Über das Buch
Das 20. Jahrhundert brachte mit Nationalsozialismus und Stalinismus zwei totale Herrschaftssysteme hervor – und einen neuen Menschentyp: den philotyrannischen Intellektuellen. Große Denker entwickelten eigenwillige, mitunter brillante Theorien, um den Machtanspruch von Ideologien zu begründen. Mark Lillas Fallanalysen von Heidegger, Schmitt, Foucault u.a. gehen der Frage nach, wie Philosophie, einst Liebe zur Weisheit, innerhalb eines Jahrhunderts zur Rechtfertigung der Tyrannei verkommen konnte.
»Platon war der Erste, dem – an sich selbst – auffiel, dass viele Intellektuelle der irrigen Vorstellung erliegen, eine gute Gesellschaft könne geschaffen werden, indem man einem Tyrannen dient, der die Macht hat, seinen Willen durchzusetzen. Diese Form der Philia, in der Moderne von einzelnen Staatsmännern auf die tyrannischen Ideologien unserer Zeit übertragen, wurde – zuerst in Europa und schließlich im Rest der Welt – zu einer unerwartet mächtigen Kraft in der modernen Geschichte.«
Über den Autor
Mark Lilla, geb. 1956, lehrt als Professor für Geisteswissenschaften an der New Yorker Columbia University und forscht am Institut d’études avancées in Paris. Schwerpunkt seiner Arbeiten ist die politische und religiöse Ideengeschichte des Westens.
Von Mark Lilla erschien im Kösel-Verlag: Der totgeglaubte Gott. Politik im Machtfeld der Religionen.
Mark Lilla
Der
hemmungslose
Geist
Die Tyrannophilie
der Intellektuellen
Aus dem Amerikanischen von
Elisabeth Liebl
Kösel
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel The Reckless Mind. Intellectuals in Politics © 2001 Nyrev, Inc. All rights reserved.
Der Verlag dankt der Brougier-Seisser-Cleve-Werhahn-Stiftung für die großzügige Förderung der Übersetzung. www.bscw-stiftung.de
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Isbn 978-3-641-15510-0
www.koesel.de
Inhalt
Vorwort
Kapitel I
Martin Heidegger
Hannah Arendt
Karl Jaspers
Kapitel II
Carl Schmitt
Kapitel III
Walter Benjamin
Kapitel IV
Alexandre Kojève
Kapitel V
Michel Foucault
Kapitel VI
Jacques Derrida
Nachwort
Die Verlockung von Syrakus
Danksagung
Endnoten
Vorwort
Um die Gründe des menschlichen Herzens zu studieren,
ziehe ich es vor, die Lebensgeschichten
einzelner Personen zu betrachten.
Rousseau
Jedes Leben läuft auf ein Zentrum zu.
Emily Dickinson
Der hemmungslose Geist erschien in den Usa am 9. September 2001, zwei Tage vor den al-Qaida-Angriffen auf New York City und Washington. Auf nicht vorhersehbare Weise läutete dieses Ereignis das Ende einer Ära ein – und zeigte die unsere in einem umso deutlicheren Licht. Unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer hatte ich damit begonnen, als eine Art Rückblick auf das historische Drama, das eben ein Ende gefunden hatte, Porträts europäischer Denker des 20. Jahrhunderts und ihrer politischen Verwicklungen zu verfassen. Ich las und schrieb und machte mir Gedanken darüber, was diese Gestalten trotz aller politischen Unterschiede verband. Und so stieß ich auf das eigenartige Phänomen der Tyrannophilie. Platon war der Erste, dem – an sich selbst – auffiel, dass viele Intellektuelle der irrigen Vorstellung erliegen, eine gute Gesellschaft könne geschaffen werden, indem man einem Tyrannen dient, der die Macht hat, seinen Willen durchzusetzen. Diese Form der Philia, in der Moderne von einzelnen Staatsmännern auf die tyrannischen Ideologien unserer Zeit übertragen, wurde – zuerst in Europa und schließlich im Rest der Welt – zu einer unerwartet mächtigen Kraft in der modernen Geschichte.
Diese Zeit scheint heute nahezu vergessen. Im Gefolge der Französischen Revolution beherrschten zwei große historische Narrative das westliche politische Denken, die beide zu großen Volksbewegungen wurden: eine progressive, die in einer befreienden Revolution gipfelte, und eine apokalyptische, konterrevolutionäre, die sich stets die Restauration eines imaginären ancien régime auf die Fahnen schrieb. Keines dieser beiden Narrative findet heute noch flammende Befürworter, sei es unter den Intellektuellen oder in der breiten Öffentlichkeit, und dafür sollten wir dankbar sein. Andererseits aber hat ihr Verschwinden das zeitgenössische politische Denken auch vor eine neue Herausforderung gestellt. Mit dem Ende des Kalten Krieges scheinen wir das Zeitalter der widerstreitenden Ideologien gegen eine einzige dogmatische Unterströmung eingetauscht zu haben, die nun Politik und Denken bewegt. Dieses neue Dogma ist der Libertarismus.
