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Das Buch

Die Ewigkeit ist eine elitäre Organisation, die mittels Zeitreisen dazu in der Lage ist, Veränderungen in der Vergangenheit vorzunehmen, um einer zukünftigen Menschheit größeres Leid zu ersparen. Ganz vorsichtig verändern sie Schritt für Schritt unser gesamtes Universum, doch einige Jahrhunderte sind den Ewigen unzugänglich. Andrew Harlan lebt im 95. Jahrhundert und gehört zum exklusiven Kreis der Menschen, die die Zeit beherrschen. Er hat den Auftrag, durch sein spezielles Wissen den Bestand der Ewigkeit zu sichern. Seiner Aufgabe geht er mit Gründlichkeit und Hingabe nach, bis er ins 495. Jahrhundert reist und sich in das Mädchen Noÿs Lambent verliebt. Sie beweist Harlan, dass die Kontrollmacht der Ewigen nicht länger bestehen bleiben darf, wenn die Menschheit nicht zugrunde gehen soll.

Mit dem Foundation-Zyklus schuf Isaac Asimov das wohl bekannteste Werk der Science Fiction des 20. Jahrhunderts: eine umfangreiche Geschichte der Zukunft, die bis heute tief in das Nachdenken über die Entwicklung unserer Zivilisation hineinwirkt. Das Ende der Ewigkeit knüpft unmittelbar an vage Andeutungen aus Die Suche nach der Erde an und beleuchtet den Hintergrund, der überhaupt erst zur Entstehung der Foundation-Zukunft geführt hat.

Der Autor

Isaac Asimov zählt gemeinsam mit Arthur C. Clarke und Robert A. Heinlein zu den bedeutendsten Science-Fiction-Autoren, die je gelebt haben. Er wurde 1920 in Petrowitsch, einem Vorort von Smolensk, in der Sowjetunion geboren. 1923 wanderten seine Eltern in die USA aus und ließen sich in New York nieder. Während seines Chemiestudiums an der Columbia University begann er, Geschichten zu schreiben. Seine erste Story erschien im Juli 1939, und in den folgenden Jahren veröffentlichte er in rascher Folge die Erzählungen und Romane, die ihn weltberühmt machten. Neben der Science Fiction schrieb Asimov auch zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher zu den unterschiedlichsten Themen. Er starb im April 1992.

Mehr über Isaac Asimov und seine Romane auf:

ISAAC ASIMOV

DAS
ENDE DER
EWIGKEIT

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

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Titel der amerikanischen Originalausgabe

THE END OF ETERNITY

Deutsche Übersetzung von Walter Brumm


Copyright © 1955 by Nightfall Inc.

Mit freundlicher Genehmigung der Erben des Autors

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von shutterstock 133895114

Umsetzung E-Book: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-16085-2
V002


www.diezukunft.de

1

Andrew Harlan betrat den runden Kessel, der genau in einen vertikalen Schacht aus schimmernden Stäben eingepasst war. Zwei Meter über seinem Kopf verschwammen sie in undurchsichtigem Dunst. Harlan stellte die Steuerung ein und betätigte den Starthebel.

Der Kessel bewegte sich nicht.

Harlan hatte es auch nicht erwartet. Eine Bewegung war nicht vorgesehen, weder nach oben noch nach unten, weder nach links noch nach rechts. Doch die Abstände zwischen den Stäben verschmolzen zu einer grauen Leere, die man fühlen konnte, obgleich sie stofflos war. Und da war auch diese eigenartige Unsicherheit im Magen, dieser leichte Anflug von Schwindel, der ihm sagte, dass der Kessel durch die Ewigkeit aufwärtsschoss.

Er war im 575. Jahrhundert eingestiegen, der Operationsbasis, die man ihm zwei Jahre zuvor zugewiesen hatte. Bisher war das 575. die weiteste Reise in die obere Zeit gewesen, die er je unternommen hatte. Nun bewegte er sich dem 2456. Jahrhundert entgegen.

