… ein weiteres Mal für meine geliebten Gefährtinnen
Ina und Laura
und für meine Mutter
… aus dem Dunkel ins Licht …
„Nur ein Berg ragt in dieser Gegend an der Elbe hervor, mit langem Rücken erstreckt er sich gegen Sonnenuntergang und wird von den Einheimischen Sollonberg genannt. Ihn hielt der Erzbischof für geeignet, um dort eine feste Burg zu errichten zum Schutz des Volkes, und sogleich ließ er den Wald, der den Gipfel des Berges bedeckte, roden und den Ort freimachen. So erfüllte er mit großem Aufwand und mit dem Schweiß vieler Menschen seinen Wunsch und machte den rauen Berg bewohnbar. Dort gründete er eine Propstei und ließ eine Kongregation von Gott Dienenden bilden, die sich aber bald in eine Schar Räuber verwandelte. Denn von jener Burg aus begannen einige der Unsrigen die Bewohner der Umgebung, die zu schützen sie eingesetzt waren, auszurauben und zu verfolgen. Aus diesem Grund wurde jener Ort hernach in einem Aufstand der Einheimischen zerstört, das Volk der Nordelbinger aber exkommuniziert.“
ADAM VON BREMEN
„Hamburgische Kirchengeschichte“
(verfasst um 1075)
„Bald nach dem Westfälischen Friedensschlusse erscholl hierorts häufig das Gerücht, dass in den Blankeneser Bergen viele Unterirdische und Zwerge spukten, sich den Vorübergehenden, auch Schäfern und Jägern zeigten und sie sehr erschreckten. Es ging zwar schon längst die Sage, dass daselbst, zumal nach der Wedeler Seite zu, in Höhlen und Erdspalten solche ,Unnereersche‘ ihr heimlich Wesen trieben, was auch bei den dortigen heidnischen Opferstätten und Grabhügeln der Hünen gar wohl denkbar, da zu Hütern verborgener Schätze und anderer Dinge gemeiniglich Zwerge bestellt gewesen sind, wie alte Kunden berichten.“
OTTO BENEKE
„Hamburgische Geschichten und Sagen“
(erstveröffentlicht 1853)
Prolog
Begegnung im Krummen Tal
Seit jeher standen die Berge am nördlichen Ufer der Elbe in zweifelhaftem Ruf. Jeder, der sie kannte, vermied es nach Möglichkeit, einen Fuß in die urwüchsig bewaldeten und weitgehend weglosen Gefilde zu setzen. In einem langen Rücken, der sich mit steilen Abhängen zur Flussseite hin von Westen nach Osten erstreckte, reihten sich die Berge aneinander. Zwischen ihnen klaffte manch tief ins Land hineingreifende Tal, dessen dunklen, verwucherten Grund selten ein Sonnenstrahl erreichte.
Im Westen erhob sich die Bergkette aus den sumpfigen Auen und Mooren nahe der Siedlung Wadil, wo von alters her eine Furt den Auenfluss querte, ehe dieser in die Elbe mündete. Wegen ihres hellen, sandigen Bodens trugen die Hänge dort den Namen Weiße Berge. Ohne jedwede menschliche Ansiedlung zog sich der Rücken von dort durch Wald und Täler nach Osten hin bis zum Sollonberg, der mit kegelförmiger Gestalt herausstach und zugleich den Ostrand der Bergkette bildete. Zu dessen Füßen ragte eine geschwungene Nase weißen Strandes weit in die Elbe hinein, das Blanke Neeß. An diesem Ort existierte seit langer Zeit eine Fähre über den mächtigen Strom, die einzige weit und breit, nebst einer kleinen Siedlung. Auf der Kuppe des darüber thronenden Sollonbergs waren jüngst noch, in den Jahren seit 1058, eine Burg und ein kleines Kloster hinzugekommen. Zwischen diesen beiden Landmarken, den Weißen Bergen im Westen und dem Sollonberg im Osten, erstreckte sich jene unbewohnte Bergkette auf eine Länge hin von etwa einem halben Tagesmarsch.
Nun, die Menschen mieden die Gegend. Für die Nordelbinger der grafschaftlichen Gaue Holsten und Stormarn und auch für die Bewohner der nahen Stadt Hammaburg gab es dafür zum Mindesten zwei gute Gründe. Zum einen die handfeste Tatsache, dass sich übles Raub- und Mordgesindel in den Wäldern verbarg und von dort aus sein bösartiges Unwesen trieb. Zum anderen die von alters her überkommenen und von Generation zu Generation weitergereichten Schilderungen über seltsame Wesen auf und unter der Erde jener Berge. Das reichte von Mahren und Geistern im Allgemeinen bis hin zu zwergenhaften Unterirdischen, Keulen tragenden Hünen und anderen fragwürdigen Kreaturen im Besonderen. Jeder Einheimische war von Kindesbeinen an mit solchem Erzählgut aufgewachsen und verspürte folgerichtig keinen allzu großen Drang, jene Gegend zu betreten. So waren denn Unerschrockene, die das Ganze als Altweibergerede hätten abtun können, nur selten zu finden. Und wenn doch einmal, so waren es allenfalls die gefühlskalten Schurken und Mörder des dort hausenden Raubgesindels selbst.
Auch die junge Hedda war keineswegs unerschrocken. Und doch wagte sie sich immer wieder um einiges weiter in die düsteren Wälder vor, als es die meisten aus ihrem kleinen Fischerdorf am Blanken Neeß taten. Als kräuterkundige Wickerin blieb ihr allerdings auch kaum anderes übrig. Wo sonst sollte sie die Pflanzen, die die Grundlage ihrer Heilarbeit bildeten, finden? Moose, Flechten, Wurzeln, Sträucher und Kräuter wuchsen nun einmal vornehmlich im Wald, und der begann bereits wenige Schritte hinter den letzten Hütten der Siedlung am Fuß des Sollonbergs.
Großmutter Geske, die im letzten Winter verstorben war, hatte Hedda seit den Kindheitstagen das heilende Wicken beigebracht und ihr viele nahe gelegene Stellen im Wald gezeigt, an denen wichtige Heilpflanzen wuchsen. Die Orte lagen im unteren Bereich des Krummen Tals, eines leicht gebogenen Einschnitts auf der Westseite des Sollonbergs, der diesen vom benachbarten Wahsberg trennte. Manchmal jedoch waren die dort zu findenden Pflanzen für die anstehende Aufgabe nicht die richtigen, weitere oder gar seltenere Wirkstoffe waren vonnöten. Dann zögerte Hedda nicht, andernorts im Wald nach ihnen zu suchen.
So auch am Tag des heiligen Bartholomäus im Jahre des Herrn 1065. Unter der drückenden Schwüle, die selbst das beschattete Unterholz des Waldes erhitzte, war die junge Wickerin unterwegs auf der Suche nach Heilkräutern. Das seitlich über die Schulter geschlungene Tragetuch wölbte sich an ihrer Hüfte bereits von den darin gesammelten Pflanzen. Farnkraut, Eisenhütlein, Schlafdorn, Beifuß und anderes hatte Hedda bereits gefunden, doch für den seit Tagen siechenden Gerret, den Dorfältesten der Siedlung, benötigte sie zudem noch ein paar Zweige der Stachelbeere. Möglichst groß sollten die Dornen sein, denn um das Gelenkleiden aus dem Körper des Greisen zu treiben, galt es beim Zweigstreichen über die schmerzenden Glieder und beim Besprechen mit Heilformeln Gleiches mit Gleichem zu bekämpfen.
