Es war im Sommer 1951, als wir mit dem Fahrrad von Landquart nach Schiers fuhren. Paul radelte dreissig Meter vor mir. Ein Bismarck Herrenfahrrad mit Dreigang Nabenschaltung und Felgenbremse, Baujahr 1948. Als wir es beim Landquarter Fahrradhändler Reifler gebraucht kauften, sagte er, es sei zu alt für ihn. Er kaufte es trotzdem, weil es rot war. Ich dachte mir, mit diesem Fahrrad wird er auffallen. Deshalb sagte ich zu ihm, du siehst gut aus mit dem Rad und es macht nichts, dass es gebraucht ist. Auch gebrauchte Dinge haben ihren Reiz. Ja, ja, meinte Paul, drückte Reifler die zerdrückte Zwanzigernote in die Hand, auf der ein Bild von Heinrich Pestalozzi im Frack zu sehen war, und stieg aufs rote Rad. Für Paul war alles zu alt, was älter als zwei Jahre war. Bei Paul hatte alles ein Ablaufdatum. Die Armut im Krieg hatte ihn geprägt und deshalb hatte er sich neue Ziele gesetzt. Nicht nur die Ziele, alles musste neu sein. Die Farbe unseres Hauses in Schiers, Paul hatte sich für ein harmloses Hellblau entschieden, die Vorhänge im Wohnzimmer, seine Vespa, aber auch seine Arbeitsstelle. Paul hatte in jungen Jahren als Gärtner gearbeitet, wollte dann im Zuge des Aufbaus nach dem Krieg Staubsaugervertreter für die Vorwerk & Co in Deutschland werden und verkaufte von seiner Filiale aus, das war unser Keller, den «Kobold», einen leichten Handstaubsauger, der aussah wie ein brauner Schrubber mit rundem Motorkopf vorne und abnehmbarer Staubtasche hinten. An diesem Nachmittag waren wir eigentlich nicht in Eile. Trotzdem drehte Paul stetig den Kopf nach hinten und schrie mich an, kum ändli! Ich blickte nach vorne. Rechts und links vor uns das Prättigau. Hohe Bergketten säumten die kleine Landstrasse, von der nichts zu erwarten war ausser ein paar langweiligen Häuserreihen weiter hinten, dort, wo kein Städter mehr sein Auto parkierte. Ich schaute nach rechts zum Furna. Der Schäfelwald überdeckte den Berg dicht und unwirklich. Bärenfell, das bis nach nach Schiers hinunterwuchs. Nun fuhr Paul in den Rachen des Schattens hinein, rechts von uns der Rücken des Furna, düster über der breiten, schwer fliessenden Landquart. Schwarzes Wasser unter dem Furna.
Damals, an diesem Nachmittag, fiel es mir das erste Mal auf. Der Furna schluckte täglich unser Licht und machte das Wasser schwarz. Was nützte es, dass die Sonne schien? Das Wetter in Schiers war immer Schatten. Bei Sonne Schatten, bei Schnee Schatten, bei Regen. Es müsste einen geben, der da mal eine Schneise rausschlägt aus dem Furna. Ein listiger Riese, der den Berg abträgt, dachte ich, damit wir Sonne haben. Vielleicht aber wollen die Leute in Schiers gar kein Licht, damit niemand die verwohnten Häuser sieht und die vernachlässigten Gärten, in denen keine Blumen mehr wachsen ausser Schattengewächsen wie der Primel, der Japansegge und dem Wurmfarn. Dabei hatten hier die Häuser heimlich Augen. Jedes Fenster war ein Auge. Ich wollte nie in diesem Dorf leben, in dem der Schatten wohnt und der Riese die Menschen vergessen hat. Und Paul wollte es auch nicht. Aber wir taten es trotzdem, weil wir viele Entscheidungen gegen unsere Gefühle trafen. Wir fanden das richtig. Wir wurden dazu erzogen und nannten es Vernunft.