Unter gewöhnlichen Verhältnissen wäre er sich angesichts dieser Veränderung ein wenig verloren vorgekommen. Sein angestammtes Jahrhundert lag weit in der unteren Zeit, es war das 95. Jahrhundert, um genau zu sein. Das 95. war ein Jahrhundert strenger Beschränkungen auf dem Gebiet der Atomenergie, mit einer Vorliebe für das Ländliche und für natürliches Holz als Bauelement. Es tat sich als Lieferant verschiedener destillierter Getränke an nahezu alle anderen Jahrhunderte hervor und importierte Saatgut in großem Umfang. Obwohl Harlan das 95. seit dem Beginn seiner Spezialausbildung mit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, empfand er bei dem Gedanken daran noch immer ein Gefühl des Verlustes. Im 2456. Jahrhundert würde er annähernd 240 Jahrtausende von der Zeit seiner Geburt entfernt sein, und das ist selbst für einen abgehärteten Ewigen eine beträchtliche Distanz.

Unter normalen Umständen hätte Harlan während der Reise darüber nachgedacht. Aber heute war ihm nicht danach. Er konnte an nichts anderes denken als an die Dokumente in seiner Brusttasche und an seinen Plan, bei dem ihm alles andere als wohl war. Harlan war ein bisschen ängstlich, ein bisschen gespannt und auch verwirrt.

Seine Hände waren es, die wie aus eigenem Antrieb handelten und den Kessel im richtigen Jahrhundert zum Stillstand brachten.

Seltsam, dass ein Techniker über irgendetwas Nervosität empfinden sollte. Was hatte Ausbilder Yarrow einmal gesagt?

»Vor allem muss ein Techniker völlig leidenschaftslos sein. Die von ihm ausgelösten Realitätsveränderungen können das Leben von fünfzig Milliarden Menschen beeinflussen. Eine Million oder mehr von diesen Menschen werden dabei möglicherweise so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass man sie als neue Individuen betrachten kann. Unter diesen Umständen sind emotionelle Regungen eine ausgesprochene Belastung.«

Harlan entledigte sich mit einem ärgerlichen Kopfschütteln der Erinnerung an die trockene Stimme seines Lehrers. In jenen Tagen hätte er sich nie träumen lassen,dass ausgerechnet er ein besonderes Talent für diese Position besäße. Aber nun war er doch ein Opfer unwillkommener Gemütsregungen geworden. Nicht wegen fünfzig Milliarden Menschen. Was in aller Zeit kümmerten ihn fünfzig Milliarden Menschen? Es ging nur um einen Menschen, um eine Person.

Er wurde sich bewusst, dass der Kessel im Ruhezustand verharrte, sammelte seine Gedanken und versetzte sich in den kalten, unpersönlichen Gemütszustand eines Technikers, bevor er hinaustrat. Der Kessel, den er verließ, war natürlich nicht derselbe, den er zuvor betreten hatte; er bestand nicht aus denselben Atomen. Wie jeder andere Ewige hatte er längst aufgehört, sich darüber Gedanken zu machen. Sich mit der Mystik des Zeitwanderns statt mit seiner bloßen Tatsache zu beschäftigen war typisch für Anfänger und Neuankömmlinge im Bereich der Ewigkeit.

Wieder zögerte er einen Moment vor dem unendlich dünnen Vorhang aus Nicht-Raum und Nicht-Zeit, der ihn von der Ewigkeit in der einen und der gewöhnlichen Zeit in der anderen Richtung trennte.

Eine völlig neue Sektion der Ewigkeit lag vor ihm. Er hatte sich selbstverständlich einige oberflächliche Kenntnisse darüber angeeignet, doch solch angelerntes Wissen war kein Ersatz für eigenen Augenschein, und er stählte sich für den anfänglichen Schock der Umgewöhnung. Er stellte die Schaltung ein, was nur weniger Handgriffe bedurfte, wenn er in die Ewigkeit übertreten wollte; was aber sehr kompliziert wurde, wenn es darum ging, Eingang in die Zeit zu finden, eine Form des Übertritts, die dann auch entsprechend weniger häufig war. Er ging durch den Vorhang und hob eine Hand vor die Augen. Ein grelles Licht blendete ihn.

Nur ein Mann stand ihm gegenüber, und zuerst sah Harlan ihn nur in verschwommenen Umrissen.

