Rainer Innreiter
180°
Verdrehte Kurzkrimis
Twilight-Line Medien GbR
Obertor 4
D-98634 Wasungen
ISBN: 978-3-941122-58-1
eBook-Edition
www.twilightline.com
© 2010 Twilight-Line Verlag GbR
Alle Rechte vorbehalten.
Coverdesign: Sabine Trabert
Vorwort (inklusive Überraschung)
Erfolgreiche Therapie
Jagdglück
Einen Wimpernschlag entfernt
Phasenweisen
Zahltag
Nachtjäger
Schussstrich
Ungebremste Ehrlichkeit
Ich werde dich lehren
Getäuscht
Das Schrankmonster
Angeblich zählen Vorworte zu jenen Buchseiten, die von vielen Lesern ungeduldig überblättert werden, um mit dem Roman oder der ersten Kurzgeschichte zu beginnen. Als leidenschaftlicher Leser von Vorworten bedaure ich dies, weshalb ich diese Gelegenheit zum Plädoyer für das zu Unrecht verschmähte Vorwort ergreifen möchte. So viele wertvolle Informationen und Überraschungen können sich hierin verstecken! Ziehen wir doch der Einfachheit halber dieses Vorwort als Musterbeispiel heran. Wussten Sie, dass im Anschluss an diese einleitenden Worte eine Kurzgeschichte versteckt ist, die nicht im Index aufgelistet wurde? Nein? Sehen Sie, wie leicht Sie diese insgesamt zwölfte Geschichte übersehen haben können? Und da wir gerade so nett am Plaudern sind, will ich Ihnen noch etwas verraten: Jede einzelne dieser Kurzgeschichten wartet mit einer Schlusspointe auf, die Sie hoffentlich gnadenlos überraschen wird. Eben deshalb lautet der Titel des Buches, dass Sie gerade in Händen halten, 180 Grad: Eine radikale Wendung der Erwartungshaltung des Lesers ist das Ziel meiner Geschichten. Ich liebe es, von Autoren überrascht zu werden! Sie auch? Ja? Das freut mich! Dann werden wir uns bestimmt glänzend verstehen! Vielleicht ist dies ja sogar der Beginn einer wunderbaren, langjährigen Freundschaft und Sie sind auf meine weiteren literarischen Ergüsse gespannt? „Twilight-Line“ hat bereits mehrere Kurzgeschichtenbände aus meiner Feder veröffentlicht, die nur darauf warten, von Ihnen gelesen zu werden.
So, und nun möchte ich Sie nicht länger von der Lektüre der Geschichten abhalten und wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Überrascht werden!
Bleiben Sie mir gewogen.
Rainer Innreiter
Als der Abend zu dämmern begann und eine kühle Brise die dunklen Haare auf seinen kräftigen Oberarmen aufrichtete, wusste er, dass es langsam Zeit wurde nach Hause zu gehen. Dennoch verspürte er wenig Lust darauf, wie er sich fast widerwillig eingestand. Seine Frau würde ohnehin nur faul herumliegen, und er müsste sich das Essen wohl erneut selber zubereiten. Im Fernsehen lief seit dem Ende der Bundesliga-Saison auch nichts Ordentliches mehr. Welche Gründe gab es also, die Angel einzuholen und zusammenzupacken? Früher hatte er die Abende in dem gemütlichen Einfamilienhaus mit seiner Frau genossen. Aber im Laufe der Zeit war das verliebte Miteinander einem fast pragmatischen Nebeneinander gewichen.
„Na, beißen sie?“
Er zuckte etwas zusammen und riss den Kopf herum. Ein junger Mann stand neben ihm, die Hände in den Hosentaschen vergraben, als schliefen sie dort.
„Nur, wenn man mich reizt“, gab er zurück und entlockte dem Neuankömmling ein beinahe schüchternes Lächeln.
„Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“
Der Ältere der beiden winkte ab und erwiderte das Lächeln. Neidvoll betrachtete er die ebenmäßigen, weißen Zähne des jungen Mannes, das dichte Haar, die sonnengegerbte Haut, die schlanke Figur.