Den Schweiß von der Stirn wischend, stieg die junge Frau langsam durch den Wald des Krummen Tals aufwärts und suchte im Unterholz nach dem Dornenstrauch. Allerorts nahm sie die bedenklichen Folgen der langen Trockenheit wahr. Viele Büsche und Pflanzen wirkten kraftlos, mit gelblichen Blättern, die sich mangels Wasser welk einrollten oder gar vom Zweig abfielen. Der Waldboden war verdorrt und staubig und federte unter den Schritten hohl nach.
Die Hitze des Spätsommers hatte dem Land fast den ganzen August über hart zugesetzt. Die Elbe führte selbst bei Flut deutlich weniger Wasser, und Natur wie Mensch litten unter der Dürre. Die sonst feuchtgrünen Wiesen des Marschlandes am Ufersaum waren nun eine graubraune, hart gebrannte Wüstenei mit einem feinen, weit verzweigten Netz aus Erdrissen, dazwischen verdorrte Büschel geblichenen Grases. Die Menschen der Fischersiedlung am Blanken Neeß suchten den Schatten ihrer Häuser oder der Bäume am nahen Waldesrand. Die Fischer verrichteten ihre Arbeit am frühen Morgen oder gar in der Nacht.
Doch von Westen her braute sich seit dem Morgen endlich etwas zusammen. Aufgetürmte Wolkenberge von ungeheurem Ausmaß drifteten von der fernen See in mächtiger Formation rasch und stetig landeinwärts. Ihre Unterseiten waren nahezu schwarz und schienen das Land zu verdunkeln. Graue Bänder, die lang und fein hier und da zwischen Wolken und Erde hingen, zeigten in der Ferne bereits den lang ersehnten Regenfall.
Ein lautes, heiseres Krächzen riss Hedda mit einem Mal aus ihrer Suche. Abrupt hielt sie in ihrem gebeugten Gang inne und blickte wachsam voraus auf den schmalen, im Unterholz kaum erkennbaren Pfad, der sich wie ein Wildwechsel den Hang des Krummen Tals emporschlängelte. Ein weiterer rauer Ruf erklang, dieses Mal kam er unverkennbar von oben. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah die Körper und die weit ausgebreiteten Flügel zweier schwarzer Raben, die hoch droben die Wipfel des Waldes überflogen. Lautlos dahingleitend, entfernten sich die Vögel rasch, ehe sie mit einem dritten Krächzen schließlich ganz aus ihrem Blick verschwanden.
Hedda senkte den Blick, fasste sich mit der rechten Hand in den Nacken und zog den langen Zopf, zu dem ihre weißblonden Haare gebunden waren, unter der Schlaufe des Tragetuchs hervor, wo er eingeklemmt war. Sie hatte die Vögel wohl selbst aufgeschreckt, dachte sie und schalt sich zugleich einen Narren, weil sich tief in ihr einen Moment lang ein furchtsames Gefühl zu regen begonnen hatte. Die Angst vor den Schrecknissen der berüchtigten Mörder und Räuber saß auch ihr in den Knochen. Zumal der Übelste von ihnen, der für seine Grausamkeit allerorts im südlichen Gau Holsten berüchtigte Rudmar, mit dem Beinamen Blodhand, vor Kurzem die Berge als Unterschlupf für sich und seine Mordbande auserkoren hatte. In schnellen und blutigen Beutezügen überfiel er die Menschen der Gegend und auch Reisende, die den Fernweg nördlich der Berge oder die Fähre über die Elbe benutzen wollten. Selbst vor Pilgern, deren Ziel das Kloster auf dem Sollonberg war, machte er keinen Halt. Wer ihm in die Hände fiel, schon gar eine Frau, musste unweigerlich mit dem Leben abschließen.
Mit einem Blick in das dicht verwachsene Unterholz um sie herum setzte Hedda ihre Suche fort. Doch die kurze Begegnung mit den beiden Vögeln beschäftigte sie weiter. Solche Zeichen galt es zu beachten, hatte die alte Geske sie gelehrt. Zwei Raben sind die ständigen Begleiter Wodans, sie gelten als seine Vorboten und Späher, überlegte sie. Zudem ist Mittwoch, also Wodanstag, ein guter Tag für die Vorhaben der Menschen. Noch immer galten Wodans- und Donarstag als besonders günstig für große Unternehmungen, denn die beiden Tage der alten Götter verhießen seit jeher Glück und Erfolg.
Vieles vom Glauben der germanischen Altvorderen war im Volk langsam in Vergessenheit geraten, seit Karl der Große vor zweieinhalb Jahrhunderten das Kreuz Christi an die Elbe gebracht hatte. Der neue Christengott hatte sich als stärker erwiesen als die alten Götter um Wodan, Donar, Saxnot und Fro – er hatte sie vollkommen verdrängt; neben sich duldete er keine andere Macht. Doch als Wickerin nutzte und bewahrte Hedda, obwohl bekennende Christin, das althergebrachte Wissen, gerade in der Heilkunst. Und im Volk hielten sich neben dem neuen Glauben manch alte Gepflogenheiten und überlieferte Weistümer.
Heddas günstige Deutung des Rabenflugs wurde jedoch ganz plötzlich scheinbar Lügen gestraft. Denn von einem Augenblick zum anderen verdunkelte sich die Welt vor ihren Augen. Überrascht blieb sie stehen und beobachtete, wie sich tiefer Schatten über die Bäume und über den Boden des Waldes senkte und die ganze Landschaft in dämmriges Zwielicht tauchte. Erneut blickte sie empor und sah durch die Baumkronen hindurch eine tief hängende, nahezu schwarze Wolkenwand, die sich zügig von West nach Ost über den Wald schob.
Im gleichen Augenblick wurde Hedda klar, worauf sie zuvor nicht geachtet hatte. Die Raben waren von links nach rechts quer über den Pfad geflogen und auch ihr Ruf war gleichermaßen von links nach rechts ertönt. Das war zweifellos ein böser Angang gewesen, ein schlechtes Vorzeichen, überlegte sie. Wie die meisten schenkte auch sie der alten Schicksalsvorschau, dem Angang, Beachtung. Bestimmte Begegnungen oder Vorkommnisse – meist am Morgen oder am Vormittag – konnten dabei als günstig oder ungünstig für das Tagwerk oder für Vorhaben gedeutet werden. Kreuzte beispielsweise, wie hier, ein Tier den eigenen Weg von links nach rechts, so war das grundsätzlich ein schlechtes Zeichen, andersherum hingegen ein gutes.
