Train the Trainer
Arbeitshandbuch für Ausbilder und Dozenten
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21. Auflage 2014
© 2011 by mi-Wirtschaftsbuch, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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Umschlaggestaltung: Jarzina Kommunikations-Design, Holzkirchen
Satz: HJR, Sandra Wilhelmer, Landsberg am Lech
Druck: CPI Ebner & Spiegel, Ulm
ebook by ePubMATIC.com
ISBN 978-3-86416-188-9
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Dem Andenken meines Vaters,
Prof. Dr. Michael Birkenbihl,
der ein hinreißender Pädagoge war
und mir die Freude am Lehren hinterließ
Inhalt
Vorwort zur 20. Auflage
Vorwort zur 12. Auflage
Vorwort zur 1. Auflage
1 Vom Individuum und seinem Verhalten
Test-Aufgabe 1
2 Das Individuum in der Gruppe
Test-Aufgabe 2
3 Kommunikation im Seminar
4 Vom Lernen und Lehren
Anatomische Voraussetzungen des Lernens
Gehirnforschung – und deren Konsequenzen für die pädagogische Praxis
5 Lernzielbestimmung
Anhang 1: Wie man einen Test erstellt
Anhang 2: Das »Gefühlsrad«
6 Wie man ein Seminar plant und durchführt
7 Rollenspiele und Fallstudien
Die Praxis des Rollenspiels und seine Bedeutung.
Das Soziodrama – noch effektiver als das Rollenspiel!
Wesen und Wert von Fallstudien
Anhang 3: Training mit dem Video-Recorder
8 Das Lemniskate-Training
Zur Einführung: ein neues Paradigma
Die theoretischen Grundlagen des Lemniskate-Trainings
Beispiele zur Visualisierung einzelner Unterrichtsthemen
Umsetzung in die Praxis
In eigener Sache: Credo
Lösungen
Literatur
Rollenspiele, Soziodramen und Fallstudien.
Register
Autoreninformation
Vorwort zur 20. Auflage
Als ich dieses Buch zum ersten Mal in Händen hielt, hatte es noch einen weißen Einband und entsprach seinem damaligen Untertitel: Arbeits-BÜCHLEIN für Ausbilder und Dozenten. Mein Vater hatte es seinem Vater (Professor Michael Birkenbihl) und dessen didaktischem Talent gewidmet. Das war Ende 1972 – ich war nach sieben Jahren USA gerade heimgekehrt und hatte mein erstes eigenes Buch angefangen. Damals begannen einige wenige wie Jan WAAGE (aus Holland), Heinz GOLDMANN, Nikolaus ENKELMANN, mein Vater und ich, die deutsche Seminarszene aufzubauen. Noch kannte man Schulungen kaum. Psychologische Schulungen (Verhandlungstaktik, Einstellung zum Erfolg, Motivationsfragen etc.) waren in den USA entwickelt worden, und wir waren beide »drüben« gewesen (ich, um zu studieren; er 18 Monate lang, um sich in puncto berufsbegleitende Weiterbildung umzusehen). Denn hier gab es damals nur rudimentäre Produktschulungen. Mein Vater erzählte aus dieser Zeit gern ein Beispiel von einem fleißigen, aber völlig »unfähigen« Wachmaschinenvertreter: Tagsüber machte er Termine für abends, damit er dem Ehepaar gemeinsam die Maschine vorführen konnte. Diese schleppte er dann persönlich in die Wohnung, oft auch Treppen hinauf (Lifte gab es kaum), und wusch die Wäsche des Hauses. An jenem denkwürdigen Abend merkte er zu spät, daß der Ehemann ein Kumpel aus dem Kohlebergbau war, dessen Kleidung dementsprechend aussah, während sein Waschmittelvorrat bereits auf die Hälfte der laut Hersteller geforderten Menge zusammengeschrumpft war. Er war völlig verzweifelt. Da das Wasser aber schon in der Maschine war (damals ein umständlicher Prozess), gab es kein Zurück mehr. Also lief der Waschgang ab. Als dieser nun vorbei war, nahm er das erste Kleidungsstück, setzte es in die Wringe ein und begann, die Kurbel zu drehen. (Damals war gerade eine Deluxe-Variante auf den Markt gekommen mit zwei Holzrollen, durch die man die Kleidungsstücke pressen konnte, so daß die meiste Feuchtigkeit ohne Auswringen in die Maschine zurückfloss.) Er hatte solche Angst vor dem Ergebnis, daß er WEGSCHAUEN mußte. Da hörte er die Frau rufen: »Schau mal, so sauber waren deine Kleider noch nie!« Später wurde dieser Verkäufer erst Gebietsleiter, dann oberster Verkaufschef für Deutschland. Die Moral der Geschichte für die TeilnehmerInnen meines Vaters war natürlich, daß man nichts verkaufen kann, an das man nicht selbst glaubt. Wir entnehmen der Geschichte hingegen die miese Qualität sogenannter Produktschulungen, bei denen die Betreffenden oft die wahren Stärken ihrer Produkte überhaupt nicht kennenlernen. Wenn mein Vater diese Story aber im Management-Seminar erzählte, dann immer, um klarzustellen, daß Firmen den dringenden Bedarf an Training nicht wahrhaben wollen, weshalb in jeder Krise als erstes an diesem Budget herumgestrichen wird. Und das Schlimme ist: Diese klassische Einstellung des Industrie-Zeitalters beginnt erst jetzt, 40 Jahre später, ein wenig aufzuweichen. Einige Firmen haben inzwischen begriffen, daß das Wissenszeitalter begonnen hat und daß die Bedingungen zukünftig ganz andere sein werden. Gute Kopfarbeiter brauchen Schulung. Darum ist die Erwachsenenschulung eine »aufsteigende« Branche und, wenn Sie etwas zu »bieten« haben, auch eine sichere. In Krisenzeiten wird nämlich die Spreu hinausgeblasen, während der Weizen bleibt. Dieses Buch kann Ihnen helfen, »Weizen« zu werden, wie die bisher über 50.000 verkaufte Exemplare zeigen!
