Bruno Preisendörfer



Das Bildungsprivileg


Eine Streitschrift







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Regenbrecht Verlag, Berlin 2015

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[1] Quellenangaben und Literaturverzeichnis im Anhang


[2] Es ist eine hübsche Koinzidenz, dass vierzig Jahre später, da ich mich rückblickend mit meiner Bildungsbiographie beschäftige, um deren weiteren Verlauf ich damals bangte, Deutschland erneut Weltmeister geworden ist.

»O Himmel, man kömmt leichter zu seiner Erzeugung als zu seiner Erziehung.«


Valerio in Leonce und Lena von Georg Büchner

Einleitung
Pinocchios Dilemma

Als im Juli 1881 Carlo Collodi in der italienischen Kinderzeitschrift Giornale per i Bambini die ersten beiden Kapitel seines Fortsetzungsromans über Pinocchios Abenteuer veröffentlichte, wollte er damit Kinder zum Lesenlernen verführen. In den ersten Kapiteln des Romans erzählt Collodi, wie Pinocchio von einem Tischler geschnitzt, mit einer Fibel ausgestattet und zur Schule geschickt wird. Dreizehn Kapitel später baumelt Pinocchio am Ast einer Eiche: »Er schloss die Augen, machte den Mund auf, streckte die Beine und blieb nach einem heftigen Zucken starr und steif hängen.«[1]

Was war passiert? Pinocchio hatte null Bock auf Schule und war einfach davongelaufen: »Wenn ich nämlich hierbliebe, dann geht es mir wie allen anderen Kindern, das heißt, man wird mich in die Schule schicken, und dann muss ich lernen, ob ich will oder nicht; und ich habe zum Lernen nicht die geringste Lust, und es macht mir mehr Spaß, den Schmetterlingen nachzulaufen.« Also verkaufte er seine Fibel und schloss sich einer Theatertruppe an, ganz ähnlich wie Wilhelm Meister in Goethes Bildungsroman.

Normalerweise handeln die Geschichten, die in dieser Gattung erzählt werden, davon, wie junge Menschen – das heißt: junge Männer – aus guter Familie allerhand Abenteuer erleben (gern mit Mädchen aus schlechter Familie), dabei die Eierschalen des Idealismus abstreifen und schließlich gereift den für sie reservierten Platz in der Gesellschaft einnehmen (gern mit einem Mädchen aus guter Familie). Diese Geschichten vom Hörnerabstoßen spielen sich im bürgerlichen Bildungsroman als Selbstentfaltung der Persönlichkeit ab. Die Abenteuer bilden aus, was seit jeher in den Abenteurern steckt. ›Werde, was du bist‹ ist die Maxime.

Nicht so bei Pinocchio, denn Pinocchio stammt aus der Unterschicht. Er »war kein Edelholz, sondern ein gewöhnliches Holz«, wie Collodi betont. Dennoch rebelliert er dagegen, in das Tischbein verarbeitet zu werden, für das er ursprünglich vorgesehen war. Er hat keine Lust auf die tragende Rolle in einem Spiel, in dem es die anderen sind, die zur Tafel gehen. Und wer möchte schon Tischbein sein, obwohl es, andererseits, Tischbeine geben muss, es muss ja auch Kassiererinnen und Busfahrer geben – nur sind das keine Jobs für bürgerliche Kinder, sondern für die aus gewöhnlichem Holz.

Solche Kinder kann man nicht erziehen, indem man ihre Anlagen und Begabungen entfaltet, sondern man kann umgekehrt ihre Anlagen und Begabungen nur entfalten, indem man das Holz überwindet, aus dem sie geschnitzt sind. Brave Bürgerkinder müssen nicht aufhören zu sein, was sie sind, um vielversprechend zu werden. Aber die Gewöhnlichen, die Bildungsfernen, die Bifs muss man aus ihrem Holz heraushauen, um sie zu etwas ›Besserem‹ erziehen zu können.

Die Erfahrung des Bruchs, die Menschen mit Bif-Hintergrund beim Überschreiten der akademischen Schwelle machen, wird in den öffentlichen Diskussionen kaum zur Kenntnis genommen – oder nur dann, wenn ein Zusammenhang mit multikulturellen Problemen besteht. Die stillen Dramen der Bildungsmigration innerhalb ein und derselben Kultur haben nicht genug exotische Spannung. Eine Beschäftigung damit würde außerdem die Bereitschaft voraussetzen, die multikulturalistische Perspektivenver­engung aufzugeben und die dazu querliegende klassistische Diskriminierung von deutschen wie von Migrantenkindern mit in den Blick zu nehmen.

Eine chancengerechte Schule ist unausweichlich auch eine zerstörerische. Die Bildungsemanzipation von Benach­teiligten ist ohne vorübergehende, meist sogar endgültige Loslösung von der familiären Herkunftskultur nicht zu haben. Der Harvardprofessor Roberto Mangabeiro Unger drückt das so aus: »Die Schule muss die Stimme der Zukunft sein. Sie muss das Kind aus seiner Familie, seiner Klasse, seiner Kultur und seiner historischen Zeit befreien.« Ralf Dahrendorf hatte Ähnliches in seinem Plädoyer Bildung ist Bürgerrecht schon vor vierzig Jahren geschrieben: »Das Bildungswesen ist [...] der Hebel, um Menschen aus ihren regionalen und familiären Loyalitäten zu befreien.«

Mit der Klasse, aus der das Kind nach Unger, und mit der familiären Loyalität, aus der es nach Dahrendorf befreit werden muss, sind nicht die Mittelklasse und die Zugehörigkeit zu einer Bildungsfamilie gemeint, sondern die bildungsferne Schicht und die bildungsferne Familie. Um bildungsfernen Kindern eine Chance geben zu können, müssen sie ihren Eltern weggenommen werden: in geistiger, mentaler und in der Folge oft auch in emotionaler Hinsicht. Das ist der bittere Kern des Versprechens auf Bildung: Diejenigen unter den Bildungsfernen, denen diese Chance gegeben wird, können sie nur wahrnehmen, indem sie ihre Herkunft der Zukunft opfern.

