Über das Buch
»Dieses Buch bietet einen klaren und eindrücklichen Einblick in die Kraft des Kapitalismus, unsere Welt zu formen, und präsentiert eine Vision für eine Alternative.«
The Independent
Man muss das Wesen des Kapitalismus genau verstehen, erst dann kann man ihn durch einen revolutionären Humanismus ersetzen, in dessen Zentrum nicht das Kapital, sondern der Mensch steht. Ganz konkret untersucht David Harvey die Anhäufung von Kapital, das Wachstumscredo, den spekulativen Immobilienmarkt und den Raubbau an der Natur. Er beschreibt nicht nur Krisen, sondern zeigt auch Chancen auf, für den Weg hin zu einer gerechteren Gesellschaft.
»Harvey (…) bleibt hart an den Fakten und spürt die Systemkurzschlüsse auf, die die Neoliberalen leugnen und auch durch die keynesianischen Modelle nicht aus der Welt zu schaffen sind.«
taz
Der Autor
David Harvey, geboren 1935, zählt zu den bedeutendsten Sozialwissenschaftlern der Gegenwart. Er hat in Cambridge Geographie und Anthropologie studiert und in Oxford, Baltimore sowie London gelehrt. Heute unterrichtet er an der City University of New York. Harvey ist bekennender Neomarxist und forscht zu Urbanisierung, Geographie und Umwelt.
DAVID HARVEY
Siebzehn Widersprüche und
das Ende des Kapitalismus
Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober
Ullstein
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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
Seventeen Contradictions and the End of Capitalism
bei Profile Books Ltd, London.
ISBN: 978-3-8437-1071-8
© David Harvey, 2014
© der deutschsprachigen Ausgabe
2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Lektorat: Andy Hahnemann
Umschlaggestaltung: Rudolf Linn, Köln, nach einer Idee von Dan Stiles
Alle Rechte vorbehalten.
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können zivil- oder strafrechtlich
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E-Book: LVD GmbH, Berlin
Das Zitat auf dem Cover ist aus dem Artikel Gefähliche Widersprüche, Robert Misik – taz.de, 30.08.14.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der taz – die tageszeitung.
Für John Davey
in dankbarer Anerkennung für den klugen Rat und Rückhalt bei fast allem, was ich je veröffentlicht habe
Prolog
Die jetzige Krise des Kapitalismus
Krisen sind wesentlich für die Reproduktion des Kapitalismus. Im Laufe von Krisen werden Instabilitäten erkannt und so gründlich umgestaltet, dass gleichsam eine aktualisierte Version des Kapitalismus entsteht. Vieles wird abgerissen und entsorgt, um Platz für Neues zu schaffen. Einst produktive Landschaften werden in industrielles Ödland verwandelt, alte Fabriken stillgelegt oder neuen Zwecken zugeführt, Arbeitersiedlungen luxussaniert. Andernorts werden kleinbäuerliche Betriebe und Pachthöfe von industrialisierten Großbetrieben oder hochmodernen Fabriken verdrängt. Inmitten vorstädtischer Reihenhaussiedlungen entstehen Gewerbegebiete, Entwicklungs-, Lager- und Logistikzentren, die durch ein Netz von Schnellstraßen miteinander verbunden werden. Metropolen überbieten sich beim Bau prächtiger Bürotürme und symbolträchtiger Kulturbauten, gigantische Einkaufszentren werden in den Stadtzentren und Vorstädten hochgezogen, einige sogar mit der zusätzlichen Funktion als Flughäfen, durch die sich ein unaufhörlicher Strom von Touristen und Geschäftsleuten in eine immer kosmopolitischere Welt ergießt. Die Golfplätze und bewachten Wohnanlagen aus den USA gibt es heute auch in China, Chile und Indien, wo sie in brutalem Kontrast zu den planlos wuchernden Slums, Favelas oder Barrios pobres stehen.