Osterholz-Scharmbeck, Februar 2011 | Vera F. Birkenbihl |
Vorwort zur 12. Auflage
Von diesem Buch, das sich vom kleinen »Arbeitshandbuch« zum Standardwerk im deutschsprachigen Raum gemausert hat, sind mittlerweile über 33.000 Exemplare verkauft worden, vorwiegend durch Empfehlung von Trainer zu Trainer. Daneben gibt es bisher drei spanische Ausgaben. Dieser Verkaufserfolg wäre nicht zustande gekommen, wenn das Buch nicht einen echten Bedarf abdecken würde.
Der Grund für die überregionale Verbreitung dieses Trainer-Handbuches hat vermutlich zwei Wurzeln: Zum einen gehen immer mehr Großunternehmen dazu über, Fachleute als »Trainer« einzusetzen. Das sind Menschen, die bereits eine Funktion in der Firma haben, und »nebenbei« schulen sie mehrmals pro Jahr und mit großem Enthusiasmus neue Mitarbeiter; oder sie werden für die Fortbildung der Stammbelegschaft in Spezialbereichen eingesetzt, z. B. über den Zugang zum Internet.
Zum anderen wird »das Trainieren« immer schwieriger. Heutzutage finden kaum noch allgemeine Führungs- oder Verkaufsseminare statt. Deshalb kann man als Trainer keine 08/15-Seminare mehr »abspulen« wie in den »goldenen 60er Jahren«. Die Regel ist in diesen Zeiten des Umbruchs und des immer härter werdenden Wettbewerbs, daß es in einer Firma eine ganze Reihe von psychologischen Problemen gibt. Und Teilnehmer, die in ein Seminar geschickt werden, erwarten vom Trainer auch eine Lösung ihres speziellen (menschlichen) Problems. D. h. im Klartext: In einer Zeit, in der als Folge der »Rationalisierung« immer weniger Mitarbeiter ständig steigende Leistungen erbringen müssen, ist einfach keine Zeit mehr übrig, um Seminare zu besuchen, die außer »allgemeinem Führungs- und Verkaufs-Blabla« nichts bringen. Vor allem deshalb nicht, weil längst erwiesen ist, daß es weder ein Führungsstil- noch ein Verkaufsgesprächs-Modell gibt, das allen Situationen gerecht wird. Menschen, die wir führen, motivieren oder überzeugen wollen, sind nun mal keine Roboter. Deshalb kann man ihnen, ganz speziell als Trainer, auch nicht gegenübertreten, als hätte man ein »Programm« parat, nach dessen Eingabe Seminarteilnehmer sich so verhalten, wie man es als »der große Guru« vorausgesagt hat. Wer dies als (angestellter oder freiberuflicher) Trainer erkannt und akzeptiert hat, sollte sich auch über die daraus resultierenden Konsequenzen klar sein:
Zu diesen Forderungen findet jeder Leser dieses Buches, auch jener »blutige Laie«, der ohne Ahnung von Pädagogik zu schulen beginnt, wissenschaftlich fundierte und praxiserprobte Hinweise. Wie viele wertvolle Tips in diesem Buch stehen, merkt man erst, wenn man zum wiederholten Male suchend darin blättert.
Die Trainingsvariante des 8. Kapitels auf esoterischer Grundlage wurde mit professionellen Trainergruppen im Seminar erprobt und darüber hinaus als Manuskript-Druck an weitere 60 Kollegen verkauft. Die Aufnahme war positiv. Wer diese Variante für seine Seminare übernehmen will, muß sein bisheriges Konzept bis zu einem gewissen Grade ändern. Und zu einer Verhaltensänderung sind immer nur wenige bereit. Aber wem sage ich das …
Den Abschluß des 8. Kapitels bildet mein »Credo«, in dem ich darzulegen versuche, wie in meinen Augen der Trainer des Wassermann-Zeitalters, der »Über-Trainer«, aussehen sollte. Das bedeutet aus meiner Sicht: Man muß sich sehr hohe Ziele stecken, um beruflich erfolgreich zu werden und zu bleiben; und man sollte über all dem Erfolgs- und Gewinnstreben nicht aus den Augen verlieren, daß wir auch eine Psyche haben, die ständiger Aufmerksamkeit bedarf. Das verstehe ich unter der Lemniskate-Balance. Denn: Ein Trainer ohne innere Harmonie kann bei den immer härter werdenden Berufsbedingungen kein Identifikationsobjekt sein!
Ich wünsche mir, daß mein Train the Trainer auch künftig »Einsteigern« in diesen schönen Beruf eine gute Starthilfe sein möge und daß dieses »Arbeitsbuch« darüber hinaus auch »alten Hasen« neue Anregungen vermitteln möge. Denn es gibt kein Gebiet des Lebens, dem man nicht, aus wechselnden Perspektiven, immer wieder neue »Spiel-Nuancen« abgewinnen könnte!
Odelzhausen, Februar 1993 | Michael Birkenbihl |
PS zur 16. Auflage
Auf den Wunsch meines Vaters werde ich seine Werke weiterhin betreuen. Deshalb halten Sie jetzt die aktualisierte 16. Auflage dieses Werkes in Händen. Es hätte ihn sehr gefreut, daß dieser Longseller nach wie vor Menschen helfen kann, die den Auftrag verspüren, andere Menschen weiterzubilden. Seines Erachtens ist dies eine der schönsten Aufgaben, die ein Mensch übernehmen kann. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und Ihren Teilnehmern viel »Wachstum«.
Aufgrund der hohen Nachfrage nach Literatur für Trainer im europäischen Raum sei an dieser Stelle angemerkt, daß dieses Buch auch in Spanisch (Formación de Formadores) erhältlich ist.
