Über dieses Buch:
Klirrende Kälte und eine Wand aus Schnee. Die Provence droht im Chaos zu versinken. Eine tote Prostituierte in einem ausgebrannten Wohnwagen und ein geistig behinderter Mann, der etwas gesehen hat und dafür mit seinem Leben bezahlt. Als Kommissarin Florence Labelle nach Zeugen und Beweisen im Dorf Puech-Soleil sucht, stößt sie auf eine Mauer des Schweigens. Dennoch gelingt es ihr und ihrem Kollegen Alain Roche herauszufinden, dass zum Zeitpunkt der Tat eine Gruppe von Jägern in der Nähe des Wohnwagens eine Treibjagd veranstaltet hat. Ist einer von ihnen der Mörder? Bei der Suche nach dem Täter gerät die Kommissarin schließlich selbst in tödliche Gefahr.
Die Presse über Alexandra von Grotes Kriminalromane: »Alexandra von Grote schreibt spannende Krimis, sie vermittelt ein Lebensgefühl voller Intensität und Leichtigkeit.« Freie Presse
»Spannung, detailverliebte Milieuschilderungen und stimmige Figuren sind die Zutaten eines Krimi-Menüs, das jedem Fan des Genres munden wird.« Fränkische Nachrichten
Über die Autorin:
Alexandra von Grote ging in Paris zur Schule und machte dort das französische Abitur. Sie studierte in München und Wien Theaterwissenschaften und promovierte zum Dr.phil.
Nach einer Tätigkeit als Fernsehspiel-Redakteurin im ZDF war sie Kulturreferentin in Berlin.
Seit vielen Jahren ist sie als Filmregisseurin tätig. Sie schrieb zahlreiche Drehbücher, Gedichte, Erzählungen und Romane. Ihre Romanreihe mit dem Pariser Kommissar LaBréa wurde von der ARD/Degeto und teamWorx Filmproduktion verfilmt.
Alexandra von Grote lebt in Berlin und Südfrankreich.
Bei dotbooks erschienen bereits der Roman »Die Nacht von Lavara«, der Kriminalroman »Nichts ist für die Ewigkeit« sowie die Provence-Krimi-Reihe um Florence Labelle:
»Die unbekannte Dritte«
»Die Kälte des Herzens«
»Das Fest der Taube«
»Die Stille im 6. Stock«
Zudem veröffentlichte Alexandra von Grote bei dotbooks die Krimi-Reihe um Kommissar LaBréa:
»Mord in der Rue St. Lazare«
»Tod an der Bastille«
»Todesträume am Montparnasse«
»Der letzte Walzer in Paris«
»Der tote Junge aus der Seine«
»Der lange Schatten«
Mehr Informationen über Alexandra von Grote finden Sie auf ihrer Website: http://www.alexandra-vongrote.de
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eBook-Neuausgabe Januar 2015
Copyright © der Originalausgabe 2002 Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de unter Verwendung eines Bildmotivs von Thinkstockphoto/istock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95520-771-7
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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
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Alexandra von Grote
Das Fest der Taube
Ein Provence-Krimi
dotbooks.
»Dieser Tag hatte einen üblen Geruch ... Ich habe es schon heute morgen gespürt, aber ich habe nicht erkannt, daß es der Geruch des Todes war.«
Assia Djebar
Die Menge drängte vom Marktplatz weg. Sie wogte durch die Gassen, ein bunter Strom entfesselter Leiber. Staub wirbelte in der Luft, als würde eine Herde Stiere getrieben. Das Schreien der Menschen schwoll an, ebbte wieder ab. Die Ersten erreichten jetzt die Felder hinter dem Dorf.
Josefina saß auf den Schultern ihres Vaters, der seine starken Hände um ihre Fußknöchel geschlungen hatte. Sie waren in der Menge eingekeilt, ihr auf Gedeih und Verderben ausgeliefert. Josefina blickte auf Köpfe, auf verschwitzte Nacken, auf die Kopftücher der Frauen, in verzerrte Gesichter. Es sah aus, als lachten die Menschen. Ein schrilles, bedrohliches Lachen ging von Mund zu Mund. Josefina hatte Angst. Sie krallte ihre kleinen dicken Hände in die struppigen Haare des Vaters, um nicht herunterzufallen.
Die Sonne stand hoch am Horizont. Ein weißes, blendendes Licht hatte sich über Berge und Ebenen ausgebreitet. Jetzt fingen die Menschen an zu rennen.
Josefina sah ein Feldstück, auf das nach und nach Dutzende von großen Vögeln im Sturzflug niedergingen. Graue, weiße, braune und gesprenkelte Tauben. Sie wurden von den Männern des Dorfes das ganze Jahr über in Verschlägen gehalten und nur auf diesen einen Tag hin abgerichtet.
Das Gejohle der Menge wurde immer stärker, sodass Josefina ihre Finger aus den Haaren des Vaters nahm und sich für einen Moment beide Ohren zuhielt. Einige Menschen schrien hysterisch und klatschten in die Hände. Andere stießen die Mitlaufenden beiseite, um noch schneller ans Ziel zu gelangen.
Auf ein geheimes Kommando hin blieb die Menge plötzlich stehen, wogte noch einmal wie ein vom Wind gepeitschtes Hirsefeld hin und her und bildete einen Kreis.
In der Mitte schlugen die Tauben wild mit den Flügeln, flogen über- und untereinander und veranstalteten ein großes Spektakel. Mit gierigen Blicken versuchten die Menschen zu erspähen, was sich inmitten des Taubengewimmels abspielte. Stimmen wirbelten durcheinander, überschlugen sich.
»Das ist meiner!«
»Nein, meiner!«
»Deiner ist doch im Flug von meinem überholt worden!«
Dann war es vorbei. Zwischen den flatternden Tauben sah Josefina eine blutige Masse Gefieder liegen. Einer der Männer, der Nachbar Gonzales, hob die tote Kreatur auf und hielt sie triumphierend hoch. Schreie, Beifall, Bravo-Rufe. Menschen umarmten einander, klopften sich auf die Schulter.
Einige Männer griffen sich aus dem Haufen der Tauben ihre flatternden und erschöpften Tiere heraus und hielten sie hoch, damit die Menge sie sehen konnte.
