Über dieses Buch:
Nach vielen Jahren in Berlin ist Kommissarin Florence Labelle nach Frankreich zurückgekehrt und arbeitet nun für die Police Judiciaire in Nîmes. Ihr aktueller Fall führt sie nach Montcastin, einen kleinen Weiler im Süden Frankreichs. Doch die Idylle trügt: Der vermeintliche Verkehrsunfall entpuppt sich als kaltblütiger Mord, bei dem der achtzehnjährige Raymond Lapalut ums Leben kam. Ist der Täter im familiären Umfeld des Jungen zu suchen? Als ein weiterer Mord geschieht, stehen Florence Labelle und ihre Kollegen vor einem Rätsel – und es wird immer klarer, dass die Lapaluts nicht die einzigen Dorfbewohner sind, die ein düsteres Geheimnis mit sich herumtragen.
Die Presse über Alexandra von Grotes Kriminalromane: »Alexandra von Grote schreibt spannende Krimis, sie vermittelt ein Lebensgefühl voller Intensität und Leichtigkeit.« Freie Presse
»Spannung, detailverliebte Milieuschilderungen und stimmige Figuren sind die Zutaten eines Krimi-Menüs, das jedem Fan des Genres munden wird.« Fränkische Nachrichten
Über die Autorin:
Alexandra von Grote ging in Paris zur Schule und machte dort das französische Abitur. Sie studierte in München und Wien Theaterwissenschaften und promovierte zum Dr.phil.
Nach einer Tätigkeit als Fernsehspiel-Redakteurin im ZDF war sie Kulturreferentin in Berlin.
Seit vielen Jahren ist sie als Filmregisseurin tätig. Sie schrieb zahlreiche Drehbücher, Gedichte, Erzählungen und Romane. Ihre Romanreihe mit dem Pariser Kommissar LaBréa wurde von der ARD/Degeto und teamWorx Filmproduktion verfilmt.
Alexandra von Grote lebt in Berlin und Südfrankreich.
Bei dotbooks erschienen bereits der Roman »Die Nacht von Lavara«, der Kriminalroman »Nichts ist für die Ewigkeit« sowie die Provence-Krimi-Reihe um Florence Labelle:
»Die unbekannte Dritte«
»Die Kälte des Herzens«
»Das Fest der Taube«
»Die Stille im 6. Stock«
Zudem veröffentlichte Alexandra von Grote bei dotbooks die Krimi-Reihe um Kommissar LaBréa:
»Mord in der Rue St. Lazare«
»Tod an der Bastille«
»Todesträume am Montparnasse«
»Der letzte Walzer in Paris«
»Der tote Junge aus der Seine«
»Der lange Schatten«
Mehr Informationen über Alexandra von Grote finden Sie auf ihrer Website: http://www.alexandra-vongrote.de
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eBook-Neuausgabe Januar 2015
Copyright © der Originalausgabe 2000 Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de unter Verwendung eines Bildmotivs von Thinkstockphoto/istock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95520-770-0
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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
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Alexandra von Grote
Die Kälte des Herzens
Ein Provence-Krimi
dotbooks.
Violette Lapalut würzt das Gemüse mit gerebeltem Thymian, einem halben Teelöffel gemahlener Gewürzmischung quatre épices, Pfeffer und Salz. Zum Schluß gibt sie ein Glas Rotwein hinzu und rührt kräftig um. Sie stellt die Gasflamme kleiner, räumt die Gemüseabfälle in den Mülleimer und wischt die Arbeitsfläche sauber.
Der Geruch köchelnder Tomaten, aromatischer Kräuter und scharf angebratener Zwiebeln durchzieht die Küche. Träge wiegt sich der Fliegenvorhang vor der offenen Tür im Zugwind. Eine Ameisenstraße führt von der steinernen Schwelle über den Fliesenfußboden die Wand hoch in einen Holzbalken.
Violette bindet die Schürze ab und hängt sie an den Haken neben dem Spülstein. Es ist dunkel in der Küche. Durch die Fenster mit den kleinen quadratischen Glasscheiben findet das Spätnachmittagslicht nur spärlich Einlaß. In diesem Raum mit seinen braunroten, glatten Fliesen und den weißgekalkten Wänden liegt sommers wie winters, morgens und abends eine gleichmäßige Dämmerung, als gäbe es keine Jahreszeiten und unterschiedlichen Sonnenstände.
Violette öffnet das Fenster, das nach Süden einen weiten Blick ins Land freigibt. Auf den Feldern im Tal blühen die Sonnenblumen, ein Flammenmeer bis an den Horizont, der am Fuß der Berge endet. Unterhalb des Dorfes St. Sylvestre, das etwa zwei Kilometer entfernt liegt, wird die Friedhofsmauer von mächtigen Zypressen eingegrenzt. Am Flußufer weiden ein paar Ziegen, die Herde vom alten Jacob aus La Rondelle. Die meisten Tiere haben braunes Fell, nur wenige sind weiß. Das Geläute ihrer Glocken ist deutlich zu hören. Noch andere Sommergeräusche dringen an Violettes Ohr: das Schreien der Zikaden in den Pinien, Steineichen und Akazien rund ums Dorf, das Schnalzen der Schwalben, die sich auf den Strom- und Telefonleitungen aufgereiht haben.
