In diesem Tagebuch beschreiben Mutter und Tochter Momente des Erinnerns und des Vergessens.
Sie beschreiben ihre Beziehung zueinander und zum Leben mit einer Erkrankung, die entfremdet. Die uns aber auch Wege zueinander zeigt.
Die uns lehrt, Geduld zu haben und Verständnis. Die Trauer, Wut, Verzweifelung, Misstrauen auslöst.
Die jeden Tag anders aussehen lässt.
Ich sterbe.
Aber meine Liebe zu euch stirbt nicht.
Inge Borg
Tagebuch des Vergessens
Leben mit Demenz
Autor: Inge Borg
Korrektorat, Satz:
1. Auflage 2015
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN:978-3-8424-978-3-7323-1971-8(Paperback)
978-3-7323-1972-5(Hardcover)
978-3-7323-1973-2 (e-Book)
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Vorwort
Wenn Menschen sich verändern, bewerten wir das unterschiedlich.
Kinder, die sprechen lernen, begeistern uns.
Jugendliche, die ihre Freizeit mit Computerspielen verbringen, alarmieren uns.
Junge Erwachsene, die Verantwortung in einer Beziehung oder einer Arbeit übernehmen, beeindrucken uns.
Menschen, die ihre Erinnerung verlieren, ängstigen uns.
Epilog
Wenn ich zurückdenke, gibt es eine Begebenheit, mit der ich die Veränderung meiner Mutter verbinde. Wir gehen die Treppen herunter zur Straße und dort parken zwei strahlend weiße Autos. „Die habe ich noch nie gesehen. Haben sich meine Nachbarn neue Wagen gekauft?“ Ungeduldig erwidere ich: “Nein, die haben sie schon seit einigen Wochen. Das fragst du mich jedes Mal, wenn wir hier lang gehen.“ Heute schäme ich mich dafür. Mir fehlte das Verständnis für ihre Sicht der Dinge. Ich habe meine Mutter in dieser Zeit viel malträtiert mit Fragen: „Was hattest du heute zu Mittag?“ „Hast du den Krimi gestern auf dem Ersten gesehen?“ „War die Putzfrau am Donnerstag da?“
„Kind, frag‘ mich nicht so etwas Schwieriges. Das weiß ich nicht mehr!“, war ihre stete Antwort.
Ich habe geahnt, dass etwas an ihr sich verändert. Und glaubte lange meiner Erklärung: sie wird im Alter ein wenig vergesslich. Nichts weiter. Menschen haben die Angewohnheit mit zunehmendem Alter ihre Ansichten zu verfestigen, auf gewohnten Abläufen zu bestehen, um Sicherheit und Beständigkeit darin zu suchen.
Es muss meine Mutter viel Kraft gekostet haben, ihren Alltag zu leben und ihren Wunsch selbstständig zu bleiben zu verteidigen. Auch heute, in ihrem versunkenen Leben, ist die Sehnsucht nach dem was sie war und was sie hatte groß. Dieses Gefühl, fremd zu sein, dort wo man ist und sich zu sehnen nach etwas Vertrautem, einem Stück Heimat, nach dem „zu Hause“.
Dieser Weg ins Vergessen ist seit einigen Jahren unser beider Lebensweg. Wo er begann lässt sich nicht einfach festmachen. Doch das Bild der schneeweißen Autos, deren Anblick immer wieder Verwunderung bei meiner Mutter und immer häufiger Erkennen bei mir auslösten, steht für den Beginn unserer gemeinsamen Reise, unseres Tagebuchs des Vergessens.
Agnes (84 Jahre, Oktober 2010)
Das Herbstlaub macht mir viel Arbeit. Es fällt mir schwer, die regennassen Eichenblätter vom Gehweg zu fegen, mich nach ihnen zu bücken, wenn der Besen sie nicht erwischt. Ich habe es gern ordentlich. Meine Nachbarn schätzen meine sauberen Wege rund ums Grundstück.
Solange ich Ordnung halten kann, kann mir keiner etwas. Seit zwei Jahren habe ich eine Putzfrau. Sie kommt immer Donnerstags und reinigt im Wechsel alle zwei Wochen das Erdgeschoss und das Obergeschoss.
