David Hewson

DAS VERBRECHEN

KOMMISSARIN LUNDS 3. FALL

Roman

Basierend auf dem Drehbuch von Søren Sveistrup

Aus dem Englischen von Barbara Heller und Rudolf Hermstein

PAUL ZSOLNAY VERLAG

Die Originalausgabe erschien erstmals 2014 unter dem Titel The Killing III bei Macmillan, London.

Der Roman basiert auf Søren Sveistrups Forbrydelsen III – einer Serie des dänischen Fernsehens. Koautoren: Torleif Hoppe und Michael W. Horsten.

ISBN 978-3-552-05727-2

Copyright © David Hewson 2014

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2015

Umschlag: Johannes Wiebel | punchdesign, München; Motive: iStock, shutterstock.com, photocase.de

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

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Erstes Kapitel

MITTWOCH, 9. NOVEMBER

Sie gaben ihr immer die Neulinge. Dieser hieß Asbjørn Juncker, war 23 Jahre alt und eben erst vom Anwärter zum Kriminalbeamten befördert worden. Im Moment stöberte er auf einem verwahrlosten Schrottplatz am Hafen munter zwischen den Autowracks herum.

»Da ist ein Arm!«, rief er und trat hinter der rostigen Karosserie eines ausgedienten VW-Käfers hervor. »Ein Arm!«

Madsen suchte mit einem Team das Gelände ab. Er sah Lund an und seufzte. Asbjørn war erst an diesem Morgen im Polizeipräsidium angetreten. Er kam aus der Provinz und war der Mordkommission zugewiesen worden. Ein Viertelstunde später, während Lund gerade mit halbem Ohr Nachrichten hörte – die Finanzkrise, die anstehenden Parlamentswahlen –, war ein Anruf von dem Schrottplatz gekommen: Man hatte dort eine Leiche gefunden, Leichenteile, genauer gesagt, zwischen dem Schrott verteilt. Wahrscheinlich ein Penner aus dem Obdachlosenlager auf einem stillgelegten Dock nebenan. Jemand, der über den Zaun geklettert war, sich umgesehen hatte, ob es hier etwas zu holen gab, in einem Auto eingeschlafen und sofort tot gewesen war, als einer der riesigen Bagger das Wrack erfasste.

»Komischer Platz für ein Schläfchen«, sagte Madsen. »Der Greifer hat ihn auseinandergerissen. Dann ist er anscheinend noch ein bisschen weiter zerkleinert worden. Der Baggerführer hat sich an seinem Kaffee verschluckt, als er gesehen hat, was los ist.«

Der Herbst gab Kopenhagen auf, wurde vom Winter verdrängt. Grauer Himmel. Graues Land. Graues Wasser und ein graues Schiff, das bewegungslos ein paar hundert Meter vor der Küste lag. Lund hasste diesen Ort. Sie war schon einmal hier gewesen, in Zusammenhang mit dem Mordfall Nanna Birk Larsen, auf der Suche nach einem Lagerhaus, das dem Vater des verschwundenen Mädchens gehörte. Theis Birk Larsen hatte den Mann, den er für den Mörder seiner Tochter hielt, umgebracht, er hatte seine Strafe verbüßt und war inzwischen wieder auf freiem Fuß. Arbeitete wie früher im Speditionsgewerbe, wie Lund gehört hatte. Ihr damaliger Partner Jan Meyer war bei den Ermittlungen angeschossen worden, er saß jetzt im Rollstuhl und arbeitete bei einer sozialen Einrichtung für Behinderte. Sie hatte nie mehr Kontakt zu ihm aufgenommen, so wenig wie zu den Birk Larsens, obwohl ihr der Fall nach wie vor im Kopf herumspukte. Sie blickte über das trübe Wasser zu dem toten Schiff hinüber, das fast unmerklich an seinem letzten Anker krängte. Noch immer waren ab und zu murmelnde Geister um sie. Auch jetzt hörte Lund sie.

»Du willst doch nicht im Ernst zur OPA, oder?«, fragte Madsen.

Im Polizeipräsidium wurde viel geklatscht. Sie hätte wissen müssen, dass es sich herumsprechen würde.

»Ich bekomme heute eine Medaille zum 25-jährigen Dienstjubiläum. Man kann nicht ewig bei Eiseskälte nach Leichenteilen suchen.«

»Brix will dich nicht verlieren. Du kannst einem zwar tierisch auf den Geist gehen, aber verlieren will dich hier keiner. Lund …«

»Was?«, rief Juncker herüber, der zwischen dem Schrott herumkletterte. »Sie wollen den ganzen Tag Büroklammern zählen?«

Die OPA – die Operative Planung und Analyse – machte mehr als das, aber Lund hatte keine Lust, Juncker darüber aufzuklären. Irgendwie erinnerte er sie an Meyer. Seine Großspurigkeit. Die abstehenden Ohren. Und auch eine eigenartige gekränkte Unschuld.

»Man hat mir gesagt, ich würde mit jemandem zusammenarbeiten, der richtig gut ist …«, begann der junge Polizist.

»Halten Sie den Mund, Asbjørn«, sagte Madsen. »Das tun Sie doch bereits.«

»Und ich möchte Juncker genannt werden. Nicht Asbjørn. Die anderen werden auch alle mit dem Nachnamen angeredet.«

Sie hatten sechs Teile der Leiche eines halbnackten Mannes um die fünfzig geborgen. Der Arm, den Juncker gefunden hatte, war Nummer sieben. Neben dem Käfer stand eine alte Schubkarre. Lund fragte den Betreiber des Schrottplatzes, was er dafür haben wolle. Er schien ein wenig überrascht, nannte dann aber schnell einen Betrag. Lund gab ihm ein paar Scheine und forderte Juncker auf, die Karre in den Kofferraum ihres Wagens zu laden. Er stemmte die Hände in die Hüften.

»Schaut sich jetzt jemand meinen Arm an oder nicht?«

Pampige junge Männer. Allmählich gewöhnte sie sich daran. Mark wollte am Abend mit seiner Freundin zum Essen kommen. Sein erster Besuch in ihrem neuen Zuhause, einem kleinen Holzhaus am Stadtrand. Würde er es schaffen oder wieder unter einem Vorwand absagen?

Juncker nickte dem Fotografen zu, der jetzt Aufnahmen von dem Arm machte, dann zählte er an den Fingern ab.

»Kein Ausweis. Aber ein Goldring, und Tattoos. Und die Haut ist verschrumpelt, anscheinend hat er im Wasser gelegen.« Er zeigte auf das trübe Hafenbecken. »Da drin.«

Lund sah den Mann vom Schrottplatz an, dann wanderte ihr Blick zu einigen heruntergekommenen Gebäuden jenseits einer Mauer hinüber.

»Das waren einmal Lagerhäuser«, sagte sie. »Was ist jetzt drin?«

Er hatte ein trauriges, intelligentes Gesicht. Eines, das sie an einem solchen Ort nicht erwartet hätte.