Ebendies müssen sie in der Schule lernen – gegen die Schule und gegen sich selbst. Dahrendorfs Bemerkung von 1965 trifft noch immer zu: »Die deutsche höhere Schule bemüht sich in der Regel nicht um jeden Einzelnen, der zu ihr kommt. Sie nimmt die Kinder, wie sie sind – die einen ›begabt‹, die anderen ›unbegabt‹, die einen zu Hause schon auf sie präpariert, die anderen neu und fremd in ihr, die einen in ihrem Zentrum, die anderen an ihrem Rande – und sie bevorzugt auf diese Weise die ohnehin Starken, während die Schwachen [...] durch sie noch zusätzlich bestraft werden. [...] Man kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, wer mühelos durch das deutsche Gymnasium gehen wird: der Sohn des Akademikers etwa, dessen Vater selbst ein humanistisches Gymnasium besucht hat, derjenige also, der im Grunde die Schule nicht braucht, um zu sich selbst zu kommen. Für ihn vervollständigt die Schule auf das eindringlichste die familiäre Welt; er macht es der Schule leicht – und sie entlohnt es ihm mit gleicher Münze.«

Nachdem Pinocchio vor der Schule davongelaufen und zur Strafe aufgeknüpft worden war, hielt Collodi die Moral von der Geschichte an ihr schlimmes Ende gekommen. Aber er hatte nicht mit dem Mitleid gerechnet, das seine Leser aus Fleisch und Blut mit dem hölzernen Hampelmann hatten. Nach einer Flut von Protestbriefen und der Erhöhung des Honorars entschloss Collodi sich zur Wiederaufnahme des Romans und erfand eine Fee, die für Pinocchio ebenfalls Mitleid empfindet und ihm das Leben rettet. Die darauf folgenden Kapitel steigern sich dann zum brutalsten Bildungsroman der europäischen Literatur: Pinocchio wird verspottet, übers Ohr gehauen, zum Dienst als Hühnerhund gezwungen, in einen Esel verwandelt, von einem Haifisch verschluckt. Er muss einen sadistisch ausgeschmückten Zerstörungsprozess durchlaufen, bis er am Schluss von sich selbst sagt: »Komisch war ich, als ich ein Hampelmann war! Und jetzt bin ich froh, dass ich ein braver Junge geworden bin!« Damit endet dieses Gewaltvideo von einem Kinderbuch. Pinocchio ist erzogen – und erkennt sich nicht wieder.

Der italienische Publizist Sergio Benvenuto hat einmal selbstkritisch angemerkt: »Auch wenn wir links wählen, betrachten wir den einfachen Mann wie einen Pinocchio, der als Kind dem Lustprinzip und nicht dem Realitätsprinzip gefolgt ist.« Auch die Bildungsnahen, die links wählen, glauben zu wissen, was den Bifs aus gewöhnlichem Holz fehlt: Strebsamkeit, Frustrationstoleranz und die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub. Statt den disziplinierten Hedonismus der Mittelschichten nachzuleben, sitzen sie, mit Staatsknete alimentiert, den lieben langen Tag im Jogginganzug auf der Couch und verfetten beim Unterschichtfernsehen, während ihre Bälger mit Ballerspielen den Amoklauf trainieren, bei dem sie unsere fleißigen und wohlerzogenen Kinder totschießen.

Mit dieser, zugegeben etwas karikierten Akademikervorstellung von ›bildungsfernen Schichten‹ hat der situierte und gut verdienende Facharbeiter in geordneten Verhältnissen nichts zu tun, obwohl er in der Regel tatsächlich bildungsfern ist und seine Kinder meistens auf die Haupt- oder Realschule, manchmal aufs Gymnasium und selten an die Universität schickt. Diese ganz normale Art von Bifs kommt in den Medien so gut wie gar nicht vor, obwohl sie einen großen Teil der arbeitenden Bevölkerung ausmacht. Ihre Bildungsferne wird ganz selbstverständlich gelebt und scheint darum auch ganz selbstverständlich zu sein. Außerdem fehlt ihr dieser verdrehte Sex-Appeal des voyeuristischen Abscheus, den die Hilflosen und Verkommenen bei Akademikern hervorrufen. Der Busfahrer mit sicherem Job, Pkw und Eigenheim lebt zusammen mit seiner als Kassiererin dazuverdienenden Frau in einer Distanz zur Bildung, die sich in ihrer Gewöhnlichkeit nicht theatralisieren lässt und deshalb medial uninteressant ist. Dass sie die Distanz zur Bildung in der Regel an ihre Kinder weitergeben, fällt nicht auf und regt nicht auf.