Bemerkenswert an Krisen ist aber nicht nur die Umgestaltung der Geographie, sondern auch die radikale Veränderung unserer Denk- und Sichtweisen, Institutionen und Ideologien, politischen Bündnisse und Prozesse, politischen Subjektivitäten, Technologien und Organisationsformen, sozialen Beziehungen, kulturellen Sitten und Vorlieben, die den Alltag prägen. Krisen erschüttern unsere Vorstellungen von der Welt und unsere Stellung in ihr bis in die Grundfesten. Sie erzwingen eine Anpassung an den Status quo – egal, wie klein unser Beitrag zum Weltgeschehen auch sein mag.
Mitten in einer Krise ist schwer zu erkennen, wie oder wann sie enden wird. Krisen sind keine singulären Ereignisse, sondern sie werden von langfristigen tektonischen Verschiebungen ausgelöst. Die Weltwirtschaftskrise, die mit dem Börsenkrach von 1929 begann, wurde endgültig erst in den Fünfzigerjahren überwunden, nach einer globalen Depression und einem Weltkrieg. Ganz ähnlich verhielt es sich mit der Krise, die sich in den Turbulenzen auf den internationalen Devisenmärkten Ende der Sechzigerjahre und den Straßenprotesten von 1968 (in Paris, Chicago, Mexiko City und Bangkok) äußerte. Sie fand erst Mitte der Achtzigerjahre ein Ende – nach dem Zusammenbruch der internationalen Währungsordnung von Bretton Woods, einem Jahrzehnt turbulenter Arbeitskämpfe und dem Aufstieg und der Festigung des Neoliberalismus unter Reagan, Thatcher, Kohl, Pinochet und, schließlich, Deng Xiaoping in China.
In der Rückschau ist es nicht schwer, die Indizien für eine bevorstehende Krise zu erkennen, lange bevor sie eintritt. So waren es in den USA beispielsweise die rasant zunehmende soziale Ungleichheit in den Zwanzigerjahren und die plötzlich entstehende Immobilienblase von 1928, die den Zusammenbruch von 1929 ankündigten. Tatsächlich birgt der Ausgang einer Krise schon den Keim kommender Krisen in sich. Die globale Finanzialisierung, die in den Achtzigerjahren begann, um das Problem der Arbeitskräfteknappheit durch eine gesteigerte Mobilität und Streuung des Kapitals zu lösen, führte zum Untergang der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008.
Zur Zeit dieser Niederschrift sind mehr als fünf Jahre seit dem folgenschweren Zusammenbruch von Lehman Brothers vergangen. Und wie die Vergangenheit zeigt, wäre es höchst naiv, bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt klare Hinweise auf die Beschaffenheit eines »neuen« Kapitalismus zu erwarten. Man sollte jedoch annehmen, dass es zumindest zahlreiche konkurrierende Diagnosen der Fehlentwicklungen und eine Vielzahl von Verbesserungsvorschlägen gibt – aber dem ist nicht so. Während die eine Hälfte der Welt (Europa und die USA) die neoliberale, angebotsorientierte und monetaristische Politik einfach fortsetzen möchte und in der Austerität die geeignete Medizin zur Heilung unserer Krankheiten sieht, macht sich die andere Hälfte (China) an die Neuauflage eines verwässerten, nachfrageorientierten und schuldenfinanzierten Keynesianismus, ohne allerdings Keynes’ zentrale Forderung nach einer Einkommensumverteilung zugunsten ärmerer Schichten zu berücksichtigen. Egal, welche Strategie befolgt wird, das Ergebnis kommt jenem Klub der Milliardäre zugute, der heute sowohl national als auch international eine Plutokratie mit ständig wachsender Macht darstellt. Überall werden die Reichen von Minute zu Minute noch reicher. Die 100 wohlhabendsten Milliardäre der Welt (aus China, Russland, Indien, Mexiko und Indonesien ebenso wie aus den traditionellen Wohlstandszentren Nordamerikas und Europas) stockten allein im Jahr 2012 ihr Vermögen um 240 Milliarden Dollar auf (genug, wie Oxfam errechnet hat, um die Armut in der Welt von einem Tag auf den anderen zu beenden). Im Gegensatz dazu stagniert das Wohlstandsniveau der breiten Bevölkerung – oder es verschlechtert sich dramatisch, wie in Griechenland und Spanien.