»Meiner war der Letzte!«
»Nein, meiner!«
»Keiner von beiden!«
Der Nachbar Gonzales schleuderte das tote Tier über die Köpfe der Menschen hinweg. Mit einem dumpfen Knall fiel es auf den Acker.
Josefina weinte. Ihre Tränen kullerten die Wangen herunter, tropften in die dichten Haarbüschel ihres Vaters und blieben wie Tautropfen hängen.
Wenig später strömte die Menschenmenge zum Dorf zurück. Auf dem Marktplatz waren Tische und Bänke aufgestellt, Speisen und Getränke wurden gereicht. Drei Gitarrenspieler griffen in die Saiten. Asunción, die Tochter des Lehrers, raffte mit der einen Hand ihren schwarz-roten Volantrock, mit der anderen schlug sie die Kastagnetten. Erst langsam, dann immer schneller stampften ihre Füße den Rhythmus der Musik.
Es war das Fest der Taube.
23. Dezember, 15 Uhr
Der Tag hatte für sie begonnen wie viele andere.
Das Fest der Taube lag lange zurück. Eine Kindheitserinnerung, die in diesem Moment, ohne dass es einen Grund dafür gegeben hätte, ihre ziellosen Gedanken durchkreuzt hatte. Morgen war Heiligabend, doch welche Rolle spielte das für sie?
Das Erwachen war schwer gewesen, das Aufstehen noch schwerer. Sie fiel ins düstere Loch des Vormittags.
Bereits am Morgen hatte sie die Schüsse der Jäger gehört, die wie trockenes Peitschenknallen die Luft durchschnitten. Das heisere Bellen der Hunde ließ lange nicht nach, bis es sich in der Ferne verlor.
Der Wind der letzten Tage hatte sich nicht gelegt. Im Gegenteil, er war noch heftiger geworden. Er rüttelte am dünnen Material ihrer Behausung, wirbelte in den Baumkronen der Steineichen, die sich ins karge Blickfeld drängten.
Mistral.
Über Weihnachten sollte es Schnee geben.
Irgendwann gegen Mittag schob sie den gleichmütigen Gedankenfluss beiseite, der ihre trostlose Existenz begleitete wie etwas lange Vertrautes. Sie erhob sich von ihrer Lagerstatt.
Aus der Thermosflasche schenkte sie sich Kaffee ein, den sie am Vormittag mitgebracht hatte. Er war lauwarm. Dann richtete sie sich ein wenig her. Sie schminkte die Lippen, legte Rouge auf und fuhr sich mit dem Kamm durch die Haare. Der Blick in den Spiegel gab ein müdes Gesicht frei. Wenn sie die Zähne entblößte, trat eine breite Lücke zutage.
Am Fenster hockend starrte sie auf den Weg, der sich quer durch die Landschaft bis zu ihr schlängelte. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde jemand kommen. Irgendjemand, den der Zufall oder die Absicht zu ihr führte.
Sie fror. Ein kleiner Gasheizstrahler konnte Abhilfe schaffen. Sie beschloss, sich gleich nach Weihnachten darum zu kümmern.
Der Geschmack in ihrem Mund war der eines verpfuschten Lebens. Erinnerungen an eine Zeit, in der sie Glück empfunden hatte, schienen entrückt wie ein Schiff am fernen Horizont.
Bis zum frühen Nachmittag geschah nichts.
Das wunderte sie, denn sie hatte erwartet, dass es anders sein würde. Wenn sie das gewusst hätte, wäre sie schon am Morgen zu ihrer Schwester gefahren. Sie hätte nicht erst einen Zug am frühen Abend eingeplant. Jetzt war es zu spät.
Sie zog die kunstpelzgefütterte Jacke enger um ihre Schultern. Sämtliche Illustrierten, Heftchen und die Tageszeitung hatte sie bereits gelesen. Manche, die vorbeikamen, ließen ihre Zeitung da, wenn sie nach kurzem Aufenthalt wieder gingen. Das war eine unerwartete Zusatzlektüre, mit der sie die Zwischen- und Wartezeiten totschlagen konnte.
Sie stellte das Transistorradio an. Nach einiger Zeit fand sie einen Sender, der keine ernste Musik spielte, sondern ein populäres spanisches Volkslied. Sie summte die Melodie mit, und für einen Augenblick lichtete sich der schwere Vorhang, der über ihrer Seele lag.
23. Dezember, 19 Uhr 30
Hartnäckig hatte sich Edwige Bonnafoux im Lauf ihres Lebens allen Neuerungen entgegengestemmt. Der Kühlschrank war erst wenige Jahre alt, ein Billigmodell aus dem Supermarkt. Doch lediglich im Sommer wurden die Lebensmittel dort aufbewahrt und dann auch nur die allzu verderblichen Sachen. Jetzt, einen Tag vor Heiligabend, war das Gerät abgeschaltet, um teuren Strom zu sparen.
1947 wurden in den Dörfern und Weilern ringsum die Stromanschlüsse gelegt. Puech-Soleil war einer der ersten Orte, die damals davon profitieren konnten. Edwige hatte sich auch dagegen erfolgreich gewehrt, obgleich ihr Vater durchaus ein gewisses Interesse gezeigt hatte. Damals war Aimé, ihr Sohn, gerade vier Monate alt und sein Erzeuger, ein Nichtsnutz und Blender, bereits längst über alle Berge. Dessen ungeachtet ging im Haus Bonnafoux alles seinen gewohnten Gang, wie schon seit Generationen, und Strom gab es erst seit 1989.
Seit Jahrhunderten hatte sich die Familie an harte Arbeit gewöhnt, an düstere Zukunftsaussichten und gleich bleibende Armut, die wie ein Gottesurteil ertragen wurde. Ab Mitte des sechzehnten Jahrhunderts ließen sich die Bonnafoux als Cardeurs de laine – Wollkämmer – in Uzès nachweisen. Ein Handwerk, bei dem man nie auf einen grünen Zweig kam. Die Hände wurden frühzeitig rissig vom Kämmen der groben Schafwolle. Man arbeitete hart in jenen Tagen. Bereits im Alter von zehn, elf Jahren mussten die Kinder mithelfen. Die mühsame Heimarbeit bei nächtlichem Kerzenschein und die offenen, qualmenden Kamine hatten nach wenigen Jahren die Augen ruiniert. Die Kamine waren so groß, dass man in ihnen sitzen konnte. Während das Feuer brannte, wurde man eingeräuchert wie eine Speckseite.