Die Schönheit dieses Ausblicks und die Friedfertigkeit der Laute verstärken ihr Gefühl einer großen Einsamkeit. Violette hält erschrocken ihre Hand vor den Mund, als müsse sie den Schrei unterdrücken, der ihr Herz zu sprengen droht. Warum war alles so gekommen? Sie hatte versucht, sich gegen die Ereignisse zu stemmen, doch vergeblich. Michel war stärker. Er war wie besessen und ist es noch. Von Anfang an gab es für sie keine Chance. Ihre Passivität, gepaart mit innerem Rückzug und Resignation, hat in den vergangenen Jahren ihren Körper ruiniert. Fett und aufgedunsen, das Gesicht zu einer konturlosen, pickeligen Masse verunstaltet, verläßt sie kaum noch das Haus, geht weder zum Bäcker, der jeden Morgen ins Dorf kommt, noch hält sie Kontakt zu den Nachbarn. Die meisten Empfindungen sind abgestorben. Sie lebt in ihrem Körper wie in einer unwirtlichen und schmutzigen Behausung. Wenn sie Fotos von früher betrachtet, sieht sie eine dunkelhaarige, schlanke und zierliche Frau mit einem etwas schiefen, aber schmalen Gesicht. Wie lange liegt das alles zurück? Als sie Michel geheiratet hat, war sie achtzehn und froh, den Teilzeitjob als Altenpflegerin an den Nagel hängen zu können. Seitdem sind beinahe zwanzig Jahre vergangen. Von Anfang an gab es Schwierigkeiten, wenn auch ganz unterschiedlicher Art. Michels Eltern setzten alles daran, die Hochzeit zu verhindern. Doch Michel ließ sich nicht beirren, und so fand die standesamtliche Trauung an einem 13. Juli statt. Das war beinahe das einzige Mal, daß er zu ihr gehalten hat.
Violette lacht verbittert. Ja, das einzige Mal! Heute ist ihr klar, warum. Er hat sie nur benutzt, von Anfang an. Michel mit den zwei Gesichtern. Michel, das Muttersöhnchen. Michel, der sich von seinem Vater wie ein Schuljunge herumkommandieren ließ. Michel, der Laufbursche, finanziell abhängig von seinen Eltern. Der nie ihre Partei ergriff, wenn seine Eltern sich in das Leben des jungen Paares einmischten und Violette ihre Abneigung und Verachtung spüren ließen. Der Luftikus mit den künstlerischen Flausen im Kopf, die er nur dann realisierte, wenn er an lauen Sommerabenden ein paar Akkorde auf der Gitarre klimperte. Michel, der Versager. Ohne Ausbildung, ohne Beruf. Gelegenheitsmaurer und Schwarzarbeiter.
Hat sie ihn wirklich einmal geliebt? Wenn sie darüber nachdenkt, ist es, als irre sie durch eine fremde Straße, auf der Suche nach einem Haus, das es nicht gibt und nie gegeben hat. Sie hat keine Erinnerung an ihre früheren Empfindungen. Und dann kam jener Tag, der alles verändert hat ...
Im Keller, der unter der Küche liegt und dessen Eingangstür auf die Dorfstraße führt, sind Schritte zu hören. Das ist Michel. Schnell beugt sich Violette vom Fenster zurück, damit er sie nicht sehen kann. Sie lauscht und hört, wie er die Dorfstraße hinuntergeht. Sie weiß, daß er durch den zweiten Hauseingang in den hinteren Trakt des Hauses will. Dort liegen die Zimmer der Kinder und das ehemalige Büro von Michels verstorbenem Vater, dem das Haus bis zu seinem Tod gehörte.
Als sich die Schritte entfernen und Violette dann das leise Klacken der zweiten Haustür vernimmt, schließt sie rasch das Fenster. Sie geht zum Küchenschrank, öffnet ihn, nimmt die angebrochene Flasche heraus, schraubt sie ungeduldig auf, schließt die Augen. Sie zögert nicht, sondern wirft den Kopf nach hinten und nimmt einen ersten, kräftigen Schluck.
***
Michel Lapalut hat die Gestalt seiner Frau als Silhouette hinter der Fensterscheibe wahrgenommen. Er steckt die Hände in die Hosentaschen und geht mit federnden Schritten über die Dorfstraße zum Eingang des Nebentraktes. Dort hatte sein Vater früher sein Büro, dort schrieb er auf einer altertümlichen Schreibmaschine seine Bücher und religiösen Artikel für die Zeitschrift der Sekte, die er gegründet hatte und deren selbsternanntes Oberhaupt er war. »Jesus sieht dich«, »Ich traf Jesus unten am Fluß«, »So wird Jesus mein Gefährte«. Der Vater hatte Hunderte solcher Geschichten verfaßt, sie waren sogar in andere Sprachen übersetzt worden und verkauften sich gut. In diesem Haus empfing er auch die Pilger, die an den Wochenenden ihren Weg zu dem abgelegenen Dorf fanden, um Trost zu suchen, einen Sinn im Leben oder einfach Abwechslung in ihrem langweiligen, ereignisarmen Tagesablauf. Biedere französische Familien mit Kindern und einem Mittelklassewagen. Michels Vater schenkte ihnen sein neuestes Buch, schrieb eine passende Widmung hinein, betete mit ihnen und nahm im Gegenzug geschäftsmäßig Geldspenden und Schecks entgegen, die die Pilger als Dank zurückließen.