Neu ist lediglich die große Rolle der Zentralbanken und besonders der amerikanischen Fed. Seit ihren Anfängen (in England etwa 1694) kümmerten sich die Zentralbanken dabei immer um die Interessen der anderen Banken und nicht um das Wohlergehen der Menschen. Dass die USA im Sommer 2009 die Krise statistisch hinter sich lassen und dass sich die Aktienmärkte fast überall von ihren Verlusten erholen konnten, lag ganz allein an den Interventionen der US-Notenbank. Wenn der global operierende Kapitalismus tatsächlich von einer Diktatur der Zentralbanker gemanagt wird, die vor allem die Macht der Banken und Plutokraten schützen, besteht freilich kaum Aussicht, die gegenwärtigen Probleme der stagnierenden Volkswirtschaften und fallenden Lebensstandards in den Griff zu bekommen.
Es gibt auch viel Gerede über eine technologische Lösung der jetzigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Doch Tatsache ist, dass die neuen Technologien und Organisationsformen nie entscheidend zur Überwindung von Krisen beigetragen haben (was nicht heißt, dass sie gar nichts dazu beigetragen haben). Große Hoffnungen werden gegenwärtig etwa auf einen »wissensbasierten« Kapitalismus gesetzt (mit den Speerspitzen Bio- und Gentechnik sowie künstliche Intelligenz). Doch Innovation ist immer ein zweischneidiges Schwert. Schließlich führte die Automatisierung in den Achtzigerjahren auch zur Deindustrialisierung und zum Verlust zahlreicher Arbeitsplätze. Seitdem wird Unternehmen wie General Motors (das in den Sechzigerjahren gut bezahlte, gewerkschaftliche Arbeiter beschäftigte) von Konzernen wie Walmart (mit ihrer Riesenzahl von nicht organisierten Beschäftigten im Niedriglohnsektor) der Rang abgelaufen. Wenn der gegenwärtige Innovationsboom überhaupt irgendeine Richtung erkennen lässt, dann sicherlich in Hinblick auf schwindende Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeiter und die wachsende Bedeutung von ökonomischen Renten aus geistigen Eigentumsrechten. Aber wenn alle versuchen, von Renten zu leben und niemand in eine wie auch immer geartete Produktion investiert, dann wird die nächste Krise nicht lange auf sich warten lassen.
Dabei scheinen nicht nur die kapitalistischen Eliten und ihr akademisches Fußvolk außerstande zu sein, irgendeinen radikalen Bruch mit der Vergangenheit zu vollziehen oder einen gangbaren Ausweg aus wirtschaftlicher Stagnation, Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit zu zeigen. Auch die traditionelle Linke (politische Parteien und Gewerkschaften) ist einfach nicht in der Lage, der Macht des Kapitals einen nennenswerten Widerstand entgegenzusetzen. Dreißig Jahre ideologischer und politischer Diffamierung von rechts haben sie verschlissen. Der Zusammenbruch des real existierenden Kommunismus und der »Tod des Marxismus« nach 1989 haben die Situation noch verschlimmert. Die radikale Linke ist heute weitgehend marginalisiert und setzt ihre Hoffnung auf begrenzte Aktionen und lokalen Aktivismus, der sich eines Tages zu irgendeiner Form von befriedigender Makroalternative aufaddieren soll. Mit ihrer libertären und sogar neoliberalen Ethik des Antietatismus folgt sie Denkern wie Michel Foucault und anderen, die die postmodernen Fragmentierungen im Zeichen eines weitgehend unverständlichen Poststrukturalismus versammeln, indem sie sich Identitätspolitik auf die Fahnen schreiben und die Klassenanalyse meiden. Autonome, anarchistische und lokale Perspektiven und Aktionen schießen aus dem Boden. Doch in dem Maße, wie diese Linke versucht, die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen, konsolidiert die plutokratisch-kapitalistische Klasse weitgehend unbehelligt ihre Herrschaft. Unterstützt wird sie von einem Sicherheits- und Überwachungsstaat, der sich keineswegs scheut, jede Form des Dissenses mit Hilfe seiner Polizeikräfte zu ersticken.