Guillaume Bonnafoux, einer der Vorfahren, hatte es als Einziger geschafft, der marginalen Familienchronik zu entrinnen, wenn auch auf tragische Weise: 1705 kämpfte er im Krieg der Camisarden gegen die katholischen Truppen Ludwigs XIV. auf Seiten der Protestanten. Er wurde gefangen genommen, gefoltert, aufs Rad geflochten und dadurch in den Annalen von Uzès erwähnt. Sein Sohn Benoît war nicht zum Helden geboren und konvertierte zum Katholizismus, noch ehe der Vater sein Leben ausgehaucht hatte.
Edwige konnte sich nicht entsinnen, in ihrem neunundsiebzigjährigen Leben einmal die sonntägliche Messe versäumt zu haben. Bereits im Alter von zwei Jahren wurde sie von ihrem Vater regelmäßig in die Kirche mitgenommen. Da war die Mutter gerade von der Tuberkulose hinweggerafft worden. Der Geruch von Weihrauch war etwas, das Edwige ihr Leben lang begleitet hatte, ebenso wie die immer stärker schmerzenden Druckstellen an beiden Knien. Inzwischen konnte sie in der Kirche nicht mehr knien. Mit zusammengepressten Beinen saß sie aufrecht und steif auf der Bank. Wehmütig erinnerte sie sich an die Zeit, als die Messe lateinisch gelesen wurde.
Das Licht in der Wohnküche wurde von einer nackten Glühbirne gespendet, die in der Deckenmitte am vergilbten Kabel herunterbaumelte. Die Ecken des Raumes lagen im Dunkeln; Ruß und Fettschwaden hatten die Wände geschwärzt. Eine Spüle aus Speckstein füllte die Nische neben dem Gasherd aus, und schmutziges Geschirr türmte sich darin.
– Aimé muss das Zeug wegspülen ... Edwige hatte es ihm schon dreimal gesagt.
– Und spätestens morgen müssen die beiden Schinken gewendet werden. Sie lagen nebenan in der Speisekammer auf einem mit sauberem Reisig bedeckten Brettergestell, mit Salz bestreut, um zu reifen. Im Juli nächsten Jahres würden sie durch sein, aber am besten schmeckten sie ab Oktober, ein knappes Jahr nach der Schlachtung. Im November hatten sie das Schwein verarbeitet, große Fleischvorräte eingekocht und eine Menge grober Knoblauchwürste hergestellt, die zu ovalen Kringeln geformt von der Decke der Speisekammer hingen, wo sie luftgetrocknet wurden.
Edwige stand an der Anrichte und goss mit ihrer zitternden, knöchernen Hand den soeben aufgebrühten Kaffee in zwei Tassen. Sie holte die Milchtüte von der Fensterbank und gab in eine der Tassen einen kräftigen Schluck hinein, in die andere ließ sie zwei Stücke Würfelzucker plumpsen, der in einer alten Blechdose säuberlich aufgeschichtet war. Sie setzte sich in den Schaukelstuhl. Nicht zu dicht ans Kaminfeuer, das den Raum seit den frühen Morgenstunden heizte und dessen flackernder Widerschein ihren wachsbleichen Gesichtszügen eine seltsame Aura verlieh.
»Kaffee ist fertig, Aimé.«
Edwige betrachtete den massigen Rücken ihres Sohnes, dessen struppige, dichte Haare mit dem tiefen Ansatz in der Stirn nur wenige graue Strähnen aufwiesen. Sie hörte seinen schweren und schnaufenden Atem.
»Danke, Maman.« Aimé rührte sich nicht. »Tut mir Leid, Maman, dass ich nichts geschossen habe.«
»Das sagtest du schon, Aimé.«
»Ja, das sagte ich schon. Wir haben die ganze Zeit gewartet. Aber die Treiber, die kamen wieder zurück. Die Tiere haben sich versteckt und sie ausgelacht.«
Langsam drehte er sich um. Das prasselnde Feuer umstrahlte sein Gesicht wie eine Flammenkrone. Aimé lächelte breit. Die Einfältigkeit, die seinem platten, wettergebräunten Gesicht etwas Kindliches gab, war Edwige seit seiner Geburt vertraut. Von Anfang an war Aimé anders gewesen als andere Kinder. Körperlich frühreif, entwickelte er sich geistig spät und blieb auf der Stufe eines Zehnjährigen stehen.
So hatte er den Schulabschluss nicht geschafft. Seine einzige Begabung war seine Körperkraft und sein unbändiger Arbeitswille. Seit jeher kümmerte er sich um den großen Gemüsegarten der Bonnafoux, der sie weitgehend unabhängig machte von Lebensmitteln, die man für Geld kaufen konnte. Denn Geld war etwas Rares für die Familie, die im letzten, armseligsten Haus des Dorfes wohnte, am Ende einer Sackgasse. Geld bekamen sie am Ersten eines jeden Monats, wenn die Sozialhilfe ausgezahlt wurde. Diese Summe reichte gerade für das Nötigste. Im Spätsommer schlug Aimé Brennholz in den kommunalen Wäldern und verkaufte es in den Dörfern. Er half bei der Weinernte, im Winter bei der Olivenernte. Samstags verkaufte er auf dem Markt von Uzès Gemüse aus dem Garten, im Herbst Pilze, die er in den umliegenden Wäldern suchte. Ja, Aimé war ein starker Arbeiter, der keine Anstrengung scheute und auch keine Dreckarbeit. Dem Wort des Herrn »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen« machte er Ehre, wie alle Bonnafoux. Mit sechzehn bekam er auf Anhieb seinen Jagdschein, wobei die Kommission darüber hinwegsah, dass Aimé die schriftliche Prüfung mangels genügend orthographischer Kenntnisse nicht absolvieren konnte. Dafür war er ein ausgezeichneter Schütze, und in Flora und Fauna kannte er sich aus wie kein Zweiter.
»Du musst uns dann eben morgen eines der Hühner schlachten, Aimé.«
Aimé hatte sein Gesicht wieder dem Feuer zugewandt. Er nickte.