Das mag eine Warnung sein, grübelte Hedda, während mit einem Mal über ihr im Blätterwerk der Bäume vereinzelte klopfende Geräusche erklangen, die sich rasch vermehrten und schließlich von einem Moment zum anderen zu einem lauten Prasseln anschwollen. Als sie erstaunt nach oben sah, erreichten erste Tropfen den trockenen Waldboden. Dort, wo sie auftrafen, stiegen winzige Staubwölkchen in die Höhe und es entstanden dunkle Flecken. Nach und nach wurde der Boden mit einem Punktmuster übersät und der erdig-feuchte Geruch von Regen begann die warme Luft zu erfüllen.
„Regen … endlich“, murmelte sie ungläubig und streckte die Hände aus. Und als erste Tropfen ihre Haut benetzten, lachte sie mit einem Mal, bekreuzigte sich rasch und rief mit nach oben gerichtetem Blick: „Allmächtiger Gott, ich danke dir! Christus hat unsere Gebete erhört.“ Sie reckte die Arme in die Höhe und schloss die Augen, während der Regen stärker wurde und auch das laute Prasseln weiter zunahm. Hedda dachte an die Natur, an die Menschen und die Tiere, die so lange auf das Wasser gewartet hatten. Es war eine Befreiung für das Land, ein wahrer Segen.
Der Regen fiel inzwischen so stark, dass der Waldboden das Wasser nicht schnell genug aufnehmen konnte und sich erste Pfützen bildeten. Hedda spürte, wie die Erde unter ihren bloßen Füßen feucht und zugleich kühler wurde. Und sie selbst drohte in gleichem Maße nass zu werden. In enger Dichte fielen die Tropfen auf ihre Haare und in ihr Gesicht. Schon liefen erste Rinnsale von der Stirn über die Wangen hinunter zum Hals, und auch das braune Kleid mitsamt dem leinenen Hemd darunter blieb vom Regen nicht verschont.
Sich die Tropfen von den Augenbrauen und den Lidern wischend, sah sich die junge Frau nach einem notdürftigen Unterstand um. Andernfalls würde sie innerhalb kürzester Zeit bis auf die Haut durchnässt sein. Rechts von ihr, ein Stück den Hang hinauf, erblickte sie eine mächtige Eiche, deren dichtes und ausladendes Blätterwerk ein wenig Schutz verhieß. Das gefüllte Tragetuch eng an die Seite pressend, hastete sie mit großen Schritten durch hohe Farnwedel und über den vermodernden Rest eines vor Ewigkeiten umgestürzten Baumes auf ihr Ziel zu.
Erleichtert legte sie schließlich die Hände an den Stamm der Eiche und berührte die trockene Rinde. Unter dem Geäst des großen Baumes war es, wie erhofft, wesentlich trockener, nur ein Bruchteil der Regentropfen erreichte hier den Waldboden. Hedda holte tief Luft, streifte das Tragetuch vorsichtig über Schulter und Kopf und ließ es zur Erde sinken. Mit den Händen fuhr sie sich über die Stirn und die feuchten Haare und rückte zuletzt das verrutschte Kleid zurecht.
An den Stamm der Eiche gelehnt, beobachtete sie voll dankbarer Freude, wie die Pflanzen das Wasser gleichsam aufzusaugen schienen. Dicke Tropfen perlten über die Blätter, sammelten sich und fielen in endlosen Fäden hinunter auf den Waldboden, der längst von der großen Menge Flüssigkeit silbern schimmerte. Welch ein Unterschied zu der Leblosigkeit der verdorrten Natur in den langen Wochen zuvor, dachte sie.
Inmitten des lauten Prasselns allerorts um sie herum drang mit einem Mal ein Laut an ihr Gehör, der keinesfalls vom Regen verursacht sein konnte. Es war ein Ton, der von irgendwoher hinter ihr kam und nicht zu dem gleichförmig hämmernden Rhythmus des Regens passte. Ein Tier, war Heddas erster Gedanke. Vorsichtig drehte sie sich um und vermied es, selbst ein Geräusch zu verursachen.
Und während die Wickerin schon mit einem Rehbock oder einem wilden Schwein rechnete, erblickte sie in einer Entfernung von weniger als dreißig Schritten ein Pferd. Ein pechschwarzes Ross stand dort in aller Ruhe und bewegte den Kopf tief unten am Boden über einer kleinen Fläche feucht glänzenden Mooses. Sein sanftes Schnauben hatte Heddas Aufmerksamkeit erregt.
Unwillkürlich duckte sich die junge Frau und verbarg sich hinter dem breiten Stamm der Eiche. Mit einer vorsichtigen Bewegung zog sie das Tragetuch langsam zu sich heran. Wo ein Pferd ist, muss es auch einen Reiter geben, schoss es ihr durch den Kopf. Und das kann im Zweifelsfall kaum Gutes verheißen in diesen Wäldern. Die grausamen Geschichten um Blodhand kamen ihr in den Sinn, doch sie rief sich sofort zur Ruhe. So nah der Burg auf dem Sollonberg würde sich das Gesindel wohl kaum herumtreiben. Aber wer dann?
Verstohlen lugte sie um den Stamm der Eiche herum hinüber zu dem Ross, von dessen schwarzem Fell das Regenwasser in Rinnsalen zu Boden floss. Eine graue Decke lag auf seinem Rücken und ein langes Seil, das lose um seinen Hals hing, war achtlos am aufragenden Ast eines umgestürzten Baumes festgemacht. Doch so angestrengt Hedda auch durch das Unterholz in jene Richtung spähte, sie konnte niemanden entdecken. Ein Stück hinter dem Ross stieg der Hang des Sollonbergs zu einem kleinen Zwischenplateau an, bevor er von dort dann weiter hinaufreichte. Von ihrem tieferen Standort aus vermochte sie das flache Teilstück nicht zu überblicken, doch eine Ahnung sagte ihr, dass dort oben jemand war.
Das Ringen mit sich selbst dauerte nicht lang. Auch angesichts einer womöglich drohenden Gefahr vermochte Hedda mit ihren neunzehn Jahren die brennende Neugier nicht zu bändigen. Sie musste wissen, was dort vor sich ging. Wer, wenn nicht ein Kräutersammler oder jemand, der auf die Jagd ging, mochte sich an diesem einsamen, weglosen Ort herumtreiben?
Entschlossen legte sie sich das Tragetuch wieder um die Schulter und richtete sich auf. Nach einem neuerlichen Blick in Richtung des Pferdes trat sie hinter der Eiche hervor und ging langsam auf das Tier zu. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrem Bauch breit und ließ sie schneller atmen. Vorsichtig setzte sie einen Schritt vor den anderen und blickte sich nach allen Seiten hin um. Als sie den weiten Rund der Eiche verließ und unter dem Blätterdach hervortrat, fiel der Regen erneut mit aller Macht auf sie herunter. Doch sie bemerkte kaum, dass sie nass wurde, denn ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem erhöhten Plateau hinter dem Ross.