Die soziale Vererbung von Bildungsferne wird von den meisten Bildungsnahen zwar irgendwie als ungerecht empfunden, aber in vielen Äußerungen, die explizit wohlmeinend sind, steckt implizit auch Abwehr. Das lässt sich an Formulierungen deutlich machen, die in bildungspolitischen Diskussionen immer wieder zu hören und zu lesen sind. In einem Zeit-Artikel vom Dezember 2004 hieß es beispielsweise: »Wir können es uns nicht leisten, unsere Begabungsreserven zu verschwenden. Genau das tun wir aber, wenn etwa ein begabtes Arbeiterkind auf der Realschule landet statt auf dem Gymnasium und ihm nicht der Weg zu Abitur und Studium eröffnet wird.«

Es bleibt Potenzial ungenutzt, wenn das begabte Arbeiterkind nicht wie die Akademikerkinder zur Hochschule geht. Was soll an sympathischen Beschwerden wie dieser verkehrt sein?

Ersetzt man das ›Arbeiterkind‹ durch ›Mädchen‹ oder durch ›Ausländerkind‹, hört sich der Satz so an: Wir können es uns nicht leisten, unsere Begabungsreserven zu verschwenden, indem wir einem begabten Mädchen (beziehungsweise einem begabten Ausländerkind) nicht die gleiche Bildungschance geben wie den Jungs (beziehungsweise den Inländern). Die Abwandlungen veranschaulichen, dass der Satz die Ungerechtigkeit, die er im Einzelfall beklagt, strukturell bekräftigt. Warum wird beim Mädchen (beziehungsweise beim Ausländerkind) die Begabung extra betont, während sie bei den Jungen (beziehungsweise den Inländerkindern) unerwähnt bleibt? Und warum wird das begabte Mädchen (beziehungsweise das begabte Ausländerkind) als Reserve betrachtet, während Jungen (beziehungsweise Inländerkinder) von vornherein als Stammspieler der Bildung ausgezeichnet werden? Warum wird beim Arbeiterkind, um zur ursprünglichen Problematik zurückzukehren, die vorsichtige Einschränkung ›begabt‹ für nötig gehalten, während sich diese Begabung bei Akademikerkindern von selbst zu verstehen scheint, warum ist das Arbeiterkind bloß eine Begabungsreserve, und warum wird vom begabten Arbeiterkind in der Einzahl gesprochen, während die Akademikerkinder automatisch in der Mehrzahl stehen?

Der Vorbehalt in der Mädchenfassung des Beispielsatzes ist sexistisch, der Vorbehalt in der Ausländerkindfassung ist rassistisch, der Vorbehalt in der Arbeiterkindfassung ist klassistisch.

›Sexismus‹ und ›Rassismus‹ sind vom vielen Herumreichen glatt gegriffene Wortmünzen, der Ausdruck ›Klassismus‹ dagegen ist ungewohnt und sperrig. In Westdeutschland hat seit der ›geistig moralischen Wende‹ der frühen Achtziger und in Gesamtdeutschland seit dem Ende der DDR das Wort ›Klasse‹ etwas Obszönes und wird auf den Bühnen des öffentlichen Meinens sorgfältig vermieden. Der Sachverhalt, der Sozialverhalt, den es bezeichnet, bleibt hinter dem Vorhang, hört aber deshalb nicht auf zu bestehen. Auch nicht im Bildungswesen, das heute wieder so klassistisch ist wie vor fünfzig Jahren. Das ist die Wahrheit der seit dem PISA-Schock gängigen Litanei:

 

•   Im Dezember 2001 sagte Jürgen Baumert, wissenschaftlicher Leiter der ersten PISA-Studie in Deutschland: »Die Chancen eines Arbeiterkindes, anstelle der Realschule ein Gymnasium zu besuchen, sind viermal geringer als die eines Kindes aus der Oberschicht.«

•   Im September 2002 meldete der Spiegel: »Von den 32 untersuchten Nationen ist in keiner der Abstand zwischen der Leistung von Schülern aus privilegierten Familien und solchen aus unteren sozialen Schichten derart groß wie in Deutschland: Platz 32.«

•   Im April 2003 stand in der Zeit: »Je früher die Auslese, je hierarchischer die Schulstruktur, desto stärker schlägt sich die soziale Herkunft eines Schülers auf seine Leis­tung nieder.«

•   Im September 2004 sagte der Eliteforscher Michael Hartmann über die Auswahlgespräche an den Universitäten: »Bewerber aus bürgerlichen Familien werden gegenüber Arbeiterkindern eindeutig bevorzugt.«

•   Im Oktober 2004 schrieb Jochen Schweitzer, damals Vertreter der Kultusministerkonferenz in den PISA-Gremien: »Die Schüler aus den unteren Sozialschichten werden vierfach bestraft: durch ihre Herkunft, durch die ungerechte Selektion am Ende der Grundschule, durch die ungünstigen Lernbedingungen der Hauptschule und schließlich durch die geringsten Chancen auf dem Arbeitsmarkt.«

•   Im November 2005 hieß es, nachdem eine neue PISA-Studie veröffentlicht worden war, in der Zeit: »Die soziale Ungerechtigkeit ist tatsächlich die klaffende Wunde unseres Schulsystems. Das hat die erste PISA-Studie klar belegt.«

•   Im März 2007 appellierte UN-Berichterstatter Vernor Muñoz nach seiner Inspektionsreise durch deutsche Schulen vor dem Rat für Menschenrechte an die Bundesregierung, »das mehrgliedrige Schulsystem, das sehr selektiv und sicher auch diskriminierend ist, noch einmal zu bedenken«.