»Das war einer der wichtigsten Terminals von Zeeland. Die Lagerhäuser waren ein Zugeständnis an die kleinen Leute.« Er zuckte die Schultern. »Aber kleine Leute gibt’s kaum noch. Und Container werden hier auch so gut wie keine mehr verladen. Das Ganze ist größtenteils stillgelegt worden, als es mit der Wirtschaft bergab ging. Fast tausend Leute weg, von heute auf morgen. Ich war für das Beladen zuständig. Hab da gearbeitet, seit ich aus der Schule raus war …«

Er redete nicht gern darüber. Er schleppte die Schubkarre zu Lunds Wagen, öffnete den Kofferraum und legte sie neben ein paar Töpfe mit Rosensträuchern.

»Er hat im Wasser gelegen«, wiederholte Juncker. »Er ist tätowiert. Und er hat Wunden am Arm, wie von einem Messer.«

Das Obdachlosenlager nebenan war eine ausgedehnte Ansammlung von Wellblech und verrosteten Lastern und Wohnwagen auf dem Parkplatz der alten Werft. Zu der Zeit, als Lund den Mörder von Nanna Birk Larsen gejagt hatte, war es noch nicht da gewesen.

»Das war ein Penner, der ist hier reinspaziert und hat sich umgeschaut, ob er was klauen kann«, sagte Madsen zu Juncker. »Wir machen jetzt die Fotos. Und Sie können versuchen, den Bericht zu schreiben, wenn Sie wollen. Ich seh ihn mir dann an.«

Das gefiel Juncker gar nicht.

»Es muss aber so aussehen, als hätten wir hier alle Hände voll zu tun, sonst gibt’s Ärger«, sagte er.

»Wieso?«, fragte Lund.

»Politiker im Anmarsch.« Er nickte zu dem Schrottplatzbetreiber hin, der sichtlich unbeeindruckt Lunds Pflanzen inspizierte. »Sagt er. Die haben einen Fototermin bei den Obdachlosen da drüben.«

»Penner dürfen nicht wählen«, brummte Madsen.

»Penner haben auch keine Goldringe«, gab Juncker zurück. »Haben Sie gehört, was ich gesagt habe? Die Bonzen wollen mit den Leuten reden, die noch in der Werft sind. Troels Hartmann kommt anscheinend auch. In einer Stunde.«

Geister.

Soeben war ein Neuer dazugekommen. Hartmann war einer der Verdächtigen im Fall Birk Larsen gewesen, ein Mann, den sein Ehrgeiz und seine Arroganz beinahe seine Karriere gekostet hätten. Einen Schönling hatte Meyer ihn genannt. Der gutaussehende Teflonmann der Kopenhagener Politik. Nach seiner Rehabilitierung hatte er wider Erwarten die Wahl zum Oberbürgermeister von Kopenhagen gewonnen. Zweieinhalb Jahre später war er mit seinen Liberalen aus einem mit harten Bandagen geführten Parlamentswahlkampf, bei dem die Wirtschaftskrise im Mittelpunkt gestanden hatte, als Sieger hervorgegangen. Jetzt führte er als Ministerpräsident eine neue Koalition.

»War Hartmann nicht in diesen großen Fall von Ihnen verwickelt?«, fragte Juncker. »Ich erinnere mich daran.«

»Waren Sie damals schon hier?«, fragte Lund mechanisch zurück.

Asbjørn Juncker lachte laut auf.

»Ich? Das ist doch eine Ewigkeit her. Ich war damals noch in der Schule und hab was drüber gelesen. Was glauben Sie, warum ich unbedingt zur Polizei wollte? Das klang so …!«

»Sechs Jahre«, warf Madsen ein. »Mehr nicht.«

Lange Jahre, dachte Lund. Sie wurde bald 45. Sie hatte ein eigenes kleines Haus. Ein ödes, einfaches, abgekapseltes Leben. Eine Beziehung zu ihrem Sohn, die sie neu aufbauen musste. Keinen Bedarf an bitteren Erinnerungen aus der Vergangenheit. Oder an neuen Albträumen für die Zukunft. Sie sagte Madsen, er solle weitersuchen und dafür sorgen, dass die Medien oder der herannahende Politikerzirkus nichts erfuhren, was nicht für ihre Ohren bestimmt war. Dann fuhr sie mit einem schwankenden kleinen Lorbeerbaum im Fußraum des Beifahrersitzes zum Polizeipräsidium zurück, zog ihre Uniform an – blauer Rock, blaue Jacke – und sah sich die anderen an, die heute eine Medaille zu ihrem Dienstjubiläum bekommen sollten. Sie erschienen ihr so viel älter, als sie sich fühlte. Brix kam und versuchte ihr den OPA-Job madig zu machen.

»Ich brauche Sie hier«, sagte er. Der hochgewachsene Leiter der Mordkommission mit dem strengen, markanten Gesicht musterte sie von Kopf bis Fuß. »Passt irgendwie nicht zu Ihnen, das Outfit.«

»Wie ich mich anziehe, das ist meine Sache. Werden Sie ein gutes Wort für mich einlegen?« Sie war nervös. »Ein paar Sachen von früher werden denen nicht gefallen, aber darauf müssen Sie ja nicht herumreiten.«

»Zur OPA gehen Leute, die sich zurückziehen wollen. Die aufgeben. Aber Sie …«

»Ja. Ich weiß.«

Er murmelte noch etwas, das sie nicht verstand. »Ihre Krawatte sitzt schief.« Sie nestelte daran herum. Brix war wie aus dem Ei gepellt in seinem besten Anzug und einem frisch gebügelten Hemd – alles perfekt. Je länger er ihr zuschaute, desto schlimmer wurde es mit der Krawatte.

»Darf ich?« Er zog sie gerade. »Ich rede mit ihnen. Aber Sie machen einen Fehler, ist Ihnen das klar?«

Der abweisende rote Backsteinbau hieß Drekar und war einmal ein Jagdschlösschen im Besitz eines unbedeutenderen Mitglieds der königlichen Familie gewesen. Dann hatte Robert Zeuthens Großvater es gekauft, hatte es ausgebaut und seine Schöpfung nach den drachenköpfigen Langschiffen der Wikinger benannt. Er hatte sich als Gründer einer Dynastie gesehen, und er hatte die Festung im Wald geliebt. Ihre überdimensionierten Zinnen, die weiten, gepflegten Rasenflächen, die zu einem verwilderten Waldgelände und zum Meer hin abfielen. Und den großen verschnörkelten Wasserspeier, den er auf der Seeseite hatte anbringen lassen, einen triumphierenden Phantasiedrachen, Symbol des von ihm gegründeten Unternehmens. Das Meer war nie weit weg gewesen im Denken des Mannes, der Zeeland aufgebaut hatte. Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte er die kleine Frachtfirma der Familie in ein internationales Unternehmen mit einer Flotte von Tausenden von Schiffen umgewandelt. Nach seinem Tod hatte sein Erbe, Robert Zeuthens Vater Hans, weiter expandiert. Finanzierungsgesellschaften, IT- und Consultingfirmen, Hotels und Touristikunternehmen, ja sogar eine innerdänische Einzelhandelskette trugen das Zeeland-Logo: den Drekar-Drachen, darunter drei Wellen.