Benno und ich haben uns Ende der 60er Jahre einen kleinen Bungalow der „Neuen Heimat“ gekauft. Mit vier Kindern waren wir wegen Eigenbedarf gekündigt worden. Keiner wollte eine Familie mit vier Kindern. Also haben wir unsere wenigen Ersparnisse genommen und die Anzahlung für den Bungalow geleistet.Benno hat nicht lange was davon gehabt. Nur vier Jahre im eigenen Haus, dann ist er an Krebs gestorben. Verwitwet mit vier Kindern! Da half kein Jammern.
Ich musste allen zeigen, das ich das schaffe. Und ich habe es geschafft. Ich habe alle groß gezogen.
Mein Rücken schmerzt. Ich gehe jetzt rein und gieße mir einen Kaffee auf.
Inge (46 Jahre, Oktober 2010)
Täglich telefonieren wir miteinander. Schon seit vielen Jahren bin ich es, die abends zum Hörer greift und sich erkundigt, wie ihr Tag war. „Ich habe euch schließlich groß gezogen. Jetzt ist es an euch, sich um mich zu kümmern.“ Sie sagt„euch“ und meint mich.
Einen Versuch hatte ich, mich frei zu strampeln. Direkt nach dem Abi habe ich mir einen Studienplatz und ein winziges, kaltes Studentenzimmer in Münster gesucht. Hauptsache weg von zu Hause, der Kontrolle, der engen Freundschaft, die meine Mutter sich mit mir wünschte. Nach dem Tod meines Vaters machte sie mich zu ihrer engsten Vertrauten. Anfangs war ich darauf stolz. Irgendwann erdrückte es mich. Ohne das ich verstand warum, suchte ich das Weite.
Wieso ich wieder zurückkam? Da gab es viele Gründe. Heute lebe ich mit meiner Familie 10 Autominuten von ihr entfernt, nah genug, um sie jedes Wochenende und mindestens einen Nachmittag in der Woche zu besuchen. Dienstags, wenn die Jungs Musikunterricht haben, fahren wir beide zum Großeinkauf. Neuerdings kauft sie Papiertaschentücher in rauen Mengen. Ich habe festgestellt, dass zwei ihrer Kellerregale voll damit sind.
„Davon hast du reichlich zu Hause“, erinnere ich sie bei unserem heutigen Einkauf.
„Du hast keine Ahnung, was ich zu Hause habe. Oder schnüffelst du in meinen Schränken herum?“ Erbost wendet sie sich erneut dem Stapel an Großpackungen zu. Nimmt eine weitere, legt sie in ihren Wagen, wirft den Kopf in den Nacken und schiebt energisch weiter.
Agnes (November 2010)
Inge hat gerade angerufen. Sie muss länger arbeiten und kann heute nicht kommen. Ich bin ganz geknickt. Diese langen, grauen Novembertage machen mich traurig. Sie erinnern mich an die Zeit kurz vor Bennos Tod. Wir hatten gehofft, dass ein neues Medikament ihm helfen würde. Fünf Tage vor Weihnachten ist er in seinem Bett gestorben und ich habe nicht begriffen, dass er schon tot war, als er sich frühmorgens schwer auf die Matratze fallen ließ. Er hatte seine Augen auf und starrte ruhig an die Decke.
„Ich rufe den Arzt,“ flüsterte ich ihm zu, weil ich Inge nicht wecken wollte, die in unserem Bett schlief. Die Leitung zu unserem Telefon war bei Erdarbeiten tags zuvor beschädigt worden, also warf ich mir den Morgenmantel über und lief zu unseren Nachbarn.
Der ärztliche Notdienst war morgens um 7.00 Uhr schwer von Begriff. „Muss ich wirklich kommen?“ Ich schrie in den Hörer. „Herr Doktor, mein Mann stirbt!“
Zwei Tage vor Weihnachten und einen Tag nach meinem 47. Geburtstag habe ich Benno beerdigt. Das ist jetzt 40 Jahre her und jeden Winter fürchte ich mich vor den Erinnerungen; lähmt mich die Angst und lässt mich innerlich erstarren.
