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Jochen Rausch ist Journalist, Autor und Musiker. Seit 2000 ist er Programmchef von Radio 1LIVE, Köln. 2011 erschienen sein Erzählungsband »Trieb« und 2013 der Roman »Krieg« im Berlin Verlag. Rausch lebt in Wuppertal.
1. Auflage 2015
ISBN 978-3-8270-7784-4
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin 2015
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DEINE ANTONIA
(Duisburg)
Antje Nuber, geb. Rettkowski, Tochter
Papa war ganz schön streng. Streng und trotzdem lieb. In einem Moment konnte er furchtbar böse werden, und im nächsten war ich schon wieder sein Engelchen. Ja, so hat er mich genannt, Engelchen. Und Matti war sein Bengelchen. Engelchen und Bengelchen. Matti war mein Zwillingsbruder. In Wirklichkeit hieß er Mathias.
Matti und ich wussten vorher nie, ob Papa gerade seine strenge oder seine liebe Phase hatte. Da wohnten halt zwei Seelen in seiner Brust. Er wurde noch im Zweiten Weltkrieg geboren, in Breslau. Ich war da nie. Das heißt jetzt anders, Wrocław oder so ähnlich, und gehört zu Polen. Zu seinem Sechzigsten habe ich meinen Eltern eine Reise dahin geschenkt, weil ich dachte, vielleicht will er seine Heimat mal wiedersehen. »Lieb gemeint von dir«, hat er gesagt, »aber nach Polen kriegen mich keine zehn Pferde.« Seine Eltern wurden ausgebombt, und meine Oma musste mit ihrem Sohn auf dem Arm zu Fuß in den Westen flüchten. Meine Oma haben wir übrigens nie kennengelernt und unseren Opa auch nicht. Der war Soldat und wurde drei Tage vor Kriegsende in Berlin erschossen. Das wissen wir aber alles nur von unserer Mutter. Wenn wir Papa nach Oma und Opa fragten, dann hieß es: »Eure Großeltern sind oben im Himmel und sehen alles, was ihr tut.«
Papa hat nie viel geredet, schon gar nicht, wenn es um Trauriges ging. Vielleicht dachte er, wenn er nicht drüber redet, gibt es das Traurige gar nicht. Unsere Oma hat sich dann mit ihm bis nach Oberhausen durchgeschlagen. Sie hat genäht und gebügelt für die besseren Leute. »Vom Wirtschaftswunder haben wir nichts gemerkt«, hat Papa mal gesagt. Als sie starb, war Papa mit siebzehn mutterseelenallein auf der Welt. Wer weiß, wenn er all die schrecklichen Sachen nicht erlebt hätte, vielleicht wär dann ein ganz anderer Mensch aus ihm geworden. Und vielleicht wäre das alles nicht passiert.
Christine Schmidt, Nachbarin
Alle hier in der Kurt-Schumacher-Siedlung haben sich ihr Häuschen vom Mund abgespart. Hier wohnen keine Reichen, aber auch keine Asozialen. Die Häuser sind hundertzehn Quadratmeter groß, Keller und Dachboden nicht mitgerechnet. Ich weiß, es gibt Etagenwohnungen, die sind größer, aber wir wollten lieber ein eigenes Haus mit Garten. Mein Mann und ich haben zwei Kinder, genau wie die Rettkowskis. Als unsere beiden noch kleiner waren, haben die oft mit Antje und Matti gespielt. Und wir Erwachsenen haben uns auch gut verstanden, so gut sogar, dass wir den Zaun zwischen unseren Gärten weggemacht haben. Im Nachhinein glaube ich, dass Hubert das gar nicht so recht war mit dem Zaun. Unsere Männer waren ja grundverschieden. Mein Karl-Heinz ist Rheinländer. Einmal Kölner, immer Kölner, sagt er. Und Hubert kam ja aus dem tiefsten Osten, aus Schlesien. Der war ein Vertriebener. »Die gehen doch zum Lachen in den Keller«, hat Karl-Heinz gesagt. Na ja, man muss aber auch bedenken, was der Hubert alles durchgemacht hat. War doch klar, dass der das Leben nicht so leicht nahm. Vor allem wegen der Sache mit Matti. Ganz früher, als noch alles gut war, haben wir jedes Jahr Karneval gefeiert, gleich hier im Wohnzimmer. Karl-Heinz hat doch sein Köln so vermisst. Aber den Hubert, bei dem konnten wir bitten und betteln, glauben Sie nicht, der hätte mal mitgefeiert. »Nee, das ist nichts für mich, so auf Kommando lustig sein«, hat er gesagt.
Antje Nuber, geb. Rettkowski, Tochter
Unsere Mutter hatte es nicht leicht mit Papa. Aber nie hat sie sich beklagt, nie war da ein böses Wort. Und dabei hatte sie doch denselben Kummer wegen Matti wie er. Wenn man Papa so sah, dachte man, was für ein netter knuffiger Mann, so klein mit Glatze und Bäuchlein, er sah ja irgendwie lustig aus. Ein bisschen wie das Michelin-Männchen aus der Werbung. Kennen Sie das? Aber das war nur Tarnung, meistens hatte er nämlich schlechte Laune. Und immer, wenn die Stimmung schlecht war, hat unsere Mutter vor sich hin gesummt. Sie musste ganz schön oft summen. Mal abgesehen von seinen Launen war das Schlimmste an Papa sein Geiz. Das kam natürlich auch von der Armut, die er erlebt hat. Wenn im Flur Licht brannte und Mutter, Matti und ich im Wohnzimmer vor dem Fernseher saßen, konnte Papa fuchsteufelswild werden. »Für wen brennt das Licht im Flur, für den Heiligen Geist, oder was?«, sagte er dann.
Noch schlimmer war das mit dem Pipimachen. Das glaubt mir keiner, wenn ich’s erzähle, aber wir durften nach dem Pipimachen nicht abziehen. Das sei Wasserverschwendung. Mir war das furchtbar peinlich. Nie hab ich Kinder nach Hause eingeladen, weil ich nicht wollte, dass die auf dem Schulhof erzählten, dass man bei den Rettkowskis auf der Toilette nicht abziehen darf. Man weiß doch, wie gemein Kinder sein können. Als ich dann in die Pubertät kam, habe ich morgens immer gewartet, bis er aus dem Haus war, bevor ich aufs Klo bin, nur damit ich abziehen konnte.