Odelzhausen, Januar 2001 | Vera F. Birkenbihl |
PPS zur 17. Auflage
Es wird manche LeserInnen stören, daß mein Vater durchgängig vom Trainer (und nicht von dem/der TrainerIn) spricht. Da die korrekte Schreibweise sich nicht leicht liest und immer noch die »mehreren« Trainer Trainer sind, haben wir die alte Schreibweise beibehalten. Ich bitte alle »…Innen« um Verständnis.
Odelzhausen, März 2002 | Vera F. Birkenbihl |
Vorwort zur 1. Auflage
Dies ist das Buch eines Praktikers für Menschen der Praxis. Geschrieben für all jene, die als Schulungsleiter, Seminarleiter oder Dozenten arbeiten, ohne unbedingt speziell dafür ausgebildet zu sein. Ihre Zahl ist stattlich …
Denken wir nur einmal an all jene, die in der Industrie eine Schulungsfunktion ausüben. Da werden Auszubildende, Meister, Verkäufer geschult und Führungskräfte »trainiert«. In der Regel von Menschen, die sich zunächst einmal »im Feld« ihre Sporen verdient haben. Aber besteht auch nur die geringste Gewähr dafür, daß ein ehemaliger »Star-Verkäufer« Neulinge zu erstklassigen Verkäufern umschulen kann? Die Praxis verneint diese Frage eindeutig.
Unbestritten ist der Idealismus, der gerade unter Schulungsleitern anzutreffen ist. Sie sind oft durchdrungen von ihrer Aufgabe, anderen »etwas beizubringen«. Und sie machen sich das Leben nicht leicht. Sie bereiten sich sorgfältig auf ihre Schulungsaufgaben vor, und vor jedem neuen Seminar haben sie Lampenfieber wie ein Bühnenschauspieler. Und trotz dieses konzentrierten Einsatzes bleibt ihnen oftmals der durchschlagende Erfolg versagt. »Unser Schulungsleiter? Ach ja, ein netter Mensch …«
Haben sie ihren Beruf verfehlt? Sind sie Versager? Nein! In den meisten Fällen wäre ein so hartes Urteil ungerecht. Wo liegen denn aber die Ursachen hierfür? Ganz einfach: Diese Menschen machen Fehler, ohne es zu wissen. Fehler, die sich ohne weiteres vermeiden ließen, wenn man nur wüßte, daß man Fehler macht und welche … Hier, genau an diesem neuralgischen Punkt, setzt dieses Buch an.
Was Ihnen hier vorliegt, ist eine »psychologische Pädagogik«. Keine Angst vor Fachausdrücken! Ich habe versucht, nur die unbedingt nötigen zu gebrauchen – nachdem sie eingeführt worden sind, versteht sich. Das Gelehrten-Chinesisch sei jenen überlassen, die nur für promovierte Fachkollegen schreiben. Es muß doch möglich sein – und es ist es in der Tat –, auch schwierige psychologische Zusammenhänge so darzustellen, daß sie jeder Laie begreift! Wobei ich unter einem »Laien« einen Menschen verstehe, der intelligent genug ist, das Lesen und Schreiben erlernt zu haben, und der irgendeine Berufsausbildung erfolgreich hinter sich gebracht hat. Wenn Sie bisher dazu in der Lage waren, für Ihre Firma hohe Umsätze zu erzielen, einer Gruppe vorzustehen oder aus Ihren Ideen Kapital zu schlagen, dann sind Sie auch intelligent genug, um dieses Buch mit Gewinn zu lesen!
Vielleicht hatte der eine oder andere von Ihnen beim Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses den Eindruck, da sei »zu viel Psychologie« drin. Allein diese Meinung würde erweisen, daß Sie die Lektüre der folgenden Seiten nötig haben! Zuviel kann man über Psychologie überhaupt nicht wissen … Und während viele Pädagogen sich auch heute nur darüber den Kopf zerbrechen, wie sie den Stoff möglichst geschickt vermitteln können, vergessen sie darüber das Wesentliche: daß der »Schüler« in erster Linie ein Mensch ist. Ein Mensch mit Bedürfnissen, Erwartungen, Hoffnungen, Ängsten. Jeder für sich ein Individuum – und dennoch an eingefahrene Verhaltensnormen gebunden!
Doch was heißt denn das: »Unterrichten«? Unterrichten heißt, einen Mitmenschen zu bewegen, alte Verhaltensmodelle zugunsten neuer aufzugeben. Nur wenn mir das gelingt, kann ich sagen: Die Schulung war von Erfolg gekrönt. Der Teilnehmer, der mein Seminar verläßt, ist nicht derselbe, der es betreten hat. Aus dieser Einsicht in das Wesen des Unterrichtens ergab sich der Aufbau dieses Buches zwangsläufig.
Wenn ich das Verhalten anderer Menschen beeinflussen will, muß ich zunächst einmal Klarheit über eine Grundfrage gewinnen: Was ist das überhaupt, »Verhalten«? Wodurch wird es bedingt? Wieso verhalte ich mich eigentlich so, wie ich mich verhalte? Wieso verhalte ich mich als einzelner anders als im Rahmen der Gruppe? Und wenn ich es mir schon zur Aufgabe gesetzt habe, andere zu beeinflussen, andere, die mir niemals alleine gegenüberstehen, sondern stets nur als Gruppe: Müßte ich da nicht auch wissen, nach welchen Gesetzen eine Gruppe agiert und reagiert?
Vielleicht hatten Sie beim Lesen dieses Fragenkatalogs bereits Ihr erstes »Aha-Erlebnis«! Vielleicht ist Ihnen schon klargeworden, warum Sie als Schulungsleiter nicht immer so erfolgreich waren, wie Ihnen dies als Wunschbild vorschwebte. Ja, ja – es ist schon so: »Wissen ist Macht!« Macht über andere in unserem konkreten Fall. Macht, deren Wurzeln aus Autorität, d. h. aber aus Überlegenheit und Überzeugungskraft, gespeist werden. Wohlan – werden Sie eine Autorität! Fangen Sie an zu lesen! Und fragen Sie sich bei jedem Satz: Inwieweit trifft dies auch auf mich zu? Habe ich mich bisher als Dozent so verhalten, wie es in diesen Zeilen empfohlen wird? Wenn nein – warum nicht? Wo lagen die Wurzeln meines Fehlverhaltens? Ich garantiere Ihnen schon jetzt: Sie werden das Buch nicht als derselbe aus der Hand legen, als der Sie es aufgeschlagen haben!