In diesem Augenblick hatte das Pferd sie gewittert. Mit einem kurzen Schnauben hob es den Kopf und blickte in Heddas Richtung, während es mit den Vorderläufen unruhig am Boden scharrte. Die Wickerin verlangsamte ihren Gang ein wenig und änderte die Richtung, indem sie einen etwas weiteren Bogen um das Tier einschlug. Von der Seite erkannte sie, dass es ein edles, kräftiges Ross einer ihr unbekannten Rasse war. Sein schwarzes Fell und seine lange Mähne wirkten trotz der Nässe sehr dicht gewachsen, so als ob es aus raueren, kälteren Gegenden stammte. Die graue Decke auf dem Rücken des Tiers war von schlichter Güte und ebenfalls vollkommen durchnässt. Wem mochte es gehören? Vielleicht jemandem aus der Burg oder aus dem Kloster auf dem Sollonberg?
Sie kam nicht dazu, den Gedanken weiter zu verfolgen, denn als sie ihren Blick vom Pferd löste und wieder auf das vor ihr liegende Plateau richtete, sah sie plötzlich, gleichsam aus dem Nichts erschienen, eine Person vor sich stehen, die ihr den Rücken zuwandte. Keine zehn Schritte nur trennten sie voneinander, doch glücklicherweise schien Hedda von dem Fremden nicht bemerkt worden zu sein. Es war unverkennbar ein Mann, wie die breiten Schultern und die hoch gewachsene Statur verrieten. Er war vollständig eingehüllt in ein weites tiefschwarzes Gewand, eine Art Umhang, der bis hinunter zum Boden reichte. Sein Haupt war verborgen unter einer breiten Kappe, deren dunkler Stoff tief hinab auf seinen Rücken fiel. Wasser troff auf allen Seiten an dem Mann herunter, doch er schien es nicht zu beachten.
Hedda war vor Schreck erstarrt und zu keiner Regung fähig. Was sollte sie tun? Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie der Fremde, den Kopf gesenkt, den Boden vor sich abzusuchen schien. Mal wandte er sich nach links, machte ein, zwei langsame Schritte vorwärts, sah sich sorgfältig um und wandte sich dann nach rechts, um dort ähnlich zu verfahren. Immer wenn er sich suchend nach vorn beugte, kamen auf seinem Rücken unter dem Tuch der Kappe die Spitzen blonder Haare zum Vorschein, die bis weit über seine Schulterblätter reichen mussten.
Fieberhaft überlegte Hedda, wie es ihr gelingen mochte, unbemerkt den Rückzug anzutreten. Denn wer immer der Fremde war und was immer er an diesem abgelegenen Ort inmitten des Waldes suchte, eine innere Stimme riet der jungen Frau eindringlich, einer Begegnung mit ihm aus dem Weg zu gehen.
Der Regen hatte noch nichts von seiner Stärke eingebüßt, nach wie vor fiel er in schneller, dichter Folge. Längst war Hedda bis auf die Haut durchnässt, kein trockener Fetzen Stoff war mehr an ihr und das Wasser floss in kleinen Bächlein an mehreren Stellen ihres Körpers herunter. Doch alldem schenkte sie keine Beachtung, denn nun galt es, so unbemerkt zurückzugehen, wie sie gekommen war.
Aber ehe sie sich bewegen konnte, geschah etwas Seltsames. Der Fremde vor ihr hielt von einem Moment zum anderen abrupt in seinem Tun inne und richtete sich langsam auf. So als ob irgendetwas seine Aufmerksamkeit erregt hätte, stand er regungslos da und schien gleichsam zu lauschen. Eine ganze Weile verstrich, während Hedda kaum zu atmen wagte und starr ausharrte. Nur kein Geräusch machen, mahnte sie sich und blickte auf den Rücken des Mannes knapp zehn Schritte vor ihr.
Obwohl sie keinen Laut verursacht hatte, geschah plötzlich dann doch, was sie befürchtet hatte. In einer fließenden, langsamen Bewegung drehte der Fremde sich um, blickte sie ruhig an und wartete. Es war, als ob er von ihrer Anwesenheit gewusst hätte, nicht die geringste Spur von Überraschung war in seinem Antlitz zu erkennen.
Hedda erschrak und stolperte unwillkürlich zwei Schritte rückwärts. Der Fremde starrte sie mit nur einem Auge an, das andere war eine leere, dunkle Höhle. Langes goldblondes Haar umrahmte sein hageres, längliches Gesicht, dessen Haut von Narben und Scharten gezeichnet war. Hohe ausgeprägte Wangenknochen verliehen dem Mann darüber hinaus ein Aussehen, wie Hedda es noch nie gesehen hatte. Er musste aus fremden Landen stammen. Sein Auge war von graublauer Farbe und stierte sie mit stechendem Blick kalt und wartend an.
Mit einem Mal schloss sich in ihrem Kopf der Kreis, Einzelteile setzten sich zu einem Ganzen zusammen. Der böse Angang hatte sie vor dieser Begegnung warnen wollen. Ein einäugiger Fremder mit schwarzem Gewand und schwarzem Hut auf einem ebenso schwarzen Ross – das konnte kein anderer sein als Wode selbst, der Helljäger! Obendrein noch seine zwei Raben als Begleiter. Welchen Zweifel sollte es geben? Hatte der Wode sie durch seine Boten selbst von diesem Ort, von diesem Zusammentreffen fernhalten wollen? Erschüttert und voller Angst starrte Hedda ihr Gegenüber an und taumelte Schritt um Schritt rückwärts. Brachte der Wode nicht dem Wanderer, der ihm begegnete, Verderben und Tod? Sie war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, alles in ihr drängte zur Flucht.
Der Fremde setzte sich gleichfalls in Bewegung und ging langsam auf sie zu. Sein schwarzer Umhang öffnete sich plötzlich wie ein dunkler Schlund, als er mit einem Mal die Arme hob und in einer fordernden Geste in ihre Richtung reckte. Doch Hedda hatte sich bereits umgedreht und lief, so schnell sie es mit ihren bloßen Füßen auf dem rutschigen Boden vermochte, durch das Unterholz den Weg zurück, den sie gekommen war. Geschickt wich sie Ästen und Sträuchern aus, sprang über Pfützen und aus dem Boden ragende Wurzeln. An der großen Eiche wandte sie sich im Laufen noch einmal um und sah erleichtert, dass der Mann stehen geblieben war und ihr hinterherblickte. Ausdruckslos schien er kurz in ihre Richtung zu nicken, während sie weiter durch das Krumme Tal hinuntereilte.
Das Kloster auf dem Berg
Mit einem unbeabsichtigten leisen Stöhnen legte Folkward die Gänsefeder langsam auf die Ablage des hölzernen Schreibpults, auf der neben einem Rinderhorn mit dunkler Tinte auch ein Messer zum Schärfen der Schreibgeräte lag. Schon diese kleine Bewegung nach vorn ließ den Mönch die Verspannung seines Körpers spüren. Er griff sich an den rechten Unterarm und drückte sanft durch den Stoff der Kutte hindurch die von der Schreibarbeit verhärteten Muskeln und schmerzenden Sehnen. Dann strich er mehrmals über die vom Druck der Feder geröteten Stellen an Zeige- und Mittelfinger, während er tief durchatmete. Die Arbeit im Scriptorium ist nun einmal kein Müßiggang, gleichwohl aber ein gottgefälliger und ehrenvoller Dienst am Herrn, tröstete er sich.