Meine Ärztin hat mir etwas gegen die Depressionen verschrieben. Manchmal frage ich mich, wer mich überhaupt noch braucht.
Inge (Dezember 2010)
Wir gehen heute gemeinsam zur Hausärztin. Direkt nach der Arbeit fahre ich hin und begleite sie zur Praxis. Die Ergebnisse der Blutwerte sind da und meine Mutter möchte mich gern dabei haben. „Ich verstehe die Ärztin nicht, die nuschelt immer so!“
Im Behandlungszimmer schaut sie sich um. Schüttelt den Kopf.
„Also die Bilder an der Wand, die gefallen mir gar nicht.“
„Die Ärztin hat ein Fable für Miro, einen spanischen Künstler. Kunst ist Ansichtssache.“ „Wenn ich sage, ich mag die bunten Striche nicht, dann mag ich sie nicht.“ Beleidigt wendet sie mir ihren Rücken zu.
Die Hausärztin begrüßt zuerst mich, dann meine Mutter. Das irritiert mich. Es hat etwas Verdrehtes. Sie hält einen Vortrag über Agnes‘ mäßige Blutwerte. „Das Cholesterin ist zu hoch. Nehmen Sie regelmäßig Ihre Tabletten?“ Mutter nicht eifrig. Sie denkt kurz nach und meint dann erklärend: „Ich hatte gestern Bratwurst mit Pommes Frites.“
„Die Blutabnahme ist aber ein paar Tage her.“, erklärt die Ärztin.
Sie zieht mich an die Seite: „Haben Sie Einsicht in die Arzneimitteleinnahme ihrer Mutter?“ Ich schüttele den Kopf.
„Kaufen Sie sich in der Apotheke eine Dosierungshilfe für die Wochentage und teilen Ihrer Mutter die Medikamente nach einem Plan ein, den ich Ihnen ausdrucken werde.“
Mutter wird ungeduldig. „Lass‘ uns jetzt gehen; deine Kinder warten doch!“ Ich beruhige sie, denn tatsächlich sitzen Simon und Erik zu Hause vom Computer. Und haben es gar nicht gern, wenn ich früher nach Hause komme als erwartet.
Agnes, (85 Jahre, Weihnachten 2010)
Mein Weihnachtsbraten war wieder ein Genuss. Gestern brachte mir Metzger Brander die 7 Kg schwere Pute vorbei. Ich habe meinen schwarzen Bräter aus dem Keller geholt; für die Füllung Zwiebeln, Äpfel und Speck geschält. Den heiligen Abend habe ich damit verbracht, die Pute zu braten. Habe mich darüber gefreut, wie das Geflügel knusprig braun wurde.
Der Tipp: immer wieder mit dem Fettsud übergießen, damit die Haut nicht trocken wird. Inge habe ich das Rezept aufgeschrieben. Sie meinte:“Mama, wenn du nicht mehr bist, muss ich wissen, wie dir diese wunderbare Pute gelingt!“ Wenn ich nicht mehr bin…..
Aber ja, ich bin vor drei Tagen 85 geworden. Ich bin es gewohnt, allein zu leben. Ich bin stolz darauf, dass ich noch alles bewältige. Das muss mir in meinem Alter jemand nachmachen. In meiner Nachbarschaft haben schon etliche die Segel gestrichen. Viel hat sich verändert in den letzten Jahren.
Ines hat nach dem Tod ihres Mannes einen neuen Mann kennen gelernt und ist zu ihm gezogen. Frau Fritsche ist gestorben, die Köhnes haben sich einen Hund zugelegt.
Menschen mit Hund sind mir zuwider. Die behandeln ihren Hund wie ein kleines Kind, hätscheln ihn und lassen ihn mit im Bett schlafen. Es ekelt mich an, wenn Hunde am Tisch betteln. Sie riechen und sind aufdringlich. Köhnes reden nur noch über ihren „Bolle“: „Bolle kann dies und Bolle kann das und Bolle hat einen Furz gemacht.“
Nein, mit solchen Nachbarn kann ich nichts anfangen. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass auch sie sich ein wenig zurückgezogen haben. Manchmal bringen sie meine Mülltonne runter, wenn sie sehen, dass sie noch nicht an der Straße steht. Aber eigentlich macht das immer Inge, nachdem sie Sonntagnachmittags auf einen Kaffee vorbeigeschaut hat.