In diesem Klima habe ich das vorliegende Buch geschrieben. Die gewählte Vorgehensweise ist insofern etwas unkonventionell, als ich mich an Marx’ Methode halte, aber nicht unbedingt an seine Rezepte – was manchen Leser irritieren mag. Doch wenn wir die derzeitige Flaute in der wirtschaftlichen Theorie, Praxis und Politik überwinden wollen, brauchen wir ein paar neue Gedanken. Schließlich läuft der Wirtschaftsmotor des Kapitalismus alles andere als rund. Mal stottert er mühsam dahin, mal droht er stehenzubleiben, und von Zeit zu Zeit explodiert er ohne Vorwarnung. Gefahrenzeichen finden sich auf Schritt und Tritt, während gleichzeitig die Aussicht auf ein unbeschwertes Leben im Überfluss für jedermann beschworen wird. Niemand scheint schlüssig erklären zu können, wie, geschweige denn warum, der Kapitalismus in solche Schwierigkeiten kommen konnte. Aber das war schon immer so. Weltmarktkrisen sind stets, wie Marx einmal sagte, »die reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung aller Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie«.1 Die Offenlegung dieser Widersprüche sollte uns also eine Menge über die wirtschaftlichen Probleme verraten, die uns so zu schaffen machen. Nun, zumindest ist es einen Versuch wert.
Außerdem möchte ich die politischen Konsequenzen und Handlungsspielräume skizzieren, die sich aus einer Analyse der politischen Ökonomie des Kapitalismus ergeben. Auf den ersten Blick mögen diese Konsequenzen wenig praktikabel oder politisch inopportun erscheinen. Aber es ist eminent wichtig, dass wir Alternativen entwerfen, egal, wie merkwürdig sie erscheinen mögen, und dass wir von ihnen Gebrauch machen, wenn die Bedingungen es verlangen. Denn nur so lassen sich die ungenutzten und unberücksichtigten Möglichkeiten der politischen Veränderung überhaupt erkennen. Wir brauchen eine offene Debatte – ein globales Forum –, um zu erörtern, wo das Kapital ist, wohin es gehen könnte und was das für uns bedeutet. Ich hoffe, mein Buch kann ein wenig zu dieser Debatte beitragen.
New York, Januar 2014
Einleitung
Über Widersprüche
Es muss eine Möglichkeit geben, die Gegenwart so zu scannen oder zu röntgen, dass sich eine bestimmte Zukunft als eine ihr inhärente Möglichkeit abzeichnet. Sonst wird man nur vergebliche Wünsche in den Menschen wecken …
Terry Eagleton, Warum Marx recht hat2
In den Weltmarktkrisen bringen es die Widersprüche und Gegensätze der bürgerlichen Produktion zum Eklat. Statt nun zu untersuchen, worin die widerstreitenden Elemente bestehn, die in der Katastrophe eklatieren, begnügen sich die Apologeten damit, die Katastrophe selbst zu leugnen und ihrer gesetzmäßigen Periodizität gegenüber darauf zu beharren, daß die Produktion, wenn sie sich nach den Schulbüchern richtete, es nie zur Krise bringen würde.
Karl Marx, »Theorien über den Mehrwert«3
Grundsätzlich gibt es in unserer Sprache zwei Verwendungsweisen für den Begriff »Widerspruch«. Die häufigste und offenkundigste stammt aus der aristotelischen Logik, wo ein Widerspruch dann vorliegt, wenn sich zwei Aussagen so gründlich ausschließen, dass unmöglich beide wahr sein können. Die Aussage »Alle Schwarzdrosseln sind schwarz« widerspricht der Aussage »Alle Schwarzdrosseln sind weiß«. Wenn eine Aussage wahr ist, kann es die andere nicht sein.