Mit seinen einunddreißig Jahren zählte Folkward zu den älteren der zehn Mönche im kleinen Kloster auf dem Sollonberg. Der hochgewachsene, hagere Mann, dessen dunkle, aufmerksame Augen seinem länglichen Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck verliehen, stand in der Blüte seines Lebens. An die fünfzehn Jahre war er schon ein Diener Gottes, wovon er die ersten zwölf in der Propstei zu Gozeka an der Saale verbracht hatte, ehe er hierher in den Norden berufen worden war. Sein dortiges Ansehen als fleißiger Schreiber und Bibliothekar war dem ruhigen, bedächtigen Mönch, der zudem geweihter Priester war, vorausgeeilt, und so hatte ihn der ehrwürdige Abt Liudger hier mit der gleichen Aufgabe betraut. Als Pater übernahm Folkward zudem in seltenen Fällen auch seelsorgerische Dienste außerhalb der Klostermauern. Doch sein Herzblut galt dem Schreiben und den Codices und damit der Verbreitung von Gottes Wort durch die Schrift.
Zwei Stunden lang hatte er seit dem Morgen an dem Pergament gearbeitet, das vor ihm auf dem schrägen Pult lag. In eng beschriebenen Zeilen war die dünne, trocken-steife Schafshaut bis zur Hälfte mit lateinischen Wortkolonnen gefüllt. Allenfalls zum Ausschütteln des rechten Arms hatte der Mönch hin und wieder eine kurze Pause eingelegt, denn die Arbeit mit der Schreibfeder war anstrengend und unbequem. In verkrampfter Haltung hockte er auf der schmalen Bank, die Beine auf einen niedrigen Schemel gestellt, und schrieb tief über das Pult gebeugt, wobei nur die Feder das kostbare Pergament berühren durfte. Das Auflegen der Hand oder des Handballens konnte Fettflecken auf der Oberfläche hinterlassen, die sich nicht beschreiben ließen, da die Farbe nicht haften blieb. Daher war der Schreibarm rasch ermattet und bedurfte immer wieder kurzer Erholung. Zugleich machte sich aufgrund der gebeugten Sitzhaltung nach einiger Zeit auch der Rücken schmerzhaft bemerkbar, weshalb der Mönch häufig aufstand und einige Schritte durch den kleinen Raum des Scriptoriums machte.
Folkward nutzte solch kleinen Unterbrechungen außerdem dazu, sich jeweils die Worte der nächsten Sätze zurecht zu legen, denn er kopierte nicht wie sonst einfach eine vor ihm liegende Schriftvorlage, sondern er verfasste einen eigenen Text. Es war eine wichtige Aufgabe, die ihm Abt Liudger anvertraut hatte, nämlich die Erstellung und Niederschrift einer Art Chronik ihres jungen Klosters. Dabei ging es weniger um die mit knapp fünf Jahren ja noch sehr kurze Geschichte der Propstei, als vielmehr um deren Gründung und großzügige Ausstattung durch den ehrwürdigen Erzbischof Adalbert von Hammaburg und Bremen. Der Metropolit hatte die Glaubensstätte auf dem Sollonberg seinerzeit mit kostbaren Reliquien beschenkt, deren verehrungswürdigste ohne Zweifel die Hand des Apostels Jakobus war. Dieses in ein goldenes Reliquiar eingefasste Kleinod war zugleich das Ziel zahlreicher Pilger, die diese heilige Erinnerung an Christi Gefährten mit eigenen Augen sehen und anbeten wollten. Des Weiteren barg die kleine Propstei das Haupt des heiligen Secundus, eines Märtyrers der Thebaischen Legion. Folkwards Schrift sollte den Weg, den die beiden Reliquien vom Heiligen Land und von Italien her bis auf den Sollonberg genommen hatten – ihre Translatio also – darstellen. Außerdem galt es, eine Vita der beiden Heiligen beizufügen, zumal sie auch die Patrone des kleinen Klosters waren.
Das Werk sollte fertiggestellt sein anlässlich des baldigen Besuchs Erzbischof Adalberts, der die Propstei am Gedenktag der heiligen Märtyrer der Thebaischen Legion zu besuchen gedachte, um Secundus zu Ehren die heilige Messe zu feiern. Bei dieser Gelegenheit wollte man dem großzügigen Stifter des Klosters die Chronik in tiefer Dankbarkeit zum Geschenk machen. Bis zu jenem Festtag, der in der zweiten Septemberhälfte begangen würde, blieb Folkward nur mehr ein Monat Zeit.
Er stand von der Bank auf, streckte den erlahmten Rücken durch und legte mit geschlossenen Augen den Kopf kurz in den Nacken. Mit einem Schritt trat er um das Pult und warf einen Blick in das Rinderhorn. Für heute wird die Tinte wohl noch reichen, dachte er, doch gleich morgen in der Früh muss ich Tado anhalten, neue zu mischen. Dem Gehilfen, einem jungen Novizen, hatte er die Anfertigung der Farbe aus Gallapfel, Vitriol und Wasser gelehrt, wie auch die Verarbeitung der Schafshäute zu Pergament. Was das Kloster darüber hinaus nicht selbst zur Verfügung stellen konnte, besorgte der junge Bursche in der Siedlung am Fuß des Sollonbergs oder in einem der Nachbarorte. So war er an diesem Nachmittag unterwegs, um neue Gänsefedern zu beschaffen. Durch diese Arbeitsteilung konnte Folkward seine Kräfte weitgehend auf die Abfassung der Chronik richten, zumal Tado weder des Lesens noch des Schreibens mächtig war und ihm hierbei keine Hilfe sein konnte.
Der Mönch trat an die mittlere der drei schmalen Fensteröffnungen, die auf die Südseite des Klosters gingen, und beugte sich ein wenig vor um hinauszusehen. Unten im Tal strömte als breites glänzendes Band die Elbe dahin. Jenseits des Flusses reichte der Blick weit über die sumpfigen Marschen, Moore und Wälder bis zur fernen Kette der Schwarzen Berge. Allerorts stiegen kleinere und größere Schwaden feinen Nebels auf und schwebten wie leicht gewebte, hauchdünne Tücher fast bewegungslos über der Landschaft. Nachdem die gewaltige Wolkenfront sich abgeregnet hatte, war sie am späten Mittag weiter ostwärts Richtung Hammaburg getrieben und einem strahlend blauen Himmel gewichen. Nur die dunstigen Schleier und Nebelfetzen erinnerten noch an den starken Regen, um den die Mönche so lange zu Gott gebetet hatten.
Folkward ließ den Blick schweifen über den schier endlos scheinenden Landstrich südlich des Stroms. Es war ein riesiges flaches Ödland, das regelmäßig überschwemmt wurde und dadurch sein Gesicht stets veränderte. Keine Menschen, keine Siedlung gab es dort. Erst da, wo sich der Boden am Rande der weiten sumpfigen Elbsenke hob, fanden sich wieder einzelne Orte und Weiler. Mit zusammengekniffenen Augen suchte er Bucstadinhude, die nächste größere Stadt im Süden. Sie lag an dem Flüsschen Este, das nach vielen Windungen gegenüber dem Blanken Neeß in die Elbe mündete. Doch so sehr er sich auch mühte, er konnte den Ort in der großen Weite nicht ausmachen. Und auch von der Este war nicht viel mehr zu sehen als ein kurzer silberner Faden, der irgendwo aus dem grünen Nichts erschien und in die Elbe floss.
