I
Meine Großtante ist von einer Krankenschwester ermordet worden. Irgendwo in den 80er Jahren. Wo ein Loch war, ein glitzerndes mit Neonlicht, mit Tragik und Glamour. Und dort bin ich in einem Haus mit dunklen Vorhängen, smaragdfarbenen Stofftapeten, Schaffellen auf glatten Parkettböden erzogen worden. Stellagen von Büchern und ich rutschte am obersten Regal und flog und riss alle mit mir über und über mich. Düstere Musik, rauchige Glasflächen und Beige und Braun waren meine Heimeligkeit und schirmten mich von der Angst draußen ab. Denn alles war Angst. Und die Angst und die Nicht-Angst waren dunkel in dunkel.
Ich habe das Essen verweigert. Von der Badewanne aus habe ich nach meiner Mutter gerufen aus einer Dunstwolke von Apfelshampoo. Meine Füße drückten ihre Form von aus der Badewanne über die grünen Fliesen in die Teppichlandschaft des Wohnzimmers und in die wildrustikalen Fauteuils. Der Fernsehkrimiton lag als Tiefnebel im ganzen Stockwerk. Mutter hat mich immer unter den Armen zu trocknen begonnen. Und der Badedampf ist im kalten Vorzimmer gestanden, die heißen Abdrücke meiner Füße haben einen Weg in das Kinderzimmer gezeichnet, in dem ich nicht schlafen konnte.
Als meine Tante starb, wusste ich nichts von einem Mord. Erst Jahre danach berichtete die Tageszeitung meiner Eltern von einer mordenden Krankenschwester und ihren Komplizinnen. Ordinär prangte sie auf der Titelseite mit weißem Kittel und tiefem Ausschnitt.
Und ich war krank. Mutter hat gesagt: „Du bist schwer krank.“
Diese Krankheit war irrational, hatte keinen Namen. Im Keller meiner Großeltern habe ich über die Krankheit nachgedacht.
„Du bist schwer krank“, hat sie gesagt und das Licht über dem braun gebeizten Nachtkästchen abgedreht.
Ich bin im Finsteren gelegen, von nun an schwer krank. Ihre Hand ist über meine Stirn geglitten. Vielmehr Angst hatte ich vor der Nacht als vor der Krankheit. Und das Bett hat gequietscht. Darunter ist die tote Tante gelegen.
In einem Café am Rand von Triest benutzt man das gleiche Mokkaservice wie Tante Helene früher. Dasselbe auch, das ich nach ihrem Tod im Sandkasten zum Spielen benutzt habe. Ihr Name duftet nach dem Parfüm einer alten Dame, Moschus, wie Mottenkugeln. Hände und Stimme haben bei ihr perfekt zusammengepasst, dünn, beige und gesprenkelt. Und haben abgefärbt auf die ganze Wohnung. Und Triest hat die gleiche Farbe wie Tante Helene, und es riecht ähnlich. Und wenn man die Bilder von Tantes Ehemann durchsieht, während einer Sommerfrische um die Jahrhundertwende in Italien aufgenommen; Triest ist dabei gewesen.
Der Kaffee war bitter, ein Espresso. Zucker hat man mir zu bringen vergessen. Der Kellner trug Mokassins und ein grünes Hemd. Mir wurde gleich übel vom Kaffee, von den Mittagsmahlzeiten, von der vom Vortag und von der kurz zuvor eingenommenen. Alles, was man durch die diesigen Frontglasscheiben erkannte, war leicht verwechselbar mit einer Landschaftstapete.
Ich saß bis in den Abend im Café, bis man nichts mehr durch die Scheiben sah außer den Scheinwerfern der vorbeiziehenden Wagen und Busse. Von einer Kassette herunter klapperte Musik. Der Kellner musste sie von Hand wechseln, als die A-Seite abgelaufen war. Ein schwarzes Tonband mit aufgeklebten Papieretiketten und einer Beschriftung von Hand. Auf solche Bänder hat Mutter die stundenlangen Telefonate mit der Tante aufgenommen. Dann penibel mit Datum und Uhrzeit beschriftet in einen grauen Kassettenkoffer geschlichtet. Die alte Tantenstimme mit dem violetten Timbre und der langsamen Gangart. Und Mutter mit ihrer viel schrilleren Stimme. Die Tantenstimme passt in das Café vor der Stadt Triest, auf die Uferpromenade mit den hartgrünen Büschen und dem Kopfsteinpflaster.