„Das hätte ich vor vierzig Jahren sein können“, dachte er mit einem wehmütigen Anflug von Melancholie. Dann räusperte er sich und sagte: „Kein Grund sich zu entschuldigen. Ich war gerade in Gedanken versunken.“
Ein Fischreiher glitt über die Wasseroberfläche und pickte mit seinem langen Schnabel erfolglos nach Beute. Die Männer blickten ihm schweigend nach, bis er hinter einem Schilfgürtel verschwand.
„Um ihre Frage zu beantworten: Ich fische lediglich zur Beruhigung und verwende nicht einmal einen geeigneten Köder.“
Er sah hoch in ein Gesicht, das Unbeschwertheit ausstrahlen sollte, tatsächlich jedoch von Schmerzen und Seelenqualen gezeichnet war.
„Vielleicht sollte ich es auch einmal ausprobieren“, sagte der Besucher und senkte dabei den Blick, „wenn es beruhigend wirkt. Meine Freundin hat heute mit mir Schluss gemacht, und ich bin seit Stunden auf den Beinen, ohne zu wissen, wohin ich eigentlich gehe.“
Verbissen schien er gegen Tränen anzukämpfen, riss eine Hand aus den Hosentaschen und rieb sich den Nacken. „Warum belästige ich Sie überhaupt mit meinen Problemen? Am besten, ich gehe in eine Kneipe, betrinke mich bis zur Bewusstlosigkeit und warte, bis die Narben verheilt sind.“
Der Angler stieß einen tiefen Seufzer aus. „Es wird Ihnen zwar kein Trost sein, aber ich habe Ähnliches in meiner Jugend durchgemacht. Und jetzt bin ich verheiratet. Seit dreißig Jahren.“
Anerkennend pfiff der junge Mann. „Dreißig Jahre? Da kann man nur gratulieren. Und was haben Sie gemacht, als man Ihnen zum ersten Mal das Herz gebrochen hat?“
„Na, was wohl: Ich bin in die nächste Kneipe, habe mich besoffen und darauf gewartet, dass die Narben verheilen.“
Diesmal klang das Lachen des Fremden herzhaft. Dann wurde er wieder ernst.
„Danke“, sagte er so leise, dass sich der alte Mann nicht sicher war, ob er zu ihm oder zu sich selber gesprochen hatte.
„Viel Glück!“, rief er dem Jungen nach und wartete, bis er außer Sichtweite war. Dann holte er die Angelschnur ein, nahm den halb verwesten Frauenkopf vom Haken und legte ihn sorgsam zurück in die Kühlbox.
Ich freue mich ehrlich, Herr Doktor, dass Sie mich noch einschieben konnten, obwohl Ihr Terminkalender proppenvoll ist. Das rechne ich Ihnen hoch an! Natürlich muss ich mich auch bei Ihrer Sprechstundenhilfe bedanken, die äußerst zuvorkommend und hilfsbereit war. Wissen Sie, Sie wurden mir als äußerst kompetenter Psychotherapeut empfohlen.
Wie bitte? Ach so, ja, weshalb ich unbedingt mit Ihnen sprechen wollte. Wie lange haben wir denn Zeit? Fünfzig Minuten? Das sollte genügen, um Ihnen meine Probleme zu schildern. Soll ich mich auf die Couch legen? Der klassische Zugang zur Psychoanalyse gewissermaßen? Ja, danke. Wenn Sie einverstanden sind, würde ich den Stuhl vorziehen. Gut, dann will ich nicht weiter unsere kostbare Zeit vergeuden. Sehen Sie, es geht um meine Frau, und in welcher schwierigen Phase unserer Beziehung wir uns befinden. Ich wette, das hören Sie ständig: „Meine Frau versteht mich nicht“. Oder „Mein Mann betrügt mich, und ich möchte mich wegen der Kinder nicht scheiden lassen. Was soll ich nur tun?“
Ja, ich weiß: Es gibt spezielle Beratungsstellen für Eheprobleme. Aber … nun ja, ich möchte das auf meine Weise lösen und einfach mal mein Herz ausschütten, wie man zu sagen pflegt. Ich kenne meine Frau seit … ihr Name? Stört es Sie, wenn ich sie Maria nenne? Sie werden mich bestimmt auslachen, aber es fällt mir leichter, von ihr wie von einer Fremden zu sprechen. War schon in meiner Kindheit so: Hatte ich etwas angestellt, sprach ich von mir selbst wie von einem völlig Fremden.