Christine Schmidt, Nachbarin
Das mit Matti ist in diesem Sommer genau dreiunddreißig Jahre her. Mein Leben hier in der Kurt-Schumacher-Siedlung teile ich immer noch in die Zeit vor und die Zeit nach Matti ein. Mein Gott, das war hart. Wir waren ja alle noch jung. Jeder hier hat mitgelitten mit den Rettkowskis. Jeder hatte doch Kinder, jeder wusste doch, wie sich das anfühlte.
Hubert hat nie wieder Mattis Namen erwähnt. Als hätte es den Sohn nie gegeben, als sei die Antje ein Einzelkind. Soviel wir wissen, war Hubert auch nicht ein einziges Mal auf dem Friedhof, während die Hilde fast jeden Tag dort war. Nun ja, jeder trauert auf seine Weise. Aber das Leben musste weitergehen. Das Hildchen war eine so tapfere Frau. Trotz des Kummers hat die nie ihren Lebensmut verloren. Wir Frauen haben uns übrigens besser verstanden als unsere Männer. Meine Güte, stundenlang haben das Hildchen und ich auf der Terrasse gesessen, mal bei den Rettkowskis, mal bei uns, und haben geredet über Gott und die Welt. Uns gingen die Themen nie aus. Natürlich hat das Hildchen auch schon mal dieses oder jenes von Hubert erzählt und auch schon mal ein paar Tränen vergossen, weil er so stur war und so sparsam. Aber ich hatte ja auch mein Päckchen zu tragen, das Leben mit einer Frohnatur wie Karl-Heinz ist auch nicht immer nur lustig. Ja, und dann stand vor drei Jahren Huberts Pensionierung an. Das Hildchen hatte richtig Bammel davor. »Christl, ich weiß nicht, ob hundertzehn Quadratmeter für Hubert und mich ausreichen«, hat sie gesagt. Wir haben noch herzlich gelacht darüber. Wer konnte denn ahnen, dass sie da schon den Krebs in den Knochen hatte, sie wusste es ja selber nicht. Vier Monate später war sie tot. Das arme Mädchen. »Der Hilde war es zu eng mit dem Hubert, die wohnt jetzt im Himmel«, hab ich zu meinem Mann gesagt. Und dann haben wir beide geweint.
Reinhard Spinnler, Beamter im Ruhestand
Uns Beamten sagt man ja gerne was Pedantisches nach. Und wissen Sie was: Es stimmt. Man muss schon Spaß an der Ordnung haben, sonst kann man den Beruf gar nicht machen. Hubert Rettkowski war allerdings die Steigerung von pedantisch. Da hab sogar ich manchmal die Augenbrauen hochgezogen, wie Hubert die Leute rangenommen hat. Wir haben ja siebenundzwanzig Jahre lang Schreibtisch an Schreibtisch in der Zulassungsstelle gesessen. Einmal hat Hubert einen weggeschickt, das war so ein Hippie. Der sollte sich erst mal beim TÜV den Spoiler an seiner Karre genehmigen lassen, sonst würde er keine Zulassung kriegen. Kann man verlangen, muss man aber nicht. Und dann kam der Hippie fünf Minuten später rein und knallte Hubert den Spoiler auf den Schreibtisch. »Da hast du deinen Spoiler«, hat er gebrüllt. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass Hubert den Typen wegen Beamtenbeleidigung und Sachbeschädigung angezeigt hat. »Von so einem lass ich mich doch nicht duzen und mir dann auch noch den Schreibtisch zerkratzen«, hat er gesagt.
Manchmal lag auch ein Geldschein zwischen den Papieren, den Gebrauchtwagenhändlern ging das oft nicht schnell genug bei uns. Und was machte Hubert Rettkowski? Zeigte die Händler wegen versuchter Beamtenbestechung an. Das Ende vom Lied: Keiner konnte den Herbert leiden, die Kollegen nicht und die Gebrauchtwagenhändler auch nicht. »Vor dem Gesetz sind alle gleich«, hat Hubert gesagt. »Auch die Gebrauchtwagenhändler.« – »Amen«, hab ich nur gesagt. Trotz allem mochte ich ihn wirklich gern. Er war im Grunde ja ein lieber Mensch, der keiner Fliege was zuleide tat. Na ja, bis auf seinen Gerechtigkeitsfimmel eben. Und der ist ihm ja jetzt auch tatsächlich zum Verhängnis geworden.
Antje Nuber, geb. Rettkowski, Tochter
An Weihnachten vor seiner Pensionierung hat Papa zu Mutter gesagt: »Hilde, wenn ich pensioniert bin, fängt das schöne Leben an. Dann fahren wir nach Schweden und nach Sylt, wir pilgern nach Lourdes oder sehen uns mal im Tessin um.« Ich hab kein Wort davon geglaubt. Bloß gedacht, Herr im Himmel, was soll der Papa nur anfangen, wenn er nicht mehr aufs Amt darf? Er hatte doch keine Freunde und auch keine Hobbys. Und beim Fernsehen schlief er noch vor dem heute journal ein. Kein Wunder, dass Mutter Bammel davor hatte, ihn den ganzen Tag zu Hause zu haben. Ja, und dann? Dann war er vier Monate in Pension und Mutter tot. Vielleicht hätte das mit den Prozessen gar nicht angefangen, wäre Mutter nicht gestorben. Vielleicht hätten die beiden ja wirklich all die Reisen unternommen. Das wäre für alle besser gewesen.