•   Im September 2007 stellte OECD-Generalsekretär Angel Gurría den internationalen Vergleichsbericht Bildung auf einen Blick vor und kritisierte die Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft und die frühe Selektion im deutschen Schulsystem.

•   Im September 2008 wurde eine Wiesbadener Studie veröffentlicht, in der alle 35 Grundschulen der Stadt auf die von ihnen ausgesprochenen Gymnasialempfehlungen untersucht wurden. Das Ergebnis: Schüler aus den unteren sozialen Schichten haben deutlich geringere Chancen auf eine solche Empfehlung als Kinder aus Akademikerfamilien, auch bei gleicher Leistung.

•   Im August 2012 konstatierte Hans-Peter Blossfeld, damals Leiter des Nationalen Bildungspanels: »Bei den Männern hat die soziale Herkunft 1950 über die Bildungs­chancen entschieden, und sie entscheidet auch heute noch darüber.«

•   Im März 2013 referierte die Welt eine britische Vergleichsstudie mit dem deutschlandtypischen Resultat: »Der Nachteil, ungebildete Eltern zu haben, wiegt deutlich schwerer als in den USA, England, Frankreich, Kanada, Schweden oder Australien, attestierten jüngst Wissenschaftler er britischen Stiftung Sutton Trust«.

•   Im Mai 2013 fasste Bernd Rüthers die Entwicklung der sozialen Zusammensetzung der Studierenden seit dem Auslaufen der sozialliberalen Bildungsoffensive so zusammen: »Seit 1982 ist die Zahl von Arbeiterkindern an deutschen Hochschulen mit Ausnahme des Jahres 2009 regelmäßig gesunken. Mit 59 Prozent kommt aber weiterhin mehr als jeder zweite Student aus gehobenen und besonders begüterten Schichten.«

 

Und was ging insgesamt aus der Reihe der PISA-Studien bis 2014 hervor? Dass sich die Lese-, Lern- und Kompetenz-Ergebnisse allmählich verbesserten? Sie haben sich im internationalen Vergleich tatsächlich verbessert, was vor allem am stärkeren Abschneiden der Jugendlichen aus Zuwandererfamilien liegt. Wuchs parallel dazu auch die Chancengerechtigkeit? Jein, insofern, als sich die Situation der Migrantenkinder etwas, die der Unterschichtskinder kaum verbessert hat. 2012 fasste die taz die Ergebnisse des Bildungsmonitors vom gleichen Jahr so zusammen: »Die Politik kommt bei ihrer wichtigsten Aufgabe, den Pisaschock aus dem Jahr 2001 zu überwinden, nur im oberen Segment des Bildungswesens voran.«

Als 1957 der erste sowjetische Weltraumsatellit im Westen den Sputnikschock und in dessen Folge eine Bildungsoffensive zum Ausschöpfen der ›Begabungsreserven‹ auslöste, gab es vier Hauptgruppen von Bifs: die Mädchen, die Katholischen, die Landeier und die Arbeiterkinder. Das katholische Arbeitermädchen vom Land wurde zum erschrocken herumgereichten Sinnbild akkumulierter Benachteiligung. Heute sind Landkinder und Katholiken in höheren Schulen und Universitäten nicht mehr unterrepräsentiert. Auch die Bildungsdiskriminierung der Mädchen ist überwunden (allerdings nicht die Benachteiligung der Frauen in Beruf und Karriere). Dagegen hat sich an der klassistischen Benachteiligung von Arbeiter-, Unterschicht- und Kleine-Leute-Kindern nichts geändert. Hinzugekommen ist die Diskriminierung der Kinder von Migranten.

Nach dem PISA-Schock vom Dezember 2001 flammte eine Bildungsdiskussion auf, die derjenigen nach dem Sputnikschock auf frappierende Weise ähnelte. Die Ungerechtigkeiten wurden benannt, beschrieben, beziffert, beklagt. Dass hinter den Ungerechtigkeiten handfeste Interessen stehen und dass es um die Verteidigung von Privilegien geht, war und ist jedoch nur selten Thema. Was wäre denn, wenn die Kinder der Bifs nach ihrem Bevölkerungsanteil an den Universitäten vertreten wären? Und wenn dementsprechend die Kinder der Akademiker ebenfalls nach ihrem Bevölkerungsanteil an den Universitäten vertreten wären?

Würden den Kindern der Bifs auch nur annähernd gleiche Chancen eingeräumt, hätte das für die Kinder der Akademiker derart dramatische Gerechtigkeitsfolgen (viele könnten nicht mehr studieren), dass von den bildungsnahen Schichten einfach nicht zu erwarten ist, zu mehr als zu Mitleid im Einzelfall bereit zu sein – so wie die Leserinnen und Leser Collodis Mitleid mit Pinocchio hatten und wie heute das besonders begabte Arbeiterkind bemitleidet wird. Einzelne Bifs kann man aufnehmen ins Bildungssystem, aber wehe, wenn sie in Scharen kommen.

In Zeiten, in denen eine verunsicherte Mittelschicht von Abstiegsängsten geplagt wird und um die Zukunft ihrer Kinder fürchtet, fällt es den Bildungsnahen verständlicherweise schwer, statt Mitleid im Einzelfall Solidarität in der Breite aufzubringen. Chancengleichheit muss man sich leisten können, Gerechtigkeit ist ein Luxusartikel für fette Jahre.