Als Michel nach dem Tod des Vaters das Haus erbte, machte er einen Durchbruch zum Wohnzimmer seines eigenen Hauses, baute die oberen ehemaligen Speicherräume für die Kinder aus und gestaltete den alten Hauseingang als separaten Zugang.
Der Rosenstock, der an der Mauer neben dem Hauseingang emporrankt, beugt seine Zweige unter der Last der vollen gelben Knospen. Michel hält inne und riecht an einer halbgeöffneten Blüte. Sie duftet schwer und betäubend. Mit einem Ruck reißt er die Rose ab und steckt sie in die Brusttasche seines Hemdes. Bevor er das ehemalige Haus seines Vaters betritt, sieht er noch, wie sich unten an den Briefkästen zwei Dorfkatzen auf der Kühlerhaube von Léon Delcourts altem Kombi balgen.
Mit wenigen Schritten durchquert er das Büro und geht in das schmale Treppenhaus. Eine Holzstiege führt in den ersten Stock. Michel bleibt kurz stehen, schiebt vorsichtig den Stoffvorhang beiseite, der vor dem kleinen Fenster hängt, von dem man in den Innenhof der Engländerin blicken kann. Michel sieht, daß sie im Liegestuhl nackt in der Sonne liegt. Ihre Augen sind zum Schutz gegen Falten mit zwei Abschminkpads bedeckt. Michel verzieht seinen Mund zu einem Grinsen, schiebt den Vorhang wieder vor und geht die Treppe hinauf ins Zimmer seines Sohnes.
Die Engländerin, die Karen McPherson heißt und seit vielen Jahren im Dorf lebt, hört die Schritte auf der Holzstiege im Nachbarhaus. Plötzlich halten sie inne; dann gehen sie weiter, nach oben. Es sind eindeutig Männerschritte. Karen rückt sich im Liegestuhl zurecht. Es ist heiß in der Sonne, und sie schwitzt unter den Armen, im Gesicht und am Rücken. Sie nimmt die schützenden Pads von den Augen und sieht auf ihre Armbanduhr, die neben dem Liegestuhl auf den Steinplatten liegt. Daneben steht ein Glas Wasser mit Eiswürfeln.
Kurz nach vier. Sie würde noch ein wenig in der Sonne liegen, sich danach auf ihr Rennrad schwingen und die 30-Kilometer-Strecke nach St. André fahren. Anschließend duschen, die Haare waschen und die Haut eincremen. Danach das Abendessen vorbereiten – eine Zucchini-Quiche – und rechtzeitig die Flasche Bordeaux Grand Cru öffnen, damit sich der Wein entfalten kann. Louise müßte spätestens gegen zwanzig Uhr ankommen. Wenn sie nicht in einen Stau auf der Autobahn gerät. Aber in der letzten Juliwoche kommt man trotz des Ferienverkehrs, der sich durch Frankreich nach Spanien wälzt, ganz gut durch.
Karen trinkt einen Schluck Wasser, drückt sich die Pads auf die Augen und lehnt sich wieder zurück. Aus dem Nachbarhaus ertönt Musik; Vanessa Paradis oder irgendein anderer französischer Schreihals. Wahrscheinlich aus Raymonds Stereoanlage. In seinem Alter hört man derartige Schlager und schwärmt für solche Stars.
***
Raymond will gerade den Knopf der Stereoanlage lauter drehen, als er bemerkt, daß sein Vater ins Zimmer kommt. Abrupt dreht er sich um. Michel lehnt seinen linken Arm lässig an den Türrahmen, zwischen Daumen und Zeigefinger dreht er eine abgebrochene Rosenblüte. Er lächelt.
»Na, deine neueste CD? Die gefällt mir.«
Raymond nickt und spürt, wie er rot wird. In letzter Zeit wird er ständig rot in Anwesenheit anderer Menschen, ohne besonderen Grund. Der Blick seines Vaters ruht auf ihm. Michel mit seinen langen braunen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren, der schlaksigen Gestalt und dem jungenhaften Lächeln ist alles andere als der typische Vater. Er sieht eher aus wie Raymonds älterer Bruder oder wie ein Freund.
Es ist heiß in dem Zimmer unter dem Dach. Raymond wischt sich mit einer schnellen Bewegung übers Gesicht. Noch immer betrachtet ihn sein Vater. Raymond kennt diesen Blick, er fürchtet und liebt ihn. Aber wozu sich jetzt Gedanken machen? Schnell sagt er:
»Heute abend gibt Vanessa Paradis ein Konzert in Montpellier. Ich hab noch zwei Karten bekommen, für Aurélie und mich. Kann ich deinen Wagen haben?«
Michel nickt. Aurélie ist Raymonds Freundin. Die beiden kennen sich seit ein paar Monaten, ein hübsches Mädchen.