Auf der Speisekarte gab es Kaffee-Cocktails, die mir so erschienen, als seien sie nur da, um jemandem wie mir Übelkeit zu verschaffen. In der Nacht würde ich mich übergeben müssen, mehrmals hintereinander, und Durchfall bekommen. Wie ein alter Mensch eine gebrechliche Stimme und ein fiebriges Hirn. Nur die drohende Vorstellung, in Triest krank zu werden, wenn es draußen hell ist, dass das Fieber noch mehr durchbricht. Der Sonnenstand veränderte sich permanent. Vor den großen Fenstern gingen knapp bekleidete Menschen vorbei. Die beklemmende Übelkeit lag quer über dem Sonnenuntergang. Und ich bekam die Tante nicht mehr aus dem Kopf, und wie sie langsam ihre alte Stimme für ihre Zwecke einsetzte. Ich konnte mich an keine einzige Berührung erinnern. Sie hat immer nur mein Gesicht angeschaut. Und mir bei jedem Besuch Stofftiere geschenkt, die ihren Geruch trugen. Einen teuren weichen Hasen mit echtem Fell hatte ich in sämtliche Wohnungen mit übersiedelt. Einen Namen habe ich ihm nie gegeben. Ich rutschte auf der Bank hin und her und war für eine halbe Stunde nur damit beschäftigt, darüber nachzudenken, wo der Hase geblieben war.
Ich musste sinnlos noch einen Kaffee-Cocktail bestellen. Diesmal einen starken kleinen, ohne Schlagsahne. Ich wusste, was auf mich zukam. Ich würde in einem überfüllten Bus sitzen, und mein Magen der Inbegriff aller übermüdeten Übelkeit. Essen gegen die Übelkeit, Sitzen gegen die Übelkeit, Trinken dagegen. Aber nichts würde helfen. Wie die Tante im Pflegeheim müsste ich liegen, in einem Bett in einer Triestiner Pension, nahe dem Bahnhof, unter meinem Fenster ein Buffet, aus dem es nach Gebratenem duftet. Einfach – billige Bettwäsche, ein Fernseher mit Empfang für lokale Sender. Draußen würden die Autos vereinzelt aufbrummen. Und mein Magen sollte jeden Millimeter Fahrstrecke aufnehmen und in sich in einer Spirale verarbeiten. Der Bus würde mir in Erinnerung bleiben, eine Endloserinnerung, wenn ich mit Brechdurchfall auf der Klobrille in der Gangtoilette sitze. Blaue Fliesen bis an die Decke. Die anderen Pensionsbewohner würden probieren, die Toilettentür zu öffnen, aber ich blockierte den Ort die ganze Nacht über. Und am nächsten Morgen würde meine Vergiftung noch immer nicht ausgestanden sein. Trotz der Schmerzen würde ich versuchen zu essen und mich ein weiteres Mal übergeben. Bis zu meiner Abreise hätten eineinhalb Tage zu vergehen, und ich würde meine Gedanken mit Städtenamen blockieren. Und meine Tante mit mattem Teint, dem violetten Timbre in der Stimme, der leichtrosa Haut, die in Falten braun geworden ist, würde immer wieder Sommerfrische machen. Nahe meinem Bett stehen. Sie könnte mir aber auch im Fieberdelirium nicht erzählen, warum sie getötet worden ist.
Nachdem all das geschah und ich eine Nacht lang nicht schlafen konnte, lag ich am Morgen in wirren Träumen. Ich stand mitten in der Industrie Italiens. In Technicolor glitzerten die sich verändernden Fassaden der Fabriken. Und die Schauspielerin Monica Vitti, ganz in Schwarz, kam um alle Ecken gleichzeitig. Sie ging langsam, in der rechten Hand eine Tasche, rot wie ihre Haare. Monica Vitti ging immer wieder um die Ecken. Wie in einem Spiegelkabinett.
Nach der erhöhten Temperatur quälte mich der Hals.