Inge kommt jedes Jahr am ersten Weihnachtstag mit ihrer Familie. Den Heiligabend verbringen sie mit ihren Schwiegereltern bei sich zu Hause.
„Komm‘ doch auch, Mama. Wir holen dich und Manfred bringt dich nach der Bescherung und dem Essen nach Hause.“
Sie weiß genau, dass ich mit diesen einfachen Leuten nichts anfangen kann. Ihr Schwiegervater Manfred war Dreher in einem kleinen Metallbaubetrieb; seine Frau Doris Näherin. Wenn das Benno gewusst hätte! Benno hat immer Wert auf gute Manieren und anständige Bildung gelegt. Er hat nie gern Leute um sich gehabt: wir hatten selten Besuch.
Inge meint, ich solle mein ‚Beamtenwitwengehabe‘ ablegen und mich daran gewöhnen, dass sie liebenswerte Schwiegereltern habe, die mich gern in ihr Herz schließen würden, wenn ich das nur zuließe.
Was weiß sie schon? Hat sie je bemerkt, wie Doris sich an meine Enkel heranmacht? Wie sie mit mir um das bessere und größere Weihnachtsgeschenk für Simon und Erik konkurriert? Ich merke sehr wohl, wie Doris mich ausstechen will. Sollen sie den Heiligabend gemeinsam haben; ich glänze am ersten Weihnachtstag mit meiner von allen gelobten Pute und den Geschenken, die sich die Kinder wirklich gewünscht haben.
Inge (Januar 2011)
Dieses Jahr hört es nicht auf zu schneien. Kaum haben wir Schnee geschippt, kommt wieder etwas nach. Wir stehen gemeinsam eine Viertelstunde eher auf, damit wir die Autos freikratzen und den Weg von Schnee räumen können, bevor wir zur Arbeit fahren.
Nachmittags schaue ich täglich bei Mutter vorbei, um nach ihr zu sehen. Wenn sie bei diesem Wetter nicht in ihren geliebten Garten kann, kommt sie kaum aus dem Haus. Es ist glatt auf den Straßen. Auf dem festgefahrenen Schnee spiegelt sich eine glitzernde Eisschicht. Die Kehrwagen fahren Sonderschichten, um das Salz auf die Straßen zu bringen.
Mitten in Agnes‘ Garten steht die Mülltonne geöffnet neben einem Sack mit Abfall. Eine kleine, feine Schneeschicht hat sich auf dem Sack gesammelt. Ich stopfe den Sack hinein und stelle die Tonne an ihren Platz. Klopfe an die Terrassentür und sehe durch die Gardinen meine Mutter vor dem Fernseher sitzen. Erstaunt öffnet sie mir die Tür.
„Was für eine Überraschung!“ Ich klopfe Schuhe und Mantel ab und lasse mich von der Wärme ihres Wohnzimmers einhüllen. Meine Brille beschlägt. „Hast du die Mülltonne vergessen? Sie stand geöffnet auf deinem Rasen.“ Sie schaut nach draußen und stellt fest, dass ich alles wieder an Ort und Stelle geräumt habe.
„Nein, das war ich nicht. Wohl eher der Nachbar, der mir seinen Müll in meine Tonne steckt, wenn sie an der Straße steht. Den habe ich schon lange in Verdacht. Aber das er jetzt sogar mein Grundstück betritt und seinen Müll bei mir ablädt…“ Entrüstet schüttelt sie den Kopf. „Mit einer alleinstehenden Frau kann man es ja machen!“
„Und es kann nicht sein, dass dich das Telefon abgelenkt hat oder jemand an der Tür war?“
„Nun verkauf‘ mich nicht für dumm. Ich werde doch wohl wissen, was um mich herum passiert.“
Wir trinken einen Tee zusammen und ich fahre wieder nach Hause. „Bleib‘ bei dem Wetter einfach drinnen, Mutter. Wir werden morgen gemeinsam einkaufen fahren. Ich komme mit den Jungs vorbei!“
Agnes (Januar 2011)
Ich bin gerade gestürzt. Mir tut alles weh. An diesem kleinem Läufer im Wohnzimmer bin ich hängen geblieben und mitsamt meiner Tasse Tee gefallen.