»Ich bin Soziologe Kantor Voy«, sagte der Mann. »Und Sie sind vermutlich Techniker Harlan.«

Harlan nickte. »Sagen Sie, kann man diese – diese Umgebung nicht anders einstellen?«

Voy blickte umher. »Sie meinen die molekularen Beläge?«, fragte er.

»Allerdings«, sagte Harlan. Er hatte im Handbuch darüber gelesen, aber dieses verrückte Durcheinander von Lichtreflexen war unerträglicher, als er gedacht hatte.

Harlan empfand sein Missfallen als gerechtfertigt. Das 2456. Jahrhundert war, wie die meisten anderen Jahrhunderte, dinglich orientiert, deswegen konnte Harlan davon ausgehen, sich hier zurechtzufinden. Es würde ihm nicht so sehr verwirren wie der Energie-Vortex des 300. Jahrhunderts oder die dynamischen Felder des 600. Im 2456. Jahrhundert bestand alles, Böden und Wände, aus Materie. Aber es gab Dinge und Dinge. Ein Mitglied eines energieorientierten Jahrhunderts mochte das nicht so ohne Weiteres begreifen; für ihn waren alle Dinge nichts weiter als Variationen über ein Thema, das ungefüge, schwer und barbarisch war. Doch für den dinglich orientierten Harlan gab es Holz, Metall, Plastik, Silikate, Beton, Leder und so weiter.

Aber eine materielle Umgebung, die nur aus Spiegeln bestand!

Das war sein erster Eindruck vom 2456. Jahrhundert. Jede Oberfläche glänzte und reflektierte Licht. Alles wirkte vollkommen glatt; ein Effekt des molekularen Überzugs. Und in der tausendfach wiederholten Spiegelung aller Personen und Gegenstände sah er nur Verwirrung, grelle, Übelkeit erregende Konfusion.

»Tut mir leid«, meinte Kantor Voy, »es ist die Mode des Jahrhunderts, und die ihm zugeteilte Sektion hält es für eine gute Übung, die Mode zu übernehmen, soweit sie praktisch ist. Nach einer Weile gewöhnen Sie sich daran.«

Voy schritt auf den Füßen eines anderen Kantor Voy, der mit dem Kopf nach unten jede seiner Bewegungen imitierte, durch den Raum und betätigte einen Wandschalter.

Die Reflexionen verblassten, und mit ihnen das fremdartige Licht. Harlan begann sich etwas wohler zu fühlen.

»Wenn Sie jetzt mit mir kommen würden …«, sagte Voy.

Harlan folgte ihm durch leere Korridore, die noch vor Minuten ein Tollhaus irrer Lichtbrechungen und -spiegelungen gewesen sein mussten, durch ein Vorzimmer und in ein Büro.

Auf diesem kurzen Weg hatte Harlan kein menschliches Wesen gesehen, aber er war so daran gewöhnt und betrachtete es als so selbstverständlich, dass es ihn erstaunt und fast erschreckt hätte, wäre sein Blick irgendwo auf eine hastig davoneilende menschliche Gestalt gefallen. Zweifellos hatte es sich bereits herumgesprochen, dass ein Techniker durchkommen würde. Sogar Voy war auf Abstand bedacht, und als Harlans Hand einmal aus Versehen seinen Ärmel streifte, wich Voy sichtlich erschrocken zurück.

Harlan wunderte sich flüchtig über die leise Bitterkeit, die er darüber empfand. Er hatte die Schale, unter der sich seine Seele verbarg, für dicker und weniger empfindlich gehalten. Wenn diese Schale im Laufe der letzten Zeit dünner geworden war, konnte es nur einen Grund dafür geben.

Noÿs!

Soziologe Kantor Voy neigte sich in einer Weise zu ihm herüber, die den Anschein freundlicher Verbindlichkeit wahrte, aber Harlan bemerkte automatisch, dass sie einander an einem sehr breiten Tisch gegenübersaßen.