Verzeihung, Sie haben Recht: Ich schweife ab! Also, ich kenne meine Frau erst seit ein paar Monaten. Wir lernten uns im Büro jenes Unternehmens, bei dem ich angestellt war, kennen. Ich war Buchhalter und sie Praktikantin. Bevor Sie auf falsche Gedanken kommen, Herr Doktor: Sie kam von der Universität und war bereits zwanzig. Es war nicht unbedingt Liebe auf den ersten Blick, jedenfalls nicht von ihrer Seite aus, denn dafür flirtete sie zu offensichtlich mit jedem halbwegs attraktiven oder finanziell potenten Mann. Sie war äußerst selbstbewusst und wusste, was sie wollte: Jemanden, der sie auf Rosenblätter bettete, ihr alles bot, was sie sich wünschte, erfolgreich und zuverlässig war. Und sie wusste auch, dass sie es bekommen konnte, mit ihren blitzenden Augen, diesem unverschämten Augenaufschlag, der einen verzauberte, ihrer makellos reinen Haut, dem Hüftschwung … ich könnte den Rest der fünfzig Minuten mit Beschreibungen füllen, Herr Doktor, und hätte doch bestimmt die Hälfte nicht erwähnt.
Es ist mir lediglich ein großes Bedürfnis Ihnen klarzumachen, weshalb ich ihr verfiel. Ich bin kein großer Denker, wahrlich nicht, und mir war bewusst, dass ich nicht jener Typ Mann war, der ihr alles bieten konnte, was sie sich nicht bloß erträumte, sondern erwartete. Zudem war ich damals noch verheiratet mit Bianca … oha, jetzt habe ich doch einen richtigen Namen verwendet!
Wie dem auch sei: Ich wehrte mich mit aller mir zur Verfügung stehenden Macht dagegen, mich in sie zu verlieben. Ein paar Tage lang klappte es ganz gut, da sie sich für mich offensichtlich nicht im Geringsten interessierte. Doch ertappte ich mich immer wieder dabei, in Tagträumen ihren Büstenhalter mit meinen Zähnen zu öffnen – so sie denn überhaupt einen trug. Oder ihren Rücken an irgendeinem Südsee-Strand einzucremen, ehe ich mich mit ihr in die kühlenden Fluten stürzte. Und am Abend … nun ja, diese Phantasien fallen wohl nicht in Ihr Gebiet. Jedenfalls wehrte ich mich verbissen, aber bereits in der zweiten Woche ihres Praktikums kämpfte ich verbissen um ihre Aufmerksamkeit, die ich mir mittels geradezu peinlicher Liebesdienerei mühsam verdiente. Natürlich wusste sie bereits damals, dass ich kein üppiges Gehalt bezog und durch keinerlei großzügige Erbschaft in den Genuss luxuriösen Lebensstils geraten war. Was sie hingegen sehr genau wusste, war zweierlei: Ich verwaltete die gesamte Buchhaltung, wobei ich das Vertrauen der Geschäftsleitung genoss, und ich war ein Idiot.
In ihrer vierten und somit letzten Praktikumswoche küssten wir uns zum ersten Mal. Ich hatte sie in das teuerste Restaurant der Stadt eingeladen, und sie lotete ihre Grenzen aus, indem sie nur die edelsten Speisen und Getränke auswählte. Als wir am späten Abend das Restaurant verließen, war ich einen Teil meiner Ersparnisse los. Aber das war mir egal, angesichts der Belohnung in Form heißer Küsse auf einer Parkbank.
Am nächsten Tag schenkte ich meiner Frau reinen Wein ein. Oh, ich kann gar nicht in Worte fassen, wie, verzeihen Sie meine Ausdrucksweise, beschissen ich mich fühlte. Zwölf Jahre wunderbarer, harmonischer Ehe mit ein paar Sätzen ausgelöscht. Ja, ich weiß: Wäre die Ehe tatsächlich dermaßen harmonisch gewesen, wäre nie etwas mit Maria gelaufen. Doch diese Frau … diese junge Schlange in Menschengestalt war imstande, jeden, absolut jeden Mann zu verführen.