»Kommt ihr dann in der Nacht zurück?«
»Ja klar.«
Noch immer ruht Michels Blick auf der Gestalt seines Sohnes. Raymond ist etwas kleiner als er, aber muskulöser und breitschultrig. Er trägt ein ärmelloses gelbes T-Shirt und enge, auf Shortlänge abgeschnittene Jeans. Seine Haut ist unbehaart, braungebrannt und makellos. Die schwarzen Haare fallen in weichen Wellen nach hinten. Lange dunkle Wimpern umrahmen die großen braungrünen Augen. Raymonds Mund ist weich und voll, beinahe mädchenhaft, seine Zähne regelmäßig und blendend weiß.
Von der Holzstiege her sind Schritte zu hören. Michel wird aus seinen Gedanken gerissen und dreht sich irritiert um. Es ist Sarah, seine sechzehnjährige Tochter.
»Salut!« Sarah lächelt verlegen, blickt zu ihrem Bruder, dann zu ihrem Vater und erneut zu ihrem Bruder.
»Salut. Du kommst jetzt schon?« fragt Michel erstaunt.
»Ja. Der Chef hatte nichts mehr für mich, und ich durfte gehen.« Sarah jobbt in den Sommerferien im Casino-Supermarkt in Uzès. »Ich hab zufällig Marie-Claire getroffen, die hat mich mitgenommen, so daß ich nicht auf den Bus warten mußte.«
Raymond räuspert sich und schaltet die Stereoanlage aus. »Ich muß gegen sechs hier weg. Ob ich vorher noch was zu essen bekomme?«
»Bestimmt«, antwortet Michel. »Ich weiß, daß eure Mutter eine Ratatouille vorbereitet. Es duftet durchs ganze Dorf.«
Sarah sieht ihren Bruder fragend an. »Wo willst du denn heute abend hin?«
»Nach Montpellier. Ins Konzert von Vanessa Paradis.«
»Und ich? Kann ich nicht mit?«
»Ich hab nur zwei Karten. Eine für mich und die andere für Aurélie.«
»Gemeinheit!« Sarah sieht ihren Bruder empört an, dreht sich um und geht beleidigt in ihr Zimmer, das nebenan liegt.
Sie sieht Violette immer ähnlicher, denkt Michel. Nur daß sie blond ist. Sie ist wie Violette, als diese noch schlank war. Das gleiche leicht schiefe Gesicht, der gleiche beleidigte Ausdruck in den Augen.
Er hat seinen Sohn immer vorgezogen. Raymond ist schön, er ist makellos; ein junger Mann, dem die Welt offensteht. Sein Gesicht ist ebenmäßig geschnitten und von vollendeter Harmonie. Schönheit öffnet alle Türen. Das weiß Michel nur allzu gut, und er weiß auch, wie gefährlich das ist.
Mit einem Seufzer reißt Michel sich vom Anblick seines Sohnes los, geht über die Holzstiege ins Büro und von da aus die drei Steinstufen hinunter ins Wohnzimmer. Dort sitzt Violette am großen, runden Tisch und starrt vor sich hin. Die kleingelockten, fettigen Haare, auf halbe Länge geschnitten und von stumpfbrauner Farbe, fallen ihr ins Gesicht. Sie hält eine leere Martiniflasche umklammert.
Geräuschvoll zieht Michel die Luft durch die Nase. Es riecht angebrannt. Er geht in die Küche und stellt den Gemüsetopf von der Herdflamme. Als er den Deckel lüftet, sieht er, daß die Auberginen, Tomaten, Zwiebeln, Paprika und Zucchini bereits völlig verkohlt sind.
»Hast du denn nicht gemerkt, daß das Zeug anbrennt?« Seine Stimme klingt laut und vorwurfsvoll.
Violette reagiert nicht. Bewegungslos stiert sie ins Leere. In einem weiten, schwarzen indischen Rock und einer beigen Bluse sitzt sie am Tisch, und Michel weiß, daß sie wieder betrunken ist. Innerhalb der nächsten zehn Minuten muß er sie ins Bett bringen.
Gegen siebzehn Uhr dreißig öffnet Karen, die Engländerin, das Hoftor, schiebt ihr Pinarello-Rennrad auf die Dorfstraße und sperrt das Tor ab. Den Schlüssel steckt sie in die Rückentasche ihres roten Radfahrertrikots. Sie rückt die Rennbrille zurecht, drückt den Helm noch einmal fest an den Kopf und stellt den Tachometer auf Null. Nachdem ihre Schuhe in den Klickpedalen eingerastet sind, fährt sie langsam die Straße entlang. Vorsichtig bremst sie ab, denn es geht steil hinunter und überall liegen kleine Schottersteine. Unten am Dorfende, wo die glatte Teerstraße beginnt, wird sie in die höheren Gänge schalten und Tempo geben. Hoffentlich blockiert die Kuhherde von Madame Didier nicht wieder die Straße. Darm muß sie anhalten und warten, bis die Kühe gemächlich in den Stall getrottet sind. Das kann gut zehn Minuten dauern.
Karen ist so in Gedanken, daß sie nicht sieht, wie Léon Delcourt im Nachbarhaus schräg gegenüber hinter einem der Fenster im ersten Stock steht und sie beobachtet.
***
Gegen siebzehn Uhr dreißig geht Léon Delcourt in den oberen Stock seines Hauses, dessen Renovierung er erst im letzten Jahr beendet hat. Seine Frau Paola ist mit den beiden Töchtern Giulia und Nicole in Uzès beim Kinderarzt.