Reinhard Spinnler, Beamter im Ruhestand
In den ersten Wochen nach der Pensionierung haben Hubert und ich immer um zehn telefoniert. Das war unsere Zeit, da hatten wir im Amt auch immer unsere Frühstückspause. Als Huberts Frau so sechs, acht Wochen tot war, hatte er plötzlich um zehn Uhr keine Zeit mehr, weil er da schon auf dem Gericht war. »Komm doch mal mit«, hat er gesagt, »du interessierst dich doch auch für die Gesetze, Reinhard.« – »Ich hab eigentlich genug von Gesetzen«, habe ich gesagt. Aber ich bin dann trotzdem mit. Vielleicht will Hubert sich mal aussprechen, so unter Männern, weil doch seine Frau tot ist, hab ich mir gesagt. Er hat aber gar nicht von seiner Frau geredet, sondern war eigentlich ganz munter. Er kannte sich auch schon bestens aus im Gericht. Vom Justizwachtmeister wurde er sogar mit Handschlag begrüßt. Wir waren bei einem Prozess gegen einen Zuhälter. Ein widerlicher Kerl. Hat einem bulgarischen Mädchen mit dem Bunsenbrenner Nase und Brustwarzen verbrannt. Hört sich aufregend an, aber es war dann doch eher langweilig, ständig wurde zwischen dem Verteidiger, dem Staatsanwalt und dem Richter palavert, wer jetzt was sagen darf, ob der und der Zeuge vereidigt wird oder nicht und so weiter. »Sei mir nicht böse, Hubert«, hab ich gesagt, »aber da bin ich lieber an der frischen Luft, als mir so was anzuhören.«
Jörg Dappke, Justizwachtmeister
Bei Prozessen ist es wie beim Fußball. Wenn Bayern München spielt, ist die Hütte voll, und bei Hamborn gegen Sterkrade eben nicht. Bei den kleinen Sachen sind manchmal gar keine Zuschauer da, höchstens Angehörige und Freunde von den Leuten. Ab Erpressung oder Rauschgifthandel kommt dann auch mal jemand von der Lokalzeitung. Bei Mord und Totschlag rennen sie einem die Bude ein, und da kommt dann auch das Fernsehen. Der größte Andrang ist bei der Urteilsverkündung. Die Zuschauer wollen sehen, ob der Angeklagte zuckt, wenn er »lebenslänglich« kriegt. Wir haben Zuschauer, die haben ’ne Jahreskarte. So nennen wir das, wenn einer jeden Tag kommt. Irgendwie versteh ich das nicht. Wenn ich mal Rentner bin, dann komm ich höchstens als Angeklagter zum Gericht, aber doch nicht freiwillig. Glauben Sie bloß nicht, so ein Prozess läuft wie im Fernsehen, da wird ja alles Langweilige rausgelöscht. Was meinen Sie, wie oft mir die Augen zuklappen, wenn ich den ganzen Tag da hocke. Aber ich bin stolz darauf, dass ich noch nie eingeschlafen bin. Nicht ein einziges Mal.
Herr Rettkowski hatte auch ’ne Jahreskarte. Erbstreitereien, Betrug, Fahrerflucht, Urkundenfälschung, der hat sich alles angehört. Ganz spitze Ohren hat er gekriegt, wenn’s um Sexsachen ging, Vergewaltigung, Prostitution, Zuhälterei. Aber das ist bei allen Zuschauern so. Nehmen Sie zum Beispiel eine Vergewaltigung. Natürlich wollen die Leute hören, was da genau passiert ist, in allen Details. Die Leute werden richtig sauer, wenn es heißt, die Öffentlichkeit wird für die Dauer der Befragung der Zeugin ausgeschlossen. Das ist doch für die Leute so, als müssten sie im Kino bei den Sexszenen rausgehen. Herr Rettkowski war mir ganz sympathisch. Wir haben in den Pausen oft über die Zebras geredet, dass die auch mal besser waren, als da noch Manglitz und Pille Gecks kickten. Bei größeren Prozessen habe ich Herrn Rettkowski auch hin und wieder einen Platz auf der Zuschauerbank freigehalten. Ist eigentlich nicht erlaubt, aber ich fand es ungerecht, dass einer tagein, tagaus zum Gericht geht, und wenn dann mal was Spannendes kommt, nehmen ihm die Gaffer den Platz weg.
Christine Schmidt, Nachbarin
Als das Hildchen tot war, haben mein Mann und ich von Hubert nichts mehr gesehen. Ich glaube, der hat hinter der Tür gewartet, bis wir im Haus waren, damit wir uns ja nicht im Garten begegneten. Ich hab dann hin und wieder mal bei ihm geschellt, aber ich glaube, er wollte gar nicht, dass man fragte, wie es ihm so geht. Ein paar Wochen später ging er wieder jeden Morgen um acht Uhr aus dem Haus, so wie früher, als er noch auf dem Amt war. Da bin ich eines Tages einfach mal raus auf die Straße und hab so getan, als müsste ich was in die Mülltonne werfen. »Gehst du eigentlich wieder arbeiten, Hubert?«, hab ich ihn gefragt. »Wie kommst du denn darauf?« – »Weil du doch jeden Morgen um acht losfährst.« – »Spionierst du mir etwa nach?« – »Hab’s zufällig gesehen, ich mach ja um acht immer Kaffee.« – »Ich fahr nur so rum«, hat Hubert gesagt. Geglaubt hab ich ihm das nicht. Und es war ja auch nicht so.
Reinhard Spinnler, Beamter im Ruhestand
Um ein Haar wäre Hubert Rettkowski gar kein Beamter geworden. Er hatte nämlich einen Eintrag im Führungszeugnis – wegen Diebstahls. Jetzt sind Sie platt, was? Die Geschichte ist allerdings ein typischer Rettkowski. Hubert war noch ein junger Kerl von einundzwanzig Jahren und wollte sich mit seiner Hilde verloben. Nur hatte er aber keinen müden Groschen auf der Tasche, was macht er also? Lässt bei Hertie in der Schmuckabteilung einen Ring mitgehen. Keiner hat was gemerkt, und die Hilde hat ihm auch bald das Jawort gegeben. So weit, so gut. Jeder Normale hätte es dabei belassen. Hubert nicht. Der hatte so schlimme Gewissensbisse, dass er ihr den Ring wieder abgenommen und ihn zu Hertie zurückgebracht hat. Und was tun die? Zeigen ihn an. Das gab dann eine saftige Geldstrafe wegen Diebstahls und eben einen Eintrag ins polizeiliche Führungszeugnis. Damit können Sie den Staatsdienst eigentlich abhaken. Warum der unfehlbare Beamtengott dann doch noch ein Einsehen mit Hubert Rettkowski hatte, weiß ich auch nicht. Vielleicht, weil er dachte, so einer wie Hubert tut nie wieder im Leben etwas Unrechtes. Und so war es auch. Na ja, jedenfalls bis zu dieser Sache hier.