Und vergessen Sie bitte nicht: Dies ist das Buch eines Praktikers für Menschen der Praxis. Das Buch eines sogenannten »freien Dozenten«, der sich bei jedem Seminar in einer anderen Firma aufs neue bewähren muß. Die Erkenntnisse und Ratschläge, die ich Ihnen auf den folgenden Seiten vermittle, sind allesamt in der Praxis erprobt. Und nun viel Erfolg!
Michael Birkenbihl
1. Kapitel:
Vom Individuum und seinem Verhalten
Wir leben in einer Welt, zu deren hervorstechendsten Merkmalen die Kommunikationsschwäche gehört. In guter deutscher Umgangssprache heißt dies: es gelingt dem einzelnen immer weniger, eine fruchtbare Verbindung zu seinen Mitmenschen herzustellen. An diesem Zustand ist nicht etwa die oft bemühte Reizüberflutung durch die Massenmedien schuld, sondern eine Schwäche in der Persönlichkeitsstruktur jedes einzelnen. Denn wenn ich meiner selbst nicht sicher bin und nichts mit mir anzufangen weiß, dann kann ich mich auch nicht für andere engagieren. Da aber gerade das Lehren ohne ein starkes Engagement für die Lernenden undenkbar ist, kann man nicht über Pädagogik reden, ohne deren psychologische Grundlagen erarbeitet zu haben.
Psychologie heißt wörtlich übersetzt »Lehre von der Seele«. In der Psychologie unserer Tage handelt es sich praktisch um einen zweiteiligen Fragenkomplex, und zwar: um den Aufbau der Persönlichkeitsstruktur des Menschen und um seine daraus resultierenden Verhaltensweisen gegenüber seinen Mitmenschen. Dem Aufbau der Person widmet sich die sogenannte »Individual-Psychologie«. Mit ihr wollen wir uns in diesem Kapitel beschäftigen.
Wir haben uns daran gewöhnt, die menschliche Seele in zwei Abteilungen zu gliedern: das Ober- und das Unterbewußtsein. Obwohl natürlich innerhalb einer Person diese Zweiteilung nicht strikt stattfindet, weil Ober- und Unterbewußtsein sich wechselseitig bedingen, so hat sich doch diese Einteilung für pädagogische Zwecke ausgezeichnet bewährt. Uns geht es ja im Zusammenhang mit diesem Buch und im Hinblick auf seine Zielsetzung nicht darum, mit wissenschaftlicher Akribie spitzfindige Definitionen zu erarbeiten; vielmehr sollen die wesentlichen psychologischen Zusammenhänge so dargestellt werden, daß sie von jedem intelligenten Laien erfaßt und in die Praxis des Berufsalltags übernommen werden können.
Das Oberbewußtsein ist jene Kategorie der menschlichen Persönlichkeit, die vor allem durch die Denkprozesse bedingt wird. Etwas überspitzt und sehr vereinfacht können wir auch formulieren: Das Oberbewußtsein ist mit dem Denken identisch. Und obwohl wir uns alle auf unsere Intelligenz und unser Vermögen zum logischen Denken sehr viel einbilden, spielt das Oberbewußtsein im Ablauf des menschlichen Lebens eine recht bescheidene Rolle. Gesteuert werden wir durch unser Unterbewußtsein. Ihm wollen wir uns zunächst zuwenden, weil es in erster Linie für den charakteristischen Aufbau unserer Persönlichkeit zuständig ist.
Im Unterbewußtsein (oder wie manche Autoren sagen: im Unbewußten) sind die Triebe und Antriebe lokalisiert. Ein Trieb ist psychologisch definiert als ein Bedürfnis, dessen Nichtbefriedigung zum Tode führt. Derartige Bedürfnisse kennt der Mensch drei: Hunger, Durst und Schlaf. Wobei, nebenher bemerkt, der Schlafentzug am schnellsten zum Exitus führt. Die sogenannten Antriebe sind jene Kräfte, die uns treiben, etwas ganz Bestimmtes zu »wollen«. Es seien hier nur einige wesentliche hervorgehoben: Selbsterhaltungstrieb, Geschlechtstrieb, Mutter- beziehungsweise Bruttrieb, Machttrieb, Herrschsucht, Habgier. Schließlich entstehen im Unterbewußtsein auch die sogenannten »Aggressionen«. Auf sie kommen wir später noch zurück.
Ein ganz wesentlicher Tatbestand sei in diesem Zusammenhang ausdrücklich hervorgehoben, und zwar deshalb, weil er in der Praxis viel zu wenig berücksichtigt wird: Jeder Trieb beziehungsweise Antrieb ist mit Energie besetzt! Man kann den Menschen somit als lebendes Energiepotential betrachten. Und jeder, der einmal Gelegenheit hatte zu beobachten, wie ein Tobsüchtiger von mehreren kräftigen Männern gebändigt werden mußte, oder wer einen epileptischen Anfall bei einem Mitmenschen erlebte, hat eine schwache Vorstellung davon erhalten, wie ungeheuer groß dieses Energiepotential in uns ist! Dieses Potential hat der menschlichen Rasse (im Verein mit den Leistungen des Gehirns) nicht nur das Überleben auf diesem Planeten ermöglicht. Es stellt auch eine Garantie dafür dar, daß wir die Zukunftsaufgaben meistern werden – wenn wir diese Energie sinnvoll einsetzen! Tatsache ist jedenfalls, daß die meisten Menschen von ihrer seelischen Energie nur zu einem Bruchteil Gebrauch machen. Und das ganze Gejammere über den Leistungsdruck unserer Industriegesellschaft wirkt einfach lachhaft, wenn man weiß, welches Potential wir brach liegenlassen!