Von Léons Haus hat man aus allen Zimmern einen Blick in den Hof der Engländerin. Er kann beobachten, wenn sie aus dem ersten Stock über die Außentreppe nach unten kommt, in die Küche geht, die direkt auf die Terrasse führt, oder ins separat gelegene Bad. Nur wenn sie in der Sonne liegt, entzieht sie sich seinen Blicken, da die Mauer ihres Schuppens einen Teil des Hofes und der Terrasse abschottet.
Bereits mittags konnte er sehen, wie sie geschäftig zwischen Küche, Terrasse und dem ersten Stock hin und her lief, Wäsche nach oben trug, Wasserflaschen in die Küche schaffte, zum Haus der pensionierten Pariser Ärztin ging, das hinter Thérèses Haus oben auf dem Hügel steht. Wahrscheinlich kommt die alte Kuh irgendwann in den nächsten Tagen. Jedes Jahr Anfang August reist sie an und bleibt bis Ende Oktober.
Heute abend fährt die Engländerin wieder mit ihrem Rennrad los. Léon spürt, wie die Wut in ihm hochsteigt. Er haßt diese Frau. Er will, daß sie von hier verschwindet. Er will sie am Boden sehen, hilflos, im Dreck, er will, daß sie sich auf ihrem verdammten Rennrad zu Tode stürzt. Irgendwann wird er hinterherfahren und auf einer der menschenleeren kleinen Teerstraßen Katz und Maus mit ihr spielen ...
Sein Zorn schlägt um in sexuelle Gewaltphantasien. Das Trikot würde er ihr vom Leib reißen, ihre enge Radlerhose mit einem Ruck herunterziehen. Er will die Angst in ihren hochmütigen Augen sehen, Todesangst. Und dann würde er ihr zeigen, was ein Mann mit einer Frau macht. Sie sollte seine Überlegenheit und Macht spüren, und zwar richtig. Und es gäbe kein Entrinnen.
Léon läuft nach unten ins Wohnzimmer und schaltet den Fernseher an. Aus Spanien wird der letzte Lauf zur Formel-1-Weltmeisterschaft übertragen. Er dreht am Lautstärkeknopf. Das Dröhnen der Rennmotoren tönt durchs ganze Haus. Schwer atmend wirft er sich in den Sessel und streckt die Beine aus. Nur langsam klingen seine Wut und seine Erregung ab.
Dann hat er plötzlich eine Idee. Daß ihm das nicht früher eingefallen ist! Dabei ist es so naheliegend, und so einfach.
Léon springt auf, geht in die Küche und holt die Whiskyflasche aus dem Kühlschrank. Er gießt sich einen kräftigen Schluck ein und kippt ihn in einem Zug hinunter.
***
Gegen siebzehn Uhr dreißig verläßt Thérèse Lapalut ihr Haus am Ende des Dorfes, um den Müll zu dem Container zu bringen, der in der Dorfmitte neben den Briefkästen aufgestellt ist. Sie geht am Grundstück der Engländerin vorbei, wirft einen flüchtigen Blick auf das verschlossene blaue Eisentor. Aus dem Garten hängen einige Zweige des Feigenbaums üppig über die Außenmauer, ein dunkelgrünes, dichtes Blätterdach.
Thérèse bewegt sich langsam und mit schlurfenden Schritten. Mit knapp siebzig Jahren ist sie nicht mehr so flink auf den Beinen. Es war schnell gegangen in den letzten Jahren. Plötzlich hat die Kraft nachgelassen. Von einem Frühjahr aufs nächste fiel es ihr schwerer, den Garten umzugraben. Jetzt muß sie Michel hin und wieder bitten, die Gartenarbeit für sie zu erledigen.
Michel ist ein guter Junge, er war immer ihr Liebling. Die beiden anderen Kinder, der älteste Sohn François und die Tochter Isabelle, hatten das Elternhaus frühzeitig verlassen. In den letzten Jahren ist der Kontakt zu ihnen fast vollständig abgebrochen. François arbeitet als Lehrer an einem Lycée in Versailles, und Isabelle ist Programmiererin bei IBM in Paris. Bei der Beerdigung des Vaters vor drei Jahren hatten sie sich das letzte Mal blicken lassen. Als das Testament eröffnet wurde und die beiden leer ausgegangen waren (Michel hatte Roberts Haus und einen Teil des Bargeldes geerbt), gab es einen Riesenstreit. Empört hatten sie ihrer Mutter Vorwürfe gemacht, den gerade unter die Erde gebrachten Vater scharf kritisiert, auf Michel herumgehackt und behauptet, er habe sich schon immer Vorteile in der Familie verschafft, wogegen sie von den Eltern während ihrer Ausbildung nur notdürftig unterstützt worden seien. Noch in derselben Nacht waren sie dann abgefahren.
Michel hat immer zu ihr gehalten, ist ihr stets eine große Stütze gewesen. Während der letzten zwei Lebensjahre des an Krebs erkrankten Robert kümmerte er sich rührend um den Vater, half ihm bei den Korrekturen seines letzten Buches, »Jesus ruft mich«, das Robert zwei Wochen vor seinem Tod noch beenden konnte. Weil er ein guter Sohn war und ist, hat Michel auch das Haus des Vaters geerbt, und deshalb waren die anderen Kinder leer ausgegangen.