Ute Kettler, Protokollführerin
Eigentlich bin ich gern Protokollführerin. Das ist schon interessant, in die menschlichen Abgründe zu blicken. Aber es gibt natürlich auch Sachen, die will man lieber nicht hören. Die kriechen einem noch nachts mit unter die Decke. Sachen mit Kindern und Folter und so was. Aber ich muss ja alles aufschreiben, was vor Gericht gesagt wird, das ist nun mal mein Job. Ich habe allerdings einen Trick: Wenn es ganz widerlich wird, höre ich zwar die Worte und schreibe sie hin, aber ihren Sinn lasse ich nicht in meinen Kopf. Bei der Strafsache Kondert war das auch so. Was der mit dem schönen Mädchen gemacht hat, die war doch ganz lieb und unschuldig. Ich hab Fotos von ihr in der Akte gesehen, meine Güte, war das ein hübsches Ding. Feine, lange dunkelbraune Haare und Mandelaugen. Sieht ja aus wie ein Model, hab ich gedacht, die könnte glatt im Fernsehen auftreten. Und die Mutter von dem Mädchen war genauso hübsch. Was hat die mir leidgetan, ich weiß gar nicht, wie eine Mutter das aushält, wenn sie hört, was einer wie der Kondert mit ihrer Tochter gemacht hat. Ich hab selber zwei Töchter. Sie glauben gar nicht, was ich schon geheult habe im Gerichtssaal, auch wenn mir das natürlich keiner anmerken darf. Ich kann tatsächlich weinen, ohne dass Tränen kommen. Seltsam, was ich mir in meinem Beruf so alles angewöhnt habe.
Simon Strehlhoff, Student der Rechtswissenschaften
Ich war in dem Prozess, weil ich bei Dr. Steinbach ein Seminar in Strafrecht belegt hatte. Und Dr. Steinbach war der Verteidiger des Beschuldigten. Das Interessante an dem Prozess war die Frage, ob der Selbstmord des Mädchens in einem kausalen Zusammenhang mit der Vergewaltigung stand. Ich denke übrigens: nein, kein Zusammenhang. Das Mädchen kann ja auch ganz andere Gründe für den Suizid gehabt haben, Liebeskummer zum Beispiel, so was kommt bei Sechzehnjährigen vor. Klar, dass Dr. Steinbach an diesem Punkt angesetzt hat: dass das Mädchen labil war, instabile Familienverhältnisse, mit zwölf an den Pulsadern rumgeschnitten. Dass sie vor ein paar Jahren mal bei Facebook geschrieben hat, dass das Leben sowieso keinen Sinn habe, sprach auch nicht gerade für sie. Für einen juristischen Laien ist das vielleicht schwer verständlich. Die Leute denken ja nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Bauch. Was vor Gericht immer ein Fehler ist.
Ute Kettler, Protokollführerin
Was muss die Mutter von dem toten Mädchen denn noch alles durchmachen, hab ich gedacht, als Konderts Verteidiger anfing, der armen Frau auch noch die Schuld am Selbstmord ihrer Tochter in die Schuhe zu schieben. Dr. Steinbach galt bei allen als besonders ehrgeizig. Ich hab mich oft gefragt, wie der immer an die Fälle kam, die groß in der Zeitung standen. War ja beste Werbung für ihn. Und noch besser war es, wenn dann auch noch das Fernsehen kam. »Der Suizid des mutmaßlichen Opfers steht in keinem kausalen Zusammenhang zu dem hier in Rede stehenden Tatbestand.« Als der Steinbach das sagte, hat die Mutter geschluchzt, und auch ich hab meine unsichtbaren Tränen verdrückt. Was weiß denn einer wie der Steinbach, wie sich eine vergewaltigte Frau fühlt, hab ich gedacht. Der Anwalt der Mutter hat protestiert, aber der Richter hat den Steinbach einfach weiterreden lassen. Und dann kam das mit den Vorwürfen, dass die Frau Wirth nicht mal wisse, wer der Vater ihrer Tochter ist, dass sie wechselnde Partner habe, dass Antonia bei der Oma aufwuchs, dass sie schlecht in der Schule war und so weiter. Ich hab immer zum Richter rübergeguckt, dass er dem Steinbach endlich das Wort entzieht, aber der machte rein gar nichts. Ja, und dann ist die Frau Wirth plötzlich vom Stuhl gerutscht, einfach so, als hätte sie keinen einzigen Knochen mehr im Körper. Die Zuschauer haben Aufhören und Pfui gerufen, aber das hat der Richter sofort unterbunden, die Zuschauer dürfen ja nichts sagen in der Verhandlung. Der Steinbach hat dann zugesehen, wie Antonias Mutter aus dem Gerichtssaal getragen wurde. Dabei hat er auf den Zähnen rumgekaut, als bräuchte er dringend mal wieder was zu essen. Plötzlich dreht er sich zu mir und lächelt mich an. Ich hab ganz schnell woanders hingeschaut.
Jörg Dappke, Justizwachtmeister
Herr Rettkowski hat von dem Prozess gegen den Kondert nicht eine Sekunde versäumt. Sein Platz war vorne links in der ersten Reihe der Zuschauerbank. Dann kam der Kommissar als Zeuge dran, der sollte erzählen, was der Kondert mit dem Mädchen in der Autowerkstatt angestellt hat. Da hat der Richter die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Sie können sich das Gemecker vorstellen. In der Pause kam Herr Rettkowski und fragte mich, was der Kommissar denn gesagt hat. »Darüber darf ich nicht sprechen«, hab ich gesagt. »Ach, kommen Sie, Herr Dappke«, hat Rettkowski gesagt, »ich behalte es auch für mich.« Und dann hab ich’s ihm doch erzählt. War ein Fehler, ich weiß. Aber unsereiner ist doch auch froh, wenn er sich all den perversen Dreck mal von der Seele reden kann. »Das ist ja widerlich, was Sie berichten, Herr Dappke«, hat er gesagt. »Sagen Sie bloß keinem, von wem Sie es haben«, hab ich gesagt.