Voy sagte: »Es freut und ehrt mich, dass ein Techniker von Ihrem Ruf sich für unsere kleinen Probleme hier interessiert.«

»Ja«, sagte Harlan mit der kalten Unpersönlichkeit, die man von ihm erwartete, »sie haben ihre interessanten Seiten.« War er unpersönlich genug? Sicher waren seine wahren Motive offenkundig, sicher sprachen die Schweißtropfen auf seiner Stirn von seiner Schuld.

Er zog das Material über die projektierte Realitätsveränderung aus der Brusttasche. Es waren dieselben Unterlagen, die erst vor einem Monat dem Ewigkeitsrat zugegangen waren. Dank seiner Beziehungen zum Seniorrechner Twissell war es Harlan nicht schwergefallen, das Material in die Hände zu bekommen.

Bevor er das Folienband über dem Tisch abspulte, wo es von einem kleinen paramagnetischen Feld gehalten würde, hielt er einen Moment inne. Die blanke Tischplatte spiegelte sein Gesicht und seinen Oberkörper, und seine eigenen Züge schienen nun düster zu ihm heraufzustarren. Er war zweiunddreißig, sah aber älter aus. Niemand brauchte ihm das zu sagen. Vielleicht lag es an seinem langen Gesicht und den dunklen Brauen über noch dunkleren Augen, dass er genau jenen finsteren Ausdruck zur Schau trug, den alle Ewigen mit der Karikatur des typischen Technikers in Verbindung brachten.

Aber dann war der Augenblick vorbei, und er spulte das Band über dem Tisch ab.

»Ich bin kein Soziologe.«

Voy lächelte. »Das klingt gut. Wenn einer damit anfängt, seine mangelnde Kompetenz auf einem gegebenen Wissensgebiet auszudrücken, bedeutet es gewöhnlich, dass gleich darauf eine sehr bestimmte Meinungsäußerung auf eben diesem Gebiet folgen wird.«

»Nein«, widersprach Harlan, »keine Meinungsäußerung. Nur eine Bitte. Ich möchte Sie fragen, ob Sie sich einmal dieses Band ansehen und prüfen wollen, ob Sie hier nicht irgendwo einen kleinen Fehler gemacht haben.«

Voy wurde augenblicklich ernst. »Ich hoffe nicht.«

Harlan ließ einen Arm bequem auf der Lehne seines Sessels liegen, den anderen auf seinem Schoß. Er durfte jetzt kein Zeichen von Nervosität oder Unsicherheit geben. Er durfte keine Gefühlsregung zeigen.

Seit dem Tag, an dem sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden war, hatte Harlan Einsicht in alle vorgeschlagenen Realitätsveränderungen genommen, die dem Ewigkeitsrat vorgelegt wurden. Als persönlicher Techniker von Seniorrechner Twissell war ihm das ein Leichtes gewesen. Twissell war ganz auf sein eigenes Projekt konzentriert, sodass er nichts davon bemerkt hatte. Harlan atmete tief ein. Er wusste jetzt genau, was Twissell vorhatte.

Harlan hatte ursprünglich keineswegs gewusst, dass er jemals finden würde, was er suchte. Als er die Unterlagen über die projektierte Realitätsveränderung 2456/2781, Seriennummer V 5 zum ersten Mal durchgesehen hatte, war er zu glauben geneigt gewesen, dass seine Verstandskräfte vom Wunschdenken verbogen seien. Einen vollen Tag lang hatte er Gleichungen und Verwandtschaften untersucht und nachgerechnet, wobei er eine gewisse bittere Dankbarkeit gefühlt hatte, dass man ihn wenigstens die elementaren Grundlagen der Psychomathematik gelehrt hatte.

Voy überflog das aufgedruckte Punktmuster des Bandes mit sorgenvoller Miene. Nach einer Weile sagte er: »Mir scheint, dass dies alles völlig in Ordnung ist.«

»Ich möchte besonders auf die Frage der Brautwerbung innerhalb der Gesellschaft der gegenwärtigen Realität dieses Jahrhunderts aufmerksam machen. Das ist Soziologie und Ihr Verantwortungsbereich, nehme ich an. Es ist auch der Grund, warum ich diese Zusammenkunft mit Ihnen und nicht mit einem anderen gewünscht habe.«