Nach Roberts Tod ist das Leben einsam für sie geworden. Zwar hat sie Michel in der Nähe, aber mit ihrer Schwiegertochter Violette versteht sie sich nicht. Armer Michel! Daß er an eine solche Frau geraten mußte ... Sie hat es von Anfang an gewußt, doch Michel wollte nicht auf seine Mutter hören. Nichts hatte Violette mitgebracht. Nur ihr hübsches Durchschnittsgesicht, von dem es ja Dutzende gab. Weiß Gott, was Michel damals an ihr gefunden hat. Weiß Gott, warum er sie nicht längst zum Teufel gejagt hat, statt sich diesem Martyrium auszusetzen, das seine Frau ihm in ihrem grenzenlosen Egoismus auferlegt.
Als Thérèse am Haus von Léon Delcourt vorbeikommt, hört sie durch die geöffneten Wohnzimmerfenster laute Motorengeräusche. Sie bleibt einen Moment stehen und lauscht. Offenbar läuft der Fernseher. Sie schüttelt den Kopf, lächelt nachsichtig und geht weiter.
Nachdem sie den Müllsack in den Container geworfen hat, streichelt sie die beiden Katzen, die auf Léons Kombi hocken. Die eine, dunkelbraun-schwarz-grau gesprenkelt und spindeldürr, schmiegt sich schnurrend in ihre Hand.
»Ja, Yvette, das gefällt dir! Kommt heute abend vorbei, ihr beiden, dann gibt es schöne Fischreste!«
Thérèse beschließt, kurz im Haus ihres Sohnes vorbeizuschauen und ihren Enkel Raymond zu bitten, ihr am Abend an der Hausmauer die Weinranken zu schneiden, die bereits wieder bis unter die Dachrinne wuchern.
***
Gegen siebzehn Uhr dreißig ist Raymond umgezogen. Er hat das ärmellose Hemd mit einem schwarzen T-Shirt vertauscht, dazu trägt er eine helle Leinenhose. Die Haare sind frisch gewaschen und glänzen, als habe er Gel hineingeschmiert.
Raymond beißt ein großes Stück von einem Käsesandwich ab. Dann nimmt er die Plastiktüte mit der Thermoskanne. Als er die Küche verlassen will, ertönt aus dem ersten Stock Michels Stimme.
»Gehst du schon?«
Raymond antwortet mit vollem Mund. »Ja, ich fahr lieber 'n bißchen früher los.«
»Warte, ich komme runter.«
»Nicht nötig, ich weiß ja, wo der Autoschlüssel ist.«
Doch schon sind Michels Schritte zu hören, und er betritt die Küche. Er sieht Raymond kurz an, lächelt, greift in die Hosentasche und hält einen Hundertfrancschein in der Hand.
»Hier. Aber gib nicht alles für Aurélie aus.«
Raymond stellt die Plastiktüte mit der Thermoskanne auf den Tisch und legt das angebissene Sandwich daneben, nimmt den Geldschein und steckt ihn ein. Als er seine Hand aus der Hosentasche zieht, fällt ein kleines Päckchen zu Boden. Noch ehe Raymond sich danach bücken kann, hat Michel es bereits aufgehoben. Er betrachtet es genauer, stutzt und sagt mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme:
»Präservative? Wozu brauchst du die denn?«
Raymond wird rot und antwortet nicht. Sein Vater mustert ihn scharf. In dem Moment ist von der Eingangstür ein Klopfen zu hören. Raymond fährt erschrocken zusammen. Dann ertönt die tiefe, schnarrende Stimme seiner Großmutter.
»Michel, bist du da?«
Schnell steckt Michel das Päckchen mit den Präservativen in seine Hosentasche.
»Maman, komm rein.«
Thérèse steht bereits in der Tür. Michel umarmt seinen Sohn und gibt ihm einen Kuß. Verlegen dreht sich Raymond weg, greift nach der Plastiktüte, nimmt sein Sandwich und beißt noch einmal hinein. Mit vollem Mund murmelt er seiner Großmutter ein kurzes »Salut!« zu und verläßt die Küche.
»Raymond, Moment mal!« ruft Thérèse ihm nach. »Kannst du nachher kurz zu mir rüberkommen? Du mußt was erledigen für mich.«
Doch Raymond ist schon auf der Dorfstraße. Er dreht sich um und ruft:
»Geht nicht, tut mir leid!«
»Raymond fährt heute abend zu einem Popkonzert«, sagt Michel erklärend. »Um was geht es denn? Kann ich dir helfen?«
Thérèse winkt ab.
»So wichtig ist es auch wieder nicht. Das kann er auch morgen machen. Die Weinranken sind schon wieder so gewuchert.«
Sie läßt ihre Blicke durch die Küche schweifen, als wolle sie sich vergewissern, daß sie mit ihrem Sohn allein ist. Dann sagt sie mit gedämpfter Stimme:
»Wo ist sie? Ist es wieder mal soweit?«
Michel nickt.