Dieter Schütz, Kriminalhauptkommissar
Es war nicht schwer, den Kondert zu finden. Wir hatten ja eine DNA auf dem Rock der Antonia Wirth, und Kondert war in unserer Datei, weil er sich schon mal einem jungen Mädchen in unzüchtiger Weise genähert hatte. Mit der Antonia Wirth, das war mehr ein Zufall. Die war im Paradiso, und als ihr Freund da mit einer anderen geflirtet hat, ist sie weggelaufen. Ihr Pech, dass sie vor der Tür dem Kondert begegnet ist. Hat ihn erst gar nicht bemerkt, saß an der Bushaltestelle in der Mercatorstraße und weinte, als der Kondert von hinten ankam. Er hat sie mit einem Kabelbinder gefesselt und ihr eine Ledermaske über den Kopf gezogen. War ja ein kräftiger Kerl, das war kein Problem für den. Später hat er dann ausgesagt, er sei eigentlich auf dem Weg zur Vulkanstraße gewesen. Da kriegt man Mädchen ab dreißig Euro. Er wollte zu einer Griechin, die das Spielchen mit der Ledermaske und den Fesseln schon ein paarmal mit ihm gespielt hatte. Gegen Bezahlung versteht sich. Wir haben das überprüft, die Griechin gibt’s wirklich. Aber dann habe er das Mädchen an der Bushaltestelle entdeckt und sei durchgedreht, er könne sich das auch nicht erklären. Antonia hat ihn übrigens gar nicht richtig gesehen. In seiner Garage hat Kondert sie dann ausgezogen, an die Hebebühne gekettet und mit Motoröl eingeschmiert. Ein Perverser eben, was sonst. Und dann hat er widerliches Zeug mit dem Mädchen gemacht. Ich kann das hier gar nicht in allen Einzelheiten wiedergeben. Als Polizist hört man eine Menge, aber das war schon hart, was die Antonia bei der Vernehmung alles ausgesagt hat. Das Martyrium dauerte zwei Tage. Dann hat Kondert sie nachts um drei Uhr an der Saarstraße wie einen Sack Müll aus dem Auto geworfen. »Ein Glück, dass er das Mädchen nicht umgebracht hat«, sagte ein Kollege, als wir den Fall auf dem Tisch hatten. Ob das für sie wirklich ein Glück war? Ich weiß nicht.
Antje Nuber, geborene Rettkowski, Tochter
Ich vermute, dass der Prozess gegen diesen Vergewaltiger Papa an die Verhandlung wegen Matti erinnert hat. Matti ist ja von einem Mercedesfahrer überfahren worden, der am Westweg wohnte. Mein Bruder war mit dem Rad unterwegs und wollte eine Abkürzung nehmen. Wäre er bis zum Zebrastreifen gefahren, wär wahrscheinlich nichts passiert. Der Mercedesfahrer ist damals freigesprochen worden. Angeblich konnte er nicht mehr bremsen, als Matti auf die Straße fuhr. Aber an der Straße ist kein Baum, nichts, was die Sicht verdeckt, so dass er ihn eigentlich schon lange vorher hätte sehen müssen. Papa hat versucht, das vor Gericht zu beweisen. Er hatte einen Gutachter und einen Rechtsanwalt, sie haben Fotos gemacht und Bremswege berechnet. Hat mir alles später Mutter erzählt. Als der Unfall passierte, war ich ja noch klein. Aber es hat nichts genützt. Der Mercedesfahrer wurde freigesprochen. Es war ihm nicht nachzuweisen. Und es hätte Matti ja auch nicht wieder lebendig gemacht.
Julia Elsener, Volontärin
Wenn größere Prozesse waren in Duisburg, hat der Chefredakteur mich hingeschickt. Mord und Totschlag interessiert die Leute. Bei der Kondert-Sache ging es eigentlich nur um Vergewaltigung, so was haben wir normalerweise nicht gemacht. »Unser Abonnent will keine Vergewaltigungen auf dem Frühstückstisch haben«, hat der Chefredakteur gesagt. Aber das Mädchen hat sich ja ein Vierteljahr nach der Tat umgebracht. Ist nach Oberhausen gefahren und von der obersten Etage des Einkaufszentrums runtergesprungen. In dem Prozess ging es auch darum, ob der Selbstmord etwas mit der Vergewaltigung zu tun hatte. Kondert hatte den besten Strafverteidiger der Stadt, Dr. Steinbach. Wie kann ein Loser wie Kondert sich einen so teuren Anwalt leisten, hab ich mich gefragt. Auch so ein Rätsel. Dr. Steinbach hatte eine Frisur wie ein Fahrradhelm, war angezogen wie ein Dressman und stank zehn Meter gegen den Wind nach Aftershave. Der machte gerne den Lauten. Auf dem Flur hat der so martialisch gelacht, dass sein aufgerissenes Maul aussah wie das von einem Haifisch. Hoffentlich hört die Antonia das widerliche Gelächter da oben im Himmel nicht, hab ich gedacht. Ich schrieb dann, die meisten Leute im Gericht glaubten, dass Antonia sich aus Verzweiflung über die Vergewaltigung umgebracht hatte. Am nächsten Morgen musste ich gleich zum Chefredakteur. »Ich glaube, du hast da einen Fehler gemacht«, hat er gesagt. »Wüsste nicht, wieso«, habe ich gesagt. »Bei Gericht geht’s nicht um das, was man glaubt, sondern um das, was sich beweisen lässt«, sagte er und schickte mich dann zu Steinbach in die Kanzlei. Ich solle doch mal ein Interview mit dem machen, damit unsere Leser auch die Gegenseite hörten. Was sollte ich tun? Die Kanzlei sah aus wie ein Designermöbelladen. Und jetzt raten Sie mal, was der Herr Dr. Steinbach zu mir sagte. »Bei Gericht geht es nicht um das, was man glaubt, sondern um das, was sich beweisen lässt. Und grüßen Sie mir den Herrn Chefredakteur«, hat er noch gesagt und wieder sein Haifischlächeln aufgesetzt. Ich bin übrigens nicht mehr bei der Zeitung. Ich schreibe jetzt Werbetexte. Da muss ich auch lügen. Aber nicht für Mörder, sondern für Antischuppen-Shampoo.