Als Hans Zeuthen nicht lange vor Troels Hartmanns Amtsantritt als Ministerpräsident starb, war seine Familie zu einer festen Größe in der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Landschaft Dänemarks geworden. Und dann gelangte das Unternehmen nominell in die Hände seines Sohnes Robert, der nun geschäftsführender Inhaber und Vorsitzender des Vorstands war. Robert, Vertreter der dritten Generation, war aus anderem Holz geschnitzt, ein ruhiger, nachdenklicher Vierziger. Im Moment suchte er auf dem Gelände des Familiensitzes nach seiner neunjährigen Tochter Emilie.

Dichter Wald, winterlich kahl. Zeuthen lief zwischen den Bäumen hindurch, über einen Teppich aus bronzefarbenem Herbstlaub, rief nach Emilie. Laut, aber liebevoll. Seine Thronbesteigung bei Zeeland hatte ihren Tribut gefordert. Vor anderthalb Jahren hatte ihn seine Frau Maja verlassen, die Scheidung stand kurz bevor. Maja lebte inzwischen mit einem Arzt des größten Krankenhauses der Stadt zusammen. Robert spielte die Rolle des alleinerziehenden Vaters und kümmerte sich um Emilie und ihren sechsjährigen Bruder Carl, soweit die Trennungsvereinbarung und seine permanente Arbeitsbelastung es zuließen.

Hans Zeuthen hatte in einer Zeit des Wachstums und des Wohlstandes gelebt. Ganz anders sein Sohn. Rezession und Insolvenzen hatten Zeeland schwer getroffen. Seit vier Jahren wurden Mitarbeiter entlassen, und noch immer zeigte sich kein Silberstreif am Horizont. Mehrere Tochterunternehmen waren verkauft, andere geschlossen worden. Der Vorstand wurde allmählich nervös. Investoren sorgten sich öffentlich darum, ob die Firma bei der Familie noch in den besten Händen sei. Robert Zeuthen fragte sich, was sie eigentlich noch wollten. Blut? Die Krise hatte ihn seine Ehe gekostet, hatte seine Familie zerstört. Er hatte nichts mehr zu geben.

»Emilie!«, rief er wieder zwischen die kahlen Bäume.

»Papa.« Carl war leise hinter ihm herangekommen, seinen Spielzeug-Dinosaurier in der Hand. »Warum kann Dino nicht mehr sprechen?«

Zeuthen verschränkte die Arme und sah auf seinen Sohn hinab.

»Vielleicht weil du ihn aus dem Fenster geworfen hast? Um zu sehen, ob er fliegen kann?«

»Dino kann nicht fliegen«, sagte Carl arglos.

»Stimmt.« Zeuthen wuschelte ihm durchs Haar. Dann rief er noch einmal nach seiner Tochter. Morgen würden die Kinder zu ihrer Mutter zurückkehren. Das Beste von ihm würde dann wieder fort sein. Das schloss auch Maja ein. Eine kleine Gestalt kam zwischen den Bäumen hervorgerannt. Blauer Mantel, rosa Gummistiefel, fliegende Beine, fliegendes blondes Haar. Emilie Zeuthen stürmte auf ihren Vater zu, warf sich mit ausgebreiteten Armen an seine Brust, das hübsche Gesicht voller Übermut. Immer wieder forderte sie ihn so heraus. Schon seit sie sprechen konnte.

Fang mich auf, Papa, fang mich auf!

Und das tat er. Als er aufgehört hatte zu lachen, küsste er sie auf die kalte Wange und sagte: »Irgendwann krieg ich dich nicht zu fassen, Mäuschen. Dann fällst du hin.«

»Gar nicht!«

Sie hatte eine so helle, durchdringende Stimme. Ein aufgewecktes Kind. Weit für ihr Alter. Emilie führte Carl gern an der Nase herum. Ebenso das Personal im Haus Drekar, das sie aber deswegen nicht weniger liebte.

»Gar nicht, Papa«, wiederholte Carl. Er tat so, als würde der Dinosaurier Zeuthen ins Bein beißen.

»Wann krieg ich eine Katze?«, fragte Emilie, die Arme um Zeuthens Hals geschlungen, die blauen Augen fest auf seine gerichtet.

»Wo warst du denn?«

»Spazieren. Du hast es versprochen.«

»Ich hab gesagt, du kriegst ein Tier. Irgendeins, aber keine Katze. Ich muss mit Mama darüber reden. Allein …«

Sie machte ein langes Gesicht. Carl ebenso. Nie hätte Zeuthen gedacht, dass er Maja und ein wenig auch die Kinder einmal verlieren würde. Er wusste nicht, wie er sie trösten sollte, fand nicht die einfachen Worte, die er hätte sagen sollen. Er nahm sie bei der Hand, Carl links, Emilie rechts, und zusammen gingen sie langsam zum Haus. Niels Reinhardt stand neben seinem schwarzen Mercedes in der Einfahrt. Auch er ein Vermächtnis von Roberts verstorbenem Vater. Reinhardt war der persönliche Assistent der Familie, Verbindungsmann zwischen den Zeuthens und dem Vorstand, schon als Robert noch ein Kind gewesen war, ein Mann des sozialen Ausgleichs und der Kompromisse. Inzwischen war er 64 – hochgewachsen, leutselig, immer in Anzug und Krawatte. Er wirkte, als könnte er ewig weitermachen. Reinhardt hielt eine Zeitung hoch. Zeuthen hatte den Artikel bereits gelesen. Ein Exklusivbericht, in dem behauptet wurde, Zeeland stehe im Begriff, die Zusagen, die das Unternehmen Hartmanns Regierung gegeben hatte, zu brechen und den Firmensitz ins Ausland zu verlegen.

»Wie kommen die auf solche Lügen?«, fragte Zeuthen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Reinhardt. »Ich habe dem Vorstand gesagt, dass Sie sofort eine Sitzung einberufen möchten. Hartmanns Leute sind außer sich. Die Medien bestürmen sie natürlich mit Fragen.«

Maja stand auf den Haustürstufen. Grüner Anorak und Jeans. Sie hatten sich während des Studiums kennengelernt. Es war so leicht gewesen, sich ineinander zu verlieben, so selbstverständlich. Sie hatte damals noch nicht gewusst, wer er war, und als sie es erfuhr, hatte sie sich nicht groß dafür interessiert. Er war der steife, schüchterne, unscheinbare Junge gewesen, sie die schöne blonde Tochter reizender Hippie-Eltern, die auf der Insel Fünen einen Biohof betrieben. Zwischen ihnen war kaum jemals ein böses Wort gefallen – bis Roberts Vater starb und die Umstände Robert zwangen, die Zügel der Firma in die Hand zu nehmen. Von da an …

Maja kam die Stufen herunter, das Gesicht, das er so liebgewonnen hatte, wieder voller Zorn und Feindseligkeit. Reinhardt, geistesgegenwärtig wie immer, nahm die Kinder bei der Hand, sagte etwas von nassen Füßen und führte sie ins Haus.

»Was soll das?« Maja zog ein Blatt Papier aus der Tasche.

Fotos von einem Tigerkätzchen. Kleine Hände, die es streichelten. Auf einem der Bilder hielt Emilie das kleine Wesen an sich gedrückt und blickte strahlend in die Kamera. Zeuthen schüttelte den Kopf.