»Ja, Maman. Tut mir wirklich Leid.«
»Jetzt hör schon auf!« Edwiges Stimme war plötzlich laut und durchdringend. »Ich wollte zwar ein Wildschweinragout à l'ancienne machen, mit Kräutern und Steinpilzen, aber da du heute nichts geschossen hast, müssen wir uns für Weihnachten etwas anderes ausdenken. Poulet Henri IV., das aß dein Großvater so gern, weißt du noch? Obwohl ich Wildschweinragout natürlich passender für Weihnachten gefunden hätte. – Willst du nicht endlich deinen Kaffee trinken? Der ist doch bestimmt schon kalt.«
Aimé erhob sich schwerfällig von seinem Korbhocker. Er nahm die Tasse vom Tisch, rührte den Zucker darin um, blies am Tassenrand und trank in kleinen Schlucken, als sei der Kaffee noch brühheiß. An seiner Schläfe klebte ein großes Pflaster. Edwige deutete mit ihrer dürren Hand darauf.
»Blutet das noch? Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte!«
»Das ... das hab ich dir doch scho... schon gesagt.« Aimé geriet plötzlich ins Stottern, wie immer, wenn er sehr aufgeregt war oder ihn etwas tief bewegte. »Da war ei... eine Eiche, und ... und ich bin di... di... direkt dagegengelaufen.«
»Wie kann man denn gegen eine Eiche laufen? Du meinst, da war ein tiefhängender Zweig, gegen den du gerannt bist.«
»Ja, ja!« Aimée lachte hektisch und entblößte seine gelbbraunen Stummelzähne, Resultat jahrzehntelangen Rauchens von Papier Maïs-Zigaretten und panischer Angst vor Zahnärzten.
»Und das Feuer? Wie konnte es denn dazu kommen?«
»W... w... weil Didier Legrand ni... ni... nicht aufgepasst hat. Aber ich, i... ich wollte es löschen!«
»Komisch. Ich hab noch nie gehört, dass eine Gruppe von Jägern mitten im Winter um ein Haar einen Waldbrand entfacht, weil sie ihr Lagerfeuer nicht richtig bewachen.«
»Ich auch nicht, Maman. Und doch wa... wa... war es so. U... und dann i... ist er mir mit ... mit m... mir weggerannt.«
»Wer ist mit dir weggerannt?«
Aimé zuckte die Schultern, stellte abrupt seine Tasse auf den Kaminsims, stieß einen undefinierbaren, hohen Laut aus und verließ mit schweren Schritten die Küche.
»Was erzählst du nur wieder für einen Unsinn, Junge?!«, rief Edwige ihm nach.
Die Haustür fiel ins Schloss, und Edwige hörte Aimés Nagelstiefeltritte auf der Dorfstraße. Von draußen ertönte ein scharfer Windstoß. Er fing sich in der Esse des Kamins, sauste herab, hielt inne und fiel ächzend ins lodernde Kaminfeuer. Eine Ladung Qualm breitete sich im Raum aus, stieg Edwige brennend in die Augen.
– Wintermistral. Er trocknet die Erde aus und lässt böse Gedanken ins Hirn. Wenn man nicht aufpasst ...
Edwige rückte noch ein Stück weiter weg vom Feuer. Sie überließ sich der gleichmäßig wiegenden Bewegung ihres Schaukelstuhls und verspann sich in ihre Gedankenwelt, die in ihrem Alter aus allen möglichen Erinnerungen und Banalitäten bestand und die Stunden eines solchen Abends vor dem Kaminfeuer im Nu verfliegen ließ.
23. Dezember, 19 Uhr 45
Auf der Dorfstraße schlug Aimé der Wind entgegen und raubte ihm sekundenlang den Atem, so schneidend war er. Sternenübersät funkelte der Himmel. Ungeachtet der Kälte betrachtete Aimé einen Moment lang staunend die merkwürdigen, glitzernden Gebilde am Firmament. Von den Wäldern hinten bei der Müllkippe wehte ein scharfer Geruch herüber, eine Mischung aus Gummi und verbranntem Kunststoff.
Aimé klappte den Kragen seines Jacketts hoch. Es war an den Ärmeln abgewetzt. Außerdem spannte es unter den Achseln, weil er den grobmaschigen, gerippten Rollkragenpullover darunter trug, den seine Mutter ihm vor Jahren gestrickt hatte. Die Katze vom Nachbargrundstück der Familie Vaurien maunzte irgendwo in der Gasse. Sie war rollig, und ihre kläglichen Schreie wurden von den Windböen als sehnsuchtsvolle Botschaft in die Finsternis getragen. Aimé fluchte und warf ihr ein paar Steine nach.
Die Straßenlaternen klapperten. Ihre Lichtkegel tanzten auf der Straße. Die Luft roch inzwischen nach verbranntem Holz, nach Kamin, nach Wärme und Heimeligkeit.
Das hell erleuchtete Café Au chien perdu war schon von weitem zu sehen. Lärm drang auf die Straße: kräftiges Männerlachen und die schrillen Töne eines Schlagers aus der Musikbox. Aimé zögerte einen Moment, und ein Anflug von Panik überwältigte ihn. Das Blut pochte in seinen Schläfen und Ohren, gleichzeitig ging ein Zittern durch den stämmigen Körper. Ein Bier, mehr nicht. Auf ein Bier wollte er gehen. Hoffentlich war nicht der ganze Haufen da. Vor allem nicht Didier Legrand, dieses Großmaul. Hoffentlich ließen sie ihn in Ruhe sein Bier trinken.
Langsam ging Aimé weiter. Er stemmte sich gegen den Wind, der seine flatternden Jeans an die Schienbeine drückte und das Gesicht wie mit tausend kleinen Nadeln traktierte.
Als er das Café betrat, verstummte alles Lachen und Reden, und die Augen der Anwesenden waren auf ihn gerichtet. Aimé erkannte den jungen Jalaguier, dem die Autoreparaturwerkstatt samt Tankstelle gehörte. Lionel Dupuis, der Tischler, saß mit seinem halbwüchsigen Sohn Frédéric am Tresen. Victor Augier, der Versicherungsvertreter, hatte seine Krawatte gelockert und die Weste geöffnet. Sein Gesicht schimmerte rot, die Augen waren klein und blutunterlaufen. Ja, auch Didier Legrand war da. Er kam gerade aus dem hinteren Teil des Cafés, wo sich Pissoir und Telefonkabine befanden. Als er Aimé erblickte, stemmte er provozierend die Hände in die Hüften.