Die Bifs werden aber nicht nur von Bildung ferngehalten, sie halten sich auch selbst davon fern. Zu oft verstehen sie nicht einmal, worum sie da betrogen werden und sich selbst betrügen. Nicht Bildung als Bildung vermissen sie, sondern das, was Bildung gewöhnlich mit sich bringt: besseres Einkommen, mehr soziale Sicherheit, einen höheren gesellschaftlichen Status. Bildung ist jedoch nicht nur ein funktioneller Wert, sondern schließt geistige, seelische und ästhetische Dimensionen auf, deren Begreifen, Erleben und Genießen wertvoll in sich selber sind. Wer an der Bildung betrogen wird, wird am Leben betrogen.

Solange die Bifs nicht begreifen, welches Spiel mit ihnen gespielt wird, gibt es für sie nur in Einzelfällen Chancen, aber nie in der Masse, wie es gerecht wäre und auch der Normalverteilung ihrer Begabung entspräche, die sich nicht wesentlich von der in bildungsnahen Schichten unterscheidet. Was den Bifs fehlt, um ihr Recht auf Bildung einzufordern, ist eben: Bildung! Sie werden bemitleidet, kommen aber nirgends zu Wort. In den Zeitungen nicht, in den Schulbehörden nicht und in den Schulen selbst auch nicht. Sie können nicht mitreden, nicht einmal, wenn es um ihre eigenen Kinder geht. Sie wissen einfach nicht Bescheid, und wenn sie doch Bescheid wissen, können sie sich nicht ausdrücken. Wenn sie sich doch ausdrücken können, werden sie nicht gehört. Und wenn sie doch gehört werden, hat das Folgen für einzelne, besonders begabte Ausnahmefälle, aber nicht für das durch und durch klassistische System der ›Selektion‹, wie das scheußliche Rampenwort der Pädagogik lautet.

Darin besteht das Pinocchio-Dilemma: Wer fähig ist zu verstehen, wie dem Hampelmann mitgespielt wurde, ist gleichzeitig zu verschieden von ihm, um sich ganz in ihn hineinversetzen zu können; und wer sich in ihn hineinversetzen kann, ist selbst zu sehr Pinocchio, um die Zusammenhänge zu begreifen. Deshalb ist Pinocchio am Ende, als er es geschafft hat, von sich selbst getrennt und versteht sich nicht mehr.

 

*


Der im Jahr des Sputnikschocks geborene Autor dieses Buches kommt sich als katholisches Arbeiterkind vom Land manchmal selbst wie ein Pinocchio vor. Er hat einen recht verwickelten Bildungsweg durchlaufen, auch wenn er – hoffentlich – nicht in einen Esel verwandelt und bestimmt nicht von einem Haifisch verschluckt wurde (die Becken, in denen das vorkommt, hat er gemieden). Es ist ihm gelungen, die zweite Chance, die er wie Pinocchio ausnahmsweise bekommen hat, zu nutzen. Aber am Ende steht er seiner Herkunft getrennt gegenüber und weiß: Die Mehrheit der Bifs hat keine Chance.

Aus ihrer Perspektive ist dieses Buch geschrieben. Das geht nicht ohne Gefühle, rote wie weiße. In Emily Brontës Roman Sturmhöhe gibt es eine Passage, in der geschildert wird, wie die hübsche und gut erzogene Catherine auf die Selbsterziehungsversuche ihres bildungsfernen Vetters ­Hareton Earnshaw reagiert, der ohne Erlaubnis ihre Bücher benutzt: »Ja, ich höre ihn immer, wie er sich im Buchstabieren übt und laut vor sich hin liest, und was für schöne Schnitzer er dabei macht!« Der männliche Ich-Erzähler, vor dem Catherine ihren Vetter, noch dazu in dessen Beisein, verhöhnt, kommentiert: »Der junge Mann fand es ganz offenbar zu gemein, dass man ihn erst wegen seiner Unwissenheit verspottete und sich dann auch noch über seine Versuche lustig machte, sie aus eigener Kraft zu überwinden.« Als er Hareton gegen Catherine in Schutz nimmt, bekommt er zur Antwort: »Ich will seinem Wissensdrang nicht im Wege stehen, dennoch hat er kein Recht, sich an meinem Besitz zu vergreifen.« – »Hareton blieb einen Augenblick stumm, und seine Brust hob und senkte sich; in ihm tobte ein Gefühl der Demütigung und der Wut, das er nur mit Mühe unterdrücken konnte.«

Fast alle, die trotz des Stigmas elterlicher Bildungsferne der Bildung nahe gekommen sind, kennen diese zwischen Rot und Weiß schwankende Empfindung. Die Scham über die Kränkung treibt uns das Blut in die Wangen, der Zorn über sie lässt uns erbleichen.

Kapitel 1: Kurze Geschichte der Chancengleichheit vom Sputnik- bis zum PISA-Schock

»Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; ­Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig; nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins umso mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.«

Mit diesem Absatz beginnt Johann Wolfgang von Goethe das erste Kapitel seiner Autobiografie Dichtung und Wahrheit. Das Buch ist einer der Schlüsseltexte des deutschen Bildungsbürgertums und bildet zusammen mit Goethes Wilhelm Meister das Fundament des deutschen Bildungsromans. Aber nicht nur über Individuen lassen sich Bildungsromane erzählen, sondern auch über ›Alterskohorten‹, wie Soziologen martialisch sagen, oder über ganze Gesellschaften.