Der darauf folgende Tag in Triest hatte einen Silberschimmer, wie auf einem Dia, das Meer seidenmatt. Vor mir eine Zeitung, der Kulturteil ausgebrochen auf der Sitzfläche eines dunklen Stuhls, kam ich zum Sitzen. Die Wettergrafik flankierte das Fernsehprogramm. Städte, Temperaturen, Nachrichten aus Deutschland.
Dort, wo meine Cousine Indra wohnt, die ich mit acht zum letzten Mal gesehen habe. Damals, als sie auf Besuch war, ein drahtiges und strohiges Mädchen, zwischen den beiden vorderen Schneidezähnen ein Abstand, merkte ich zum ersten Mal den Unterschied zwischen Männern und Frauen. Es verwunderte mich, dass einzelne Wörter, die sie sagte, bei mir hängen blieben und die ersten Ritzen bildeten, die später von richtigen Frauen ausgekerbt wurden.
„Ich mag nur die Pante“, quiekte sie über den Mittagstisch zu ihrem Vater, als die Schnitzel serviert wurden.
Indras Stimme entrückte beim Schreien in Höhe und Lautstärke. Und ihre blonden langen Haare kräuselten sich rund um ihren Nacken und über die Schultern. Mehr als die panierte Schicht aß das dünne Mädchen nicht vom Schnitzel. Ihre faltigen kurzen Hosen und die einfärbigen Blusen in Neon hingen schlabbrig an ihr herunter. Ihren Geruch assoziierte ich meine Kindheit lang mit Deutschland nach dem Krieg; geraspelte süße Haselnüsse, Waschmittel und trockene Haut.
Über die flimmernden Fernsehsendungen sah ich die Globalisierung von innen her naherücken, nah an den grünen Schaukelstuhl heran, zwei Meter vor mir machte sie Halt. War eine Beobachtung von jeher. Und als sich die Programme änderten im Fernsehen, begannen auch die Menschen sich zu ändern, diskutierten andere Themen. Hatten Probleme, die man ihnen vorzeigte, die sie nachmachten. Schicht um Schicht, wie bei einer Zwiebel, wurde die Persönlichkeit all dieser Leute abgeschält, um immer tiefer zu gelangen. Ich war nie aktiv dabei.
Damals lebte Tante Helene noch in ihrer Wohnung, Frau eines Hofrates selig, der bis zum Tag seines Versterbens Massen an Butter aß, den Nachkriegswohlstand unverändert in sich aufnahm. Tante Helene blieb blass, eine Frau, die mildes Wetter brauchte, kinderlos. Keine Sorgen, wenn nicht jene, die ihr die Lunge machte, das Herz, physische Gebrechen und die Unzufriedenheit, einmal nicht mehr sie selbst sein zu können. Das war vor dem Krieg und nach dem Krieg gleich. Lauter Verstreute im Nachkrieg. Eine komische Ära, dachte ich.
X
Notiz
Warum ich eigentlich Moralist bin. Es hat post-post-68 das urbane Leben übernommen. Und ich bin in der unangenehmen Situation, mich in diesem Umfeld nicht wohl zu fühlen. Es geht – selbst in der Kunst – nur mehr darum, Begriffe zu entwerfen und zu prägen, in ambienter Musik und auch bei Partys, die außer Konsumrelativismus keinen Sinn ergeben. Vielleicht ist es das Loch, das die Postmoderne hinterlassen hat. Und das Leben selbst kann nur mehr als Verdickung oder Verdünnung im rhizomatischen Netz gesehen werden. Ich nenne es die Deleuze’sche Durchdringung, die eine Falle ist, weil man das Netz nicht verlassen kann. Moralismus ist als Hintergrundbegriff von einer sich selbst so bezeichnenden Elite definiert, die in der Politik gestaltet, minimiert, maximiert und ein systemloses, populäres Wertenetz verhängen will.
Ich kann mich nur mehr in Definitionen rekonstruieren als Abbild, das im Warentrash, in Vergütungspolitik und hinter Konzepten und Netzwerken ein Ambiente von einerseits klar definierten, aus dem Kontext gerissenen Theorien, andererseits veralteten New-Age-Ansätzen und Esoterikgestrüppen lebt.