»Ich war in der Schule, Robert! Sie hat sich letzte Woche so komisch verhalten mir gegenüber. Wollte nichts sagen. Als hätte sie ein Geheimnis.«

»Mir kommt sie ganz normal vor.«

»So? Wie viel Zeit verbringst du denn mit ihr, wenn sie hier ist?«

»So viel ich kann«, antwortete er, und es war keine Lüge. »Ich hab ihr gesagt, dass sie keine Katze kriegen kann …«

»Woher hat sie die Katze dann? Sie ist doch allergisch gegen Katzen.«

»Die Kinder sind bei mir rund um die Uhr unter Aufsicht, auch wenn ich nicht da bin. Das weißt du genau, Maja. Frag doch mal deine Mutter. Du hättest deswegen nicht extra hierherkommen müssen. Ein Anruf hätte genügt.«

»Ich bin gekommen, um sie abzuholen.«

»Nein«, kam prompt die Antwort. »Erst morgen laut Plan. Morgen kriegst du sie. Ich kümmere mich um die Sache.«

Reinhardt kam mit den Kindern wieder heraus. Er schien Zeuthen dringend sprechen zu müssen. Zeuthen ging zu ihm, hörte sich an, was er zu sagen hatte. Hartmanns Mitarbeiter verlangten eine Stellungnahme. Der Vorstand würde in einer Stunde zusammentreten.

»Man hat eine Leiche gefunden, am Hafen, nicht weit von unserem Terminal.«

»Einer von unseren Leuten?«

»Es sieht nicht so aus, Robert.«

Es geschah so schnell, dass Zeuthen es nicht verhindern konnte. Maja schob sich an ihm vorbei, ging zu Emilie, fasste ihre Hände.

»Ich will wissen, was das für eine Katze ist.«

Das Mädchen versuchte sich loszumachen.

»Emilie!«, rief Maja. »Es ist wichtig!«

Zeuthen beugte sich zu seiner Tochter hinab und sagte sanft: »Mama muss das wissen. Und ich auch. Wem gehört die Katze? Hm?«

Die Jahre fielen von ihr ab. Sie war wieder das unsichere Kind mit dem unsteten Blick. Emilie schwieg. Sie wehrte sich, als Maja die Ärmel ihres blauen Mantels hochschob. Gerötete Haut, Schwellungen. Maja hob den Pulli des Mädchens an. Auch am Bauch rote Flecken.

»Hier ist ein Katze«, fuhr sie Robert an. »Was wird hier eigentlich gespielt? Ich bring Emilie jetzt ins Krankenhaus.«

Er hatte sie früher nie wütend erlebt, erst als ihre Ehe ins Wanken geriet. Jetzt war sie es wieder, laut und böse. Carl hielt sich die Ohren zu. Emilie stand steif und stumm und schuldbewusst da. Reinhardt meinte, man könne die Vorstandssitzung ja verschieben, doch Zeuthen hörte kaum zu. Die Pflicht. Sie ruhte nie. Zeuthen ging in die Hocke, sah seiner Tochter in die Augen.

»Wo war die Katze, Emilie? Bitte …«

»Das ist doch jetzt egal!«, rief Maja. »Darum kümmere ich mich später. Sie muss ins Krankenhaus …« Emilie Zeuthen fing an zu weinen.

Troels Hartmann war gern auf Wahlkampftour. Besonders wenn er einen linken Schwätzer wie Anders Ussing zum Gegner hatte. Die Welt der dänischen Politik war ein brodelnder Eintopf kleiner Parteien, die um das Recht kämpften, mit ihren Feinden Frieden zu schließen und sich ein bisschen Macht zu sichern. Im derzeitigen Klima hatten nur Hartmanns Liberale und Ussings Sozialisten eine Chance, so viele Wählerstimmen zu gewinnen, dass sie den Ministerpräsidenten stellen konnten.

Die Umfragen deuteten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hin. Ein Ausrutscher auf einer der beiden Seiten, und sie konnten kippen. Der würde jedoch, so Hartmanns Überzeugung, eher von einem Großmaul wie Ussing kommen als von einem seiner eigenen sorgsam gehegten und gepflegten Anhänger. Morten Weber, der gewiefte Wahlkampfleiter, der Hartmann seinerzeit zum Sieg im Kampf um das Amt des Kopenhagener Oberbürgermeisters verholfen hatte, war ihm in den Christiansborg-Palast gefolgt. Er hatte Karen Nebel ins Boot geholt, eine clevere und telegene Medienberaterin, die als ehrgeizige politische Journalistin bei einem der staatlichen Fernsehsender gearbeitet hatte. Ein besseres Team hatte Hartmann nie gehabt. Und er hatte auch selbst noch einige Tricks auf Lager, bezweifelte allerdings, dass er sie brauchen würde, als er hörte, wie Ussing die Zuhörer in dem heruntergekommenen Zeeland-Terminal aufzupeitschen versuchte.

Das Publikum war typisch für die Branche: Büroangestellte, eine Handvoll Hafenarbeiter mit Schutzhelmen und Seeleute, die meisten nicht etwa politisch interessiert, sondern froh um die Arbeitspause. Als Podium diente die Ladefläche eines Pick-ups, der neben zwei glänzenden zylinderförmigen Containern unter dem Wellblechdach eines offenen Gebäudes stand. Die Fernsehteams hatten sich vorn postiert, die Nachrichtenreporter drängten sich auf den Plätzen dahinter. Ussing klopfte die Sprüche, die er schon seit Beginn des Wahlkampfes landauf, landab vom Stapel ließ.

»Diese Regierung hungert den Normalbürger Dänemarks aus und füllt den Reichen, die sie finanzieren, die Taschen.«

Hartmann blickte in die Kameras und schüttelte lächelnd den Kopf.

»Und heute«, tönte Ussing, ganz der frühere Gewerkschaftsboss, »sehen wir, was Hartmanns Schwäche uns eingebrockt hat.«

Er hielt die Morgenzeitung hoch, deren Schlagzeile Zeelands Absicht verkündete, in ein Niedrigsteuerland in Fernost abzuwandern.

»Einer unserer größten Arbeitgeber schließt sich dem Exodus an. Die verlegen ihre Arbeitsplätze nach Asien, und wir sollen die Zeche zahlen.«

Beifälliges Gemurmel, Kopfschütteln unter weißen Helmen. Hartmann griff zum Mikrofon.

»Eine gesunde Industriepolitik kommt allen zugute, Anders. Wenn wir Zeeland bei Laune halten, werden dort mehr Dänen eingestellt …«

»Das ist Vergangenheit!« Ussing klopfte auf die Zeitung. »Sie verschließen die Augen vor Zeelands Monopolstellung. Sie biedern sich bei denen an mit Ihren Steuerkürzungen und Ihren Ölsubventionen …«

Ussings Hetztirade begann zu wirken. Beifallsrufe ertönten, und gelegentlich brandete Applaus auf.

»Wenn sich hier jemand anbiedert, dann sind Sie das«, unterbrach ihn Hartmann. »Das sagt sich alles so leicht. Aber es ist unverantwortlich. Sie wollen uns weismachen, Sie könnten die Krise mit ein paar schönen Worten aus der Welt schaffen, aber insgeheim ziehen Sie dem dänischen Normalbürger das Geld aus der Tasche.«

Hartmann ließ den Blick über die Anwesenden schweifen. Sie waren verstummt. Sie hörten zu.