Der Bildungsroman der Bundesrepublik begann mit einem zwölf Jahre dauernden restaurativen Prolog. Nach dem Zusammenbruch des ›Dritten Reiches‹ dominierten zunächst die Entnazifizierungs- und Reedukationsprogramme der Alliierten den Aufbau des Schulwesens in den vier Besatzungszonen. Allerdings setzten sich ihre bildungspolitischen Vorstellungen nicht in allen Punkten durch. So wurde etwa der Versuch, die starre vertikale Gliederung des Schulsystems durch eine Verlängerung der Grundschule auf sechs Jahre und durch eine größere Durchlässigkeit zwischen den Schultypen wenigstens abzumildern, von den deutschen Bildungsschichten heftig befehdet und schließlich abgewehrt. 1955 vereinbarten die westdeutschen Bundesländer, denen das Grundgesetz die Bildungs- und Kulturhoheit garantierte, im Düsseldorfer Abkommen die Verbindlichkeit des dreigliedrigen Schulsystems, also das getrennte Nebeneinander von Volksschulen, Mittelschulen und Gymnasien.

Auch wenn dieses System später durch zweite und dritte Bildungswege ergänzt und je nach Bundesland und bildungs- und arbeitsmarktpolitischer Konjunktur mal mehr, mal weniger flexibel gehandhabt wurde, macht seine Starrheit heute noch zu schaffen. Die Bildungselite beharrt auf der Widerspiegelung der sozialen Hierarchie in der Hierarchie der Schulen. Jedes Bemühen, daran etwas zu ändern, wurde und wird von den Privilegierten als Frontalangriff auf ihre Interessen gewertet.

Nicht einmal die Sieger über das zusammengebrochene Deutschland wagten es, die Egalisierung und Demokratisie­rung des Schulwesens gegen den Willen der Eliten durchzusetzen, mit denen sie sich zum Wiederaufbau verbünden mussten. Der mittleren und oberen Beamtenschaft, dem Besitz­bürgertum und der traditionellen Funktions­elite stand das altsprachliche Gymnasium weiterhin als exklusive Vorbereitung auf die Universität zur Verfügung. Bildung wurde ausdrücklich nicht als Ausbildung begriffen, sondern als Persönlichkeitsreifung des Nachwuchses der Elite, der damit die exklusive Berechtigung erwarb, die führenden Stellungen in Staat und Gesellschaft einzunehmen.

»Höhere Schulbildung muss Elitebildung sein und bleiben«, forderte die Zeitschrift des konservativen Philologenverbandes. In diesem Gesellschaftsbild entspricht der Abstufung der Schichten die Abstufung der Schulen und ihr wiederum die Abstufung der Begabungen. »Nur fünf Prozent aller Kinder«, hieß es 1956 in Die Bayerische Schule, »erfüllen die psychologischen Bedingungen, die für die höhere Schule gestellt werden müssen; weitere zehn Prozent besitzen die mehr praktische Begabung, wie sie von den Mittelschulen verlangt wird, und die übrigen 85 Prozent sind für die Volksschule geeignet.« Dass die Abstufung der natürlichen Begabung möglicherweise querliegen könnte zur sozialen Schichtung, wurde nicht thematisiert, das Hochschulprivileg war ein Geburtsvorteil wie in früheren Zeiten die aristokratische Herkunft. Ausdrücklich warnt Die Bayerische Schule vor ›ungesundem‹ Bildungsdrang.

Diese so rigorose wie bornierte Fortsetzung des Hergebrachten geriet allerdings seit Mitte der Fünfzigerjahre in die Kritik. Es wurde darüber nachgedacht, was aus der bundesdeutschen Ökonomie werden würde, wenn das Wirtschaftswunder der Wiederaufbaujahre seinen Höhepunkt überschritten hätte und weiteres Wachstum mehr vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt abhinge als vom bloßen Arbeitsfleiß der Bevölkerung. Würde die gesellschaftliche und wirtschaftliche Weiterentwicklung durch unmoderne Schulen und Universitäten gebremst werden? »Wie man es auch dreht und wendet, das deutsche Bildungssystem weist einen kritischen Modernisierungsrückstand auf.« Dieser Satz passt genau auf die Situation der Fünfzigerjahre, obwohl er in einem 2003 erschienenen Bericht des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung steht und sich – umso schlimmer – auf die Gegenwart bezieht.

Im Unterschied zu heute wurden diese Zukunftsprobleme Mitte der Fünfzigerjahre in der Öffentlichkeit nur vorsichtig diskutiert. Es sollten beim Volk keine Erwartungen geweckt werden, die der Staat dann nicht erfüllen konnte. Die Angst vor dem ›ungesunden‹ Andrang war groß – bis 1957 der sowjetische Sputnik in den USA einen Schock auslöste, dessen Welle auch die Bundesrepublik überrollte. Der Satellit wurde in der Nacht von Freitag, den 4. Oktober, auf Samstag, den 5. Oktober, mit einer mehrstufigen Trägerrakete ins All geschossen. Sputnik bedeutet auf Deutsch ›Weggenosse‹, und diesem etwas doppeldeutigen Namen gemäß umkreiste er Mutter Erde, bis er 92 Tage später der Anziehungskraft seiner Herkunft erlag und in der Atmosphäre verglühte.