Der Libertarismus gründet sich auf die Idee, dass individuelle Autonomie vor sozialer Verpflichtung geht und dass alles gut wird, wenn nur das Individuum die maximale Freiheit erhält. Und wenn nicht: pereat mundus, nach mir die Sintflut. Dieses Dogma ist Kern unseres politischen Diskurses und erfordert keine weitere Erklärung. Es handelt sich um eine Mentalität, eine Stimmung, ein Grundprinzip – etwas, das wir – ohne verächtlich klingen zu wollen – auch als Vorurteil bezeichnen könnten. Und es findet sich querbeet über alle politischen Richtungen verteilt. Die Ersatzrechte – die revolutionärste Kraft unserer Zeit – stützt sich nicht mehr auf Autorität oder Tradition wie die Reaktionäre im 19. Jahrhundert. Sie ruft vielmehr nach freiem Warentausch. Sie will die Autorität des Staates begrenzen und erhebt Innovation und die Ansammlung persönlichen Reichtums zum obersten Ziel. Die Ersatzlinke unserer Zeit setzt nicht mehr auf Klassensolidarität und Opfer für das Gemeinwohl, wie die sozialistische Tradition dies tat. Sie verbeißt sich vielmehr darin, den Menschen aus seinen traditionellen Verpflichtungen und sozialen Normen herauszulösen, damit er mit seinem Körper und (in zweiter Linie) seinem Geist endlich machen kann, was er will. Intoleranz, nicht Ungerechtigkeit, ist heute die große Todsünde.
Ideologien versuchen, der Geschichte Herr zu werden, indem sie zuerst einmal versuchen, sie zu verstehen. Das Dogma hingegen billigt Unwissenheit in Bezug auf geschichtliche Gegebenheiten und blendet seine Anhänger im Hinblick auf den eigenen Einfluss in der Welt. Es ist schon erstaunlich, wie wenig Geschmack an der Wirklichkeit die libertären Dogmatiker unserer Zeit finden, wie wenig sie sich dafür interessieren, wie wir an diesen Punkt unserer Entwicklung gelangt sind und wohin es von hier aus weitergeht. Es gibt keine libertäre Geschichtssoziologie (ein Widerspruch in sich) oder -psychologie oder -philosophie. Die dogmatische Simplizität des Libertarismus, sein Gebot des sola fide, das nur Glauben fordert und sonst nichts, erklärt auch, warum Menschen, die ansonsten wenig gemein haben, sich unter seinem Banner sammeln: Anarchisten in Europa und Lateinamerika, Befürworter eines minimalen Staates in den Usa, die Propheten der Demokratisierung, die Kreuzritter der Menschenrechte, die evangelikalen Wirtschaftswachstumsprediger und Hacker aus aller Welt. Unser Zeitalter ist kampflos libertär geworden.
Und wohin haben sich die Intellektuellen verkrochen? Sie sind stumm, selbst wenn sie sich zu Wort melden. Auch dafür sollten wir dankbar sein. Das Zeitalter der Zivilisationsliteraten ist vorüber. Die Letzten ihrer Art, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren noch aktiv waren, sind nun angesehene Männer und Frauen, deren Schriften eher nostalgische Anwandlungen hervorrufen denn Kontroversen. Auch sie stacheln niemanden mehr zum Handeln an. Das mit Verve geschriebene politische Pamphlet ist akademischen Lehrbüchern gewichen und fernsehwirksamen Schlagworten. Damit aber hat auch der frère ennemi des Zivilisationsliteraten ein Ende gefunden, der romantisch Unpolitische, der sich vom öffentlichen Leben distanziert, um durch Bildung seine Innerlichkeit zu kultivieren. Unsere Instant-Betrachtungen flimmern in 140-Zeichen-Botschaften über den Bildschirm unseres Smartphones und werden schneller vergessen, als sie geschrieben werden können. Welche Form unser intellektuelles Leben in naher Zukunft auch annehmen wird, es wird sich massiv von der Fehde der Gebrüder Mann über die Rolle des Denkers in der Gesellschaft unterscheiden. Es scheint, als wären wir fertig mit der Ernsthaftigkeit und Neugier, mit der wir der von uns geschaffenen Welt einst begegneten.