Ich trug ein weites Sommerkleid mit breitem Kragen und tiefem Ausschnitt aus gestreiftem Stoff. Der hellblauweisse Stoff flatterte lustig neben mir her, während ich strampelte und die Sonne mich anblitzte. Meine Füsse traten eilig in die Pedale und mein altes Damenfahrrad ratterte und schepperte über die schmale Strasse und ächzte unter meiner Eile. Bei jedem Treten berührte die Kette das Schutzblech. Das Schleifen begleitete mich. Ich fuhr ohne Schuhe, weil ich gerne barfuss auf dem Rad sass, die kalte Luft zwischen den Zehen hindurchfliessen liess, als würden sie atmen. Es blitzte über mir, Schatten und Sonne wechselten sich ab. Jetzt verliess auch ich die Sonne und die Luft an den Füssen fühlte sich noch viel kühler an. Paul war hinter einer Abzweigung verschwunden. Er fuhr immer viel zu schnell, war immer in Eile, hängte mich immer ab, auf dem Rad, im Leben, in seinen Gedanken. Meine weissen Sommerschuhe lagen hinten auf dem Gepäckträger. Sie waren eingeklemmt.
In Schiers fuhr ich an der Evangelischen Mittelschule und an der kleinen reformierten Kirche vorbei. In diesem Dorf schien sie jedoch sehr gross. Paul war längst ausser Reichweite und ich hielt einen Augenblick an und stellte meine nackten Füsse neben das Fahrrad. Mitten im Sommer fühlte sich der Boden kalt an. Mein Rock flatterte ein wenig im lauen Wind und die Kälte legte sich auf meine Arme. Ich sah hinüber zur Kirche. Sie war gross und weiss mit riesigen Fenstern im Schiff. Ich mochte dieses Gebäude sehr. Besonders den Friedhof mochte ich, auf dem ich immer wieder die Verstorbenen besuchte. Ich mochte das Schweigen auf dem Friedhof wie auch meine Gedanken. Ich dachte über Vergangenes nach, über Zukünftiges. Über Gegenwärtiges wollte ich aber nicht nachdenken. Und ich hatte Mitleid mit dem Tod. Der Tod, dachte ich, wird verkannt. Warum ist da niemand, der ihn genauer betrachtet? Er ist doch friedfertig und verlässlich. Ich mochte das Schweigen auf dem Friedhof und ich mochte die Gespräche mit den zahlreichen melancholischen Hinterbliebenen, die ihre frischen Blumen vorsichtig auf die Gräber setzten. Auf dem Friedhof sprachen die Leute nur über Vergangenes. Ich mochte Stilles und Vergangenes und Hinterbliebenes. Der junge Pfarrer war still. Manchmal setzten wir uns nebeneinander auf die Bank vor der Kirche und blickten in Richtung des Dorfes Fanas, auf das die Sonne prallte. Dort oben waren sogar die Häuser glücklich. Niemand hätte sich zwischen den Pfarrer und mich setzen können. Wir sassen eng, aber nicht anstössig. Immer sassen wir im Schatten, aber es war warm, weil wir die Sonne in Fanas sahen und die Häuser, die sich darin wärmten, und wir wärmten uns an unserer unausgesprochenen Einigkeit. Ich wusste seinen Namen nicht, aber er kannte meinen. Aber er nannte mich nie beim Namen, weil wir nur unsere Gesichter kannten. Das genügt. Es ist schön, wenn ein Gesicht genügt. Sein Gesicht war braungebrannt und seine zusammengewachsenen Augenbrauen lagen wie ein Hausdach in seinem freundlichen Antlitz. Die Augen etwas schief, tief gefurcht an den Rändern, weil er oft in den Bergen wanderte und die Sonne seine Haut ledrig werden liess. Und wenn er mich ansah, dann blitzte eine Herzlichkeit auf, die mich besänftigte, bis ich ihn wiedersah. Fanas war ein schönes Dorf. Die Häuser lagen wild auseinander, so, als hätte sie der Riese wie Würfel fallen lassen. Am Sonnenhang. Ich blickte hinüber und spannte mit meinen Augen einen Faden zwischen dem düsteren Berg, dem glänzenden Fanas und dem matten Schiers, und dann versuchte ich mir vorzustellen, wie es wäre, über diese Fäden zu gehen und Schiers von oben zu betrachten. Auch der Pfarrer wäre froh gewesen, wenn die Kirche etwas mehr Licht bekommen hätte in ihre grossen Barockfenster. Ich spürte es, aber er sagte es nie. Wenn man nur ein wenig Sonne von Fanas hätte nach Schiers bringen können. Mit einer Brücke vielleicht. Die Brücke aber war viel weiter oben. 1930 war die Salginabrücke gebaut worden. Schiers war stolz darauf. Ein Monument für ein Schattendorf. Die Brücke oben am Sonnenhang zwischen dem Bärenfell über der Salgina fror nie.