Voy zog die Stirn in Falten. Er war immer noch höflich, aber seine Stimme hatte jetzt einen eisigen Unterton. »Die unserer Sektion zugeteilten Beobachter sind kompetent und von höchster Zuverlässigkeit. Ich bin davon überzeugt, dass sie richtige Arbeitsunterlagen bekommen haben. Verfügen Sie über gegenteilige Beweise?«

»Nein, Soziologe Voy. Ich habe nichts gegen die Untersuchungsergebnisse als solche. Es ist die Anordnung der Daten, die ich infrage stelle. Haben Sie zu diesem Zeitpunkt schon alle Identitätsalternativen überprüft?«

Voy starrte ihn an, dann lächelte er, sichtlich erleichtert. »Natürlich, Techniker, natürlich. Aber alles löst sich zu einer einzigen Realität auf. Es gibt kleinere Schleifen ohne Zuflüsse von oben oder unten. Bitte verzeihen Sie, dass ich mich so metaphorisch ausdrücke und nicht in präzisen mathematischen Begriffen.«

»Das ist schon in Ordnung. Ich bin ebenso wenig ein Rechner wie ein Soziologe.«

»Gut also. Die Identitätsalternativen, von denen Sie sprechen, die, man könnte sagen, Weggabelung, ist unbedeutend. Die einzelnen Pfade vereinen sich kurz danach wieder, deswegen haben wir sie in unseren Empfehlungen gar nicht erwähnt.«

»Also gut, ich verlasse mich auf Ihr Urteil. Aber dann ist da noch die Sache mit der M.n.V.«

Der Soziologe zuckte bei der Nennung der Initialen zusammen, wie Harlan erwartet hatte. M.n.V. = Minimale notwendige Veränderung. Hier war der Techniker Meister. Was mit der mathematischen Analyse der möglichen Realitäten in der Zeit zu tun hatte, war die unkritisierbare Domäne des Soziologen, aber in Fragen der M.n.V. tat es niemand dem Techniker gleich.

Mechanische Berechnungen reichten nicht aus. Die größte Rechenanlage, bedient vom klügsten und erfahrensten Seniorrechner, konnte bestenfalls den Bereich abstecken, in dem die M.n.V. vorgenommen werden musste. Der Techniker war es, der die gesammelten Daten überblickte und sich für einen genauen Punkt innerhalb dieses Bereichs entschied. Ein guter Techniker irrte sich selten. Ein Spitzentechniker irrte sich nie.

Harlan irrte sich nie.

»Nun, was die von Ihrer Sektion empfohlene M.n.V. betrifft«, sagte Harlan kühl, »so sieht sie die Einführung eines Unfalls im Raum und den sofortigen Tod eines Dutzends oder mehr Menschen vor.«

»Unvermeidlich«, sagte Voy achselzuckend.

»Ich würde dagegen vorschlagen«, sagte Harlan, »dass die M.n.V. auf das bloße Verschieben eines Behälters von einem Regal zum anderen beschränkt wird. Hier!« Sein langer Zeigefinger deutete auf eine bestimmte Stelle im Band.

Voy überlegte die Sache mit angestrengter Intensität. »Verändert es nicht auch die Situation an dieser Weggabelung?«, sagte Harlan. »Führt es nicht auch zu unserem Ziel, zur …«

»… genau zur M.e.R.«, flüsterte Voy.

»Genau zur Maximalen erwünschten Reaktion«, bekräftigte Harlan.

Voy blickte auf, halb gequält, halb gereizt. Harlan bemerkte, dass zwischen den oberen Schneidezähnen des Mannes eine Lücke war, die ihm ein kaninchenhaftes Aussehen verlieh, das ganz im Gegensatz zur verhaltenen Heftigkeit seiner Worte stand.