Diese Jahre jetzt sind von einer kollektiven Regression dominiert. Die Lifestyles und die dazugehörige Vermarktung arbeiten mit Figuren, Fragmenten, vor allem Bildern der Kindheit einer Generation, die nicht an die Vorgänger anknüpfen konnte, weil diese ein Loch gerissen haben in die Geschichte. Selbst das schreibe ich bei gedämpfter Musik, während nebenan am Tisch Sportjackenträgern, sich nie erschöpfenden Lifestylekonglomeraten, ein kolonial inspiriertes Mittagsmenü, gefüllt in oranges, sündteures Plastik-Designergeschirr im Retro-Stil, serviert wird.
Alle Begriffe, die vor fünf Jahren noch mit dem Attribut „Neo“ versehen waren, brauchen jetzt einen Relativierungszusatz. Man könnte von Indifferenz sprechen, die im urbanen Dasein fortschreitet. Eine permanente Umstrukturierung, ein Denken in Projekten und Teilzeit bildet den Grundstein der Nervosität, die fett gefüttert wird und ausgespien als gesättigter Phlegmatismus.
Die Vernunft ist nicht mehr im Einklang mit der Emotion. Wo eines von beiden auftritt, wird es sofort als solches ausgewiesen. Ist es die Schuld von Kommentar und Kritik?
Die indifferenten Charakterköpfe verstecken sich in der Regression. Es ist ein Überkompensieren der Kindheit. Und ein gleichzeitiges Ausleben kindlich unterdrückter Maßlosigkeit.
XI
Mir fiel der Abholschein für das eingeschriebene Poststück ein, der vielleicht schon verfallen war. Auf der Post riss ich das Kuvert auf und sah, dass ich Antwort auf meine Anfrage auf Einsicht in die Gerichtsakten der Spitalsmorde erhalten hatte. Mein Ansuchen wurde in wenigen knappen Sätzen abgelehnt. Ich hätte erwartet, dass man mir mitteilt, es sei nicht so einfach, jemandem die Akten offenzulegen, da es sich um den schlimmsten Serienmord seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs handelt, oder eine andere blumige Erklärung. Schlicht hieß es, eine Akteneinsicht könne in meinem Falle nicht gewährt werden, da die Sachlichkeit nicht dafür spreche.
Hinter dem Schreiber des Briefes stellte ich mir eine einfache Person in Alltagskleidung vor. In einem Amt mit in regelmäßigen Abständen renovierten Wänden und abgestandener Luft wie in einer Schule. Szenarien mit einer Schwankungsbreite von plus minus zehn Prozent vorhersagbar. Ja oder Nein im Kleid verschiedener Formulierungen.
Ich rief bei der Auskunft an und erfragte die Nummer des zuständigen Gerichts. Eine Schranke, wie das Gericht sie mir bot, müsste von etwa vier weiteren Anläufen bei anderen Stellen überflügelt werden, dachte ich.
Carla keuchte an der Tür. Klamm war unsere erste Verabredung nach Langem. Sie kam herein und sah sich um, obwohl sie alles kannte. Ich dachte, sie sähe mit ähnlichen Augen wie ich damals auf der Pflegestation, wo noch Jahre vor der Renovierung Tante Helene umgekommen war: Böden und Wände steril und scharfer Geruch in Augen und Nase.
Sie sprach nicht viel und machte ein hohles Gesicht. Ich wusste nicht, ob sie gehen oder bleiben wollte. Dann setzte sie sich und wir tranken mehrere Gläser Wein. Als ich von Tante Helene und Roman Mahler erzählte, lächelte sie gezwungen. Sie sah mich an und bewegte ihre Hand in einer Divenpose nach unten. Das passte nicht.
„Was soll das, Carla?“, schoss ich sie genervt an.
„Nichts“, und ich meinte zu wissen, dass sie mich keine Spur ernst nahm. Genau jetzt verachtete ich sie für ihre Art zu leben. Für ihren Job in der Bücherei. Für ihre Wissbegier bei Fremdsprachen und ihre Ambitionen für Unspektakuläres.
„Warum schnüffelst du den Toten hinterher, das ist doch lächerlich.“
Ich sah verächtlich in ihr schmales Gesicht. Jeden meiner böswilligen Blicke lenkte sie in gemächliches Gutmeinen. Sie verformte meine Gesichtszüge synchron zu den ihren. Ich atmete kurz und stoßweise durch die Nase aus und strich mir mit den Fingerkuppen über die Stirn bis zum Haaransatz. Dann sah ich sie mit der Hand im Gesicht an.