Hier war die bedeutsame Achse von Nord nach Süd, die wichtigste Querung der Elbe westlich Hammaburgs. Vom Blanken Neeß ging eine Fähre geradewegs über den großen Strom, fuhr dann in die schmale Este ein und endete an der Anlandestelle in Bucstadinhude. Dies war für alle Gebiete Nordelbingens und darüber hinaus auch für das dänische Königreich der beste Weg in den Süden und in den Westen in Richtung Bremen. Die Fähre am Blanken Neeß sicherte die Anbindung der nördlichen Teile des Landes ans Reich und war insofern ein Ort der Macht für die sächsischen Herzöge. Aus diesem Grund betrachteten die Billunger die erzbischöfliche Machtentfaltung auf dem Sollonberg – gleichsam in ihrem weltlichen Territorium – mit großem Argwohn.
Und doch sind wir hier, auf diesem Hügel, dachte Folkward und wandte den Blick etwas nach rechts, wo keine zwanzig Schritte entfernt die hohe Mauer der neben dem Kloster gelegenen Burg emporragte. Zwar lag das Scriptorium im Obergeschoss des Klosterbaus, doch die Burgmauer war so hoch, dass der Mönch nicht über ihren Rand hinweg in den Innenhof blicken konnte. Lediglich der hohe, wuchtige Burgturm war unübersehbar, ragte er doch mit seiner großen Wehrplattform beherrschend in den Himmel. Beides, Burg und Kloster, hatte Erzbischof Adalbert im Laufe der sieben Jahre seit der Grundsteinlegung 1058 errichten lassen zum Schutz der Elbfähre und der damit einhergehenden Reisenden. Da er die Propstei zudem mit den beiden kostbaren Reliquien ausgestattet hatte, machten auch etliche Pilger aus dem Norden Station im Kloster. Viele von ihnen waren Jakobs-Wallfahrer mit der symbolischen Muschel am Gewand oder am Hut, unterwegs auf ihrer langen Reise nach dem fernen iberischen Santiago de Compostela.
Über viele Jahrhunderte hinweg hatte es nichts auf dem Sollonberg gegeben, nichts als Wald. Wie Folkward für die Klosterchronik jüngst herausgefunden hatte, waren Propstei und Burg die ersten Gebäude überhaupt auf dieser Erhebung an der Elbe. Lediglich einige Grabhügel aus frühester Urzeit waren im näheren Umfeld zu finden. Eigentlich verwunderlich, überlegte er, denn der Berg ist doch fraglos ein hervorragender Ort, gerade in strategischer Hinsicht. Warum hat bis zum Jahre des Herrn 1058 keiner, weder aus dem Bistum noch der Herzog oder einer seiner Lehnsmänner diese Stätte in Beschlag genommen?
In einer alten fränkischen Quelle, den Annalen Ermenrichs von Fritzlar, die nur wenige Jahrzehnte nach Karls des Großen Feldzug gegen die damals noch heidnischen Sachsen entstanden war, hatte Folkward von einem Misstrauen der Einheimischen gegenüber dem Sollonberg gelesen. In vagen Worten hieß es dort, dass sich einst auf dem Berg eine weithin berühmte Opferstätte befunden habe, bei der die germanischen Altvorderen in grauer Vorzeit ihren Göttern Fro und Wodan geopfert und gehuldigt hätten. Seitdem sei es dort nicht mehr geheuer. Näheres hatte Folkward dem alten Text nicht entnehmen können. Immerhin mochte dies eine Erklärung dafür sein, warum es über all die Jahrhunderte zu keiner Besiedlung des Berges gekommen war.
Jedenfalls stammte der Name Sollonberg aus der Vorzeit, soviel hatte der Mönch herausgefunden. Denn sol oder sul bedeutete zum einen die Säule, also der heidnische Götterpfahl, wie beispielsweise die Irminsul. Zum anderen hieß es auch Schuld oder Opfer, etwa im Sinne von: den Göttern ihr Soll darbringen. Und schließlich war es nach dem lateinischen Wort sol ein Hinweis auf die Verehrung einer Sonnengottheit, wie es bei den germanischen Ahnen Gott Fro einmal gewesen war. Insofern spiegelte der Name des Berges zweifellos seine frühere Rolle in heidnischer Zeit wider.
Folkward strich geistesabwesend über den dunkelbraunen Haarkranz seiner Tonsur und ließ den Blick über die Baumwipfel hinunterwandern auf die Reetdächer der Häuser und Hütten am Fuß des Berges. Auf den Wegen der kleinen Ansiedlung und bei den Booten am Blanken Neeß waren, wie Punkte, vereinzelt Menschen zu sehen, die ihren Tätigkeiten nachgingen.
Auch ihr Fischer dort unten mögt unseren Berg nicht und die Wälder westlich, dachte er unmerklich nickend, und das nicht allein wegen des bösen Mörderpacks um Blodhand. Doch in Bälde wird die Gegend aufblühen, denn gegen die weltliche Gefahr gibt es jetzt die Burg und gegen den Aberglauben und das heidnische Misstrauen unser Wort Christi. Selbst einer der heiligen Apostel des Herrn steht fest an unserer Seite. Mit der Reliquie seiner schützenden Hand muss uns nie bange werden! Ein Hochgefühl erfüllte den Mönch. Für einen Augenblick schloss er die Augen, murmelte ein kurzes Dankesgebet und bekreuzigte sich.
Ja, die Translatio, fiel es Folkward beim Gedanken an die Jakobsreliquie wieder ein. Er musste zum Vater Abt und ihn danach fragen, vorher konnte er an der Chronik nicht weiterarbeiten. Jener hatte ihm jüngst in Aussicht gestellt, gleichsam aus erster Hand Genaueres über die Herkunft der Reliquien zu berichten. Der Mönch wandte sich vom Fenster ab, sah kurz an sich herunter und rückte das verrutschte Skapulier, den Überwurf mit angenähter Kapuze, über seiner Kutte zurecht. Mit wenigen Schritten durchmaß er das Scriptorium und trat an ein Regal, das einzelne Pergamentseiten, tönerne Behältnisse, Federn und andere Schreibutensilien enthielt. Nach kurzer Suche nahm er eine Wachstafel und ein dünnes Holzstäbchen zur Hand, verließ schließlich den Raum und stieg über eine steile, hölzerne Treppe nach unten.
Er trat hinaus in den kleinen Innenhof, der an drei Seiten von den zweistöckigen Gebäudeflügeln und an der vierten Seite von der Kirche des Klosters eingeschlossen war. Die Sonne hatte ihren Höchststand längst überschritten und schien schräg auf die kleinen Anpflanzungen und Beete, die den Hof ausfüllten. Udalrich, der älteste Mönch der Propstei, hackte bedächtig mit einer Harke in der zum ersten Mal wieder feuchten Erde. Der etwas rundlich geratene Bruder, der kaum zufällig vor allem Küchendienste leistete, warf einen dunklen Schatten an die rötlich-braune Steinwand hinter sich. Als er Folkwards Schritte vernahm, drehte er sich kurz um und nickte ihm zu.