Antje Nuber, geb. Rettkowski, Tochter
Nachdem es passierte, hab ich Papas Sachen durchgesehen. Ich wollte einfach wissen, was da in seinem Kopf los war. Er hat ja nie was gesagt, immer nur so getan, als hätte ich nie einen Zwillingsbruder gehabt. Es gab auch kein einziges Foto mehr von Matti in unserem Haus, Mutter musste sich die Bilder heimlich ansehen. Papa hat zu jedem Prozess, bei dem er war, eine Akte angelegt. Auf dem Umschlag der Name des Angeklagten, Ort der Tat, Zeitpunkt der Verhandlung und eine Rubrik für das Urteil. Da hat er dann geschrieben Gerecht oder Ungerecht. Die dickste Akte war die zum Prozess wegen Antonia Wirth. Ich weiß, dass es nicht richtig ist, was Papa getan hat, aber als ich die Akte las, war ich trotzdem gerührt und sogar ein wenig stolz auf ihn. Ich wusste ja, dass er sich Prozesse ansah, aber ich konnte doch nicht ahnen, dass er sogar zu der Mutter von dem toten Mädchen gegangen ist. Er hat auch Fotos von dem Haus gemacht, wo sie wohnte. Ein ganz ärmliches graues Mietshaus war das, draußen in Ruhrort. Ich lese Ihnen mal vor, was er sich dazu aufgeschrieben hat: Heute Frau Kerstin Wirth aufgesucht, wohnhaft Duisburg-Ruhrort, Homberger Straße 6. Das Gespräch fand im Hausflur statt, um 15 Uhr 43. Habe mich vorgestellt als pensionierter Beamter und freiberuflicher Prozessbeobachter. Habe ihr meine Anteilnahme und Verbundenheit ausgedrückt, indem ich kurz von Matti berichtete. Habe Frau Wirth meine Hilfe angeboten. Sie hat sich bedankt und gesagt, ihr könne niemand mehr helfen. Mit ihrer Tochter sei sie selber auch gestorben. Ende des Gesprächs: 15 Uhr 47.«
Jörg Dappke, Justizwachtmeister
Natürlich haben wir Sicherheitsvorkehrungen, was denken Sie denn? Früher hätte man mit einer Maschinenpistole ins Gericht laufen können, aber seit die Mafia und irgendwelche anderen Irren das ein paarmal gemacht haben, gibt es im Justizhaus Kontrollen wie am Flughafen. Sogar die Handys muss man abgeben. Wie Rettkowski das geschafft hat mit der Knarre, versteh ich bis heute nicht. Jedenfalls hat er sie irgendwie ins Gericht gebracht und schon ein paar Tage vor der Urteilsverkündung auf der Besuchertoilette versteckt. Am letzten Prozesstag hab ich ihn noch vom Klo kommen sehen, bevor es losging im Saal. Wo ich Idiot ihm auch noch den Platz in der ersten Reihe der Besucherbank freigehalten habe. Dann kam das Gericht rein und gab Kondert sieben Jahre wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung. Genau so, wie es die Verteidigung wollte.
Sie haben mich degradiert. Für mich macht das netto hundertachtzig Euro weniger im Monat. Ist ’ne Menge Geld für einen kleinen Justizwachtmeister. Wegen der Knarre konnten sie mir nichts, aber weil ich dem Kondert etwas aus der nichtöffentlichen Sitzung erzählt habe, dafür konnten sie mir was. Der hat das ja alles in seine Akten reingeschrieben, der Verrückte. Woher sollte ich denn ahnen, dass der über die Prozesse Akten führt? Na ja, ich habe Einspruch eingelegt. Mal sehen, was das wird. Mein Rechtsanwalt meint, wir hätten gute Chancen, dass die Justizbehörde die Gehaltskürzung zurücknehmen muss.
Julia Elsener, Volontärin
Ich hatte noch nie einen Pistolenschuss gehört, trotzdem wusste ich sofort, was los war. Das war wahnsinnig laut und hatte so was Endgültiges. Wie ein zweites Urteil, hab ich gedacht. Komisch, was einem in einem solchen Moment alles durch den Kopf geht. Der Rettkowski stand ganz ruhig an der Barriere zu den Zuschauerbänken und hielt die Pistole mit beiden Händen, wie man es manchmal in den Fernsehkrimis sieht. Der erste Schuss fiel, als der Richter sagte, der Selbstmord der Antonia Wirth stünde nur möglicherweise, aber nicht nachweisbar im Zusammenhang mit der Vergewaltigung und könne deshalb bei der Bemessung der Strafe nicht berücksichtigt werden. Ich habe dann zu Rettkowski rübergesehen, während viele andere – Zuschauer, Staatsanwalt und Richter – in Deckung gingen. Und dann hab ich gesehen, wie Rettkowski die Arme ein wenig nach links drehte und sofort wieder schoss. Erst da wurde mir bewusst, dass Kondert schon quer über der Anklagebank lag. Von seinem Kopf war nicht mehr viel übrig. So fies sieht das im Fernsehen nicht aus. Und dann kippte auch der Steinbach um, das Haifischgrinsen noch im Gesicht. Ich weiß, das hört sich böse an, aber er ist mit diesem widerlichen Grinsen gestorben. Und dann hat es noch ein drittes Mal geknallt, da hat sich Rettkowski in den Mund geschossen. Kurz darauf schrien alle durcheinander und wollten raus, die Leute trampelten übereinander, und irgendwer rief in dem ganzen Gebrüll auch immer Bravo, Bravo, das weiß ich noch. Wie gesagt, der komplette Wahnsinn. Ich hatte da schon keine Angst mehr, weil ich gesehen hab, wie Rettkowski sich selber erschossen hatte. Ich hab dann zur Frau Wirth gesehen, die saß auf der Nebenklägerbank, als hätte sie die Schüsse gar nicht gehört, und guckte weiterhin nach vorn, wo gar keine Richter mehr waren. Ihr Anwalt hat sie gehalten, als sie anfing, sich zu schütteln wie eine Waschmaschine. Verzeihen sie bitte den etwas geschmacklosen Vergleich, aber genau daran hat es mich erinnert.
Ute Kettler, Protokollführerin
Als es knallte, bin ich sofort in Deckung gegangen. Wir sind geschult für solche Fälle. Obwohl es eigentlich unmöglich sein soll, eine Waffe in den Gerichtssaal zu schmuggeln, sind wir darauf vorbereitet, dass es doch mal einer schafft. Unter dem Tisch waren auch die drei Richter und die beiden Schöffen. Es knallte dann noch zweimal, und eine der Schöffinnen schrie hysterisch. Als sie aufstehen wollte, hat der Vorsitzende Richter sie festgehalten und ihr eine Ohrfeige verpasst. Später hat er gesagt, es sei zu ihrem eigenen Schutz gewesen. Dann war es vorbei mit den Schüssen, und es gab ein riesiges Geschrei, irgendjemand hat auch was gerufen, das wie Bravo klang. Wie nach einem besonders gelungenen Theaterstück. Irgendwann hab ich dann den Kopf wieder über die Tischplatte gehoben und da erst alles begriffen. Der Rettkowski war mir in dem Prozess gar nicht weiter aufgefallen, außer dass er immer vorne in der ersten Reihe saß. Den Platz hat ihm Wachtmeister Dappke freigehalten, die kannten sich doch. Und dann lag da der Beschuldigte in seinem Blut und gleich daneben Dr. Steinbach. Der Anblick war so grauenhaft, dass ich kurz darauf in Ohnmacht fiel. Erst in der Kantine bin ich wieder aufgewacht, wo ich auf dem Tisch lag und eine Infusion bekam. Na ja, war vielleicht doch ein bisschen viel. Ich mache momentan übrigens keine Strafgerichtsverfahren. Ich schaff das einfach nicht mehr. Ich mache jetzt nur noch Erbstreitigkeiten und Familienrecht. Aber glauben Sie nicht, dass das viel sicherer ist.