Zur anderen Verwendungsweise kommt es, wenn in einer bestimmten Situation, einem Gebilde, einem Prozess oder einem Ereignis zwei scheinbar gegensätzliche Kräfte wirken. Viele von uns empfinden beispielsweise eine Spannung zwischen den Anforderungen am Arbeitsplatz und einem erfüllten Privatleben. Besonders Frauen werden mit gutgemeinten Ratschlägen überhäuft, wie sie Kinder und Karriere miteinander vereinbaren können. Solche Spannungen sind uns bestens vertraut, und meistens bewältigen wir sie nebenbei, ohne groß darüber nachzudenken. Vielleicht träumen wir davon, sie zu beseitigen, indem wir sie verinnerlichen. Im Falle der Work-Life-Balance können wir etwa versuchen, beides gleichzeitig zu erledigen – was freilich nicht immer klappt (wie jeder bestätigen wird, der einmal am Computer saß, weil er eine Deadline einhalten wollte, während die Kinder mit Streichhölzern in der Küche spielten).
Spannungen zwischen den konkurrierenden Bedürfnissen nach Produktion und Reproduktion hat es immer gegeben. Aber sie sind eher latent als offen und bleiben im Alltag oft unbemerkt. Außerdem sind die Gegensätze nicht immer deutlich ausgeprägt. Sie können durchlässig sein und ineinander übergehen, etwa wenn die Grenzen zwischen Arbeiten und Leben verwischen (ein Problem, das mir viel zu schaffen macht).
Doch es gibt Situationen, in denen die Widersprüche deutlicher zutage treten. Sie verschärfen sich und erzeugen einen Leidensdruck. Im Fall der beruflichen Ziele und des befriedigenden Familienlebens können sich die äußeren Umstände verändern und eine bis dahin erträgliche Spannung in eine Krise verwandeln: So kann sich zum Beispiel die Situation am Arbeitsplatz verschärfen (etwa durch andere Arbeitszeiten oder einen Umzug der Firma). Oder es treten Störungen an der Heimatfront auf (eine plötzliche Krankheit; die Schwiegermutter, die sich bisher um die Kinder gekümmert hat, möchte ihren Lebensabend in Florida verbringen). Auch die innere Verfassung der Menschen kann sich ändern: Jemand kommt plötzlich zu dem Schluss, dass er sein Leben ändern muss, und schmeißt seinen Job angeekelt hin. Neuerworbene ethische oder religiöse Grundsätze verlangen unter Umständen eine ganz andere Grundhaltung zum Leben. Verschiedene Bevölkerungsgruppen (beispielsweise Männer und Frauen) oder verschiedene Individuen können auf ähnliche Widersprüche auf höchst unterschiedliche Weise reagieren. Es gibt ein starkes subjektives Element in der Art und Weise, wie wir die Kraft von Widersprüchen bestimmen und empfinden. Was den einen überfordert, kann für den anderen unerheblich sein. Die latenten Widersprüche können sich auch plötzlich verstärken und heftige Krisen auslösen. Sobald sie gelöst sind, verschwinden sie manchmal genauso plötzlich, wie sie gekommen sind (aber selten ohne Spuren oder Narben zu hinterlassen). Der Geist wird gewissermaßen wieder in die Flasche gestopft, gewöhnlich, indem man einen radikalen Ausgleich zwischen den beiden gegensätzlichen Kräften schafft.