Aber wir taten es. Dem Pfarrer machte es nichts aus, weil er den grossen Furna bereits bezwungen hatte. Vielleicht dreizehn oder vierzehnmal. Die Sonne hatte er hinter dem Furna entdeckt, sie war da und kein Hirngespinst. Das hatte er mir erzählt, als wir vor der Kirche Fäden spannten und ein Flugzeug beobachteten, das über unser Dorf zog und die Fäden durchschnitt. Es gab Sonne da oben, hinter dem grossen Berg. Das hatte den Pfarrer beruhigt. Klaglos, ja fast beseelt, sprach er, da hinten, da ist das Licht. Vielleicht hätte ich auch den Berg erklimmen sollen, dachte ich damals. Ich wäre gerne durch die Bärenfelle gewandert und hätte die Felsen besteigen wollen, um Wärme und Licht einzufangen. Ich wäre gern ein Mann gewesen, aber das wollte niemand wissen. Es blieb mein Geheimnis, wie auch das Schreiben. Im Schreiben fühlte ich mich wie ein Mann. Vollständig, erfüllt, selbstsicher.
Mein Schreiben war männlich. Die Beziehung zwischen dem Pfarrer und mir war platonisch. Wir sprachen über Literatur, über Theologie und über wissenschaftliche Themen. Diese Themen beflügelten uns und wir stellten fest, dass wir wuchsen wie kleine Kinder, die in der Schule das Lesen lernen. Wir lernten Schillers Gedichte auswendig und zitierten sie uns gegenseitig, entwickelten Geschichten, die wir aufschreiben wollten, oder sprachen über Gott. Mit der Zeit drangen wir in die Tiefen vor und tauschten Bücher aus. Wenn ich meine Bücher zurückbekam, hatte ich seine Notizen in meinem Buch. Er schrieb mit Bleistift direkt zwischen die Zeilen: Unpräzise! Wichtig! Margrith fragen! Und dann fragte er mich beim nächsten Treffen, und wir sprachen über die Gedichte von Goethe aus «Das Leben, es ist gut», oder über Franz Werfels «Ein Lied für Bernadette». Manchmal sprachen wir über Buchtexte wie über ein Kochrezept. Es schien uns leicht von den Lippen zu gehen und wir waren uns in vielem einig. Die Worte fielen uns nur so aus dem Mund und es machte uns Freude, unsere Gespräche ins Unmögliche abdriften zu lassen. Damals spürte ich seit Langem wieder einen neuen Raum, dem ich einen Namen geben konnte. Ich nannte ihn Freude. Ich spürte Leben in mir, eine Leidenschaft für etwas, das mich faszinierte. Und wenn wir über Goethe sprachen, durchfuhr mich eine Wärme, die ich in den vielen Jahren mit Paul schon längst abgelegt hatte.