Bianca setzte sich in ihren Wagen, nachdem sie etwa eine Stunde lang nur geheult hatte, und fuhr zu ihrer Schwester. Ihre Sachen ließ sie von ihren Eltern abholen, und unsere Gespräche liefen nur noch über die Anwälte, da sie sich weigerte, mit mir auch nur ein Wort zu wechseln.
Ich könnte nicht behaupten, dass mir all dies egal gewesen sei, denn es nahm mich mit, ja doch, aber ich war bis über beide Ohren in Maria verliebt. Ich dachte nur noch an sie, und ich lebte und arbeitete nur noch für sie und unser gemeinsames Leben. Hört sich fast wie ein extrem kitschiger Schlagertext an, finden Sie nicht auch? Jedenfalls platzte ich schier vor Glück, als wir nach einer Blitzhochzeit eine Wohnung mieteten, die natürlich ich bezahlte, denn sie studierte ja noch. Zumindest war dies, was ich glauben sollte. Es gibt wahrlich keinen größeren Narr auf Erden, als einen verliebten Mann, wie ich einer war. Ich scheute keine Kosten und Mühen, Maria zu verwöhnen und zufriedenzustellen. Denn auch ein Narr weiß um die Vergänglichkeit der Liebe, und wie er diese jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde hinauszögern muss mit Aufmerksamkeiten und Liebesschwüren.
Nach einem Monat waren sämtliche Ersparnisse erschöpft. Für die Kaution der Wohnung sowie die Möblierung hatte ich bereits meine Lebensversicherung aufgelöst. An jenem Abend kam Maria spät nach Hause – angeblich ein Seminar – und ich konnte ihr nichts, absolut nichts bieten. Kein Restaurant-Besuch, keine Blumenarrangements, die sie so sehr liebte, keine kleinen Präsente, einfach nichts. Sie sah mich aus strahlend blauen Augen an und wartete. Ich stand wie eine Salzsäule da, unfähig, mein Bedauern in Worten auszudrücken. Meine Frau machte mir keine Szene, ließ mich aber durch Liebesentzug spüren, was ihr fehlte. In jener Nacht brachte ich kein Auge zu und meldete mich am nächsten Tag krank. Um den Schein zu wahren, verließ ich um halb-acht die Wohnung, streunte ziellos umher und kehrte nach siebzehn Uhr nach Hause zurück, wo mich Maria höflich, aber distanziert empfing.
„Wollen wir essen gehen? Ich habe solchen Hunger“, fragte sie mich, klimperte mit ihren falschen Wimpern, und strich den unverschämt kurzen Rock glatt. Ich musste mich nicht großartig verstellen, um glaubhaft zu versichern, dass ich mich unwohl fühlte und nur noch ins Bett wollte, denn tatsächlich ging es mir gar nicht gut. Mit ein paar Aspirin-Tabletten, die ich mit Dosenbier runtergespült hatte, begab ich mich zu Bett und versuchte, Marias Schmollen und aufkeimenden Unmut zu ignorieren. Ich wälzte mich unruhig hin und her, was Maria schließlich dazu bewog, im Wohnzimmer zu schlafen, und überlegte verbissen, was zu tun sei. Jener Teil meines Verstandes, der noch halbwegs bei Trost war, wusste es natürlich: Aus der Hypnose dieser Schlange erwachen, Scheidung einreichen, daraus meine Lehren ziehen. Aber ich war ihr längst hörig.
Wissen Sie, Herr Doktor, ich erinnere mich noch an eine Freundin meiner Ex-Frau. Diese Freundin war beruflich höchst erfolgreich, attraktiv, sympathisch, belesen und beredt. Und dennoch war sie mit einem Scheusal liiert, dass sie regelmäßig schlug und ihr Geld für Glücksspiele und Huren ausgab. Damals konnten meine Ex-Frau und ich nur den Kopf darüber schütteln und die arme, hörige Frau bedauern. Nie hätte ich gedacht, dass es mich irgendwann treffen würde, und dass man mich bedauern und den Kopf schütteln wird, weil ich ein höriger Idiot sei.