»Ich weiß, es ist hart. Schon viel zu lange hören wir ständig von Entlassungen und Firmenpleiten. Von privaten Sparguthaben, die sich in Luft auflösen.« Eine lange Pause. Alles wartete. »Wenn ich einen Zauberstab hätte, meinen Sie, ich würde ihn nicht benutzen? Aber so sieht es nun einmal aus auf der Welt. Nicht nur in Dänemark. Überall. Die Alternative, vor der wir stehen, ist ganz einfach: Packen wir die Probleme jetzt an, oder geben wir den ganzen Schlamassel an unsere Kinder weiter?«

Er zeigte auf den stämmigen rothaarigen Mann neben ihm.

»Wenn Sie sich vor Ihrer Verantwortung drücken wollen, dann stimmen Sie für Anders Ussing. Wenn Sie den Mut haben, sich ihr zu stellen, dann stimmen Sie für mich.«

Das gefiel den Leuten. Ussing griff wieder nach dem Mikrofon.

»Zeeland jammert der Presse was von einem Zwang zur Standortverlegung vor, und schon geben Sie denen mehr von unserem Geld, Troels, ja? So läuft das doch, oder? Noch mehr Bestechungsgeld für Ihre Freunde …«

»Wenn wir ein gutes Klima für die Wirtschaft herstellen, bleiben die Arbeitsplätze hier«, beharrte Hartmann. »Unsere Industriepolitik setzt auf Wachstum. Aber es gibt Grenzen. Da sind wir uns einig. Jeder muss seinen Beitrag leisten, denn jeder ist betroffen. Das gilt auch für Zeeland.« Er legte die Hand aufs Herz und wiederholte: »Das gilt auch für Zeeland.«

Beifall begleitete ihn, als er ging. Doch Karen Nebel war nicht zufrieden.

»Ich hab dich doch ausdrücklich gebeten, Zeeland aus dem Spiel zu lassen«, sagte sie auf dem Weg zum Auto.

»Was hätte ich denn tun sollen? Er hat mich in die Enge getrieben. Ich kann so eine Frage doch nicht ignorieren. Zeeland muss den Artikel öffentlich dementieren.«

Karen Nebel war eine hochgewachsene Frau mit zurückgekämmtem blondem Haar und einem von tiefen Linien durchzogenen Gesicht, das angespannt, fast hart wirkte. Sie neigte zum Intrigieren, doch damit konnte Hartmann umgehen.

»Die werden das doch dementieren, oder, Karen?«

»Ich hinterlasse ständig überall Nachrichten, aber niemand ruft zurück. Da stimmt was nicht.«

»Finde raus, was. Mein Bündnis mit Rosa Lebechs Leuten steht kurz vor dem Abschluss. Da darf nichts mehr dazwischenkommen.«

Karens Miene verdüsterte sich bei der Erwähnung der Frau, die an der Spitze der Zentrumspartei stand.

»Hier nebenan ist ein Obdachlosenlager«, sagte sie. »Ich hab dort einen Stopp eingeplant.«

»Wenn ich mit den Leuten reden kann, okay. Reine Fototermine mache ich nicht.«

Sie kamen zum Auto. Karen hielt ihm die Tür auf.

»Troels. Das sind Wohnungslose. Wir sind doch nur wegen der Fotos hier.«

Hartmanns Handy klingelte. Er schaute auf die Nummer und ging beiseite, um ungestört reden zu können.

»Ich hab dich eben im Fernsehen gesehen, Schatz. Wenn ich nicht bei einer anderen Partei wäre, würde ich dir meine Stimme geben.«

»Die will ich trotzdem«, sagte Hartmann. »Wir müssen unser Bündnis unter Dach und Fach bringen, Rosa. Und danach will ich dich unbedingt sehen. An irgendeinem ruhigen Ort.« Er sah sich um, ob auch niemand zuhörte. »Mit einem großen Messingbett.«

»O Gott. Und mit deinen Dylan-Platten.«

»Erst das Bündnis.«

»Wir werden dich als Ministerpräsidenten unterstützen. Solange wir sicher sein können, dass du Zeeland im Griff hast.«

Er lachte.

»Du glaubst Ussing doch nicht etwa? Oder diesem Revolverblatt heute Morgen?«

»Lass uns später darüber reden«, sagte Rosa Lebech.

Sie legte auf. Noch ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte, war Karen Nebel bei ihm und wollte den Besuch bei den Obdachlosen abblasen. Einer von der Security stand neben ihr. Man habe einen Toten gefunden, sagte er, ganz in der Nähe.

»Der PET meint, es könnte sich um eine Art Drohung handeln. Die Überwachungsanlagen sind manipuliert worden oder so. Man nimmt an …«

»Ich werde Ussing nicht noch mehr Munition liefern«, sagte Hartmann. »Verleg den Besuch auf heute Nachmittag. Es sei denn, der PET meldet was Konkretes.«

»Wer hat da eben angerufen?«

Hartmann überlegte einen Moment

»Mein Zahnarzt. Ich hab einen Termin vergessen.« Ein Achselzucken, ein charmantes Hartmann-Lächeln. »Der Wahlkampf … kommt einem ständig in die Quere.«

Die Krawatte drückte am Hals. Die Bluse hatte schon bessere Tage gesehen. Brix hatte die Feier organisiert und aus irgendeinem Grund die Polizei-Blaskapelle dazu aufgeboten. Die Musiker bliesen in der Ecke mit Feuereifer in ihre Trompeten und Hörner und machten einen Lärm wie eine betrunkene Elefantenherde. Lund hörte sich höflich die Kriegsgeschichten eines alten Offiziers aus der Provinz an, während sie auf den Beginn der Zeremonie wartete. Da klingelte ihr Handy. Sie ging ein paar Schritte beiseite und meldete sich.

»Hier Juncker. Ich bin noch am Hafen.«

»Hallo, Asbjørn.«

Eine lange Pause, dann sagte er: »Die Techniker haben sich die Leichenteile angeschaut. Die tippen auf Mord. Der Mann war schon tot, als ihn der Bagger erfasst hat. Ist mit einem Zimmermannshammer malträtiert worden. Sieht so aus, als ob er von dem Schiff geflüchtet ist, und auf dem Schrottplatz hat ihn der Typ erwischt. Hat ihn dann in das Auto geschmissen. Wir haben mit den Pennern hier geredet. Die wissen von nichts. Und bei Zeeland wird niemand vermisst.«

»War’s das?«

»Jemand hat in der Nähe ein Rennboot gesehen. Dachte, es ist hinter einem Seehund her.«

»Wieso sollte da jemand auf Seehundjagd gehen?« Lund ging ans Fenster und sah nach dem Wetter.

»Bei der Küstenwache ist gegen halb drei Uhr morgens ein Anruf eingegangen, der dann unterbrochen wurde. Vom wem, wissen sie nicht. Kurz darauf ist das Rennboot hier herumgefahren, nicht weit von dem Schrottplatz.«

Lund stellte die naheliegende Frage, ob von einem Schiff ein Seemann vermisst gemeldet worden sei. Juncker verneinte.