Ab und zu fragte mich der Pfarrer zum Abschluss unseres Gesprächs tatsächlich nach einem Kochrezept, da er für seine Haushälterin Rezepte sammelte. Ich liebe Rindfleischgeschnetzeltes und Rösti, mag Kartoffelgratin mit Kalbshaxen und Birchermüsli und Bergkäse auf Bramata (Maiskuchen). Und dabei sah ich auf seinen Mund, der vor lauter Lust auf Essen zu tropfen schien. Dabei lächelte er und sein Wohlwollen nahm überhand in meinem Bauch. Manchmal war ich eifersüchtig auf seine Lust auf Käse, dass ich dachte, welches Recht nimmt sich der Käse heraus, den Pfarrer von mir abzulenken? Und wenn wir genug über Essen und Geschmack geredet hatten, lehnten wir uns mit dem Rücken an die kühle, weisse Kirchenwand, blickten ins Blaue und lauschten der Rhätischen Bahn, die durch die Prättigauer Dörfer kroch und dabei schnaufte. Einmal sagte der Pfarrer, Schwimmschnee ist gefährlich, aber er ist auch wunderschön. Siehst du ihn da oben? Und ich sah nach oben auf die Berggipfel und das Weiss blendete so wie der Pfarrer meine Sinne.
Ich habe mir tausendmal überlegt, was ich sagen würde, wenn Paul mich mit dem Pfarrer auf dem Friedhof erwischte. Ich legte mir drei Antworten zurecht. Erste Antwort: Ich treffe den Pfarrer, weil er mich mag, wie ich bin. Zweite Antwort: Ich sehe den Pfarrer, weil er die Sonne kennt hinter dem Berg. Dritte Antwort: Ich habe ihm ein Rezept gebracht.
Nichts schien mir aber am Ende überzeugend.Ich hätte wohl einfach schweigen müssen, wenn Paul dahintergekommen wäre. Denn Paul hätte alle drei Antworten nicht verstanden. Er hätte mich lächerlich gemacht. Deshalb behielt ich meine vorgefertigten Antworten für mich. Mit Schweigen kannte ich mich aus. Auch meine Mutter wusste damit umzugehen und meine Grossmutter erst recht. Das Schweigen wurde in unserer Familie weitervererbt. Das Schweigen meiner Mutter war eher ein würdevolles Schweigen, während das meiner Grossmutter bis zu ihrem Tode ein verbissenes, erdrückendes gewesen war. Meines war damals noch ein anerzogenes, höfliches Schweigen. Frauenschweigen. Ein genehmigtes Schweigen. Am Anfang unserer Ehe hatte Paul meinen Redefluss kontrolliert und mir Schweigen verordnet, da meine Worte nicht immer in sein Lebensmuster passten. Indem ich begann, die Leute genauer zu beobachten, fand ich mich mit dem höflichen Schweigen ab. Ich schwieg im Dorfladen, wenn Jugendliche Süssigkeiten stahlen, ich blieb stumm, wenn die Kinder stritten, und ich schwieg, wenn Paul Hand an mich legte. Ich hoffte aber, dass sich mein Schweigen im Laufe der Ehe verändern würde. Deshalb trug ich es still mit mir herum wie in einer Tasche, die sich irgendwann öffnen würde, wenn er es mir endlich erlaubte. Eine Tasche mit Ungesagtem und mit Erlaubtem. Und wenn sie sich öffnete, wusste niemand so genau, was ihn erwartete. Beim Pfarrer vergass ich mein Schweigen, und ich tauschte mit ihm Dinge aus, die Paul nie hätte hören wollen. Ich traf mich trotzdem jede Woche zweimal mit dem Pfarrer, wenn die Kinder in der Evangelischen Schule waren, und besprach mit ihm Texte.
Erwin hat eine furchtbare Handschrift, schimpfte ich, und der Pfarrer nickte. Magdalena hat der Nachbarin die Blumen aus dem Garten abgepflückt, fuhr ich fort, und wieder nickte er. Dabei wurde er abgelenkt vom Bauer Gredig, der mit seinen Kühen vorbeiwanderte. Bim, bim. Die Glocken läuteten vertraut.