Doch wie wir in der Woche nach der Veröffentlichung dieses Buches in Amerika gelernt haben, sind die Probleme der Tyrannenherrschaft und der Tyrannophilie keineswegs vom Tisch. Mit einem bemerkenswerten Timing begann sich eine neue politisch-theologische Ideologie über den Erdball zu verbreiten, gerade als die Vertreter dieser Gattung in der westlichen Welt ausstarben. Obwohl der islamische Fundamentalismus politischer Prägung in den arabischen Ländern entstand, fand er schnell in der gesamten muslimischen Welt Verbreitung, von Afrika bis Süd- und Südostasien. Und nicht nur Muslime erlagen seiner Anziehungskraft. In den letzten Jahren haben westliche Journalisten immer wieder über junge Europäer und Nordamerikaner berichtet, die ihre Familien verlassen haben, um sich den Kräften des Islamischen Staates (Is) anzuschließen und mitzumachen bei seiner Walpurgisnacht, bei der munter gekidnappt, geköpft, systematisch vergewaltigt und erpresst wird. Von Zwangsbekehrungen und Massenmord einmal ganz zu schweigen. Die Porträts dieser Hasardeure und ihrer Familien zeigen, dass viele von ihnen einsame Kinder aus dysfunktionalen Familien waren, die im Internet »virtuelle« menschliche Beziehungen suchten. (Joseph Conrad und F. M. Dostojewski war dieser Typ nicht fremd.) Und mehr als das fanden: Sie entdeckten eine Ideologie, die ihr Leid in den Kontext eines messianischen historischen Narrativs einband, das mit einer glorreichen Vergangenheit einsetzte, ihnen die bedrückende Gegenwart erklärte und eine persönliche und politische Erlösung versprach. Und so werden wir – fünfundzwanzig Jahre nach Ende des Kalten Kriegs – Zeugen, wie junge Männer und Frauen aus deutschen Städten, französischen Dörfern, britischen Citys und nordamerikanischen Vororten ausziehen, um sich in Syrien und im Iran dem ruhmreichen Kampf zur Errichtung des Kalifats anzuschließen. Wenige überleben länger als ein paar Monate.
Ideologisch inspiriertes politisches Abenteurertum ist kein neues Phänomen. Man fühlt sich an die internationalen Brigaden erinnert, die im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner kämpften. Und an demokratische Sozialisten wie George Orwell, die bald feststellen mussten, dass ihre Kameraden fanatische Anhänger der Sowjetdiktatur waren mit der Mission, den demokratischen Sozialismus in Spanien zu sabotieren, wenn nötig durch Mord, um eine kommunistische Revolution anzuzetteln. Die Dreißigerjahre waren das Goldene Zeitalter der intellektuellen Tyrannophilie. Der Sieg über den Faschismus beraubte die Rechte ihrer Utopien, aber die Dekolonialisierung und die nachfolgenden Kriege hielten die revolutionären Fantasien wenigstens bei den Dritte-Welt-Romantikern der Linken bis in die Achtzigerjahre aufrecht. Die letzte aufsehenerregende Intervention eines Intellektuellen war Michel Foucaults frühe Unterstützung der Islamischen Revolution im Iran – die in der Rückschau wirkt wie ein Vorgeschmack auf das Aufeinanderprallen einer sterbenden westlichen Ideologie mit einer höchst lebendigen postkolonialen.
Fast keine westlichen Intellektuelle rechtfertigen heute den politischen Islamismus, und keiner versucht, die Grausamkeiten des Islamischen Staates zu rechtfertigen. Unser Problem ist ein ganz anderes: Wir haben unsere ideologischen Kämpfe hinter uns gelassen und damit auch die Fähigkeit, ja sogar den Wunsch, die der anderen zu begreifen. Wir haben es aufgegeben, der Geschichte einen Sinn abgewinnen zu wollen, und konzentrieren uns stattdessen ausschließlich auf uns selbst und unsere Rechte (niemals unsere Pflichten). Und deshalb fällt es uns schwer zu verstehen, was diese neueste globale Ideologie im Innersten antreibt. Als libertäre Dogmatiker müssen wir daran erinnert werden, dass die Phänomene des politischen und intellektuellen Lebens nach wie vor höchst lebendig sind, damit wir sie erkennen und mit ihnen nach bestem Wissen und Gewissen umgehen können. Heute, ein Jahrzehnt nach der Erstveröffentlichung von Der hemmungslose Geist, hege ich die Hoffnung, dass dieses Buch als solcher Weckruf dienen kann.
Mark Lilla
Institut d’études avancées, Paris
Dezember 2014