Julia Elsener, Volontärin
Wie gesagt, ich durfte dann gar nicht mehr über die Schießerei im Gericht schreiben. Dafür hatten wir ja unseren Polizeireporter. Ich hab aber trotzdem noch ein bisschen weiterrecherchiert und dabei ein interessantes Detail herausgefunden. Der Sohn von Herrn Rettkowski ist ja überfahren worden, und es gab damals einen Prozess wegen fahrlässiger Tötung. Der Autofahrer wurde freigesprochen, weil man ihm nicht nachweisen konnte, dass er Gas gegeben hat, obwohl er den Jungen schon lange an der Straße hätte sehen müssen. Und jetzt raten Sie mal, wer der Anwalt von dem Autofahrer war? Richtig: Steinbach. Dr. Alfons Steinbach. Der Vater von dem Dr. Steinbach. Der alte Steinbach lebt noch, in Düsseldorf-Oberbilk, ganz feine Gegend. Ist fünfundsiebzig. Vielleicht wollte Rettkowski, dass der alte Steinbach auch mal weiß, wie es sich anfühlt, den eigenen Sohn zu verlieren. Ich hab übrigens keinem was davon gesagt, wollte nicht, dass sie in der Zeitung schreiben, Rettkowski hätte Kondert und Steinbach gar nicht wegen der armen Antonia erschossen, sondern wegen des Sohnes von dem. Wahrscheinlich hat er es ja für beide getan.
Antje Nuber, geborene Rettkowski, Tochter
Nachdem es geschehen ist, habe ich ganz viel Post bekommen. Manche Leute schrieben, mein Vater sei ein Held, andere nannten ihn einen Verbrecher. Ich würde sagen, weder noch. Papa hat in seinem ganzen Leben nie Gefühle gezeigt. Ich weiß, das klingt makaber, und natürlich ist es falsch, was er getan hat, aber ich bin davon überzeugt, er hat an diesem letzten Tag im Gericht zum ersten Mal in seinem Leben seine wahren Gefühle gezeigt. Er hat es für Matti getan. Für Antonia. Und die Gerechtigkeit.
Christine Schmidt, Hausfrau
Was der Hubert getan hat, hat uns alle in der Siedlung wahnsinnig erschüttert. Woher hatte der überhaupt eine Pistole und wieso konnte er so gut schießen? »Da wohnt man sein ganzes Leben Tür an Tür und kennt sich trotzdem nicht«, hat mein Mann gesagt. Dieser Kondert hatte das ja irgendwie verdient, das muss ich schon sagen. Auch wenn es natürlich nicht rechtens ist. Aber wieso erschießt Hubert dann auch noch den Anwalt? Das war doch der Beruf von dem Anwalt, sich für Schwerverbrecher einzusetzen. Der hatte auch noch drei kleine Kinder. Das ist doch furchtbar. »Wie konnte der Hubert nur drei unschuldigen Kindern den Vater nehmen?«, hab ich zu meinem Mann gesagt.
Antje Nuber, geborene Rettkowski, Tochter
Wissen Sie, was ich Papa wünsche? Dass er von da oben aus dem Himmel den Kranz auf seinem Grab hat sehen können. Ein ganz besonderer Kranz, der hat bestimmt hundertfünfzig Euro gekostet. Da waren weiße Lilien gesteckt und kleine Stoffbärchen und rosafarbene Schleifen und eine Perlenkette. Der Kranz war von der Mutter des toten Mädchens. Wissen Sie, was auf der Schleife stand? Danke für alles, Deine Antonia.
GOTTESKRIEGER
(Wuppertal/Bossin, Stettiner Haff)
Was war das denn? Hören Sie das? Ich meine das Kratzen? Ich guck mal nach. Vielleicht sehe ich ja schon Gespenster. Oder es war nur ein Tier. Wir sind hier in der freien Natur. Am Strand streunen manchmal Hunde rum. Ein Fuchs? Ja, könnte auch sein. Also sehen kann ich nichts da draußen. Und jetzt ist’s ja auch wieder ruhig.
Ich bin eigentlich gar nicht schreckhaft. Das glauben Sie jetzt nicht, oder? Als meine Frau und ich noch jung waren, sind wir mit meinem Simca nach Frankreich und haben da irgendwo im Wald oder am Strand gezeltet. Fertig. So was wie Angst kannten wir nicht.
Ah, sehen Sie, ich hab’s doch geahnt. Es war ein Tier. Der Hund von unserem Verwalter, ein Schäferhund. Na, der ist ganz lieb. Da bin ich beruhigt. Ist ja auch gut, dass der Hund hier nachts rumläuft und aufpasst. Schließlich sind wir nicht mal ’ne Stunde weg von Polen. Jetzt gucken Sie komisch. Was glauben Sie, was hier geklaut wird. Die klauen sogar Autos, an denen noch die Wohnwagen hängen. Selbst wenn Leute drin schlafen, ist denen doch völlig egal.
Unser Wagen steht hier seit siebzehn Jahren. Sind zufällig hergekommen und gleich geblieben. Vier Sterne hat der Platz, Campingplatz Pommernland, jeder einzelne redlich verdient, alles eins a hier. Bis aufs Wetter natürlich. Das ist aber auch nicht immer so schlecht wie gerade. Gut, wir haben Oktober, da kann’s hier schon mal zwei, drei Wochen am Stück durchschiffen. Aber Sie müssen mal im Sommer kommen. Da haben wir immer schön Schatten unter den Bäumen. Nach der Wende war hier natürlich noch alles sehr primitiv. Und glauben Sie bloß nicht, die Brüder und Schwestern im Osten hätten uns mit offenen Armen empfangen: Jetzt nehmen die Wessis uns auch noch die schönsten Stellplätze weg – haben wir mehr als einmal gehört. Das ist übrigens ein FKK-Campingplatz. Meine Frau und ich sind gar nicht so für FKK. Wenn wir hier im Wagen sind, haben wir eigentlich immer was an. Nur draußen und am Strand und so, da ziehen wir uns eben aus. Klingt blöd, ist auch blöd.