»Ich nehme an«, sagte er, »dass ich vom Ewigkeitsrat hören werde?«

»Das glaube ich nicht. Soviel ich weiß, ist der Ewigkeitsrat nicht davon unterrichtet. Jedenfalls wurde die projektierte Realitätsveränderung ohne Kommentar an mich weitergeleitet.«

»Dann haben also Sie den Irrtum entdeckt?«

»Ja.«

»Und Sie haben ihn nicht dem Ewigkeitsrat gemeldet?«

»Nein, das habe ich nicht.«

Voys Züge spiegelten Erleichterung, dann verhärteten sie sich. »Warum nicht?«

»Nur sehr wenige hätten diesen Fehler vermeiden können. Ich glaubte, ich könnte ihn korrigieren, bevor Schaden entsteht. Warum darüber hinaus etwas unternehmen?«

»Nun – vielen Dank, Techniker Harlan. Das war sehr freundlich von Ihnen. Der Irrtum dieser Sektion, der, wie Sie sagen, praktisch unvermeidlich war, hätte in einem Bericht ungerechtfertigt schlecht ausgesehen.« Nach einer Pause fuhr er fort: »In Anbetracht der durch diese Realitätsveränderung bewirkten Persönlichkeitsumwandlungen wäre der Tod einiger Menschen natürlich auch nur von geringer Bedeutung.«

Seine Dankbarkeit klingt nicht echt, dachte Harlan abwesend. Wahrscheinlich ärgert er sich. Und je länger er darüber nachdenkt, desto mehr wird er sich ärgern, dass er ausgerechnet von einem Techniker vor einer Rüge bewahrt wurde. Wäre ich ein Soziologe, würde er mir jetzt die Hand drücken, aber weil ich ein Techniker bin, tut er es nicht. Er lässt zu, dass ein Dutzend Menschen sterben, aber er würde nie einen Techniker berühren.

Und weil er nicht warten wollte, bis die Verstimmung des anderen weiter wuchs, sagte Harlan, ohne zu zögern: »Ich hoffe, Ihre Dankbarkeit wird es Ihnen möglich machen, mir seitens Ihrer Sektion eine kleine Gefälligkeit zu erweisen.«

»Eine Gefälligkeit?«

»Eine Frage der Lebensplanung, genauer gesagt. Ich habe die nötigen Daten hier bei mir, so wie die Unterlagen für eine vorgeschlagene Realitätsveränderung im 482. Jahrhundert. Ich möchte den Effekt der Veränderung auf das Wahrscheinlichkeitsmodell eines bestimmten Individuums wissen.«

»Ich weiß nicht«, sagte der Soziologe, »ob ich Sie recht verstanden habe. Sicherlich haben Sie die Möglichkeit, dies auch in Ihrer eigenen Sektion festzustellen.«

»Gewiss. Aber hier handelt es sich um eine persönliche Forschungsarbeit, die ich vorläufig noch nicht in den Protokollen erscheinen lassen möchte. Es wäre schwierig, diese Sache in meiner eigenen Sektion durchführen zu lassen, ohne …« Er ließ den Satz unvollendet und machte eine vage Geste.

»Dann wollen Sie es also nicht durch die offiziellen Kanäle laufen lassen?«, fragte Voy.

»Ich möchte es vertraulich behandelt wissen. Ich lege Wert auf eine vertrauliche Antwort.«

»Nun, das ist allerdings sehr ungewöhnlich. Da kann ich nicht zustimmen.«

Harlan runzelte die Brauen. »Es ist nicht ungewöhnlicher als mein Verzicht, Ihren Irrtum dem Ewigkeitsrat zu melden. Dagegen haben Sie keine Einwendungen erhoben. Wenn wir uns in einem Fall strikt nach der Vorschrift richten wollen, müssen wir es auch im anderen tun. Sie können mir doch folgen, ja?«

Voys Miene bezeugte es. Zögernd streckte er die Hand aus. »Darf ich die Unterlagen sehen?«

Harlan entspannte sich ein wenig. Die erste Hürde war genommen. Er sah mit verhaltener Erregung zu, wie der andere sich über die Folien beugte.

Nur einmal unterbrach der Soziologe seine Betrachtung mit der Bemerkung: »Es ist eine sehr kleine Realitätsveränderung.«

Harlan nahm die Gelegenheit wahr und improvisierte. »Ja, das ist wahr. Zu klein, glaube ich. Es ist der Hauptgegenstand unserer internen Diskussionen. Die Veränderung liegt unter dem kritischen Wert, und darum habe ich ein Individuum als Testfall ausgewählt. Natürlich wäre es undiplomatisch, die Einrichtungen unserer eigenen Sektion zu benutzen, solange ich nicht sicher bin, dass meine Überlegung richtig ist.«

Voy antwortete nicht, und Harlan verzichtete auf weitere Erläuterungen. Es hatte keinen Sinn, dieses Thema über das notwendige Maß hinaus auszuwalzen.

