilungen oder den Bautrupp.“ Die Geschäftigkeit um mich herum wirkte beruhigend. Meine erste Führungsaufgabe schien ein Selbstläufer zu werden. Erich war eindeutig der Kopf der Truppe. Alle Unterlagen trugen seinen Namen und jeder folgte ohne Murren seinen Anweisungen und Ratschlägen.
„Muss ich bis Sonntag noch irgendwas vorbereiten?“ Erich schaute mir ermutigend in die Augen und antwortete: „Lass mal, wir machen das schon. Was du wissen musst, lernst du vor Ort!“
Am Wochenende bereitete ich meine Freundin Klara auf die nächsten Wochen vor. Wir waren uns einig, dass meine Nachtschichten unsere junge Partnerschaft nicht weiter belasten würde, da auch ihr Job als Produktmanagerin in einer internationalen Pharmavertriebsgesellschaft nicht zwingend tariflicher Natur war und 50 bis 60 Stunden pro Woche mehr die Regel als die Ausnahme waren. In meiner Studienzeit galt ich zwar nicht als der typische Partylöwe, der immer als Letzter das Licht ausmachte. Aber jetzt sollten es eben lange Nächte und kurze Tage werden.
Obwohl 22 Uhr ausgemacht war, stand ich bereits um 20 Uhr an der TM14, der aktuell im Umbau befindlichen Spültabmaschine. Bereits beim Betreten der von Neonlicht durchfluteten Werkshalle kam mir der Geruch mechanischer Arbeiten entgegen, eine Mischung aus geschmolzenem Metall und verbranntem Kunststoff.
Als ich den Zugangsbereich zum Maschinenpaar der TM13 und TM14 betrat, traf mich fast der Schlag. Mehr als 20 Leute drängelten sich in dem circa drei Meter breiten Bediengang. Überall herrschte Chaos, ein Gewirr aus Anweisungen und Flüchen schlug mir entgegen. Keiner der Anwesenden schenkte mir auch nur einen Augenblick seiner offensichtlich knapp bemessenen Zeit. Ich suchte von meiner leicht erhöhten Position aus nach irgendeinem bekannten Gesicht, fand aber zunächst keines. Offensichtlich waren die anwesenden Bautrupps keine Brackets-Mitarbeiter, sondern Fremdfirmenpersonal, das sich um den Aufbau kümmerte.
Eine drahtige Mittzwanzigerin trat auf mich zu. „Kann ich helfen?“ Ich begegnete zwei tiefblauen Augen, die stahlhart und unergründlich wirkten.
„Hallo, mein Name ist Tim Simon. Ich bin der neue Schichtleiter.“
„Anni Schmidt, Baustellenleiterin.“ Eine schmale Hand kam mir entgegen. Ich hatte sie noch nicht ganz ergriffen, als Anni schon fortfuhr. „Die Übergabe ist um 22 Uhr, bis dahin dürfen Sie die Baustelle nicht betreten!“
Ihr Händedruck war warm und fest.
„Ich wollte mir schon mal einen Eindruck verschaffen“, startete ich einen kläglichen Versuch, mich umschauen zu dürfen.
„Haben Sie eine Sicherheitsbelehrung für den Aufenthalt auf der Baustelle erhalten?“
„Äh, nein. Brauche ich das?“, antwortete ich unbeholfen.
„Nein“, antwortete sie knapp. Ich glaubte, ein leichtes Schmunzeln zu erkennen. Vielleicht mochte sie mich? „Nicht nach 22 Uhr.“
„Wie bitte?“, presste ich hervor, aber sie hatte sich schon elegant umgedreht und antwortete im Weggehen: „Nach 22 Uhr dürfen Sie kommen, aber vergessen Sie Ihren Helm nicht!“ Ich traute mich nicht, zu widersprechen, und schaute den sportlichen Beinen hinterher, bis Anni Schmidt zwischen den Maschinen verschwunden war.