Widersprüche sind nicht immer schlecht. Sie können ein fruchtbarer Anlass für persönliche oder gesellschaftliche Veränderungen sein, so dass die Betroffenen am Ende geläutert aus ihnen hervorgehen. Statt an ihnen zu leiden, können wir sie auch kreativ nutzen, um uns weiterzuentwickeln. Wir können unser Denken und Handeln neuen Umständen anpassen und dank dieser Erfahrung eine weit bessere und tolerantere Persönlichkeit entwickeln. Partner, die sich auseinandergelebt haben, können ihre gegenseitigen Vorzüge wiederentdecken, wenn es ihnen gemeinsam gelingt, Arbeit und Familie endlich in Einklang zu bringen. Oder sie finden eine Lösung, indem sie neue und dauerhafte Beziehungen zu Menschen in ihrer Nachbarschaft knüpfen. Anpassungen dieser Art können sich nicht nur auf individueller, sondern auch auf makroökonomischer Ebene vollziehen. Beispielsweise befand sich Großbritannien Anfang des 18. Jahrhunderts in einer widersprüchlichen Situation. Das Land wurde gleichermaßen für die Herstellung von Biokraftstoffen (vor allem Holzkohle) und zur Nahrungsmittelproduktion benötigt, so drohte in einer Zeit, da der internationale Handel mit Energie und Nahrungsmitteln begrenzt war, die Entwicklung des Kapitalismus in Großbritannien zum Stillstand zu kommen, weil sich die beiden Landnutzungen gegenseitig ausbremsten. Die Lösung lag im Untertageabbau von Steinkohle, denn nun konnte das Land allein für die Nahrungsmittelproduktion genutzt werden. Später revolutionierte die Erfindung der Dampfmaschine den Kapitalismus, und es begann der Siegeszug der fossilen Brennstoffe. Häufig kann ein Widerspruch die »Not« sein, die erfinderisch macht. Allerdings gibt es hier einen wichtigen Aspekt zu beachten: Der Umstieg auf fossile Brennstoffe entschärfte einen Widerspruch, doch heute, Jahrhunderte später, schafft er einen anderen Widerspruch – den zwischen dem Verbrauch fossiler Brennstoffe und Klimawandel. Widersprüche haben die unangenehme Eigenschaft, nicht gelöst, sondern nur verlagert zu werden. Prägen Sie sich dieses Prinzip gut ein, denn wir werden im Folgenden noch häufig darauf zurückkommen.
Die Widersprüche des Kapitals haben oft Innovationen hervorgerufen, die unsere Lebensqualität verbesserten. Sie erzeugen Momente »kreativer Zerstörung« – wobei selten vorherbestimmt ist, was geschaffen und was zerstört wird. Selten ist alles, was geschaffen wird, schlecht und alles, was zerstört wird, gut, und genauso selten werden die Widersprüche vollständig gelöst. Krisen sind Augenblicke der Veränderung, in denen sich das Kapital in der Regel neu erfindet und in etwas anderes verwandelt. Das »etwas andere« kann den Menschen dabei zum Nachteil oder zum Vorteil gereichen. Krisen sind also auch immer Augenblicke der Gefahr, weil die Reproduktion des Kapitals von den zugrunde liegenden Widersprüchen bedroht wird.
In der vorliegenden Studie bediene ich mich des dialektischen und nicht des logisch-aristotelischen Widerspruchsbegriffs.4 Damit soll nicht gesagt sein, dass die aristotelische Definition falsch ist. Die beiden Definitionen – die in scheinbarem Gegensatz zueinander stehen – sind voneinander unabhängig und miteinander kompatibel. Sie bezeichnen nur sehr unterschiedliche Umstände. Ich finde, dass der dialektische Begriff mehr Möglichkeiten bietet und dass sich leichter mit ihm arbeiten lässt.