Voy erhob sich. »Ich werde dieses Material an einen meiner Lebensplaner weitergeben. Wir werden die Sache vertraulich behandeln. Sie werden verstehen, dass es nicht als Präzedenzfall aufgefasst werden kann.«

»Selbstverständlich.«

»Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich gern zusehen, welche Auswirkungen Ihre Realitätsveränderung hat. Sie werden uns hoffentlich die Ehre geben, die M.n.V. selbst zu leiten.«

Harlan nickte. »Ich übernehme die volle Verantwortung.«

Als sie den Beobachtungsraum betraten, waren zwei der Bildschirme in Betrieb. Die Ingenieure hatten sie bereits auf die genauen Koordinaten von Raum und Zeit eingestellt, bevor sie gegangen waren. Harlan und Voy waren allein im Zimmer. Der molekulare Überzug war auf ein für Harlan mehr als erträgliches Maß reduziert, doch er konzentrierte sich voll und ganz auf die Monitore.

Beide Ansichten waren ohne Bewegung, und die Szenen glichen Momentaufnahmen, da sie mathematisch errechnete Augenblicke aus dem Zeitablauf wiedergaben.

Ein Bild war scharf und in natürlichen Farben. Es zeigte den Maschinenraum eines experimentellen Raumschiffes. Eine Tür war halb geöffnet, und im Spalt sah man gerade noch einen roten Schuh aus halb transparentem Material. Nichts bewegte sich. Hätte man die Bildschärfe so weit steigern können, dass sie die Staubteilchen in der Luft gezeigt hätte, wären auch sie ohne Bewegung geblieben.

Voy sagte: »Nach diesem abgebildeten Augenblick wird der Maschinenraum zwei Stunden und sechsunddreißig Minuten lang leer bleiben. Das heißt, in der gegenwärtigen Realität.«

»Ich weiß«, murmelte Harlan. Er zog seine Handschuhe an, und seine Augen vergewisserten sich der genauen Position des kritischen Behälters auf dem Regal, maßen die Entfernung ab und suchten einen Platz für die veränderte Position aus. Er warf einen raschen Blick auf den zweiten Bildschirm.

Während der mit Leuchtschrift als »Gegenwart« gekennzeichnete Blick in den Maschinenraum natürliche Farben zeigte, war die zweite Szene, die etwa fünfundzwanzig Jahrhunderte später lag, vom vorgeschriebenen Blauschimmer aller Zukunfts-Wiedergaben überdeckt.

Sie zeigte einen Hafen für Raumschiffe. Ein tiefblauer Himmel, blau getönte Gebäude aus Metall auf blaugrünem Grund. Im Vordergrund war ein blauer, dickbäuchiger und seltsam geformter zylindrischer Körper zu sehen. Zwei weitere, die ihm ähnelten, standen im Hintergrund. Alle drei hatten ihre gespaltenen Doppelnasen aufwärts gerichtet.

Harlan betrachtete sie aufmerksam. »Das sind eigenartige Dinger.«

»Das 2481. ist das einzige Jahrhundert, das die Raumfahrt mithilfe künstlicher Schwerefelder betreibt«, erläuterte Voy. »Keine chemischen oder nuklearen Antriebsstoffe. Eine praktische und ästhetisch bemerkenswerte Lösung. Es ist ein Jammer, dass wir sie durch unsere Veränderung blockieren müssen. Ein wahrer Jammer.« Seine Augen beobachteten Harlan mit unverhüllter Missbilligung.

Harlan presste die Lippen zusammen. Natürlich Missbilligung! Er war der Techniker.