Paul tauschte nie. Unsere Beziehung verlief von Anfang an nebeneinander her. Er besorgte das Geld. Ich versorgte die Kinder. Er besorgte Benzin für seine Vespa. Ich versorgte den Haushalt. Er besorgte es anderen Frauen. Ich versorgte die Hasen im Garten. Und dabei schwieg ich mürrisch, weil Paul mich liederlich betrog. Er sparte sich die Kraft, den Betrug vor mir zu verheimlichen. Die Frauen machten mir weniger aus als der lässige Betrug. Alles zeugte von Nachlässigkeit. Lippenstift auf den Hemden, fremdes Parfum an seiner Hose. Wenn er sich nur ein wenig mehr Mühe gegeben hätte mit dem Fremdgehen, dachte ich, wenn ich seine Sachen in der Wäschetonne im Garten wütend ertränkte. Ich wünschte mir, dass er die verschmutzten Laken wechseln, die Damenunterwäsche unter seinem Kissen wegräumen würde, wenn er mit den Frauen in unserem Bett lag, während ich mit dem Pfarrer zusammensass. Anfangs irritierte mich die ausgebleichte Spitzenunterwäsche, die ich unter dem Kissen oder unter dem Bett fand. Doch mit der Zeit gehörte sie zu meinem Leben, als gehöre sie mir. Ich sammelte sie in einer Zigarrenschachtel und dachte, warum behalten die Frauen ihre Wäsche nicht, denn sie ist schön. Die anfängliche Irritation wich einer Faszination für die Schönheit dieser Wäsche. Mit der Zeit stellte ich mir vor, die Frauen seien meine Schwestern, die ich nicht kannte, aber die auch nur ihr Leben auf die bestmögliche Weise verbrachten, so wie ich. Die über die Runden kommen wollten, ohne jemandem wehzutun. Mein Leben wurde dabei nicht mehr so wichtig. Ja, ich fühlte mich bei diesen Gedanken sogar entlastet. Ich spürte, dass meine Phantasie vielleicht ein Irrtum war, aber dieser Irrtum gefiel mir. Er passte sich meinem Leben an, und er hatte diese beruhigende Wirkung. Der Irrtum war wie eine Droge, die ich mir selber zuführte, um mich ruhigzustellen, damit ich meine Familie zusammenhalten konnte. Die Entscheidung, bin ich nun böse auf Paul oder füge ich mich, entfiel. Ich wurde als Richterin und gleichsam als Zeugin überflüssig. Nichts mehr musste bezeugt werden, niemand musste angeklagt werden, alles lief unberührt weiter. Das Kochen, das Backen, das Aufräumen, das Erziehen, das Liebkosen der Kinder, das Waschen der Wäsche. Mit der Irrtumsdroge konnte ich gut leben. Vielleicht zwei Monate, vielleicht drei. Damit blieb ich standhaft und konnte atmen. Nachts hatte ich zwar diese Träume, in denen ich von der Brücke fiel, aber den Träumen mass ich mittlerweile keine Bedeutung mehr bei, weil ich mich gleich bei Tagesbeginn mit meinem Irrtum ruhigstellte.
Am Essen fehlte es uns nie. Während des Zweiten Weltkriegs fuhren viele Städter aus Chur mit dem Zug zu uns aufs Land, da wir Hasen und Kartoffeln verkauften. Manchmal tauschten wir auch Dinge. Aber nur, wenn der Tausch Sinn machte. Ich weiss noch, wie uns eine Familie mit drei Kindern an einem Januarabend 1943 besuchte. Die Frau hatte schlechte Zähne und sprach nur Italienisch. Sie musste eine ausgewanderte Tessinerin aus Chur gewesen sein. Und sie wollte Hase. Ich sprach kein Wort Italienisch, aber auch, wenn ich die Sprache beherrscht hätte, hätte ich die Frau kaum verstanden. Ihr fehlte vorne rechts einer der Schneidezähne. Levre, mansiare, Levre, sagte sie und zeigte auf unsere Hasen im Käfig. Sie drückte mir eine alte Rolex mit Goldarmband in die Hand. Ich überlegte: Was sollte ich mit einer Rolex, wo sich die Zeit schon längst mit der Saumseligkeit gepaart hatte? Ich gab sie ihr wieder zurück und schenkte ihren Kindern einen Hasen. Sie freuten sich über das Geschenk und setzten ihn in eine Tasche. Ich hatte damals gedacht, Hasen haben bessere Zähne als die Frau, trotzdem wird er in der Pfanne landen und nicht sie.