Zunächst muss ich jedoch auf den wohl wichtigsten Widerspruch überhaupt eingehen: den zwischen Sein und Schein. Nach einem berühmten Ausspruch von Marx kommt es darauf an, die Welt zu verändern, und nicht, sie zu verstehen oder zu interpretieren. Tatsächlich hat er in dem Bemühen, die Welt zu verstehen, ungeheuer viel Zeit in der Bibliothek des Britischen Museums verbracht – und zwar aus einem sehr einfachen Grund, der sich am besten mit dem Wort »Fetischismus« beschreiben lässt. Unter Fetischismus versteht Marx die verschiedenen Masken, Verkleidungen und Entstellungen dessen, was tatsächlich um uns herum vorgeht. Alle Wissenschaft wäre überflüssig, schreibt er, »wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen.«5 Wenn wir in der Welt sinnvoll handeln wollen, müssen wir hinter die Erscheinungsformen der Dinge kommen. Ein Handeln, das auf irreführenden, oberflächlichen Signalen beruht, ruft in der Regel katastrophale Ergebnisse hervor. Beispielsweise weiß die Wissenschaft schon lange, dass die Sonne nicht wirklich die Erde umkreist, sondern dass es nur so scheint (wenn auch aus einer jüngeren Erhebung hervorgeht, dass offenbar 20 Prozent der Amerikaner immer noch glauben, es sei der Fall!). In der Medizin spielt der Unterschied zwischen Symptomen und Ursachen eine große Rolle. Im besten Fall haben sie das Wissen um diesen Unterschied zwischen Schein und Sein in die hohe Kunst der medizinischen Diagnose verwandelt. Ich hatte einmal stechende Schmerzen in meiner Brust und war überzeugt davon, dass es sich um eine Herzerkrankung handle, doch dann stellte sich heraus, dass ein Nerv am Halswirbel eingeklemmt war. Das Problem war mit ein paar gymnastischen Übungen zu beheben. Marx hatte in Hinblick auf die Zirkulation und Akkumulation des Kapitals ähnliche Einsichten. Es gebe, schreibt er, Erscheinungsformen, die die zugrunde liegende Realität maskieren. Ob wir nun mit seinen Diagnosen einverstanden sind oder nicht, spielt hier keine Rolle (obwohl es töricht wäre, seine Erkenntnisse einfach zu ignorieren). Vorerst sollten wir nur die grundsätzliche Möglichkeit anerkennen, dass wir es häufig mit Symptomen und nicht mit den tiefer liegenden Ursachen zu tun haben und dass unsere Aufgabe darin besteht, etwas aufzudecken, das tatsächlich unter einer Fülle von mystifizierenden Erscheinungsformen verborgen liegt.
Schauen wir uns einige Beispiele an. Ich zahle 100 Euro auf ein Sparkonto mit 3-prozentiger Verzinsung ein. Nach 20 Jahren ist das Guthaben auf 180,61 Euro angewachsen. Geld scheint die magische Fähigkeit zur exponentiellen Akkumulation zu besitzen. Die Ersparnisse wachsen ohne mein Zutun. Aber woher kommt dieser Geldzuwachs (der Zins) tatsächlich?
Es gibt noch viele andere Fetische. Im Supermarkt wimmelt es von fetischistischen Signalen und Maskierungen. Der Kopfsalat kostet halb so viel wie ein halbes Pfund Tomaten. Aber woher kommen der Salat und die Tomaten, wessen Arbeit hat sie produziert und wer hat sie zum Supermarkt befördert? Warum kostet eine Ware so viel mehr als eine andere? Vor allem: Wer hat das Recht, einige kabbalistische Zeichen wie $ oder € oder £ über den Produkten anzubringen? Wie von Zauberhand werden die Waren in den Supermärkten mit einem Preisschild versehen, damit die Kunden ihre Wünsche und Bedürfnisse, passend zu ihrem jeweiligen Einkommen, befriedigen können. Wir gewöhnen uns daran, ohne zu bemerken, dass wir keine Ahnung haben, woher alle diese Dinge kommen, wie sie produziert werden, von wem und unter welchen Bedingungen, warum sie genau diesen und keinen anderen Preis haben, und was es eigentlich mit unserem Geld auf sich hat (besonders wenn wir lesen, dass die US-Notenbank gerade wieder eine weitere Billion Dollar unters Volk gebracht hat!).