Das darf ich keinem erzählen. Inge ist schon hellhörig geworden und meint, ich brauche mehr Hilfe im Alltag.
Inge glaubt, ich sei zu alt, um allein zu leben. Sie redet mit mir über einen Funkfinger; aber der kostet nur unnötiges Geld.
„Wenn du stürzt und auf dem kalten Boden über Nacht liegen bleibst, weil du nicht zum Telefon kommst, dann wirst du über einen Funkfinger froh sein. Ich schenke dir die Monatsgebühr.“
Sie redet und redet, als wäre ich nicht mehr Herr in meinem eigenen Haus.
Sie soll mich einfach in Ruhe lassen!
Inge (Januar 2011)
Mit Simon und Erik stehe ich an der Terrassentür und klopfe. Drinnen rührt sich nichts. Ich schaue durch das Küchenfenster, denn häufig hört sie unser Klopfen nicht. Nichts zu sehen!
„Wartet hier, ich schließe oben die Haustür auf!“ Im Haus ist es ganz still. Mein Herz klopft. „Mama?“ rufe ich und schaue im Wohnzimmer und im Bad nach.
„Was machst du denn hier?“ Ihr Kopf lugt aus der Schlafzimmertür.
„Ist dir nicht gut?“, frage ich sorgenvoll.
„Darf ich mich nicht einmal ausruhen in meinem eigenen Bett?“
Ich öffne Simon und Erik die Terrassentür.
„Was ist mit Oma?“
„Sie hat geschlafen!“
Simon tritt mit Socken auf den kleinen Läufer. „Ihh, der ist ja ganz nass!“ Jetzt sehe ich es: ein riesiger, dunkler Fleck hat sich auf dem Läufer ausgebreitet.
Die Nachbarin meiner Mutter räumt Schnee, während Simon und Erik sich darum streiten, wer im Auto vorn sitzen darf. Ich bin in Gedanken und dränge die Jungs zur Eile.
„Inge?,“ ruft sie fragend und hält mit dem Schnee schieben inne. „Darf ich noch Inge zu dir sagen?“
„Natürlich!“
„Ich mache mir Sorgen um deine Mutter.“ Ihr treten Tränen in die Augen. „Sie war gestern ohne Mantel auf der Straße und suchte ihren Mülleimer. Dabei war doch die Müllabfuhr schon vor zwei Tagen da. Und so ganz ohne Mantel bei der Kälte.“
„Ich mache mir auch Sorgen, Frau Hellbich. Meine Mutter ist ein wenig durcheinander.“
Nun kullert eine Träne an der Nase herunter. „Und gestürzt ist sie vor einigen Tagen auch, weißt du davon?“
„Wo denn?“
„Na hier!“ Sie weist auf den glitzernden, nassen Asphalt der kleinen Wohnstraße. „Sie ist auf dem Schnee ausgerutscht. Vom Küchenfenster aus habe ich das gesehen und bin sofort hin, um ihr auf zu helfen. Ich habe mich so erschrocken!“
Ich fasse sie leicht an den Schultern, um sie zu beruhigen. Denke an den heutigen Sturz über den Läufer von dem mir Agnes schamvoll erzählte, als ich sie auf den nassen Fleck ansprach.
„Könnten Sie ab und an nach ihr sehen, wenn ich nicht kommen kann?“
Sie schüttelt traurig den Kopf. „Bei dem Wetter gehe ich gar nicht gern raus. Ich mag dir nichts versprechen, was ich nicht halten kann. Aber ich achte darauf, ob ihre Rollos morgens hochgezogen werden. Ich rufe dich an, wenn mir etwas auffällt.“
Agnes (Februar 2011)
An Maria Lichtmess werden die Tage wieder länger. Jeden Tag einen kleinen Hahnenschritt, so hat es mir meine Mutter erzählt. Ich mag den Winter nicht.