Carla machte ein konzentriertes Gesicht, als sie ihre Bluse und den BH ablegte. Ich genoss das langsame Versteifen meines Gliedes. Hielt ihre Brüste in meinen Händen wie Pallas Athene ihre Utensilien, bevor ich ihren Nacken küsste und ihre harten Warzen an mich gedrückt spürte. Sie war schnell, öffnete die Knöpfe ihrer Hose und glitt mit der Hand in ihren Slip. Ich schielte ihr nach und sah, wie sie mit einem Zeigefinger in ihre Vagina eindrang. Sie blinzelte.
„Das ist, weil ich dich beschützen will“, sagte sie. Ihr nasser Zeigefinger machte das christliche Kinderkreuz auf meine Stirn.
„Haben sie dich damals auch so beschützt in deiner Kirche und in deinem Internat?“ Und bekreuzigte mich weiter an Kinn und Brust.
Dann spürte ich meinen Penis in ihr pochen. Carla keuchte mir warmen Atem ins Gesicht. Meine Nase steckte in ihren Haaren, ihren Kopf hielt ich wie eine Schale. Ich rückte auf ihrem Oberkörper hin und her. Carla presste die Atemluft aus dem Gaumen hervor, dann schlug sie mit gestreckten Fingern auf meine Unterarme.
„Wenn du mich fickst, musst du mich auch beschützen.“
Ich dachte jetzt, Tante Helene hätte es nie gegeben, nie wäre ich in Belgrad gewesen. Carla drängte sich an mich. Die Angst, meinte ich, sollte mich eher zu ihr hin als von ihr weg treiben.
Dann gab ich ihr mit meiner Samenflüssigkeit auch das Kreuz auf ihre Stirn. Die Haare hingen ihr vornüber ins Gesicht. Sie wischte sich schnell eine Strähne weg und berührte dabei die Samenflüssigkeit. Dann saß sie wieder still. Ich wollte sie küssen, aber sie hielt mich zurück und deutete mir, ich solle fertig machen. Und dann war Helene wieder im Raum, als hätte sie den Akt als Engel begleitet.
Carla legte sich um mich wie ein Gewand. Ich sah, wie sich ihre Pupillen weiteten. Damals, im Nobelbezirk, benutzte Tante Helene Atropin, um ihre Augäpfel zu vergrößern. Carlas Wimpern waren alt und hoch. Es war mitten am Nachmittag und die Hitze arbeitete sich durch mich und sie.
Weil ich meine Brille nicht auf hatte, war alles im Halbdunkel verschwommen. Ihre beige Sommerbluse war in das Bett eingesunken, darauf lagen meine und ihre Unterwäsche.
Es ist ganz anders als nach dem Lutschen von Ludwigs Penis, dachte ich.
Der Nachmittag wurde finsterer. Es begann zu regnen. Und ich glitt langsam zurück in Carla. Was dann kam, war zutiefst menschlich, wie auch das Trinken von Malzkaffee, den ein alter Mensch zu sich nimmt, und dass er es immer um die gleiche Zeit tut fünfzig Jahre lang im Nachkrieg.
Als Carla ging, rief ich Mutter an, um über Helene zu reden. Mutter erzählte mir, wozu sie von der Helene gebraucht worden war in den Jahren der Pflege. Mehr oder weniger waren es keine Notwendigkeiten. Helene hatte Emil durch die offene Zimmertür gerufen. Die Glaskästen mit den Bleikristallen zitterten, wenn er durch die Wohnung ging. Ich sah durch einen Spalt zu. So schwer war er, niemand mehr konnte ihn heben. Mutter drehte ihn auf die Seite und wischte seinen unabsichtlich verlorenen Kot weg, denn er war es gewohnt zu essen und zu verdauen, viele Male am Tag. Früher schon mit seiner Sekretärin zu Mittag, die täglich eine Mahlzeit wärmte und am Nachmittag Kaffee und Konditorware servierte, und am Abend mit Helene und in den Restaurants des noblen Bezirks. Helene hatte ihren Gatten nicht dahinvegetieren sehen können, deshalb hatte sie immer nur mehr seine Stimme gehört, die sich nicht mehr aus einem Raum bewegt hatte. Auch Helene war keine Dame mehr, sie schied aus ohne den Deckel zu heben. Mir wurde warm beim Telefonieren. Mutter meinte, sie hätte nur der Verwandtschaft und Verpflichtung wegen gepflegt.