»Na, Aimé, hast du deiner Mutter wieder alles haarklein erzählt?«
»N... nein, wie ... wie kommst du darauf?« Sie waren alle da, alle waren sie da. Nur Bruno Delors fehlte, der Maurer, aber der hatte sich ja rechtzeitig aus dem Staub gemacht. Und Philippe Fresquet. Den sah Aimé auch nicht durch die Rauchschwaden, die den Raum mit seinen farbigen Plastikstühlen und den grellen Reklametafeln an den Wänden in eine trügerische Gemütlichkeit tauchten.
Didier Legrand räusperte sich, fingerte eine Zigarette aus der zerknautschten Packung und ließ sein Feuerzeug aufschnappen. Bei diesem Geräusch zuckte Aimé heftig zusammen.
»Ist auch besser so.« Didier steckte das Feuerzeug zurück in die Hosentasche. »Deine Alte muss ja nicht alles wissen. Sonst kriegt die womöglich noch einen Schlaganfall, und dann bist du ganz allein auf der Welt. Stimmt's?« Triumphierend drehte er sich zu den anderen und lachte laut und dreckig. Die anderen Männer fielen ein. Victor Augier schlug sich vor Freude auf die Schenkel, als hätte er soeben eine kombinierte Feuer-, Lebens- und Hausratversicherung in Millionenhöhe verkauft. Martine, die gefärbte Blondine hinter dem Tresen, hob genervt ihre schlaffen Augenlider, schnaufte hörbar durch die Nase und sagte mit rauer Stimme:
»Schluss jetzt, Jungs. Trinkt lieber noch was. Morgen ist Weihnachten, und Aimé ist auch nur 'n Mensch. Leben und leben lassen, les gars!«
Als sie Aimé kurz darauf das Bier auf den Tresen stellte, sah sie, dass seine Stirn über und über mit Schweißperlen bedeckt war. Sein Blick schien geradewegs durch sie hindurch zu einem Fixpunkt in der Unendlichkeit zu eilen. Mit zitternden Fingern klopfte er eine seiner filterlosen Papier Maïs-Zigaretten auf dem Tresen locker, steckte sie zwischen die Lippen und reckte seinen Kopf der Streichholzflamme entgegen, die Martine ihm hinhielt.
23. Dezember, gegen 20 Uhr
Kommissarin Florence Labelle hatte sich gerade umgezogen und schloss die Tür des wuchtigen Louis-Philippe-Kleiderschrankes. Der dunkelgraue Hosenanzug mit den feinen Nadelstreifen stand ihr ausgezeichnet. Das bordeauxrote Seiden-T-Shirt mit V-Ausschnitt ließ das Dekolleté erahnen, ohne zu viel preiszugeben. Durch die halbhohen schwarzen Stiefeletten wirkte Florence größer. Zufrieden lächelte sie, verließ das Schlafzimmer und ging hinüber in den grünen Salon.
Vor wenigen Monaten war Florence nach Les Oliviers übergesiedelt, dem provençalischen Anwesen ihrer Freundin Cathérine Volet, der ehemaligen Schlagersängerin und Nichte des Staatspräsidenten. Da sie ohnehin jede freie Minute miteinander verbrachten, war es nur eine Frage der Zeit gewesen, dass Florence ihre kleine Wohnung im Stadtzentrum von Nîmes aufgelöst hätte. Jetzt bewohnte sie die drei großen Zimmer im Westflügel: den grünen Salon, ein Arbeitszimmer sowie ein Schlafzimmer mit altem Parefeuillefußboden und angrenzendem Bad. Florence hatte also ihr eigenes Reich. Ihren »Mietanteil« zahlte sie in den Fonds für Not leidende Künstler ein, den Cathérine seit Jahren unterstützte.
Ein wohliges Gefühl überkam Florence, ein Empfinden von Glück. Mit beschwingten Schritten durchquerte sie den grünen Salon. Durch das Erkerfenster blickte sie auf den weitläufigen Innenhof von Les Oliviers.
Die ersten Gäste waren bereits eingetroffen. Cathérine gab ihr jährliches Fest nach der Olivenernte. Es fand in diesem Jahr später als gewöhnlich statt, da Cathérine drei Wochen mit einer schweren Bronchitis im Bett gelegen hatte. Normalerweise wurde am 25. November gefeiert, dem Namenstag der heiligen Katharina.
Die große Halle, die Bibliothek und zwei Salons waren entsprechend hergerichtet worden. Ein üppiges Büfett war aufgebaut: Terrinen mit Paté de campagne, kalte Braten, deftig gewürzter Linsensalat, kleine Fischpasteten, die Emmanuelle, die spanische Haushälterin, in tagelanger Arbeit selbst hergestellt hatte. Körbe mit frischem Weißbrot und Krüge voller Rotwein standen auf den Tischen. Drei Männer in Lammfelljacken, mit Strickmützen über den Ohren, grillten draußen im Hof über einem Becken mit glühender Holzkohle ein junges Wildschwein. Sie leerten bereits die zweite Flasche Cartagène. Hin und wieder stürzte eine heftige Windbö vom Himmel und ließ die Funken aus der Glut hoch aufstieben.
Florence lächelte gedankenverloren. Im Haus ihrer Großeltern in Avignon wurden früher auch solche Feste gefeiert, wenn Florence aus Deutschland kam und ihre Ferien dort verbrachte. Familie und Freunde kamen zusammen. Im Winter brannte der große Kamin im Salon des Stadthauses, Maison de maître genannt, und Cousin Patrice röstete in der Poêle à châtaignes Maronen, die sie heiß aus der Schale lösten und mit Butter und Salz aßen. Schwarze Finger bekam man davon, manchmal auch Brandblasen.