Der Raum des Abtes lag direkt in dem Eckwinkel, wo der östliche Gebäudeflügel an die Sakristei und an den Chor der Klosterkirche stieß. Dort hatte der Abt auch einen eigenen, direkten Zugang von seinem Zimmer zur Kirche, während die Brüder über den Innenhof hineingelangten. Folkward trat an die hölzerne Tür der Abtswohnung, räusperte sich kurz und klopfte zweimal an. Einen Moment später wurde er aus dem Innern zum Eintreten aufgefordert.
Abt Liudger war ein kleiner Mann mit hagerem Gesicht, dessen Tonsur und Bart bereits grauweiß eingefärbt waren. Ein dichtes Geflecht aus Falten überzog die fast vertrocknet wirkende Haut und verlieh seinem Antlitz bei jedem Mienenspiel ein anderes Aussehen. War er ansonsten an Gestalt eher unscheinbar, so machte ihn sein Gesicht um reichlich zwanzig Jahre älter, als er eigentlich war. Als Folkward über die Schwelle trat, sah der Abt von seinem mit Büchern und Schriftstücken beladenen Tisch auf und blickte den Mönch mit schräggelegtem Kopf an. Ohne hinzuschauen, ergriff er mit ruhiger Hand den Krummstab, der seitlich neben ihm am Tisch lehnte.
„Gott zum Gruße, ehrwürdiger Vater“, begann Folkward und neigte das Haupt demütig vor dem Abt, der sich von seinem Stuhl erhob. „Darf ich Euch stören?“
„Aber natürlich, mein Sohn. Meine Tür steht dir immer offen.“ Abt Liudger trat mit einem Lächeln, das die Falten seines Gesichts in Bewegung brachte, langsam um den Tisch und hob den Arm in einladender Geste. Folkward schloss die Türe hinter sich und bewegte sich in den halbdunklen Raum, der nur durch zwei Scharten im Gemäuer spärliches Licht erhielt und in dem sich außer Tisch und Stuhl des Abtes noch ein weiterer Stuhl für Besucher, ein Bett und eine große Holztruhe befanden.
„Vater, mit Gottes Hilfe habe ich die Chronik so weit vorangebracht, dass ich nun ohne Eure Unterstützung schwerlich weiterkommen werde. Doch es ist nur mehr ein kleines Stück Arbeit, sodass das Opus rechtzeitig als Geschenk für unseren geliebten und frommen Oberhirten fertig sein wird.“
„Das höre ich gern, mein Sohn. Unser Kloster hat ihm viel zu verdanken.“
„Wir hatten vor einiger Zeit darüber gesprochen, dass ich hinsichtlich der Reise der Reliquien hierher Euer Gedächtnis bemühen dürfte, ehrwürdiger Abt.“
„Richtig, die Translatio“, erwiderte der Klostervorsteher mit einem Nicken und wies auf den Besucherstuhl. „Setz dich nur. Am besten wird es sein, du schreibst dir das ein oder andere auf.“ Er sah auf die Wachstafel und den Griffel in Folkwards Hand.
„Nun, unser Patriarch selbst hat bei Gründung dieser Stätte, als er mir Stab und Ring übertrug, erzählt, wie er einstmals in den Besitz der heiligen Überreste des Apostels Jakobus und des Märtyrers Secundus gelangt ist.“ Mit dem langen Krummstab deutete der Abt vage quer durch den Raum in Richtung einer zweiten Tür, hinter der die Sakristei lag. Dort befand sich eine gemauerte Nische, die mit eisernem Gitter und Schloss gesichert war und in der die kostbaren Kleinode in einem Gold beschlagenen Schrein aufbewahrt wurden.
„Es war auf dem Höhepunkt der Macht unseres damaligen Königs Heinrichs des Schwarzen, des dritten Reichsherrschers dieses Namens und Vaters unseres heutigen Jungkönigs Heinrichs des Vierten. Der König machte sich damals im Jahre des Herrn 1046 auf den Weg über die Alpen, um in der Ewigen Stadt Rom die Besetzung des Apostolischen Stuhls in seinem Sinne zu regeln und sich ebendort die Kaiserkrone aufs Haupt setzen zu lassen.“ Abt Liudger ging zurück zu seinem Platz und setzte sich Folkward gegenüber an den Tisch.
„In seinem ungeheuer großen Tross begleitete ihn quer durch das Reich auch unser geliebter Stifter Erzbischof Adalbert, zu dem der mächtige König ein enges, vertrauensvolles Verhältnis hatte. Wie du sicherlich weißt, hat Heinrich der Schwarze damals unserem Oberhirten gar die Cathedra Petri angeboten, um sich so einen ihm wohlgesinnten Papst zu sichern. Doch der ehrwürdige Adalbert lehnte ab, da er lieber seinen göttlichen Auftrag im Patriarchat des Nordens verwirklichen wollte, jener von ihm selbst entworfenen Idee der christlichen Missionierung des gesamten Nordens und Nordostens. Unsere Stadt Hammaburg als ein Rom des Nordens, dessen christlicher Botschaft die Dänen, Schweden, Nordmänner, Skritefinnen und die Slawen dankbar lauschen. Eine so hehre und gottgefällige Aufgabe! Doch ich schweife vom Thema ab …“ Der Abt räusperte sich und überlegte mit gerunzelter Stirn.
„Nun, die Bischöfe Italiens waren unserem Patriarchen sehr zugetan. Überall, wo er im Gefolge Heinrichs des Schwarzen auf dem Weg nach Rom vorbeikam oder Station machte, überhäuften ihn die Prälaten mit Glückwünschen und Geschenken. Zum einen, weil sie ihn als frommen Gottesdiener und Missionar bewunderten und ihm helfen wollten, sein Patriarchat des Nordens in heiligem Glanz erstrahlen zu lassen. Zum anderen aber sicher auch, um sich bei eben dem Mann einzuschmeicheln, dem der König bedenkenlos sein Ohr lieh.“ Er lachte kurz auf und sah Folkward an. „So ist es ja nun einmal in der Welt …“
„Unser Erzbischof ist ein mächtiger Mann, weiß Gott“, erwiderte Folkward und nickte. „Auch heute beim jungen König, den er erzogen hat und berät, hat er großen Einfluss. Welch ein Segen, dass seine gnädige Hand über unserem Kloster ruht.“
„Wahrlich, mein Sohn, wir haben einen machtvollen Beschützer. Allerdings …“ Der Abt zögerte einen Moment, um die richtigen Worte zu finden. Schließlich beugte er sich etwas tiefer über den Tisch, senkte die Stimme und blickte Folkward mit verengten Augen geheimnistuerisch an. „Allerdings ist sein Machthunger in den letzten Jahren bedenklich gewachsen, zu sehr für einen Mann Gottes. So tauscht er manches Mal Güter und Gold seiner heiligen Kirche gegen weltliche Macht ein.“ Er unterbrach seine Rede und sah den Mönch aufmerksam und zugleich fragend an, als ob er die Wirkung seiner Worte beobachten wolle.