Ein intelligenter Psychologe aus der Stadt Bern hatte mal gesagt, dass Menschen, die mit Tieren leben, ihre Physiognomie nach vielen Jahren der des Tieres anpassen. Das erzählte mir meine Nachbarin Edith, die mir abends meist die ausgelesene Zeitung herüberbrachte. Manchmal musste ich auch einen Tag darauf warten, was mich jedoch nicht störte. Die Zeitlosigkeit führte sogar dazu, dass ich manchmal am Kiosk nach dem Wochentag fragen musste. Seit ich von der Ähnlichkeit von Mensch und Tier wusste, ertappte ich mich dabei, meine Nachbarin Trudi mit ihren Ziegen zu beobachten. Immer, wenn sie neben den Ziegen stand und ihnen freundschaftlich den Kopf tätschelte, musste ich im Vorbeiziehen die Gesichter vergleichen. Die Nase hatte keinerlei Ähnlichkeit, aber die weissen Wimpern der Ziegenaugen waren denen von Trudi zum Verwechseln ähnlich. Trudi hätte sich wohl geweigert, so was zu glauben. Hier glaubte sowieso niemand an die Wissenschaft, und an den Fortschritt schon gar nicht. Ich dachte, wenn sie schon so aussieht, wie sehe ich dann in zehn Jahren aus, wenn ich immer die Hasen füttere? Die Gesichter unserer Bauern hätten der Wissenschaft bestimmt grosse Dienste geleistet. Die hatten alle dieselbe bullige, rote Stirn. Ob die Stirn mit dem Eigensinn wachse, wollte ich mal von Edith wissen. Unsere Bündner Männer haben da vorn verhornte Sturhaut, meinte Edith lakonisch und tippte sich an die Stirn. Isch doch glatt, lachte sie.
Das Schafescheren war eine Wissenschaft für sich. Zweimal im Jahr wurden die Schafe im Dorf kahl rasiert. Im April und im September. Erst wurde das Schaf angebunden, dann wurde es vom Rücken her geschoren. Mit der einen Hand zog der Schafscherer die Haut straff und drückte das Fell nach unten, bis es zu Boden fiel. Dann waren Flanke und Vorderbeine dran, danach der Hintern. Danach die andere Seite und Hals, Ohren, beim Euter musste er besonders vorsichtig sein. Wenn er fertig war, brachten die Bauern die Wolle mit dem Traktor in die Tuchfabrik Trun und dort machten sie Wollgaze, Wollmousselin und Wollkrepp daraus und verkauften es in die ganze Welt.
Ich berührte die dicke, fette, warme Wolle in den Körben des Bauern und dachte, ich bin diese Wolle und reise nach Luxemburg, Schweden und Finnland.
Als ich abends nach Hause kam, stand Paul in der Tür. Wo warst du schon wieder? Kannst du nicht die Hausarbeit erledigen und dich um die Kinder kümmern? Das macht doch keine Arbeit! Und dann hob er die Finger und zählte auf.
Paul sagte, Waschen in nicht der Rede wert Paul sagte, Kinder erziehen ist Kleinarbeit Paul sagte, Kochen kann jeder
Paul sagte, Putzen ist unwesentlich
Paul sagte, Wischen ist nicht erwähnenswert
Paul sagte, Mütter sind langweilig
Paul sagte, Fenster reinigen ist Fleissarbeit
Paul sagte, Einkaufen macht keine Arbeit
Paul sagte, Männer haben mehr Verstand
üühalt doch ändlich mal d Schnorre du huere Nogge.