Energie hat, wenn sie erst einmal entstanden ist, die Tendenz, sich in Bewegung umzusetzen. Es gibt keine »ruhende Energie«. Deshalb treiben uns die mit Energie besetzten Triebe, etwas zu tun. Und dieser jedem Physiker selbstverständliche Tatbestand macht uns das Leben mit den Trieben so schwer. Denn alles, was im Unterbewußtsein angesiedelt ist – Triebe, Antriebe, Verdrängtes etc. – hat die Tendenz, sich rücksichtslos durchzusetzen – ganz gleich, wie unsere äußere Gesamtsituation beschaffen ist! Wir werden auf diese Gegebenheit noch zurückkommen.
Alles menschliche Handeln läßt sich durch folgendes Schema versinnbildlichen:
D. h.: Der Mensch hat ein Motiv (oder mit einem deutschen Wort: ein Bedürfnis); jedes Motiv ist aber zielorientiert. Und danach richtet sich dann unser Verhalten.
Dazu ein paar ganz einfache Beispiele:
Wenn wir also mehr über das menschliche Verhalten wissen wollen, über unser eigenes so gut wie über das unserer Mitmenschen; wenn wir, was ja noch wesentlicher ist, das Verhalten anderer Menschen richtig einschätzen, voraussagen oder verändern wollen – dann müssen wir mehr über die Bedürfnisse wissen. Ganz konkret gefragt: Welche Bedürfnisse hat der Mensch?
Wir können die menschlichen Bedürfnisse zunächst einmal grob in drei Kategorien einteilen:
Zu den physischen Bedürfnissen zählen jene Triebe und Antriebe, die unser Leben und die Erhaltung der Art sicherstellen: Hunger, Durst, Schlaf, Selbsterhaltungstrieb, Geschlechtstrieb.
Zu den sozialen Bedürfnissen zählen jene Antriebe, die dem Menschen das Leben mit seinen Mitmenschen, speziell in einer Gruppe, ermöglichen. Auf dieses Thema werden wir im 2. Kapitel näher eingehen.
Zu den psychischen Bedürfnissen zählen jene »höheren« Bedürfnisse, die der Mensch befriedigen muß, um sein Selbstwertgefühl zu steigern. Hierher gehören vor allem das Geltungsbedürfnis und der Drang nach Selbstverwirklichung.
Der amerikanische Psychologe A. H. MASLOW hat sich lange und eingehend mit den menschlichen Bedürfnissen beschäftigt. Seine Forschungsergebnisse schlugen sich in einer sogenannten »Bedürfnispyramide« nieder, die in vereinfachter Form wie folgt dargestellt wird:
MASLOW – und das ist das Interessanteste an seiner Theorie – spricht von einer Bedürfnis-Hierarchie. D. h., die Stufen seiner Pyramide, von unten nach oben betrachtet, symbolisieren gleichzeitig die Reihenfolge, in der diese Bedürfnisse befriedigt werden müssen.
Demnach hat für den Menschen zunächst einmal das Überleben absolute Priorität: Er braucht zu essen und zu trinken, muß eine Schlafgelegenheit haben und die Möglichkeit, sich fortzupflanzen. Dann strebt er danach, seine Existenz abzusichern. Früher tat er das, indem er sich in Höhlen oder Baumkronen einnistete, Pfahlbauten über dem Wasser errichtete oder feste Burgen auftürmte. Heute geschieht diese Absicherung vorwiegend in monetärer Weise: Der Mensch spart sich einen »Notgroschen« und schließt Versicherungen ab. Wenn nun die Existenz abgesichert ist, geht der Mensch daran, seine sozialen Bedürfnisse zu befriedigen: Er baut sich einen Freundes- und Bekanntenkreis auf, tritt Vereinen bei oder betätigt sich politisch. D. h., er betont seine Zugehörigkeit zur Gesellschaft, er integriert sich in sie.
Es gibt keinen Zweifel darüber, daß die meisten Menschen zufrieden sind, wenn sie die ersten drei Stufen der Bedürfnispyramide hinter sich gebracht haben. Wer so viel verdient, daß er sich den Lebensstandard leisten kann, der ihm seiner Ansicht nach zusteht, ein Auto vor der Tür hat und jedes Jahr eine Urlaubsreise nach Spanien oder Nordafrika machen kann, will in der Regel nicht mehr. Und nichts fürchtet er mehr, als daß in dieses System Unordnung, d. h. Unsicherheit, kommen könnte. Deshalb wählt auch der größte Teil unseres Volkes eine Partei, die unter dem Motto: »Keine Experimente!« verspricht, daß alles so bleibt, wie es ist. Denn Experimente auf politischer Ebene, wie z. B. Reformen aller Art, tragen stets das Risiko des Scheiterns in sich. Und ein derartiges Risiko möchten nur wenige eingehen. Die kleine »heile Welt«, bestehend aus Familie, Freundeskreis und gesichertem Arbeitsplatz, möchten die meisten ungefährdet sehen. Vom Standpunkt der Psychologie aus absolut verständlich.