Am Nachmittag war Florence auf den Friedhof nach Avignon gefahren, hatte frische Blumen aufs Grab ihrer Großeltern gelegt und den Strauß mit einem Stein beschwert, damit der Mistral ihn nicht von der Grabplatte wegfegte. Plötzlich sah sie ganz deutlich das sonnengebräunte Gesicht ihres Großvaters. Von fern wehte sein Lachen herüber. Sie vernahm die leise, distinguierte Sprache ihrer Großmutter, die ihre Stimme nie erhoben hatte und sich noch im Alter von siebzig Jahren etwas Jungmädchenhaftes, Ungebrochenes bewahren konnte. Sie musste an den Tod ihrer Eltern denken, die vor zwölf Jahren bei einem schrecklichen Autounfall in der Nähe von Verona ums Leben gekommen waren. Wieder ein Begräbnis, im strahlenden Sonnenlicht in Berlin. Und die traurige Gewissheit, als Einzige übrig geblieben zu sein. Florence Labelle, Tochter eines Deutschen hugenottischer Abstammung und einer Französin aus Avignon ...
»Wie schön, dass du hierher zurückgekehrt bist«, hatte Cathérine ihr am Abend ihres Umzugs nach Les Oliviers gesagt und ihr Champagnerglas erhoben. »Schließlich stammen deine Mutter und dein Vater hier aus dem Süden.«
Florence hatte gelacht. »Mein Vater ja nur teilweise. Immerhin haben sich die Labelles seit ihrer Flucht nach Preußen im 17. Jahrhundert hauptsächlich mit Deutschen vermischt. Na ja, ein irischer Vorfahr ist auch dabei und die uneheliche Tochter eines russischen Grafen. Viel Hugenottenblut war da nicht mehr vorhanden.«
»Aber der Name ist geblieben, ma belle.«
»Und die Liebe zu den Menschen hier.«
»Meinst du jemanden Bestimmtes?«, hatte Cathérine kokett gefragt.
»Ja«, hatte Florence geantwortet, und sie dabei liebevoll berührt.
Florence ging den langen Korridor entlang, der über eine große Freitreppe den Westflügel von Les Oliviers mit dem Hauptflügel und dem Parterregeschoss verband.
In der Eingangshalle herrschte eine ausgelassene Stimmung. Die meisten der Anwesenden kannten sich, plauderten und lachten miteinander. Einige kannte Florence aus Blans, wo sie im vorletzten Jahr in dem Mordfall Terboven ermittelt hatte.
Florence blickte sich suchend um. Cathérine stand an der gegenüberliegenden Seite des Raumes an einem der Tische. Mit einer Gabel klopfte sie an ihr Glas. Die Gäste verstummten, als sie mit klarer und prononcierter Stimme ihre Rede begann.
»Liebe Pächter, liebe Arbeiter, liebe Dorfbewohner, liebe Mitarbeiter im engen und weiteren Sinne. Dieses Jahr möchte ich mich ganz besonders bei Ihnen bedanken. Sie alle haben im November mitgeholfen, die Ernte zügig einzubringen. Alle Parzellen haben gute Erträge gebracht. Die Arbeit in der Mühle ist beendet, und die Ausbeute an Früchten ist in diesem Jahr ebenso hervorragend wie die Qualität des Öls.«
Cathérine hob ihr Rotweinglas.
»Ich trinke auf Sie alle, die diesem Handwerk und dieser Tradition auch weiterhin ein so wunderbares Denkmal setzen!« Sie nahm einen kräftigen Schluck und blickte in die Gesichter der vielen Menschen, die ihren Worten lauschten. Zum Schluss blieb ihr Blick an Florence hängen, die auf der untersten Stufe der Treppe stand. Ein leichtes Lächeln huschte über Cathérines Züge, und mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung bestätigte Florence, dass es angekommen war.
Florence bahnte sich einen Weg durch die Menge. Im Vorübergehen nahm sie sich ein Glas Rotwein vom Tisch, dann war sie bei Cathérine.
»Eine wunderbare Rede, ma chère. Ich bin stolz auf dich! Die Leute mögen dich, das merkt man.«
Cathérine lächelte skeptisch und stellte ihr Glas beiseite. »Ich glaube, sie mögen einen immer, so lange man Arbeit für sie hat und sie anständig bezahlt.«
»Na komm! Nicht so pessimistisch! Sie mögen dich um deinetwillen.«
Cathérine zündete sich eine Zigarette an.
»Dass ausgerechnet du der Meinung bist, dass die Menschen gut und selbstlos sind, erstaunt mich.«
»Ich habe mir eben meinen Optimismus bewahrt. Meine Neugier und Unvoreingenommenheit. Sonst könnte ich meinen Beruf gar nicht ausüben. Wenn alle Menschen so wären wie die, mit denen ich es meistens zu tun habe – na danke!«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich die meisten Menschen für schlecht oder gar kriminell halte, vor allem nicht die Leute, die auf Les Oliviers arbeiten. Allerdings weiß ich aus Erfahrung, dass man sich in meiner Position und mit meinem Hintergrund nie sicher sein kann, wann einen die Menschen nur aus Berechnung mögen und wann nicht.«
Sie lächelte, beugte ihren Kopf an Florences Ohr und flüsterte:
»Du siehst hinreißend aus!«
»Danke. Du auch.«
Im Eingang der Halle tauchte eine elegante männliche Gestalt auf, mit asketischen Gesichtszügen, kurz geschnittenen Haaren und in einem teuren, maßgeschneiderten Flanellanzug.
Florence, die den Ankömmling ebenso wahrgenommen hatte wie Cathérine, verkniff sich mühsam ein Grinsen und flüsterte ihrer Freundin zu:
»Ich wusste gar nicht, dass du ihn eingeladen hast!«
»Was denkst du denn!«, antwortete Cathérine. »Ich werde doch den Präfekten nicht übergehen! Wer weiß, vielleicht brauchen wir irgendwann mal staatliche Subventionen für den Anbau von Oliven?«
Jetzt hatte Pierre Desgranges, der smarte Präfekt des Départements, die Gastgeberin entdeckt. Während er mit dynamischen Schritten auf sie zusteuerte, zog sich Florence ebenso eilig wie diskret zurück. Sie gesellte sich zu Emmanuelle, die diverse neue Platten aufs Büfett wuchtete, ganz in ihrem Element war und Florence anstrahlte.