Als ich um 21 Uhr 55 zurückkehrte, war das Chaos nicht minder groß. Ich entdeckte meinen Boss, Jochen Uhl, zusammen mit Produktionsleiter Jan Behlinger, wie sie gemeinsam auf Anni Schmidt einredeten, und hielt mich im Hintergrund, verstand aber schnell, dass der Bautrupp seine Terminzusage nicht eingehalten hatte. Eine Übergabe der TM14 war nicht möglich. Jan Behlinger stellte klar, dass Anni Schmidts Unternehmen die Ausfallkosten zu tragen hätte, falls die Maschine am kommenden Samstag nicht in Betrieb gehen würde. Das konnte ein teurer Spaß werden.
An Anni Schmidts Hals erkannte ich leichte rote Flecken. Einerseits gönnte ich ihr die Probleme, so wie sie mich vor zwei Stunden behandelt hatte. Andererseits half es keinem, wenn sie rote Flecken bekam, die Inbetriebnahme aber nicht starten konnte. Ich musste Anni bei Gelegenheit davon überzeugen, keine weißen Blusen zu tragen, die diese Flecken noch mehr betonten. Noch mehr musste ich aber an das Ende der Woche denken, wenn die nächste Anlage übergeben werden sollte und dass wir bereits jetzt einen Zeitrückstand riskierten. Das würde dann auf mich zurückfallen und rote Flecken bei mir erzeugen.
„Zum letzten Mal, Frau Schmidt, wann werden Sie die Maschine vertragsgemäß übergeben?“, schrie mein Vorgesetzter übertrieben laut die Baustellenleiterin an.
„Das kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit Gewissheit sagen“, stellte sich Anni Schmidt ihm entgegen. In ihren Augen funkelte Wut. Oder waren es die ersten Anzeichen von Tränen? Die Luft war wie vor einem Gewitter geladen, alle warteten auf den nächsten Donnerschlag.
„Wir kommen zur Frühschicht wieder!“, waren die letzten Worte von Jochen Uhl, ehe er sich abwandte. Behlinger war von Uhls wenig konstruktivem Verhalten offensichtlich verunsichert und überlegte noch, was er tun sollte.
Ich nutzte die Gelegenheit und raunte Anni Schmidt zu: „Haben Sie schon irgendeine Baugruppe fertig?“ Noch erregt von der hitzigen Diskussion antwortete sie fast mechanisch und sichtlich enttäuscht: „Ja, die Baugruppen acht, elf und zwölf.“ Sie senkte dabei frustriert den Kopf.
„Wir übernehmen die Anlage!“, rief ich in den Kreis der Verantwortlichen. Im Nachhinein betrachtet können so etwas nur junge Menschen, die von der ganzen Betriebspolitik noch nicht gemahlen, zerrieben und gesiebt worden sind. Ich hatte natürlich keine Ahnung, auf was ich mich da einließ. Aber klar war auch, dass wir, wenn wir jetzt nicht mit der Inbetriebnahme anfingen, auf jeden Fall eine Verspätung riskierten.
Anni Schmidts Augen machten Freudensprünge, aber mein Chef fand meine Bemerkung nicht sehr lustig. „Das werden wir nicht!“
„Warum nicht?“
„Wenn wir die Maschine übernehmen, übernehmen wir auch die Verantwortung!“
„Dann übernehmen wir nur die fertigen Baugruppen acht, elf und zwölf.“
Jochen rückte bedrohlich nahe an mich heran und ich wurde etwas nervöser.
„Wir übernehmen nur die komplette Maschine!“
Ich nutze nochmals meine Anfängerprivilegien: „Warum?“
Langsam überschritt Jochen seine zulässige Höchsttemperatur und Anni Schmidts Flecken bekamen Junge auf seinem Hals. „Bei einem so komplexen Projekt übernehmen wir immer nur die gesamte Anlage!“
„Warum eigentlich?“, fragte eine fordernde Stimme hinter uns. Jan Behlinger schien meine Idee zu gefallen. „Lassen Sie Herrn Simon doch die fertigen Baugruppen bereits überprüfen, soweit das möglich ist.“
Jochens Überdruckventil musste ausgelöst worden sein, denn er antworte ohne Widerwillen, aber mit zornigem Blick in meine Richtung.
„Okay. Fangt an, wie ihr wollt. Ich bin morgen früh um sechs wieder hier.“
Seine braunen Augen verdunkelten sich – keine gute Farbe für meine weitere Karriere. Aber momentan wollte ich bei meiner ersten Inbetriebnahme keine weitere Zeit verlieren. Die Gruppe löste sich auf und ich begab mich auf die Suche nach Erich.