»Wahrscheinlich hat es den Hafen längst verlassen«, sagte sie. »Wir brauchen alle Schiffsbewegungen in dem Bereich.«

»Was für Schiffsbewegungen? Zeeland hat seine Anlagen hier weitgehend stillgelegt. Übrigens …« Er hielt einen Moment inne, als suchte er einen ruhigeren Platz zum Telefonieren. »Übrigens schnüffeln jetzt auch die Typen vom PET hier herum. Was haben die hier zu suchen?«

»Schon gut, Asbjørn. Das sind auch nur Menschen.«

»Sie werden mich wohl nie Juncker nennen, was?«

»Reden Sie mit Madsen. Tun Sie, was er sagt. Ich hab jetzt keine Zeit …«

»Einer vom PET will Sie sprechen. Borch heißt er. Scheint Sie zu kennen. Da kommt er.«

Lund schwieg.

»Hallo?«, ließ sich Juncker wieder vernehmen. »Sind Sie noch dran?«

»Reden Sie mit Madsen«, wiederholte Lund, legte auf, sah den langen Korridor hinunter und fragte sich, wie viele Geister noch aus dem Halbdunkel hervorkriechen würden.

Sie hatte keine Ahnung, was Mathias Borch jetzt machte. Vermutlich etwas Wichtiges. Er war intelligent, das hatte sich gezeigt, als sie sich vor mehr als zwanzig Jahren auf der Polizeischule kennengelernt hatten. Jetzt wirkte er etwas angeschlagen. Hatte aber noch volles Haar, wie damals ungekämmt, und das faltige Gesicht eines Boxerwelpen.

Welpe.

So hatte sie ihn genannt. Wahrscheinlich wegen der Erinnerung daran errötete sie, als Borch auf sie zukam. Weder lächelte er, noch sah er ihr in die Augen. »Wir müssen reden, Sarah«, sagte er. »Über die Leiche am Hafen. Dein Kleiner dort sagt …«

»Stopp.« Lund hob die Hand. Dann zeigte sie zur Tür. Brix hatte mit seiner Rede angefangen. Er sprach von der Stärke, die das Polizeikorps Jahr für Jahr bewies, seiner Integrität, auf der sich Recht und Sicherheit in Kopenhagen gründeten.

»Das hab ich alles schon tausendmal gehört«, knurrte Borch. »Es ist wichtig, Sarah …«

Sie fluchte leise und führte ihn in die Küche.

»Tut mir leid, dass ich dich an so einem Tag störe«, sagte er. »Also … Gratuliere.«

»Übernimm dich nicht.«

»Gut siehst du aus«, fuhr er fort. »Wirklich. Geht’s dir auch gut?«

»Was willst du?«

»Ich bin an diesem Fall dran. Ich muss wissen, was ihr habt.«

»Nichts. Wir haben gar nichts.«

»Ihr habt die Docks abgesucht? Und die Schiffe dort?«

»Wir sind noch dabei. Da liegt nur ein Schiff. Juncker hat sich per Funk mit denen in Verbindung gesetzt. Die haben nichts gesehen.«

Borch runzelte die Stirn. Jetzt sah man dem Welpen sein Alter an.

»Ich hab mir etwas mehr erwartet …«

»Hör mal, wir hatten jahrelang keinen Kontakt, und plötzlich kreuzt du hier auf, gerade als ich meine Medaille zum 25-jährigen Dienstjubiläum bekommen soll, und fragst mich aus. Ich geh jetzt wieder rein …«

»Ich bin beim PET. Hast du das nicht gewusst?«

»Wieso sollte ich?«

»Wir glauben, dass mehr hinter der Sache steckt. Vor zwei Wochen ist am Hafen eingebrochen worden. Es sah nach einem normalen Einbruch aus. Ein Computer hat gefehlt, ein bisschen Kleingeld. Aber auf dem Computer waren Informationen über das Sicherheitssystem von Zeeland …«

»Ist das nicht deren Problem?«

Er starrte sie an. Es war eine dumme Frage gewesen. Zeeland war ein riesiger internationaler Mischkonzern. Mit Einfluss, auf die Regierung und darüber hinaus.

»Was hat das mit dem zerstückelten Mann zu tun?«, fragte sie.

»Es gibt keine Überwachungsvideos von letzter Nacht. Zwei Minuten nach dem unterbrochenen Notruf bei der Küstenwache sind sämtliche Kameras abgeschaltet worden. Der Täter hat sich in das System gehackt, hat es gestoppt und erst vor Tagesanbruch wieder eingeschaltet.«

Borch nahm sich ein Sandwich von einer für die Feier bereitstehenden Platte und biss davon ab.

»So schlau sind Einbrecher selten«, sagte er. Ein paar Krümel fielen auf seine Jacke.

Brix hatte seine Ansprache beendet. Gleich würden die Medaillen und Urkunden übergeben werden.

»Gib mir deine Nummer«, sagte Lund. »Wir bleiben in Verbindung.«

Sie wandte sich zum Gehen, doch er hielt sie zurück.

»Irgendjemand legt eines der raffiniertesten Sicherheitssysteme von ganz Dänemark lahm. Als es wieder läuft, liegt ein Toter im Hafen. Genau an dem Tag, an dem der Ministerpräsident dort erwartet wird. Die Finanzkrise. Afghanistan …« Er lachte. »Wütende Ehemänner. Es gibt genauso viele Leute, die Hartmann hassen, wie solche, die ihn lieben.«

»Ich geb’s weiter.«

»Du sollst es nicht weitergeben. Du sollst den Fall selbst übernehmen. Brix hat bereits sein Okay gegeben …«

»Das war ja klar.«

»Du bist besser als die OPA.«

»Hör zu. Es liegt keine Vermisstenmeldung vor. Alles deutet darauf hin, dass der Tote ein ausländischer Seemann von einem ausländischen Schiff war, das unsere Gewässer längst verlassen hat.«

»Trotzdem möchte ich, dass du den Fall übernimmst. Und Brix auch.«

Applaus von nebenan, Gelächter. Die Verleihung hatte begonnen. Lund konnte jetzt nicht einfach hineinplatzen.

»Du siehst wirklich gut aus«, sagte Borch ein wenig verlegen. »Ich dagegen …« Ein Achselzucken. Sie sah ihn wieder vor sich, damals auf der Polizeischule, mit seinem schwarzen Humor und seinen schlechten Witzen. »Ich bin nur alt geworden.«

Sie hätte ihn am liebsten angebrüllt. Aber sie sagte nur: »Ich werde mir nicht die Uniform schmutzig machen. Ich hab nachher ein Vorstellungsgespräch.«

Die Zeeland-Zentrale lag in der Nähe des Hafens am Wasser. Ein moderner schwarzer Glasmonolith mit dem Drachenlogo des Konzerns quer über den oberen sechs Stockwerken. Ringsum lauter Baustellen – hier sollte bezahlbarer Wohnraum entstehen. Nahezu das Einzige, was sich noch gut verkaufte. Robert Zeuthen stellte seinen schimmernden neuen Range Rover vor dem Eingang ab. In der Lobby erwartete ihn Reinhardt mit Neuigkeiten über den Toten im Hafen. Inzwischen war es ein Mordfall, aber es gab keine Hinweise darauf, dass Zeeland etwas damit zu tun hatte. Außer der Polizei ermittelte jetzt auch der PET, dessen Interesse Troels Hartmanns Besuch dort zwangsläufig geweckt hatte.