»So kann das doch nicht weitergehen, Michel. Ich habe dir schon hundertmal gesagt, sie ist ein Fall für die Psychiatrie!«
»Wahrscheinlich hast du recht. Ich weiß mir einfach keinen Rat mehr. Sie redet kaum mit mir, mit den Kindern auch nicht, sie verweigert sich total. Ich habe wirklich alles versucht, aber ...«
Thérèse klopft ihrem Sohn beruhigend auf die Schulter. Sie ist beinahe ebenso groß wie er.
»Ich weiß, Michel, ich weiß. Bring sie in eine entsprechende Klinik, damit sie erst einmal eine Entziehungskur macht. Bevor sie die ganze Familie in die Katastrophe stürzt. Was sage ich – die Katastrophe ist doch schon längst da. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät!«
***
Gegen siebzehn Uhr dreißig steht Louise Martin kurz hinter Lyon im Stau. Sie hat die Fensterscheiben heruntergekurbelt. Von der Ölraffinerie her dringt der intensive Geruch von Benzin.
Louise schaltet das Radio ein und sucht den Verkehrsfunk. Nach einer Weile hat sie die richtige Frequenz. Durch einen Unfall ist der Autobahnabschnitt auf einer Länge von zehn Kilometern blockiert.
Louise greift nach einer Flasche Wasser, schraubt sie auf und nimmt einen Schluck. Das Wasser ist lauwarm.
Sie beugt sich nach hinten. Auf dem Rücksitz liegt Jeanne d'Arc, ihre Katze. Hechelnd läßt sie ihre kleine Zunge aus dem Maul hängen, die Hitze macht ihr zu schaffen.
»So was Blödes, jetzt stehen wir hier.« Louise streckt ihren Arm aus und tastet vorsichtig nach Jeanne d'Arcs linker Vorderpfote. »Schwitzt du schon wieder über deine Pfötchen? Du Ärmste, aber bald sind wir da. Und dann kannst du wieder im Dorf herumstreunen und die anderen Katzen begrüßen.«
Louise weiß, daß die Wahrheit ganz anders aussieht. Jeanne d'Arc wurde zwar in Montcastin geboren, aber das ist schon fünfzehn Jahre her. Von Anfang an reiste sie mit Louise zwischen Paris und Südfrankreich hin und her. Als sterilisierte Katze ist sie häuslich und anhänglich, außerdem ist sie ein Hasenfuß und macht ihrem Namen keineswegs Ehre. Den Dorfkatzen geht sie aus dem Weg, obwohl sie größer und imposanter als alle anderen ist. Als vor zwei Jahren ein fremder roter Kater das Dorf unsicher machte und sämtliche Katzendamen schwängerte, verließt Jeanne d'Arc wochenlang nicht das Haus, starrte wie hypnotisiert auf die Eingangstür und war durch nichts ins Freie zu locken.
Louise lächelt und streicht ihrer Katze liebevoll über das schwarze Fell.
Die Autos stehen immer noch. Einige Menschen steigen jetzt aus, strecken ihre steifen Glieder, recken ihre Hälse nach vorn, um zu sehen, ob es weitergeht. Ein Mann stellt sich auf den Seitenstreifen, öffnet seine Hose und uriniert. Danach geht er zurück zu seinem Wagen mit holländischem Kennzeichen. Seine Frau gibt ihm ein Butterbrot und einen Becher mit einem Getränk. Der Mann beißt ins Brot und schreit die Kinder an, die auf der Rückbank seines Wagens herumtoben.
Louise schließt das Fahrerfenster und nimmt ihr Handy. Sie wählt Karens Nummer und wartet. Nach dreimaligem Klingeln ertönt der Anrufbeantworter. Louise hinterläßt eine Nachricht.
»Ich bin's, Louise. Ich stecke bei Lyon im Stau. Keine Ahnung, wie lange das dauert. Vor acht bin ich sicher nicht da. Also, bis später. Vielleicht melde ich mich noch mal.« Sie stellt das Handy ab.
Von hinten ist das Heulen einer Unfallsirene zu hören. Die Autos setzen sich in Bewegung, fahren zur Seite, um eine Gasse zu bilden. Ein Krankenwagen und ein Polizeifahrzeug schlängeln sich vorbei, die Sirene verliert sich langsam in der Ferne.
Louise legt die Hände aufs Steuer und schließt einen Moment lang die Augen. Eigentlich ist es Wahnsinn, im Hochsommer in den Süden zu fahren. Sie hätte doch den Autoreisezug nehmen sollen, aber mit Jeanne d'Arc ist das wahrscheinlich noch anstrengender als die Autofahrt.