Nun sieht MASLOW die 2. und 3. Stufe unter dem übergeordneten Aspekt »Liebe«. Und zwar einmal als Liebe im Sinne von »Geborgenheit«, zum andern als Liebe im Sinne von »Zuwendung« (siehe Graphik Seite 20!). Diese Betrachtungsweise führt uns wieder in die frühkindliche Entwicklung zurück. Der Säugling (und das Kleinkind) empfindet die mütterliche Liebe in diesem doppelten Sinne: Er braucht gleichermaßen das Gefühl des Geliebtwerdens wie das der Geborgenheit. Hat nun ein Mensch auf diesem Gebiet ein Defizit, d. h., ist er als Kind auf diesem Sektor zu kurz gekommen, agiert er mit zunehmendem Alter immer heftiger auf der 4. Stufe. Hier geht es um die Bedürfnisse des äußeren Ich. D. h., alles, was mit dem Status zusammenhängt, gewinnt erhöhte Bedeutung. Das Geltungsbedürfnis wird zum wesentlichen Motor unserer Handlungen! Ein Mensch, der ein zu großes Auto fährt, viel Geld in seine Wohnung (oder sein Haus) steckt, seine Kinder auf exklusive Internate schickt und im Berufsleben großen Wert auf ein eigenes Vorzimmer legt, versucht, das Defizit an Liebe durch äußere Erfolge wettzumachen. Ein Tatbestand, den der Volksmund durch den lapidaren Satz ausdrückt: »Wer angibt, hat’s nötig!«
Schließlich gibt es eine verschwindend geringe Anzahl von Menschen, die nach Befriedigung der vierten Bedürfniskategorie den Aufstieg in höchste Höhen planen: Sie verschreiben sich der Selbstverwirklichung, d. h. der Verwirklichung des inneren Ich. Auf dem Fuße einer kritischen Selbstanalyse verwirklichen sie sukzessive das Goethewort: »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!« Mit anderen Worten: Wer seine ererbten Anlagen und Dispositionen nicht gebraucht, läßt sie verkümmern. Was nützt einem Menschen angeborene Musikalität, wenn er nie ein Instrument spielt? Ein gutes Gedächtnis, wenn er nie eine Fremdsprache erlernt? Oder eine künstlerische Begabung, wenn er niemals zeichnet oder modelliert? Hinzu kommt der Aufbau eines ethischen Systems, das fürderhin zur Richtschnur allen Handelns wird. Es ist völlig klar, daß ein Mensch, der die Selbstverwirklichung auf seine Fahne geschrieben hat, damit niemals zu einem Ende kommt; er arbeitet an sich bis zum letzten Atemzug.
Zwei Erkenntnisse MASLOWs sind besonders relevant. Zum ersten: Der Mensch muß die Stufen dieser Pyramide der Reihe nach hinter sich bringen; d. h., er kann keine Stufe überspringen. Und zum zweiten: Wenn es dem Menschen schlechtgeht, fällt er zunächst auf die unteren Stufen zurück. Er verzichtet auf die psychischen und möglicherweise auch auf die sozialen Bedürfnisse. Erst wenn er die Stufen 1 und 2 von neuem bewältigt hat, interessiert er sich für »höhere« Motive (wenn überhaupt!).
»Ausnahmen bestätigen die Regel!« Denken wir an einen Künstler, der vom »Schöpferwahn« durchdrungen ist. Er arbeitet fanatisch, um der Welt »unsterbliche Werke zu schenken«. Es ist ihm völlig gleichgültig, was er ißt – solange er nur die Kraft hat, weiterzuarbeiten; es ist ihm gleichgültig, wie seine Behausung beschaffen ist; und es schert ihn den Teufel, was seine Mitmenschen über ihn denken – ob sie ihn für einen begnadeten Künstler oder schlicht für einen »Spinner« halten. Mit anderen Worten: Es wird immer Menschen geben, die vorwiegend von psychischen Bedürfnissen motiviert sind. Doch ist ihre Zahl – statistisch gesehen – so irrelevant, daß wir unter tausend Personen nur eine finden, die so vollkommen in MASLOWs 5. Stufe lebt.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei eine weitere Bemerkung angefügt: Es ist nicht so, daß ein Mensch kontinuierlich von Stufe zu Stufe steigt. Vielmehr befindet sich der Mensch gleichzeitig in mehreren Stufen der Pyramide: je nachdem, wie seine Bedürfnisse gerade liegen beziehungsweise befriedigt sind. D. h., es müssen die Bedürfnisse einer Stufe nicht hundertprozentig befriedigt sein, ehe ich mich der nächsthöheren Stufe zuwende. Wenn ich beispielsweise ausgehungert bin, ist mein ganzes Trachten danach gerichtet, satt zu werden. Bin ich indessen zu – sagen wir – 70 bis 80 Prozent gesättigt, wende ich mich anderen Dingen zu. Wäre ich zu 100 Prozent gesättigt, hätte ich mich vermutlich überfressen und wäre so träge, daß mich ebenfalls nichts anderes interessiert (»Plenus venter non studet libenter«). Ist mein Sicherheitsbedürfnis zu einem großen Teil befriedigt, indem ich genügend verdiene, ein Dach über dem Kopf und eine kleine Reserve auf der Bank habe, wende ich mich der nächsten Stufe zu. Ich kann aber sehr wohl auch zu einer Zeit sehr starke soziale Kontakte haben, in der mein Sicherheitsbedürfnis weitgehend unbefriedigt ist: Dann schließe ich mich möglicherweise mit anderen »Habenichtsen« zusammen, weil wir uns in der Gemeinschaft sicherer fühlen und uns in unserem Elend wenigstens gegenseitig trösten können. Doch auch dies ist nicht durchwegs der Fall. Wir wissen gerade von Getto-Bewohnern, daß diese Elenden absolut nicht wie ein Block zusammenstehen, sondern ängstlich darauf bedacht sind, sich statusmäßig von anderen zu unterscheiden. (»Meine Tochter arbeitet als Bedienung in einem anständigen Lokal und ist nicht so eine Schlampe wie Ihre Tochter!«) Man sieht also: Die Übergänge sind fließend.
Wer immer andere Menschen motivieren will, d. h., wer seine Mitmenschen dazu bringen will, eine bisher geübte Verhaltensweise zugunsten einer neuen Verhaltensweise aufzugeben, kommt ohne die Kenntnis der MASLOWschen Pyramide nicht zurande. Wir werden auf diese wichtige These im Kapitel über Pädagogik erneut zu sprechen kommen.