Ob ich Angst habe? Was denken Sie denn? Sonst säße ich doch nicht seit drei Wochen hier in diesem Pissregen. Wissen Sie, was das Schlimmste ist? Dass ich mich in meinem eigenen Land nicht mehr wie ein freier Mensch bewegen kann. Und dass ich mit niemandem drüber reden kann. Sie sind der Erste. Ich kann mich doch hundertprozentig drauf verlassen, dass keiner erfährt, wo ich gerade bin? Geben Sie mir die Hand drauf. Gut so. Na ja, wir sind doch Kollegen. Unter Kollegen wird ein Ehrenwort wohl noch was gelten.
Das ganze Übel begann mit dem neuen Chefredakteur. Der kommt aus Hamburg und war mal Volontär bei der BILD. Hans-Herbert Hösel. Der hieß bei uns schon am zweiten Tag Ganz-herber-Schnösel. Noch keine vierzig, ’nen Schmiss auf der Wange und mindestens ein Kilo Gel im Haar.
»Wir brauchen exklusive Geschichten«, hat Hösel gesagt. »Große Reportagen, Mord und Totschlag, Skandale, Storys, die den Lesern ans Herz gehen.«
Klar, dass alle Redakteure um die Wette nickten. Uns steht doch das Wasser bis zum Hals. Dreißigtausend Abonnenten hat das Tageblatt in den letzten acht Jahren verloren. In der allergrößten Not lässt man sich auch vom Teufel den Rettungsring ins Wasser werfen, sag ich immer.
»Wer von Ihnen ist der Polizeireporter?«, fragte der Herr Schnösel.
»Das wäre ich dann wohl«, hab ich gesagt.
Hösel hat mich von oben bis unten gemustert und dabei so ein bisschen den Kopf geschüttelt. Als könnte einer mit hundertzehn Kilo, Glatze, Bluthochdruck und einem Kassengestell auf der Nase nicht Polizeireporter sein.
»Na, dann wünsche ich uns eine gute Zusammenarbeit, Herr Reiter«, hat Schnösel gesagt.
Brauchen Sie Zucker? Nein? Ich trinke den Kaffee auch lieber schwarz. Eigentlich sollte ich keinen Kaffee trinken, sagt mein Arzt, bei meinem Blutdruck. Zum Helden tauge ich auch nicht. Ich bin zwar Journalist, aber deswegen noch lange nicht lebensmüde. Sonst hätte ich ja Kriegsberichterstatter werden können, und Sie könnten mich in den Tagesthemen bewundern, wie ich in Syrien, Afghanistan oder im Kosovo vor der Kamera stehe, während es hinter mir Bomben regnet. Da bin ich doch lieber Lokalreporter. Okay, die großen Themen sind das nicht gerade. Zu wenig Parkplätze in der Nordstadt, Nachwuchsprobleme beim Philatelistenklub oder der Flüsterasphalt für die Autobahn, damit sich die Anlieger beim Grillen nicht mehr so anschreien müssen. Und wenn mal was Kriminelles in der Stadt passiert, Einbrüche, Überfälle, Ehedramen, ganz selten mal ein Mord, schreib ich auch drüber. Am besten gefiel mir an meinem Job immer, dass ich in der Stadt so viele Leute kannte. Und die Leute mich. Ich war fast so was wie ein Promi, einunddreißig Jahre war mein Gesicht fast jeden Tag im Blatt.
Kenn ich Sie nicht aus der Zeitung? Was glauben Sie, wie oft ich das gefragt wurde. Ich ging ein und aus beim Bürgermeister, war gern gesehener Gast beim Sommerfest der Sparkasse oder beim Neujahrsempfang der Handelskammer. Zu allen möglichen Ausstellungseröffnungen und Theaterpremieren hat man mich eingeladen, und wenn ich mal im Dienst ein Knöllchen bekam, konnte ich das an die Pressestelle der Stadtverwaltung schicken und hörte nie wieder was davon. Was sollte ich denn da in Syrien oder in Bagdad? Tja, und dann kommt nach einunddreißig Jahren einer wie dieser Schnösel aus Hamburg, und plötzlich ist nichts mehr, wie es war.
Was halten Sie von einem schönen, kühlen Bierchen jetzt? Dafür muss ich an mein Geheimversteck. Ich hab ein Loch unter den Wagen gegraben, fast zwei Meter tief. Sind Bierkästen drin, ist besser als jeder Kühlschrank, selbst bei 35 Grad. Was ist das nur für ein widerlicher Regen da draußen. Na ja, ich will nicht jammern. Hauptsache, ich bin hier sicher. Meine Frau und ich kommen jedes Jahr im Frühling, im Sommer und im Winter her. Nur den Herbst meiden wir normalerweise, da sind wir auf Mallorca. Im Winter wird es hier manchmal so kalt, dass ich mich immer wundere, wieso die Ostsee nicht zufriert. Ja, dann Prost.
Der Hösel kannte ja nicht mal ein Guten Morgen. Der knallte zur Begrüßung nur seinen Kaffeebecher auf den Konferenztisch. Raten Sie mal, was auf dem Becher stand: Hösel for Pulitzer-Price. Wirklich. Geht’s noch peinlicher?
»Hat schon mal jemand von Ihnen was von Waziristan gehört?«, fragte Hösel, als er drei Wochen da war. Großes Kopfschütteln allerseits. »Das ist zwischen Pakistan und Afghanistan. Da werden junge Männer zu Gotteskriegern ausgebildet.« Es war still am Tisch. Alle waren gespannt, was das mit unserer Stadt zu tun haben sollte. »Vor knapp fünf Wochen wurden zweiundzwanzig Terroristen in einem Camp durch eine amerikanische Drohne getötet. Drei der Islamisten kamen aus Deutschland. Und jetzt raten Sie mal, aus welcher Stadt einer von denen kam?«
»Wuppertal«, sagte Neusel von der Kulturseite, »hab ich irgendwo gehört.«
»Und warum stand es dann nicht im Blatt?«, sagte Hösel. »Unsere Leser hätten doch sicher gern erfahren, wieso ein Kind ihrer Stadt zum Terroristen wird.«
»Vielleicht hat der hier keine Lehrstelle gefunden«, sagte Asbeck und lachte selbst am lautesten. Asbeck ist Sportredakteur. Trinkt ein bisschen viel. Alle wieherten los, während Hösel das Blut ins Gesicht stieg.