Heute morgen war sie noch im gerichtsmedizinischen Institut. Obwohl sie seit drei Jahren pensioniert ist, wird sie hin und wieder bei komplizierten Fällen hinzugezogen. Diesmal war es eine junge Frau, die man aus der Seine gefischt hatte. Die Leiche mußte mindestens fünf Tage im Wasser getrieben haben, denn sie wies in ausgeprägtem Maße die durch Mazerierung der Haut entstandenen Veränderungen auf. Außerdem war die Blutstauung im Kopfbereich, der durch die Fäulnis blau und schwarzrot verfärbt war, besonders stark. Dennoch fehlten die organischen Befunde für einen Ertrinkungstod: keine Kohlendioxydanreicherung im Blut, keine Aspiration von Wasser. Das im Magen vorhandene Wasser ist wahrscheinlich postmortal eingetreten. Die Frau muß demnach bereits tot gewesen sein, als man sie ins Wasser warf. Trotz des stark entstellten Zustands der Leiche waren keine äußeren Spuren von Gewalteinwirkung sichtbar, abgesehen von leichten Schürfwunden an Gesicht und Händen, die beim Treiben im Wasser, an der Kaimauer oder beim Kollidieren mit Booten und Lastkähnen entstanden sein mußten. Unklare Todesursachen legen immer den Verdacht nahe, daß eine Vergiftung vorliegt: Alkohol, Drogen, Barbiturate, Gase, Dämpfe, metallische Gifte. Entsprechende Organuntersuchungen und die Analyse des Bluts der Toten erwiesen sich als Fehlschläge. Zu lange hatte die Leiche im Wasser gelegen, und viele Gifte sind bereits Stunden nach dem Eintritt des Todes nicht mehr nachweisbar. Die Leiche der Frau wies einen totalen Haarausfall auf, der auch trotz einer mehrtägigen Lagerung im Wasser ungewöhnlich erschien. Deshalb schlug Louise ihrem Kollegen Durcin, ihrem Nachfolger als Chefpathologe des gerichtsmedizinischen Instituts, vor, eine spektralanalytische Untersuchung des Knochenmarks nach nasser Veraschung durchzuführen, um möglicherweise ein Metallgift nachzuweisen. Tatsächlich konnte Durcin winzige Spuren einer Thalliumverbindung feststellen, wie sie unter anderem auch in Rattengiften vorkommt.
Noch einmal ruft sich Louise das Gesicht der Toten ins Gedächtnis: aufgedunsen, völlig entstellt, mit leicht ablöslicher Oberhaut. Die Polizei wird es schwer haben, die Leiche zu identifizieren und den Mord, um den es sich mit großer Wahrscheinlichkeit handelt, aufzuklären.
Louise seufzt, nimmt einen weiteren Schluck aus der lauwarmen Wasserflasche, streckt sich und bringt ihren müden, verschwitzten Körper in eine andere, ebenso unbequeme Position. Warten ist nicht ihre Stärke, gleichwohl ihr der Beruf als Rechtsmedizinerin stets viel Geduld abverlangt hat. Hier im Auto muß sie sich zwingen, gleichgültig zu bleiben und die Situation so zu nehmen, wie sie ist, als etwas, das sie nicht beeinflussen und ändern kann; zumal sie noch zwei Stunden Fahrt vor sich hat. Wenn sie am Abend endlich in ihrem Häuschen im Süden ankommen wird, warten keine Sektionen auf sie. Nur Tage voller Muße, raffinierter Essen und guter Gespräche mit ihrer Nachbarin, der Engländerin, die sie seit zwölf Jahren kennt. Damals, als Louise das Haus in Montcastin kaufte, hatte Karen gerade mit ihrem dritten Roman, »Tod eines Dealers«, einen internationalen Erfolg gelandet. Monatelang stand der Titel in England auf den Bestsellerlisten, und Louise las das Buch im Original. Nie wird sie Karens perplexes Gesicht vergessen, als sie ihr nach Beendigung der Lektüre sagte: »Ich finde Ihr Buch packend und gut. Aus meiner Sicht ist nur ein kleiner Fehler zu bemängeln: Sie beschreiben den Gesichtsausdruck des ermordeten Drogendealers als ›friedlich‹ und schließen daraus, daß er seinen Mörder entweder gekannt und ihm vertraut hat, oder von ihm völlig überrascht worden sein muß. Die Gesichtszüge eines Toten lassen jedoch keine Rückschlüsse auf Erlebnisse während des Sterbens zu. Angst, Panik, Gelassenheit und so weiter sind post mortem nicht mehr im Gesicht ablesbar, und zwar infolge der Muskelatonie. Alles andere ist eine Erfindung der Schriftsteller.«
Das war der Beginn ihrer Freundschaft.
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Gegen siebzehn Uhr dreißig erwacht Violette in ihrem zerwühlten Bett aus einem schweren, betäubenden Schlaf. Der säuerlich-scharfe Geschmack in ihrem trockenen Mund ruft Übelkeit hervor.
Sie lauscht. Aus der Küche sind gedämpfte Stimmen zu hören, der näselnde Tonfall ihrer Schwiegermutter. Wahrscheinlich redet sie wieder auf Michel ein, hetzt ihn gegen sie auf. Wenn sie wüßte, wenn sie die Wahrheit wüßte! Violette stöhnt und schlägt mit der Faust, die schwer wie Blei ist, auf die Bettdecke. Nein – auch wenn ihre Schwiegermutter die Wahrheit wüßte, würde das nicht das geringste ändern.
Mit der rechten Hand tastet Violette nach dem Wasserglas, das auf dem Nachttisch steht. Mühsam beugt sie sich hoch, setzt das Glas an die Lippen und will trinken. Plötzlich wird ihr schwarz vor Augen. Sie fällt in die Kissen zurück, das Glas rutscht ihr aus der Hand, das Wasser tränkt ihre beige Bluse und die Bettdecke.
Auf einer rasenden Achterbahn gleitet Violette zurück in den Tunnel des Vergessens.