Nun haben wir weiter oben festgestellt, daß alles, was im Unterbewußtsein lokalisiert ist, die Tendenz hat, sich rücksichtslos durchzusetzen. Aus diesem Tatbestand ergibt sich folgerichtig die Frage: Wer setzt eigentlich diesen unterbewußten Energien Widerstand entgegen? Oder anders formuliert: Wer hindert unsere Triebe daran, sich schrankenlos durchzusetzen?
Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns zunächst mit zwei weiteren wesentlichen psychologischen Kategorien vertraut machen: mit dem »Ich« und dem »Über-Ich«. Eine symbolische Darstellung mag uns helfen, die Zusammenhänge besser zu durchschauen: Der Mensch lebt, bildlich gesprochen, in drei verschiedenen Motivationsebenen. Die erste Ebene ist das »Es«. Das Es ist ein von SIGMUND FREUD eingeführter Sammelbegriff für alles, was im Unterbewußtsein beheimatet ist: die Triebe, die Antriebe, das Verdrängte, die Aggressionen etc.
Nun scheidet sich, normalerweise während des dritten oder vierten Lebensjahres, von diesem unterbewußten Potential ein Teil ab, der zur Grundlage einer neuen seelischen Instanz wird: das »Ich«. Jeder von uns weiß um diesen Vorgang, da er ihn oft an Kindern beobachten konnte. Dazu ein Beispiel: Nehmen wir an, ein Vater besucht mit seinem dreijährigen Söhnchen Thomas einen Rummelplatz. Am Rande der Budenstadt steht ein Soft-Eis-Verkäufer, und Thomas bekommt eine Waffeltüte voll der begehrten Schleckerei. Wenn die Tüte leer ist, sagt der Junge zu seinem Vater: »Thomas will noch ein Eis!« Der Vater weiß aus Erfahrung, daß zwei Tüten Eis hintereinander seinem Sohne nicht guttun. Er lenkt ihn von diesem Wunsche ab, indem er ihn auf das hölzerne Pferd eines Kinderkarussels setzt. Nach Beendigung der Tour, wenn der Vater den Kleinen wieder herunterhebt, sagt dieser: »Thomas will noch mal fahren!« Einige Monate später wird indessen der Junge in der gleichen Situation sagen: »Ich will noch ein Eis! Ich will nochmals Karussell fahren!« Jetzt weiß der Vater, wenn er psychologisch beschlagen ist, daß sich das Ich als selbständige Instanz in der Seele seines Sohnes etabliert hat. Von diesem Augenblick an empfindet sich der kleine Thomas als Individuum und damit als eine »Persönlichkeit«, die Distanz zur Umwelt hat. Und nachdem das Kind seiner Eigenständigkeit gewahr geworden ist, will es sie auch erproben: Es beginnt die erste Trotzphase. Wenn also ein Kind zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr keine Trotzphase hat, ist dies ein Signal dafür, daß mit seiner seelischen Entwicklung etwas nicht normal verläuft!
Wenden wir uns nunmehr der dritten Instanz zu, ehe wir die Wechselwirkungen aller Motivationsebenen studieren: dem »Über-Ich«. Auch das Über-Ich ist ein von S. FREUD erfundener Terminus, der die Summe aller Gebote und Verbote umschreibt, denen der Mensch unterworfen ist. Betrachten wir uns diese Ge- und Verbote näher, so läßt sich feststellen, daß sie eine dreifache Wurzel haben. Da sind zunächst die ethischen Gebote, die uns in der Regel durch die Religion vermittelt werden, z. B.: »Du sollst nicht töten!« Dann gibt es die moralischen Gebote, die sich die Gesellschaft auferlegt hat, um das Zusammenleben in geordneten Konventionen ablaufen zu lassen, z. B.: »Mit seiner Schwester schläft ein Junge nicht!« Weil sich aber die meisten Menschen freiwillig weder an ethische noch an moralische Gebote halten, hat der Staat, in dem wir leben, Gesetze mit Strafandrohung erlassen, z. B.: »Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer angreift … wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft.«
Werfen wir nochmals einen Blick auf unsere Zeichnung, so wird sofort offenbar, daß das Ich zwischen den beiden anderen Ebenen steht, gewissermaßen als Pufferzone. Das Ich hilft uns, Wünsche hinauszuschieben, sie auf andere Ziele auszurichten oder auf ihre Erfüllung zu verzichten. Dieser Verzicht wird dem Menschen durch einen Vorgang erleichtert, den man mit »Internalisierung«, d. h. mit »Verinnerlichung«, bezeichnet. Auch dazu ein kleines Beispiel:
Setzt man in ein Aquarium eine Handvoll kleiner Fische und anschließend einen Hecht dazu, so passiert logischerweise folgendes: Der Hecht stürzt sich auf die kleinen Fische und verschlingt sie. Wiederholt man diesen Versuch in einer geänderten Anordnung, indem man das Aquarium durch eine Glasscheibe in zwei Hälften teilt, und setzt wiederum kleine Fische ein, dann wird sich der Hecht von neuem auf die Fische stürzen. Bei jedem Angriff schwimmt er natürlich gegen die Scheibe; und nach einiger Zeit gibt er die Jagd auf. Nun kommt das Erstaunliche an diesem Experiment: Entfernt man die Glasscheibe, wird der Hecht trotzdem keinen Angriff mehr auf die kleinen Fische unternehmen. Er hat das ihm von außen (mit Hilfe der Glasscheibe) auferlegte Verbot »internalisiert«. Mit anderen Worten: Das Verbot wurde von ihm verinnerlicht und hat dadurch die Struktur seiner »Persönlichkeit« verändert. Der Hecht ist jetzt anders motiviert; er hat eine Verhaltensweise zugunsten einer neuen aufgegeben; er unterläßt nunmehr »freiwillig«, was er nicht tun darf!