»Na, schmeckt es Ihnen, Commissaire?«
»Tolle Sachen haben Sie gemacht, Emmanuelle.«
»Haben Sie schon das Wildschwein probiert?«
»Vielleicht etwas später. Ich mache mir nicht viel aus Wild. Am besten schmecken mir Ihre Pasteten. Einfach köstlich.«
»Freut mich, Commissaire, dass gerade Sie das sagen! Madame liegt mir schon seit Tagen in den Ohren, dass ich ihr das Rezept verraten soll.« Sie beugte sich vertraulich zu Florence. »Aber ich denke nicht daran, Commissaire, weil das ein altes Familiengeheimnis ist! Ein Rezept meiner Tante Maria aus Andalusien.«
»Da haben Sie völlig Recht!«, sagte Florence lachend. »Das würde ich auch nicht verraten. Trotzdem – was sind das für Kräuter, mit denen Sie gewürzt haben?«
Emmanuelle hob scherzhaft drohend den Finger.
»Kommen Sie mir bloß nicht so, Commissaire! Damit Sie es dann Madame weitererzählen können? Nein, nein, ich hab doch gesagt, es ist ein Familiengeheimnis.«
23. Dezember, 20 Uhr 30
Yves Latour ließ seine rissigen, abgearbeiteten Hände auf die Tischplatte fallen.
»Muss das denn unbedingt noch heute Abend sein? Und ausgerechnet vor dem Abendessen! Lass mich wenigstens erst mal in Ruhe meinen Apéro trinken!«
Simone, seine Frau, schloss mit einem Ruck den Reißverschluss ihrer gefütterten Cordjacke.
»Nachher kannst du so viele Apéros trinken, wie du willst. Meinetwegen kannst du auch rüber zu deiner Schwester in die Kneipe gehen. Aber nicht, bevor wir das Zeug weggeschafft haben.«
Schwerfällig erhob sich Yves von seinem Stuhl. Er kannte seine Frau. Sie war zwar klein, zierlich, mit flinken Augen und einem lustigen Mausgesicht. Das täuschte jedoch nicht darüber hinweg, dass sie stets das durchsetzte, was sie wollte. Und heute Abend hatte sie sich in den Kopf gesetzt, das alte Gerümpel auf die Müllkippe zu schaffen.
»Na los, Yves, worauf wartest du noch? Die Sachen stehen in der Garage. Morgen haben wir keine Zeit für so was. Du musst in den Supermarkt, dann bei Lombard die neue Waschmaschine abholen und zusehen, dass du noch einen Tannenbaum bekommst. Die guten sind sicher schon alle weg.« Simone löschte das Licht in der Küche, und ihrem Mann blieb nichts anderes übrig, als ihr nach draußen zu folgen.
Zehn Minuten später hatten sie die defekte alte Waschmaschine, allerlei leere Kanister, Hartplastikverpackungen sowie eine Rolle verrosteten Stacheldraht in Yves' Kastenwagen geladen. Yves legte noch eine alte Schaumstoffmatratze dazu, die irgendwann einmal aus unerfindlichen Gründen in seinem Wagen gelandet war. Die Straßen waren wie leergefegt, als sie an der Kirche vorbei durch den Ort fuhren. Ein paar Gäste verließen gerade das Café Au chien perdu, das Yves' Schwester Martine gehörte, und torkelten über die Straße.
Schweigend bog Yves auf die N 86 ein. Auch Simone war in ihre Gedanken versunken, die sich um das bevorstehende Fest drehten. Hatte sie an alles gedacht? Am Weihnachtsfeiertag würde die ganze Familie zum Mittagessen kommen: die Schwiegereltern aus Uzès, Yves' Schwester, Simones verwitwete Mutter aus Orange. Natürlich erwartete sie auch ihren eigenen Sohn Christian, der bei der Marine in Toulon seinen Militärdienst absolvierte. Eine Menge Vorbereitungen standen noch an, deswegen war es auch wichtig, dass die ausrangierten Sachen heute noch auf die Müllkippe kamen.
Nach etwa zwei Kilometern bog ein versteckt liegender, unbefestigter Weg ab, den nur die Einheimischen kannten. Die anderen, die zur Müllkippe wollten, fuhren ein Stück weiter und dann links über eine offizielle Zufahrtsstraße. Das war natürlich länger, und Yves wollte möglichst wenig Zeit verlieren an so einem ungemütlichen Abend.
Die Scheinwerfer des Wagens tanzten auf und ab, so uneben war der von Pinien und Steineichen gesäumte Weg. Schlaglöcher und querliegendes Wurzelwerk ließen die Gegenstände im Wagen hin- und herscheppern. Nach etwa einem Kilometer erreichten sie eine kleine Lichtung. Von da waren es noch einmal rund zweihundert Meter bis zu Müllkippe. Hier luden die Bewohner der umliegenden Dörfer und Weiler schon seit Jahrzehnten ihre Abfälle ab: defekte Elektrogeräte, vertrocknete Farbtöpfe, Bauschutt, Plastikgegenstände aller Art, ausrangiertes Mobiliar, giftige Substanzen wie halb leere Salzsäureflaschen, abgelaufene Medikamente oder Schädlingsvernichtungsmittel. Die Protestaktion einer Bürgerinitiative, die vor einigen Jahren von einem kurzzeitig zugereisten Pariser Grünen-Abgeordneten ins Leben gerufen worden war, hatte sich bald in Wohlgefallen aufgelöst. Es blieb alles beim Alten. Die Mülldeponie wurde weder entsorgt noch dichtgemacht.
Simone und Yves sahen es zur gleichen Zeit, rechts des Weges. Yves trat auf die Bremse, seine Frau kurbelte die Fensterscheibe herunter.
»Meine Güte, das gibt's doch nicht!« Simone warf ihrem Mann einen erstaunten Blick zu. »Das Ding hat ja gebrannt!«
Yves zog die Handbremse, ließ den Motor laufen und die Scheinwerfer angestellt. Aus dem Handschuhfach nahm er eine Taschenlampe und stieg aus.
»Ich seh mal nach.«
Er trat näher an das merkwürdige Gebilde heran, das da auf der Lichtung stand.