»Wo kommt diese Katze her?«, fragte Zeuthen.

»Nicht aus dem Haus«, antwortete Reinhardt mit Nachdruck. »Ich überprüfe das noch. Der Vorfall im Hafen sieht nicht gut aus. Anscheinend waren die Überwachungsanlagen außer Betrieb. Unsere Leute überprüfen das. Der PET will Sie sprechen.« Er runzelte die Stirn. »Hartmann macht sich mehr Sorgen wegen des Zeitungsartikels. Er wartet darauf, dass wir dementieren.«

»Ich möchte, dass Sie dabei sind, wenn der PET mit unseren Sicherheitsleuten spricht«, sagte Zeuthen. »Wenn es da einen Ausfall gegeben hat, war es vielleicht nicht der einzige.«

»Ich sollte vielleicht besser zu der Vorstandssitzung mitkommen.«

Zeuthen schüttelte den Kopf und ging zum Aufzug.

»Ich schaff das schon. Finden Sie raus, was mit dem PET ist. Suchen Sie weiter nach dieser Katze. Maja bringt mich um deswegen. Wir wissen ja beide, dass Emilie diese Allergie hat.«

»Robert.« Reinhardt legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich habe Grund zu der Annahme, dass es schwierig werden könnte mit dem Vorstand. Sie könnten mich brauchen.«

Zeuthen lächelte.

»Diesmal nicht, alter Freund.«

Im Christiansborg-Palast machte Karen Nebel sich Sorgen.

»Die Leute reden schon«, sagte sie, als sie in Hartmanns Büro Platz nahmen. »Sie verstehen nicht, warum Zeeland den Artikel nicht dementiert.« Ihr Handy klingelte. »Vielleicht jetzt …«

Hartmann sah ihr nach, als sie zum Telefonieren auf den Flur hinausging, dann murmelte er: »Sollen wir jedes Mal im Karree springen, wenn eine Lüge in der Zeitung steht?«

Morten Weber verschränkte die Arme und lehnte sich in dem Sessel am Fenster zurück.

»Manchmal schon.«

Weber, ein kleiner, zurückhaltender, ein wenig verwahrlost wirkender Mann mit widerspenstigen schwarzen Locken, war während Hartmanns gesamter Karriere an seiner Seite gewesen. Allen Widrigkeiten zum Trotz hatte er Hartmann auf den Stuhl des Oberbürgermeisters gehievt. Und als er die Chance dafür sah, hatte er ihm den Weg ins Büro des Ministerpräsidenten geebnet. Er kannte die politische Landschaft Dänemarks wie kein anderer, ein Wissen, das gelegentlich mit einer ruhigen, unbarmherzigen Offenheit einherging. Niemand wagte es, so mit Hartmann zu reden wie er. Trotzdem kam es hin und wieder zu einem Krach.

»Wir kümmern uns um Zeeland«, sagte Hartmann. »Karen ist schon dabei.«

»Gut. Diesen idiotischen Besuch am Hafen hab ich gecancelt. Die vom PET sind nicht gerade erfreut darüber, was da los ist. Und sie wollen auch nicht, dass wir darüber reden.«

»Mach das wieder rückgängig«, wies Hartmann ihn an. »Sonst sagt Ussing, die Obdachlosen sind mir egal.«

»Ach, scheiß doch auf Ussing.«

»Wir sind in der Defensive, Morten! Ussing benutzt Zeeland und stellt mich als jemanden hin, der von den Armen nimmt und den Reichen gibt.«

»Troels …«

»Ich gehe zu den Obdachlosen«, sagte Hartmann. »Und wenn ich mit dem Bus hinmuss. Okay?«

Nebel kam zurück, ihr Telefon in der Hand.

»Wir kriegen kein Dementi.«

Weber schob seine Brille hoch.

»Also stimmt es, was in der Zeitung steht?«

»Das hätte der Vorstand jedenfalls gern. Die wollen das an Robert Zeuthen vorbei durchziehen. Die halten ihn für schwach. Für Durchschnitt …«

»Hör mal«, fiel Hartmann ihr ins Wort. »Zeuthens Vater hat zugesichert, dass er die Firma nicht ins Ausland verlegt, wenn wir ihn unterstützen. Und Robert hat gesagt, es bleibt dabei. Wenn die jetzt davon abrücken, zerreiß ich sie in der Luft …«

»Nein, tust du nicht«, sagte Weber. »Das kannst du gar nicht.«

Hartmann beherrschte sich nur mühsam. In Momenten wie diesem war Weber am nützlichsten, aber er brachte ihn auch zur Weißglut.

»Warum nicht?«

»Wenn du nachgibst und Zeeland noch mehr Bonbons hinwirfst, steigt Rosa Lebech nicht mehr mit dir in die Kiste. Tust du’s nicht, schmuggeln unsere eigenen Leute die Dolche hier rein.« Weber zog seine fleischige Nase kraus. »Ich tippe da auf Birgit Eggert. Der reicht das Finanzministerium nicht.«

»Wenn Zeuthen kaltgestellt wird, müssen wir ihnen irgendwas geben«, sagte Nebel. »Ich rede mal mit dem Schatzmeister. Es muss ja nicht viel sein.«

»Herr im Himmel!«, rief Weber. »Warum händigen wir Ussing nicht gleich die Büroschlüssel aus? Ihr seht doch die Plakate! Wenn du reich bist, wähle Hartmann. Wenn nicht …«

»Wir unternehmen nichts, solange wir nicht wissen, wo Rosa Lebech steht«, sagte Hartmann. »Aber die krieg ich schon rum. Sag denen vom PET, ich gehe zu den Obdachlosen, ob ihnen das passt oder nicht.« Er nahm ein frisches Hemd und einen Anzug aus dem Schrank. »Ende der Debatte.«

Nebel sah Weber böse an, als Hartmann zu den Toiletten marschierte, um sich umzuziehen.

»Ich verliere nicht gern, Morten.«

»Wer verliert schon gern?«

»Warum hört er nicht auf uns?«

Der kleine Mann lachte.

»Weil er Politiker ist. Troels fühlt sich nur auf Messers Schneide so richtig wohl. Er mag die Hektik. Den Kick. Die Gefahr.« Er stand auf, zwinkerte ihr zu. »Tun wir das nicht alle?«

Kaum war Lund wieder am Hafen, rief Brix an. Er wollte wissen, was der PET vorhatte.

»Die scheinen anzunehmen, dass es bei Hartmanns Besuch hier Probleme geben könnte. Es war übrigens nicht meine Schuld, dass ich die Feier verpasst habe. Sie hatten Borch gesagt, dass ich den Fall übernehme.«

»Stimmt.«

»Dann erklären Sie denen von der OPA, warum ich nicht da war?«

»Wenn ich sie sehe. Machen Sie alles, was der PET will, egal, was.«

Das ändert einiges, dachte sie und legte auf. Borch und Asbjørn Juncker gingen mit Klemmbrettern auf dem Gelände umher.

»Wir müssen jedes Schiff durchsuchen«, sagte der PET-Mann.