Genau das gleiche ereignet sich bei der Erziehung eines Kindes. Die Eltern vermitteln ihm die Ge- und Verbote des Über-Ichs. Durch die ständige Wiederholung und die Verstärkung beziehungsweise Abschwächung des kindlichen Verhaltens durch Lob oder Tadel wird das Es bis zu einem gewissen Grade unterdrückt. Daher haben beispielsweise viele Erwachsene Schwierigkeiten mit der Sexualität: Durch eine repressive Erziehung, in der alles Sexuelle als sündig, schmutzig und schädlich apostrophiert wurde, hat sich die Struktur ihres Unterbewußtseins so verändert, daß sie sich ihrem Sexualtrieb nie mehr mit Lust überlassen können. Versuchen sie es dennoch, verderben ihnen die anschließenden Schuldgefühle jeden Spaß. Hier kann nur ein Psychotherapeut unterstützend eingreifen.
Wir sehen also, daß das Ich einen außerordentlich schweren Stand hat. Es wird einerseits vom Es bedrängt, andererseits vom Über-Ich, und, last not least, von der Umwelt, in der ein Mensch lebt. Denn von der Umwelt her wird der Mensch ständig in Konflikte gestürzt, die Entscheidungen von ihm fordern. Aus dieser dreifachen Bedrängnis des Ichs ergibt sich die Tatsache, daß es so vielen Menschen nicht gelingt, ein starkes Ich zu entwickeln. Und aus einer rein psychologischen Sicht ist deshalb die Frage nach dem Glück ganz einfach zu beantworten: Glücklich ist jener Mensch, dem es gelungen ist, trotz der Bedrängnisse durch Es, Über-Ich und Umwelt eine harmonische und ausbalancierte Mitte zu entwickeln!
Die Entwicklung des Ichs, die ein Mensch erreicht hat, manifestiert sich in seinem »Selbstwertgefühl«. Wer ich-schwach ist, fühlt sich minderwertig. Wir müssen uns deshalb mit dem Selbstwertgefühl und seinem Gegenspieler, dem Minderwertigkeitsgefühl, noch eingehender auseinandersetzen.
Das Selbstwertgefühl ist kein »Ding an sich«, sondern ein außerordentlich komplexes Gebilde. Um ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln zu können, müssen etliche Voraussetzungen erfüllt sein, von denen hier nur einige ganz wesentliche besprochen werden sollen:
Die Tiefenpsychologie hat offenbar gemacht, daß sexuelles Versagen auf dem Grunde einer Neurose entsteht. D. h., ein schwaches Ich scheut das bedingungslose Sichhingeben an ein anderes Ich. Denn wenn ich mich schon – wenn auch unbewußt – irgendwie zu kurz gekommen fühle, kann ich von dem Wenigen, das mir blieb, nicht noch etwas abgeben. Doch nur wer gibt, wird auch empfangen; deshalb ist Geben seliger denn Nehmen. So wird der »Liebe Suchende« stets von neuem enttäuscht, was wiederum sein Geltungsbedürfnis niederdrückt. Ein echter circulus vitiosus also; ein Teufelskreis, aus dem ein Mensch ohne fremde Hilfe in der Regel nicht mehr entfliehen kann.
Fassen wir zusammen: Das Selbstwertgefühl beziehungsweise seine Stärkung ist das zentrale Anliegen jedes Menschen! Was immer wir tun oder unterlassen, geschieht – unbewußt – in der einzigen Absicht, unser Selbstwertgefühl zu stärken beziehungsweise Angriffe auf unser Selbstwertgefühl abzuwehren! Wobei es für die Alltagspraxis unerheblich ist, ob derartige Angriffe real oder nur eingebildet sind! Ist unser Selbstwertgefühl unterentwickelt, so äußert sich dies unter anderem in folgenden Verhaltensweisen:
Wenn wir abschließend überdenken, was hier über den Aufbau des Selbstwertgefühls erläutert wurde, so ergibt sich daraus eine Folgerung, die meistens ignoriert wird: Kein Mensch kann überhaupt ein Selbstwertgefühl aufbauen ohne die Resonanz seiner Mitmenschen. So, wie die ersten Objektbeziehungen zwischen dem Säugling und seiner Mutter die Grundstruktur seiner Persönlichkeit anlegen, genauso benötigt der Mensch während seines gesamten Lebens die Hilfe der anderen, um überhaupt zu einer Persönlichkeit, d. h. zu einem Menschen im Sinne des Wortes – als Gegensatz zum Tier –, werden zu können. Auch wenn der Mensch als Erwachsener eine ganz bestimmte – und jeweils einmalige – Persönlichkeit geworden ist, so bedarf er bis zu seinem Tode der ständigen Kommunikation mit anderen, um diese Persönlichkeitsstruktur zu bewahren; wird er isoliert, z. B. in jahrelanger Einzelhaft, so verfällt diese Struktur sukzessive, und der Mensch macht eine sogenannte »Regression« durch: Er fällt auf längst überwundene kindliche Verhaltensweisen zurück.
Die Grundforderung des christlichen Glaubens heißt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! D. h., ich soll meinen Nächsten nicht deshalb lieben, weil er so ist, wie er ist, weil er also bestimmte liebenswerte Eigenschaften hat, sondern ich soll ihn alleine deshalb lieben, weil er überhaupt da ist. In diesem Sinne dient sogar ein Verbrecher der Stärkung meines Selbstwertgefühls; weil er mir nämlich durch sein asoziales Verhalten die Gewißheit verschafft, selbst auf dem »richtigen« Wege zu sein. Und wie immer man zu einer Religion überhaupt stehen mag und woher immer man seine »letzten Weisheiten« bezieht, eines steht unwiderruflich fest: Ohne meine Mitmenschen bin ich ein Nichts!
Wir müssen nunmehr noch einen Blick auf den Gegenspieler des Selbstwertgefühls werfen, auf die Minderwertigkeitsgefühle. Denn abgesehen davon, daß auch Minderwertigkeitsgefühl ein Gefühl mit zweifacher Wurzel ist, steht es in enger Beziehung zu jener Macht, die vielen von uns das Leben unerträglich macht: der Angst.