Nicht vorher und nicht nachher hatte es Geld gegeben. Die Tante hatte immer alles in Naturalien abgegolten. Dekoratives aus dem Nobelbezirk.
Neben dem Telefon saß der Hase aus Kanin und ich strich ihm über sein seit zwanzig Jahren immer gleich duftendes Fell.
Mutter erzählte von den Sommerfrischen, die die Tante bei ihnen verbracht hatte, und spärlicher von den Paketen, die sie über das Jahr geschickt hatte, gefüllt bis oben mit Zuckerzeug aus der Hauptstadt. Und Mutter heulte.
Als Carla weg war, mischte sich die Twigutschatka in meine Gedanken. Sie stand vor mir, den Kragen der Bluse aufgestellt, und ich wollte sie loswerden. Müsste sie auf eine Reise schicken, temporär verbannen, ihr woanders eine Zukunft geben. Sonst wäre das Leben mit Carla immer nur punktuell. Lauter angerissene Lieben, quer verteilt über mein Leben.
XII
Twigutschatka ist inzwischen auf dem Flughafen in Belgrad angekommen. Sie geht quer durch die Ankunftshalle, als hätte sie jemand erwartet, schaut sich nach allen Richtungen um. In der linken Hand trägt sie eine Plastiktasche mit dem Logo eines Parfümhändlers und in der rechten ihren schweren Trolleykoffer. Sie orientiert sich an den Pfeilen, um zum Ausgang zu finden, wo der Bus in Richtung Zentrum abfährt. Der Premierminister ist tot und sie muss durch mehrere Kontrollen. Bis nach Hause, in die Mitte von Serbien, wird sie mehrmals kontrolliert. Sie kauft eine Zeitung am Flughafenausgang und liest über den Mord nach. Alles in der Stadt ist verquert, die zerschossenen Gebäude sind noch zerschossener. Am Bahnhof kann sie ihr Gepäck nicht in einem der versperrbaren Kästchen zwischenlagern, weil selbst diese kurzfristig außer Betrieb sind. Der Einlass in den Bus ist erst kurz vor der Abfahrt. Es ist September und schon kühl. Die Träger des kleinen Plastiktäschchens schnüren sich in Twigutschatkas rechte Hand. Sie versucht, zu Hause anzurufen, niemand geht ans Telefon. Sie hat das Gefühl, die Stadt verschließe sich vor ihr. An der Kassa in der Busstation ist ein Stau, es sind mehr Menschen als je zuvor dort. Sie hat vergessen, wie hektisch die Stadt ist, und dann ist sie gleich zu müde um zu denken. Sie sieht noch riesige leuchtende Reklametafeln für ein Bordell und eine Werbung für eine neue Jugendzeitschrift, dann kann sie in den Bus einsteigen.
Twigutschatka beginnt noch einmal scharf nachzudenken und hält ihre beiden Gepäckstücke fest. Vom Zeigefinger bis zum kleinen Finger in der linken Hand spürt sie ein Jucken. Ein Teil ihrer Hand schläft ein und wird lahm. Sie schüttelt dezent das Gelenk. Sie stellt die Taschen ab und nimmt sie wieder auf. Jemand, der hinter ihr eilenden Schrittes unterwegs war, muss abbremsen. Dann schläft sie ein. Der Bus fährt ab.
Nach der Ankunft nimmt sie am Bahnhof ein Taxi. Der Fahrer hat zerfurchte Hände, hebt ächzend ihre Gepäckstücke in den Kofferraum, in dem mehrere Kisten bedeckt mit Stofffetzen liegen, alte Bierflaschen und die Reste einer Zündkerze. Twigutschatka muss sich auf die Rückbank setzen, weil die vordere Tür zwar zu öffnen, aber nicht zu schließen ist. Draußen ranken sich brombeerartige Gewächse. Die Straße mäandert unregelmäßig vom Gehen bis in die Fahrt hinein.