»Hier liegt nur eins«, antwortete Juncker. »Das haben wir schon gecheckt.«

Er zeigte Lund eine Mappe mit Fotos. Lund arbeitete gern mit Fotos. Sie nahm die Mappe und sah sich eines nach dem anderen an. Ein stämmiger Toter. Um die vierzig. Ein Tattoo mit einem Frauennamen. Osteuropäisch, meinten die Techniker. Ein zweiter Name am rechten Arm war nicht zu entziffern. Die mittleren Buchstaben fehlten, infolge einer Messerverletzung, so wie es aussah. Ein schwarzer Mercedes fuhr vor, dem ein hochgewachsener Mann entstieg, sehr aufrecht, das graue Haar akkurat geschnitten. Er stellte sich als Niels Reinhardt vor, Zeelands Ansprechpartner für den Fall.

»Die Sache ist für Robert Zeuthen von persönlichem Interesse«, sagte er in ruhigem, höflichem Ton. »Er lässt Ihnen sagen, dass wir Sie nach besten Kräften unterstützen werden.«

»Funktioniert die Überwachungsanlage wieder?«, fragte Borch.

»Davon gehen wir aus.« Reinhardt schien sich nicht sicher zu sein. »Eine unserer IT-Tochterfirmen betreibt die Anlage. In allen Bereichen, Bürogebäuden ebenso wie Privathäusern.«

Lund spulte die naheliegendsten Fragen ab. Probleme mit der Belegschaft habe es seit den letzten Entlassungen keine mehr gegeben, antwortete Reinhardt. Keine ungewöhnlichen Schiffsbewegungen.

»Die müssen schon hier gewesen sein, bevor sie das Sicherheitssystem lahmgelegt haben«, sagte Juncker.

»Unmöglich. Irgendwelche Eindringlinge hätten wir gesehen«, erklärte Reinhardt. Sein Blick wanderte über den Hafen, zu einem verlassenen Gelände ganz am Ende. »Es sei denn, sie sind über die alte Stubben-Anlage reingekommen. Die ist seit Jahren stillgelegt.«

»Ich muss zurück …«, begann Lund, doch Borch zeigte schon auf seinen Wagen.

Die Anlage war einige Minuten entfernt, ein ödes Areal, Schutt und ausgemusterte Container am vermüllten Ufer.

»Eigentlich wollten wir hier ein Hotel bauen«, sagte Reinhardt. »Aber jetzt ist kein Geld mehr dafür da …«

»Wer kommt hierher?«, fragte Borch. Lund ging auf dem Kiesweg umher und kickte gegen Steine und Abfälle, die Hände in den Taschen, die Krawatte schief.

»Angler«, antwortete Reinhardt, »Vogelbeobachter.« Eine Pause. »Manchmal auch Liebespaare, nehme ich an.«

»Aber Schiffe nicht mehr, sagen Sie?« Juncker suchte mit einem Fernglas den grauen Horizont ab. Ein uraltes verrostetes Schiff, das aussah, als liege es seit Jahren dort. Der Mann von Zeeland runzelte die Stirn.

»Keine, die noch in Betrieb sind. Das da draußen ist die Medea. Ein alter Frachter von uns. Sie ist stillgelegt worden und sollte verschrottet werden. Wir haben sie an einen lettischen Zwischenhändler verkauft, aber der ist in Konkurs gegangen.«

Borch nahm Junckers Fernglas. Das Schiff lag gut fünfhundert Meter vom Ufer entfernt. Er betrachtete es, hielt dann Lund das Fernglas hin. Sie schüttelte den Kopf.

»Ist es bemannt?«, fragte sie.

»Ja, das ist Vorschrift«, antwortete Reinhardt prompt. »Selbst so ein alter Kasten muss mindestens drei Mann an Bord haben. Wir haben gestern Abend mit ihnen gesprochen. Und heute Morgen noch mal. Sie sagen, sie haben nichts gesehen.«

Er blickte über das leere Gelände, den trüben Öresund.

»Wie auch, was gibt’s hier schon zu sehen?«

Lund ging ans Wasser und fluchte, als sie mit ihren besten Stiefeln in eine Matschpfütze trat. Ein Zigarettenstummel lag im Dreck. Frisch. Ohne Regenspuren. Borch telefonierte.

»Wenn Sie da rausfahren wollen«, sagte Reinhardt, »kann ich ein Boot kommen lassen.«

Asbjørn Juncker war Feuer und Flamme. Borch beendete sein Gespräch.

»Laut Küstenwache ist letzte Nacht ein russisches Küstenschiff hier durchgefahren. Mit Ziel St. Petersburg. Wir haben uns mit den Behörden dort in Verbindung gesetzt.«

»Danke für das Angebot«, sagte Lund zu Reinhardt. »Aber das ist nicht nötig.«

Juncker protestierte. Lund ging zum Wagen. Borch und der junge Polizist folgten ihr.

»Wir müssen da raus und uns den Frachter ansehen«, sagte Borch.

»Kannst du ja machen, wenn du willst.«

»Ich hab jetzt keine Zeit! Hartmann kommt hierher. Wir müssen für seine Sicherheit sorgen …«

»Ich muss nicht da raus«, unterbrach sie ihn. »Asbjørn … steigen Sie ein? Wir fahren.«

Er zögerte einen Moment, dann tat er wie geheißen. Borch ging neben dem Fahrerfenster in die Hocke. Wirkte jetzt ganz und gar nicht mehr wie ein Welpe.

»Hoffentlich ist es der Job wert«, sagte er.

Robert Zeuthen hatte die Männer, die Zeeland führten, geerbt. Handverlesen von seinem Vater. Loyal, solange der alte Chef da gewesen war.

Kornerup, ein stattlicher, ernster Sechzigjähriger mit scharfen Augen hinter eulenhaften Brillengläsern, war seit fast zwanzig Jahren geschäftsführender Direktor von Zeeland. Er eröffnete die Sitzung mit einer neuen Variante des Statements, das er jedes Mal abgab, seit Robert Zeuthen die Konzernführung übernommen hatte.

»Eine Verlegung der Werft in den Osten reduziert die Kosten um mindestens vierzig Prozent. Zur Finanzierung des Umzugs können wir die Wechselkurse nutzen. Wenn wir sofort mit der Planung beginnen, sollte es möglich sein, unsere Aktivitäten binnen eines Jahres zu verlagern. Im Endeffekt …«

»Das ist nichts Neues«, unterbrach ihn Zeuthen. »Wir kennen die Argumente. Wir waren uns einig, dass so etwas allenfalls in zehn bis 15 Jahren in Frage kommt.«

Elf Männer am Tisch, eine Frau. Zeuthen war der größte Anteilseigner. Aber er hatte nicht die absolute Mehrheit.

»Die Welt dreht sich schneller, als wir dachten«, entgegnete Kornerup. »Die Entscheidung liegt beim Aufsichtsrat. Wenn Hartmann die Wahl verliert, bekommen wir einen roten Ministerpräsidenten und ein rotes Kabinett. Die werden uns ausbluten.«

»Deswegen unterstützen wir Hartmann ja«, sagte Zeuthen. »Es wäre gegen unsere Interessen, ihn zu schwächen.«