Bereits Anfang November schickten die sowjetischen Techniker Sputnik 2 hinterher, mit Laika an Bord. Der arme Hund ließ bei der mörderischen Mission sein Leben. Aber es war der Beweis erbracht, dass ›die Russen‹ nicht bloß Anfängerglück hatten, sondern ihr Weltraumwunder wiederholen konnten, während die am 6. Dezember 1957 gestartete erste amerikanische Weltraumrakete Vanguard 1 zurück auf die Rampe stürzte und explodierte. Und noch etwas fiel ins Gewicht, auf bedrohlich wörtliche Weise: Der zweite Sputnik war fünfmal schwerer als der erste. Die Trägerrakete hatte also Antriebskraft genug, nicht nur piepsende Aluminiumkügelchen in den Himmel, sondern auch Atombomben nach Amerika zu schießen.

Nach dem Koreakrieg Anfang der Fünfziger, der Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO und der Gründung des Warschauer Pakts 1955, der Suezkrise von 1956 und der Niederschlagung des Ungarnaufstandes im gleichen Jahr drohte aus dem Kalten Krieg ein heißer zu werden. In dieser dramatischen Situation sah es so aus, als hätte die Sowjetunion die technologische Führung übernommen. Als Sputnik 1 Anfang Januar 1958 seinen Lebenslauf um die Erde beendete, widmete ihm der amerikanische Radio­kommentator Gabriel Heatter einen Nachruf voll sarkas­tischer Selbstkritik. »Thank you, Sputnik«, sagte Heatter, »du wirst nie wissen, welch ungeheuren Lärm du gemacht hast. Du hast uns einen Schock verpasst, der viele Leute so hart traf wie der von Pearl Harbor. Du hast unserem Stolz einen schrecklichen Schlag versetzt. Wir mussten plötzlich begreifen, dass wir nicht in allem die Besten sind.«

Der Sputnikschock führte zur bildungspolitischen Einsicht, dass die technologische Gesellschaft der Zukunft nicht allein von einer wissenschaftlichen Elite aufgebaut werden konnte, sondern auf ein breites Fundament allgemeiner Bildung angewiesen war. Im Konkurrenzkampf der Systeme reichte es nicht mehr, dem Volk in einer achtklassigen Regelschule nur das Nötigste beizubringen: Lesen, Schreiben, Rechnen, ergänzt durch Religion und Heimatkunde. Die herkömmlichen Theorien über die vom ›Kleinen Mann‹ und seiner Frau benötigte Schulbildung wurden beiseite gespült. Der technische Vorsprung der Sowjet­union konnte nur eingeholt werden, wenn es gelang, die Begabungsreserven im Volk zu mobilisieren.

In einem Artikel von W. Brookover über »Entwicklungs­tendenzen in der Soziologie der Erziehung« aus dem Jahr 1959 heißt es: »In dem Maße, in dem der Kalte Krieg einen Kampf um die Einstellungen der Menschen und einen Wettbewerb um das wirksamste soziale System darstellt, kann das Erziehungssystem zu einem Faktor werden, der den Ausgang bestimmt. Wir haben gesehen, dass man sich sehr um die Erhellung der Beziehungen zwischen dem pädagogischen System und der gesellschaftlichen Schichtung bemüht. Der dringende Bedarf an hoch qualifizierten Kräften in den akademischen und technischen Berufen in allen Teilen der Welt hat zu einer kritischen Überprüfung unserer Schulsysteme geführt.«

Die nicht zu umgehende Notwendigkeit der Mobilisierung von Reserven erleichterte auch den konservativen Eliten das Nachdenken über die Chancenerweiterung für Kleine-Leute-Kinder. Für sie lässt sich sagen: »Die Konstella­tion war glücklich.« Ohne den Sputnikschock wären sie nie auch nur in die Nähe einer höheren Schule oder gar einer Universität gelangt. Die Kinder der ›Generation Begabungsreserve‹ wurden die Kalten-Kriegs-Gewinnler der bundesdeutschen Bildungsgeschichte. Was für Goethe freundlich kreisende Planeten waren, das waren für sie feindlich kreisende Satelliten.

Allerdings konnten selbst die Sputniks dem dreigliedri­gen Schulsystem nichts anhaben. Das Rekrutieren von Nachrückern ins System wurde möglich, das System selbst aber blieb sakrosankt. 1959 legte der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen einen »Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens« vor. Der Bildungshistoriker Bruno Hamann schreibt darüber: »Aus gesellschaftlichen Gründen suchte der Deutsche Ausschuss die bildungsexpansiven Tendenzen [...] zu fördern. An der Dreigliedrigkeit des Schulsystems hielt er (mit Rücksicht auf die arbeitsteilige Gesellschaftsverfassung) fest, forderte aber mehr Durchlässigkeit und individuell angepasste Bildungsgänge.« Der gewundene Ausdruck ›arbeitsteilige Gesellschaftsverfassung‹ ist ein Euphemismus für ›Klassengesellschaft‹. Die sollte durch Reformen gegen den Sowjet­sozialismus verteidigt und keinesfalls selbst ›sozialistisch‹ werden.