„Gilt es, eine Grafschaft zu erwerben, sind gar Reliquien vor seinem Zugriff nicht sicher, sagt man“, setzte er schließlich noch hinzu, wobei er nachdenklich nickte und sein Gegenüber bedeutungsvoll ansah. „Doch erneut schweife ich ab …“
„Ehrwürdiger Vater, mit Sorge höre ich, was Ihr mir da über unseren frommen Gönner offenbart“, sagte Folkward leise und zögerlich, denn die Worte des Abtes hatten ihn überrascht. Worauf wollte er hinaus? Aufmerksam versuchte er, die Miene des Abtes zu deuten, der ihn seinerseits musterte.
„Nun, letztlich ist auch unser hochwürdiger Prälat nur ein Mensch …“, murmelte Abt Liudger. „Dir als meinem Stellvertreter wollte ich das einmal vor Augen führen. Sei dessen eingedenk, gleichwohl zweifle nicht an der Heiligkeit unseres Hirten!“ Mit diesen Worten entspannte er sich wieder, so als ob aus seiner Sicht genug gesagt sei.
„Wir müssen uns nicht sorgen, oder?“, fragte Folkward in bewusst ruhigem Ton und blickte den Abt an. Doch ehe dieser den Mund öffnete, konnte er an der wieder ganz gefassten, väterlichen Miene ablesen, dass er keine Antwort erhalten würde.
„Lass uns zum Thema zurückkehren“, sagte der Klostervorsteher entschieden und wich dem Blick des Mönches aus. Er lehnte sich langsam auf seinem Stuhl zurück und sammelte seine Gedanken.
„Also, wir waren im Jahr 1046. Nun, eines Tages kam der Tross des Königs nach Taurinum, und unser Patriarch wurde vom dortigen Bischof Cunibert mit größten Ehren und Tränen der Freude empfangen, wie mir unser Oberhirte erzählte. Der Prälat war von solcher Anteilnahme am missionarischen Werk unseres Herrn, dass er ihm sogleich das Haupt des Märtyrers Secundus überreichte. Dieser Heilige war, wie du weißt, Folkward, ein Führer der Thebaischen Legion gewesen, der im Jahr 291 wegen seiner Weigerung, Christen zu töten, selbst nahe der alten Burg Vintimilium ermordet wurde. Nun, kurz darauf reiste das Gefolge weiter nach Verona, und es wurde ein Bischof bei unserem Patriarchen vorstellig, der den Episkopat auf der kleinen Insel Torcello in der Venetianischen Lagune innehatte. Sein Name war Vitalis Orseolo und er stammte aus mächtiger, reicher Familie. Von ihm empfing Erzbischof Adalbert die Reliquie des Apostels Jakobus, damit, so wollte es Bischof Vitalis, dessen heilige Hand schützend über die Christenheit des Nordens wache.“
In großer Eile ritzte Folkward die Namen und Orte mit dem Griffel in das weiche Wachs. Aus diesen Notizen würde er später den Text für die Chronik formen.
„Nun noch zur Vorgeschichte der Reliquie: Bischof Vitalis – vielmehr die Familie Orseolo – war einst auf folgende Weise in den Besitz der heiligen Hand gelangt …“
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür der Abtsstube. In seinem Redefluss gestört, hielt Abt Liudger inne, blickte fragend an Folkward vorbei in jene Richtung und sagte nach kurzem Zögern: „Herein …“
„Ehrwürdiger Vater, Pilger sind angekommen und erbitten Unterkunft und Euren Segen“, sagte Udalrich, der fast die ganze Breite der Tür einnahm und demütig zu Boden sah. „Sie warten draußen vor der Pforte …“
„Ich danke dir, mein Sohn“, antwortete der Abt, erhob sich vom Stuhl und trat neben Folkward. „Wir werden unser Gespräch anderntags fortsetzen müssen.“ Sein ernster Gesichtsausdruck schien in den Augen des Mönchs anzudeuten, dass er damit nicht nur das Thema Translatio meinte.
„Natürlich, Vater“, erwiderte Folkward, stand ebenfalls rasch auf und trat hinter Udalrich und dem Abt in den Innenhof. Die strahlende Helligkeit des Sonnenlichts ließ ihn für einen Moment blinzeln.
„Nun denn, lasst uns die Pilger begrüßen“, sagte der Abt und durchquerte den Hof. „Udalrich, sag dem Bruder Hospitarius Bescheid. Folkward, komm mit mir.“
Vom Innenhof aus betraten Abt und Mönch den Westflügel des Klostergebäudes, schritten durch einen kleinen Flur und standen schließlich vor der Pforte, einer Holztür mit schweren eisernen Verstrebungen und Querbändern. Auf Kopfhöhe war eine kleine Klappe eingelassen, die der Abt nun mit einem quietschenden Ton öffnete. Draußen auf dem Vorplatz standen fünf Männer, die müde herübersahen.
Der Abt schloss das Sichtfenster wieder und öffnete nun die Pforte selbst, indem er zwei schwere Querriegel aus ihren tiefen Verankerungen im Mauerwerk zog. Gefolgt von Folkward trat er hinaus auf die baum- und strauchlose Wiese vor dem Kloster, eine große Fläche, die an drei Seiten umbaut war. Denn linker Hand neben dem Kloster lag die Burg, kaum dreißig Schritte entfernt, und rechter Hand ein niedriges Gebäude, das Gästehaus der Propstei, in dem Besucher und Pilger Obdach finden konnten.
„Gott der Allmächtige segne euch“, rief Abt Liudger den Männern entgegen, die ihn mit erschöpften Gesichtern ansahen und schließlich näher kamen. „Ich bin Liudger, Abt dieses kleinen Klosters, und ich begrüße euch, ihr Pilger. Woher kommt ihr?“
„Gott zum Gruße, ehrwürdiger Abt“, erwiderte einer der Männer, ein kleiner Kerl mit blondem Haar und heller Haut, offensichtlich ihr Wortführer. „Wir sind den weiten Weg aus dem Norden Jütlands gekommen, um bei euch die heilige Hand des Jakobus demütig zu bewundern und um Rast zu bitten, bevor uns unsere Reise weiterführt bis tief in den Süden zum Heiligtum des Christusjüngers in Santiago.“
Die Fremden trugen weite braune Umhänge, die verstaubt und verdreckt waren, zerschlissene Schuhe und breite Hüte, an denen die Kammmuscheln der Jakobspilger befestigt waren. Über ihren Schultern hingen lederne Säcke und Taschen, und in den Händen hielten sie hohe Pilgerstäbe. Sie wirkten erschöpft, aber zugleich froh, das Ende ihrer geplanten Etappe erreicht zu haben.
„Nun, die Hand des Apostels mögt ihr sehen am kommenden Tag des Herrn, der dem heiligen Augustinus geweiht ist. Dann wird sie feierlich aus dem Schrein in die Kirche getragen. Bis dahin sollt ihr unsere Gäste sein, euch laben und erholen.“