Dabei war es ein Beobachter gewesen, der die Einzelheiten über Rauschgiftsucht gemeldet hatte. Irgendein Statistiker hatte daraufhin nachgewiesen, dass die letzten Realitätsveränderungen zur weiteren Verbreitung der Rauschgiftsucht beigetragen hatten, bis sie nun die höchste Quote in der Geschichte des Menschen erreicht hatte. Ein Soziologe, wahrscheinlich Voy selber, hatte diese Ergebnisse zur psychiatrischen Analyse der Gesellschaft verarbeitet, und schließlich hatte ein Rechner die Realitätsveränderung ausgearbeitet, die nötig war, um die Rauschgiftsucht auf ein ungefährliches Maß zu reduzieren. Dabei war er zu dem Ergebnis gekommen, dass die Raumfahrt mithilfe künstlicher Schwerefelder aufgehoben werden müsse. Ein Dutzend, vielleicht sogar hundert Männer jeder Rangstufe waren in der Ewigkeit an diesem Fall beteiligt.

Aber zuletzt war es ein Techniker wie er, der die Dinge in die Hand nehmen musste. Unter Berücksichtigung aller ermittelten und an ihn weitergegebenen Daten musste er die eigentliche Realitätsveränderung durchführen. Und dann starrten die anderen in hochnäsiger Anklage auf ihn, als wollten sie sagen: Du hast dieses schöne Ding zerstört, nicht wir.

Und darum verurteilten und mieden sie ihn. Sie bürdeten ihm ihre eigene Schuld auf und verachteten ihn.

»Auf Raumschiffe kommt es nicht an«, sagte er barsch. »Uns geht es um diese Dinger da.«

Die »Dinger« waren Menschen, die winzig klein in Gruppen die Raumschiffe umstanden. Einige hatten die Arme erhoben, andere waren im Gehen zur Reglosigkeit fixiert, gefangen im gefrorenen Augenblick ihres Zeitablaufs.

Voy zuckte mit den Schultern.

Harlan stellte den kleinen Feldgenerator an seinem linken Handgelenk ein. »Ich bin fertig. Wenn Sie zusehen wollen …«

»Einen Moment. Ich möchte mich beim Lebensplaner erkundigen, wie lange er für Ihre Arbeit braucht.«

Er bediente einen kleinen beweglichen Kontakt und lauschte auf das leise Klicken, das aus einem kleinen Gehäuse an der Wand drang. Wieder ein Charakteristikum dieser Sektion der Ewigkeit, dachte Harlan. Der Geräuschkode. Klug, aber genauso affektiert und manieriert wie die molekularen Überzüge.

»Er sagt, es werde nicht länger als drei Stunden dauern«, erklärte Voy endlich. »Übrigens bewundert er den Namen der betreffenden Person. Noÿs Lambent. Es ist eine Frau, nicht?«

Harlans Kehle wurde trocken. »Ja.«

Voy lächelte sinnend. »Das klingt interessant. Ich würde sie gern einmal sehen. Seit Monaten haben wir in dieser Sektion keine Frau mehr gehabt.«

Harlan wagte nicht zu antworten. Er fand, dass er den Soziologen anstarrte, und wandte sich abrupt ab.

Wenn die Ewigkeit einen Fehler hatte, dann hing er mit Frauen zusammen. Das hatte er schon bei seinem Eintritt in die Ewigkeit bemerkt, aber zu einer persönlichen Empfindung war es erst geworden, seit er Noÿs begegnet war. Von jenem Tag an bis zu diesem Augenblick war er immer weiter vom rechten Weg abgekommen und hatte alles verleugnet, an das er bisher geglaubt hatte.

Wofür?

Für Noÿs.

Und er schämte sich nicht einmal. Das war es, was ihn am meisten verwirrte. Er schämte sich nicht. Die Verbrechen, die er begangen hatte, erfüllten ihn nicht mit Schuldbewusstsein. Wenn es sein musste, war er bereit, noch Schlimmeres als bisher zu tun.

Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke in seiner vollen Tragweite zu Bewusstsein. Und obwohl er ihn voll Entsetzen zurückwies, wusste er, dass er ihn wieder denken würde. Der Gedanke war einfach der: Wenn es sein musste, würde er die Ewigkeit zerstören.

Das Schlimmste daran war, dass er auch die Macht hatte, es zu tun.