Am nächsten Morgen ging ich wieder zur Arbeit, und obgleich ich kaum Schlaf gefunden hatte, wusste ich wenigstens die Lösung meiner Probleme. Alleine darüber zu sprechen lässt mich in tiefster Scham versinken, denn meine Eltern hatten mich zu einem Muster an Redlichkeit erzogen. Es wäre mir nie im Traum eingefallen, mir auch nur einen Cent unrechtmäßig anzueignen. Bis ich Maria begegnete. Nein, Herr Doktor, glauben Sie mir: Ich will nicht meine Schuld abstreiten und ihr anhängen. Aber sie müssen begreifen, wie weit mich diese Frau getrieben hatte, nämlich bis zur völligen Selbstverleugnung. Jener Mensch, der das Vertrauen seiner Arbeitgeber schändlich missbrauchte und sogar einen Griff in die Portokasse riskierte, war ein anderer als jener, den seine Verwandten und Freunde gekannt hatten. Das war nicht ich, sondern ein von Maria manipulierter Doppelgänger, der in meinem Namen betrog und stahl.
Zunächst war diesem Betrug Erfolg beschieden, denn ich verwaltete die Konten und genoss fast uneingeschränktes Vertrauen, dass ich mir mühsam erarbeitet hatte. Maria belohnte mich auf ihre unnachahmliche Weise für das, was sie zwei Tage lang missen musste. Und ich war glücklich. Ja, ich war tatsächlich glücklich! Ich habe niemals Drogen probiert, aber so ähnlich muss sich ein Drogensüchtiger fühlen, der weiß, dass sein kurzfristiger Glücksrausch auf Kosten des nächsten Tages oder gar seines Lebens geht. Und trotzdem genießt er den Moment völliger, entschwebter Glücksseligkeit. Ach ja, wie ein Ballon schwebte ich über der Realität, als könnte ich sie abschütteln, indem ich in einer Traumwelt mit Maria lebte!
Oh, ich sehe, wir haben nur noch zwanzig Minuten. Aber daran können Sie ermessen, in welchen Bann völliger Willenlosigkeit mich diese Frau geschlagen hatte – selbst heute noch könnte ich endlos über sie und meine Liebe zu ihr schwafeln. Wie dem auch sei: Verdacht schöpfte ich erst, als sie an keinem Abend vor zehn Uhr nach Hause kam. Es fiel ihr immer schwerer, Ausreden zu finden. Anfangs traf sie sich angeblich mit Freundinnen, musste überraschend ein spät angesetztes Seminar oder ihre erbarmenswürdig kranke Großmutter besuchen, die gar nicht existierte, wie ich später herausfand, und was der Ausflüchte mehr waren. Schließlich musste ich mir Sicherheit verschaffen und spionierte ihr nach. Zu meiner Verblüffung fuhr sie tatsächlich an die Universität und betrat das Gebäude der juristischen Fakultät. Ich kann den Widerstreit meiner Gefühle kaum beschreiben: Einerseits war ich beschämt, sie anscheinend zu Unrecht verdächtigt zu haben, andererseits war ich erleichtert. Dennoch schlich ich ihr weiter nach, was gar nicht so einfach ist, wenn man unentdeckt bleiben möchte. Ich sah, wie sie an eine Zimmertür anklopfte, die ihr von einem unscheinbaren, älteren Männlein mit schütterem Haar und viel zu breit geschnittenem, grauen Zweireiher geöffnet wurde. Als sie sich küssten, musste ich mich an der Wand, hinter der ich mich versteckt hielt, festhalten. Ich fürchtete, in Ohnmacht zu fallen, oder völlig auszurasten und mich wie eine Figur in einem dümmlichen Actionfilm laut schreiend auf den Mann zu stürzen und ihm die Fresse zu polieren – entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise.
Ich tat nichts dergleichen, sondern setzte mich auf einen Stuhl und atmete tief durch. Ein paar Minuten später fuhr ich nach Hause und betrank mich mit einer Flasche billigen Whiskey, den ich für solche Notfälle stets hinter den Ordnern mit den Rechnungsbelegen versteckt hatte. Ein Platz, der vor Maria völlig sicher war. Dann lutschte ich ein paar „Fisherman’s Friend“, bis mir die Zunge brannte, und legte mich ins Bett.