Sie fuchtelt mit den Armen. Der Fahrer macht das Radio leiser. Der Wagen sieht aus wie eine in den 50er Jahren möblierte Wohnung. Über dem Handschuhfach kleben kleine Bilderrahmen, aus denen Kindergesichter lugen. Am Rückspiegel hängen zwei alte Silberketten, ein gelber, verstaubter Stoffhase und ein undefinierbarer gelber Gegenstand aus Gummi, den Twigutschatka die ganze Fahrt über anstarrt. Der Fahrer spricht kein Wort. Twigutschatka auch nicht. Als sie aussteigt, vergisst sie die Zeitung auf dem Rücksitz. Sie ist müde, zu Hause ist niemand. Der Schlüssel liegt im Garten am gewohnten Platz. Sie geht mit einer Decke zu Bett, den Koffer in der Küche stehen gelassen. Den Plastiksack aus dem Parfümladen gibt sie nicht aus der Hand, auch nicht beim Einschlafen. Sie schläft unter einer Hängepflanze, an drei Fingern der Sack. Im Zimmer mieft es nach altem Teppich. Der Tag ist schon fast eine eigene Welt.
XIII
Ich habe mir verschiedene Wohnungen angesehen, wollte umziehen. Meine Wohnung war eine dunkle, unlüftbare Höhle. Ich fand nichts Passenderes.
Und ich habe mich gefragt, ob es bei uns einmal so werden kann wie in Belgrad, dass uns die Dinge entgleiten. Wenn mir alles in einen Leerlauf gerät, der so schnell wird, dass ich nicht mehr mitstrampeln kann.
Mein Kreislauf war so schwach, dass mich eine kleine Nikotinmenge schon zum Zittern brachte. Auf dem Tisch standen alte Gläser mit vertrockneten Getränkeresten, Zucker und Milch, Orangensaft. Ich saß in Ruhe da. Der Rauch zitterte nervös in der Luft. Meine Verdauung stockte. Ich ekelte mich vor dem Rauch an meiner Hand. Der Rauch machte das Wasser in meinem Magen brackig.
Jeder sollte einmal zurück, dachte ich, Twigutschatka musste zurück, wenn ich auch nicht wusste, woher ich sie geholt hatte, Tante Helene zurück zum Rest ihres Lebens im Nobelbezirk, Irmtraud zurück auf ihren Bauernhof. Zurück zum Vorher.
Ich hatte Lust auf etwas Süßes. Stand auf und holte mir die Kekse mit Schokoladeflocken. Über der Waschmaschine war eingetrocknetes Waschpulver. Und während der Fernseher plapperte, nahm ich den Küchenschwamm und begann, das Pulver zu entfernen. Ich stand angegossen in der Küche. Und wischte den Staub von den Regalen. Dann trocknete ich die nass gewischten Stellen mit einem Geschirrtuch.
Helene sorgte dafür, dass ich nicht mehr zum Stillstand kam, auch wenn ich manchmal nur strampelte und die Pedale nicht traf. Der Leerlauf ist gekommen und dann das, was nach dem Leerlauf kommt.
Ich saß auf dem Ergometer und hatte schon vierhundert Kalorien verbrannt. Aber noch immer das Gefühl, eine Steigerung zu brauchen. Vorher hatte ich meine Gewichte beim Gerät für die Bauchmuskeln und die Rückenmuskulatur erhöht. Der Sommer war der heißeste im Laufe meines Lebens. Und ich war jeden Abend in meiner Wohnung und konnte nicht schlafen. Ich lag wach, sah zum geschlossenen Fenster hinaus. Die Tageszeitung gab mir Kontinuität, weil sie jeden Morgen vor der Tür lag. Und selbst das konnte sich ändern. Mein Konto leer werden, das Abonnement storniert.
Ich wippte mit den Beinen, suchte nach einer Beschäftigung, um das Wippen zu ersetzen. Anfangs war es Sport, dann Rauchen. Und was gäbe es noch: ein Buch lesen, in einem durch, ein dünnes. Dann bin ich vor dem in Kirsch gebeizten Regal gestanden und meine dünnen kalten Finger haben immer wieder zwischen die Bücher gepinselt. Eigentlich wollte ich nur schlafen.