Die nach dem Sputnikschock geführten bildungspolitischen Diskussionen waren beherrscht von der Sorge, weder genug Lehrer und Professoren noch genug Schüler und Studenten hervorbringen zu können. Die Führung im Kreml habe begriffen, schrieb beispielsweise am 11. November 1960 die Stuttgarter Zeitung, dass ein Staat »viele Wissenschaftler haben muss, wenn er stark sein will«. Es gäbe dort 2,4 Millionen Studenten und 104.000 Professoren, in der Bundesrepublik aber nur 200.000 Studenten und 9000 Professoren und Dozenten.

Hans Werner Richter, der Zeremonienmeister der Gruppe 47, mahnte noch 1962: »Wir Deutschen können in der Weltgeschichte leicht zu den Provinzlern des kommenden, ›planetarischen‹ Zeitalters werden. [...] Heute sind wir sowohl hinter dem amerikanischen wie auch hinter dem russischen Schulsystem, in dem doppelt so viele Lehrer auf die gleiche Schülerzahl kommen wie bei uns, weit zurückgeblieben, eine Gefahr, die größer ist als jede unmittelbar militärisch-politische Bedrohung.«

Kurze Zeit später machte der nordrhein-westfälische Kultusminister Paul Mikat sogar den Vorschlag, 300 Pädagogikstudenten nicht zur Bundeswehr einzuziehen, sondern wegen ihres Einsatzes an der Bildungsfront unabkömmlich zu stellen: »Im letzten Krieg sind es die Rüstungsarbeiter gewesen, die man uk stellen musste, jetzt, in diesem Kalten Krieg, sind es die Lehrer.«

Eine weitere wichtige Berufsgruppe im kalten Bildungskrieg waren die Ingenieure. 1957 empfahl die Kultus­ministerkonferenz den Aufbau zusätzlicher Studiengänge. Außerdem wurden seit diesem Jahr die Ingenieurschulen bei der statistischen Erfassung von den übrigen Fachhochschulen getrennt, um ein besseres Bestandsbild zu erreichen. Die Klagen der Wirtschaft über den Mangel klingen von heute aus wie ein historisches Echo der gegenwärtigen Beschwerden. Tausende von Ingenieursstellen sind unbesetzt, während zugleich Tausende von Ingenieuren arbeitslos gemeldet sind, weil sie ein zu niedriges Kompetenz­niveau oder zu hohe Ansprüche hätten. Der Klage folgt der Appell an die Frauen, sich stärker den Ingenieurberufen zuzuwenden. Vor fünfzig Jahren waren die Arbeiterjungs die technische Reservearmee, heute sind es die Mädchen und Migranten.

Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Harold Lasswell hat Politik als Antwort auf die Frage beschrieben: Wer bekommt was, wann und wie? Dementsprechend ist Bildungspolitik die immer wieder neu auszuhandelnde Beantwortung der Frage: Wer bekommt warum wie lange welche Schule? Diese Frage wurde in den verschiedenen Phasen der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte auch verschieden beantwortet. Die Konjunkturanfälligkeit eines bedarfsorientiert konzipierten Rechts auf Bildung stellte sich schnell heraus. Die Kinder aus der Begabungsreserve blieben Reserve, mochten sie so begabt sein, wie sie wollten. Sie kamen nur an die Reihe, wenn die Kinder aus Beamten- und Akademikerfamilien mit Gymnasial- und Universitätsplätzen versorgt waren.

Der Bildungshistoriker Alfons Kenkmann fasst das so zusammen: »Die Hochkonjunktur bildungspolitischer Dis­­kussionen in der bundesrepublikanischen Geschichte endete im Zusammenhang mit der ökonomischen Krise 1973/74 als Bildungskrise. Gleichzeitig wurde damit die ›Periode der bildungspolitischen Ernüchterung‹ eingeleitet. Es wurde­ deutlich, dass der Konsens in der Bildungsplanung unter Bedingungen der Prosperität breit war, unter rezessiven Vorzeichen sich jedoch als äußerst brüchig erwies.«

Der bildungspolitische Aufbruch nach dem Sputnikschock wurde in den Sechzigerjahren forciert durch die Warnung vor einer drohenden ›Bildungskatastrophe‹, mit der Georg Picht 1964 aufgeregte Debatten hervorrief, die nur mit denen nach der ersten PISA-Studie fast vier Jahrzehnte später verglichen werden können. Picht gehörte dem Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen an, der anderthalb Jahre nach dem Sputnikschock gegründet worden war.

In einer Artikelserie in der Zeitung Christ und Welt und in einem daraus zusammengestellten Buch rechnete er eine dramatische Verschärfung des Lehrermangels vor, prangerte den Zustand der Volksschulen an, beklagte die Unreformierbarkeit des Gymnasiums und die Rückständigkeit der Hochschulausbildung. Deutschland befinde sich, verglichen mit anderen Industrieländern, in einem Modernisierungsrückstand und sei den Herausforderungen der künftigen Wissensgesellschaft nicht gewachsen. Die gesellschaftliche Bedeutung der Schule sei überhaupt noch nicht erkannt, hier »werden die Sozialchancen vergeben, hier wird entschieden, nach welchen Prozentsätzen sich die verschiedenen Bildungsqualifikationen auf unsere Gesellschaft und ihre Schichten verteilen«. Wenn es nicht gelinge, die Starrheit des dreigliedrigen Schulsystems zu überwinden und die Begabungsreserven auszuschöpfen, drohe dem deutschen Volk nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg eine dritte, eine Bildungskatastrophe.