»Der Wohnwagen ist völlig ausgebrannt«, rief er seiner Frau zu. »Riechst du nicht, wie das nach verschmortem Plastik stinkt? Das Feuer kann noch nicht lange verlöscht sein.«
»Komm zurück, Yves, lass uns weiterfahren. Was guckst du denn da noch?«
Yves leuchtete mit der Taschenlampe auf die Reste der Eingangstür, die offen stand. Der Rahmen war von der Hitze geschmolzen und hatte sich gewellt. Im Inneren des Wagens hatte das Feuer alles verwüstet. Ein Stück verkohlte Matratze lag zwischen den schwarzen Aschehaufen und geschmolzenen Plastikteilen. Yves leuchtete genauer hin. Dann schreckte er zurück, stieß mit dem Ellbogen gegen den verbogenen Türrahmen des Wohnwagens und starrte fassungslos auf das, was er sah.
»Yves, wo bleibst du denn? Was ist los?« Simones Stimme klang schrill und unwirsch.
Er knipste die Taschenlampe aus, rannte auf die erleuchteten Scheinwerfer seines Autos zu, sprang auf den Fahrersitz und schaltete krachend den Rückwärtsgang ein.
Wenig später raste der Kastenwagen durch die menschenleere Dorfstraße und bremste mit quietschenden Reifen vor dem Café Au chien perdu.
Yves' Schwester Martine, die blond gefärbte Besitzerin, stellte gerade die letzten Stühle auf die Tische. Alle Gäste waren gegangen. In der Luft lag der Geruch von Tabakrauch, Pastis und Toast Croque Monsieur, den Martine als Standard-Imbiss anbot.
»Was ist denn los?«, fragte sie erstaunt, als die beiden hereinstürmten.
23. Dezember, 21 Uhr 50
Als Inspektor Alain Roche den Telefonhörer auflegte, blickte er sekundenlang starr in die Luft, bevor er sich seufzend von der leinenbezogenen Couch erhob, um die notwendigen Schritte zu unternehmen. Als Erstes sah er auf die Uhr. Es war spät. Zu spät, als dass irgendein Mensch um diese Zeit freiwillig sein Haus verlassen hätte. Draußen tobte der Mistral. Er rüttelte an den geschlossenen Fensterläden des kleinen, schlecht isolierten Hauses, und hin und wieder fing sich eine Windbö in der Platane vor dem Eingang.
Alain stellte den Fernsehapparat ab, dessen Ton er ausgeschaltet hatte, als das Telefon klingelte. Die kokett ihre Beine schwingenden Revue-Girls wurden vom Schwarz des Bildschirms verschluckt. Erneut griff Alain nach dem Telefonhörer, zögerte kurz und entschloss sich dann, das geplante Gespräch nicht zu führen.
Er ging ins Schlafzimmer und suchte im Kleiderschrank nach dem dicken, dunkelblauen Wollschal, den seine geschiedene Frau Marie-France ihm zum ersten gemeinsamen Weihnachtsfest gestrickt hatte. Als er ihn endlich gefunden hatte, löschte er sämtliche Lichter in den Räumen. In der Flurgarderobe zog er seine schwarze Daunenjacke über, schlüpfte in die kunstledernen gefütterten Handschuhe und verließ das Haus. In seinem Dienstwagen, der erst nach mehreren Versuchen ansprang, drehte er die Heizung auf Hochtouren und fuhr los.
Auf der von winterlich kahlen Platanen gesäumten Landstraße wurde der Renault mehrfach durch starke Windstöße aus der Spur gedrückt. Alain drosselte das Tempo.
Eine mondlose, kalte Nacht. Am Himmel konnte Alain deutlich das Sternbild des Orion erkennen. Morgen war Heiligabend. Am Vormittag wollte er eigentlich zu seiner Schwester nach Grenoble fahren und erst nach Neujahr zurückkommen. Daraus würde nun wahrscheinlich nichts werden.
Alain schaltete das Autoradio an. Der Wetterbericht kündigte für Heiligabend Schnee an. In den Vormittagsstunden sollte der Mistral nachlassen, und gegen Mittag würde es schneien.
Weiße Weihnachten. Alain verzog gequält sein Gesicht. Was hatte er schon davon? Während andere sich gemütlich an den gedeckten Tisch setzen, ihren gefüllten Truthahn verspeisen und zur Feier des Tages einen wunderbar weichen Cognac genießen konnten, würde er sicher bis über die Ohren in Arbeit stecken.
Nach zwanzig Minuten funktionierte die Heizung immer noch nicht. Alains Atem beschlug die Scheibe. Er wischte ein paar Mal mit der Hand darüber, doch es nützte nicht viel.
Es war kein Verkehr auf der Straße. Wer würde auch freiwillig in einer solchen Nacht im Auto durch die Landschaft kutschieren wollen?
Auf dem großen Platz vor Cathérine Volets Anwesen waren sämtliche Parkmöglichkeiten erschöpft. Dutzende von Autos reihten sich auf wie die Furchen eines schlecht gepflügten Ackers. Kurz entschlossen steuerte Alain den Wagen bis vor die Freitreppe und parkte dort.
Wenig später betrat er die Eingangshalle. Mit geübtem Blick suchte er in der Menge der Menschen nach seiner Chefin. In diesem Moment entdeckte Florence ihn. Sie stand am Eingang der Bibliothek, im Gespräch mit dem Präfekten Desgranges und dem Besitzer der Olivenmühle, einem schwergewichtigen Mann und Parteifreund Desgranges'.
»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte sie zu den beiden, stellte ihr Glas auf den nächstbesten Tisch und ging mit zügigen Schritten auf Alain zu.
»Was machen Sie denn hier, Alain? Ist irgendwas passiert?«
»Tja, allerdings, Patron. Eine Frauenleiche. Mitten in der Landschaft, und zwar in einer gottverlassenen Gegend. In einem Wohnwagen. In Puech-Soleil, das ist etwa dreißig Kilometer von hier. Und weil Les Oliviers auf dem Weg liegt, hab ich gedacht, ich hole Sie gleich ab.«
Florence fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. So ein verdammter Mist! Ausgerechnet heute Abend, an Cathérines Fest. Ausgerechnet einen Tag vor Weihnachten und bei dem kalten Wetter ...
»Weiß man, wer es ist?«
»Nein. Die Leiche ist halb verkohlt.«
»Sind Dr. Brochet und die Kollegen vom Labor benachrichtigt?«
»Selbstverständlich, Patron. Dr. Brochet war gerade im Krankenhaus, seine Frau liegt in den Wehen.«