Er stand wenige Meter entfernt an den Maschinenrahmen gelehnt und grinste mich amüsiert an: „Zu oft solltest du ihn nicht ärgern.“
Ich grinste zurück. „Ich wollte ihn nicht ärgern, sondern Zeit für uns gewinnen.“
Aus den Augenwinkeln sah ich Anni Schmidt auf mich zukommen und zog schnell meinen Schutzhelm auf. „Danke!“, strahlte sie mich an. „Und jetzt gibt es erst einmal eine Sicherheitsbelehrung, sonst dürfen Sie nicht auf der Baustelle bleiben, Herr Simon.“ „Tim“, sagte ich kurz, „wir sind doch eine Altersklasse.“
Sie lachte auf. „Okay, ich heiße Anni.“
Nach der Sicherheitsbelehrung durfte ich mich frei auf der Baustelle bewegen. Erich hatte wie immer alles im Griff. Die drei Mechaniker waren auf die drei fertigen Baugruppen verteilt und arbeiteten die Aufgaben aus dem Inbetriebnahmeordner ab.
Mit Anni diskutierte ich die kritischen Punkte der weiteren Aufbauarbeiten und wir stellten fest, dass die Verdrahtung des neuen Schaltschranks am meisten Zeitrückstand hatte. Aufwendig überprüften die Bauelektriker jede einzelne Verdrahtung. Ich stutzte, das war doch auch eine unserer Aufgaben im weiteren Verlauf der Inbetriebnahme.
Das war die Chance, den Zeitplan zu retten, und ich ließ Erich das Team zusammenrufen. In unserem Teamraum echauffierten sich die Mitarbeiter meiner Schicht noch über die Situation bei der Übergabe, als ich eintrat.
„Und?“, fragte ich, „klappt das mit der Inbetriebnahme der Baugruppen?“ Die drei Mechaniker nickten und murmelten etwas von „akzeptabel“, während die Blicke der drei beschäftigungslosen Elektriker den Boden absuchten.
„Wusstest ihr, dass die Bautrupp-Elektriker den gleichen Job machen wie wir?“
Nun röhrte nur noch der Kompressor des Kühlschranks. Hilfe suchend blickten die drei Elektriker auf, aber nicht auf mich. Sie schauten auf Erich.
Dessen Gesicht sah sehr nachdenklich aus, was in meinem Hirn sofort eine neue Synapse entstehen ließ. Das geschieht immer, wenn der Mensch etwas lernt. Und ich hatte soeben gelernt, dass Erich sehr genau wusste, dass das Durchklingeln aller Leitungen doppelt gemacht wurde.
Langsam blickte Erich nach oben. Ich war gespannt, wie er sich entscheiden würde. Unterstützte er mich, den neuen Jungfuchs? Würde er die Elektriker sofort an die Arbeit schicken, den Elektrikern vom Aufbautrupp quasi die Arbeit abnehmen? Oder würde er einen Machtkampf anzetteln und mir erklären, warum wir die Bautrupp-Elektriker nicht unterstützen konnten? Ich scheiterte bei dem Versuch, seine Gedanken zu lesen.
Erichs Blick trafen meinen und langsam erschien ein leichtes Grinsen in seinem Vollbart.
„Keine schlechte Idee.“
Aber unsere Elektriker hatten auch keine zu langen Schaltkreise und empörten sich sofort. „Vor der Übergabe machen wir nichts!“, polterte einer der drei Betroffenen los, aber seine Stimme klang etwas zu schrill und er hielt abrupt inne, als Erich weitersprach.
„Ihr drei helft dem Bautrupp beim Kabelziehen, dann braucht ihr die Leitungen später nicht prüfen. Ihr werdet mir bestimmt nicht erzählen wollen, dass ihr euren selbst verlegten Leitungen nicht traut, oder?“
Jede Form von Widerstand war im Keim erstickt und ich war froh, dass Erich auf meiner Seite stand. „Rede du mit Anni“, wies er mich an, die frohe Botschaft zu überbringen. Das geschah so laut, dass jeder im Team wusste, wer hier die Kommandos gab. Ich verließ den Teamraum und suchte die Baustellenleiterin.