Der Widerspruch zwischen Sein und Schein ist der bei weitem allgemeinste und häufigste Widerspruch, mit dem wir uns auseinanderzusetzen haben, wenn wir die besonderen Widersprüche des Kapitals analysieren wollen. So verstanden ist der Fetisch keine verrückte Einbildung, keine bloße Illusion und kein Spiegelkabinett (obwohl es manchmal so wirken mag). Wir sind tatsächlich in der Lage, mit Hilfe von Geld Waren zu kaufen, also ist die Frage, wie viel Geld wir haben und wie viel wir für dieses Geld im Supermarkt kaufen können, von einiger Bedeutung. Auch das Geld auf meinem Sparkonto wird tatsächlich mehr. Aber fragen Sie doch einmal jemanden: »Was ist Geld?«, und Sie werden in der Regel ratloses Schweigen ernten. Auf Schritt und Tritt begegnen wir Mystifikationen und Masken, obwohl wir natürlich gelegentlich geschockt lesen, dass ein paar Hundert Arbeiterinnen ums Leben kamen, als in Bangladesch ein Fabrikgebäude einstürzte, wo die Hemden genäht wurden, die wir tragen. Meistens wissen wir nichts über die Menschen, die die Güter unseres täglichen Bedarfs produzieren.
Wir kommen wunderbar in einer Fetischwelt voller Signale, Zeichen und Erscheinungsformen zurecht, ohne etwas über die ihnen zugrunde liegenden Verhältnisse und Vorgänge zu wissen (genauso wie wir einen Lichtschalter betätigen können, ohne etwas über die Stromerzeugung zu wissen). Erst wenn etwas Spektakuläres geschieht – wenn die Supermarktregale plötzlich leer stehen, die Preise durch die Decke gehen, das Geld in unseren Taschen plötzlich wertlos wird (oder das Licht nicht funktioniert) –, fühlen wir uns bemüßigt, die größeren und allgemeineren Fragen zu stellen: Was ist »dort draußen«, jenseits der Türen des Supermarkts, bloß geschehen, das unser tägliches Leben und Auskommen so nachhaltig beeinträchtigt?
In diesem Buch werde ich versuchen, hinter die Fetisch-Fassade zu blicken und die widersprüchlichen Kräfte zu erkennen, die den Wirtschaftsmotor des Kapitalismus massiv stören. Dabei gehe ich von der Überzeugung aus, dass die meisten uns zugänglichen Erklärungen dieser Geschehnisse zutiefst irreführend sind: Sie reproduzieren den Fetischismus und tun nichts, um den Nebel der Missverständnisse zu zerstreuen.
Allerdings treffe ich hier eine klare Unterscheidung zwischen Kapitalismus und Kapital. Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit dem Kapital und nicht mit dem Kapitalismus. Was hat es mit dieser Unterscheidung auf sich? Kapitalistisch ist eine Gesellschaft, in der die Zirkulations- und Akkumulationsprozesse des Kapitals entscheidenden und beherrschenden Einfluss auf die materielle, soziale und geistige Gestaltung des gemeinsamen Lebens nehmen. Der heute existierende Kapitalismus enthält unzählige Widersprüche, von denen allerdings viele nichts unmittelbar mit der Kapitalakkumulation zu tun haben. Diese Widersprüche gehen über die Besonderheiten der kapitalistischen Wirtschaftsform hinaus. Das Patriarchat war schon im antiken Griechenland und in Rom, im alten China, der Inneren Mongolei oder Ruanda ein Problem. Gleiches gilt für die rassistische Diskriminierung eines Teils der Bevölkerung durch einen anderen. Rassismus und Patriarchat sind schon sehr alt, und zweifellos wurde der Kapitalismus entscheidend davon geprägt. Daher stellt sich die Frage, warum ich beide (neben vielen anderen Phänomenen wie Nationalismus und Religion) nicht als fundamentale Elemente in diese Studie über die Widersprüche des Kapitals aufgenommen habe.
Die kurze Antwort lautet, dass ich sie ausschließe, weil sie innerhalb des Kapitalismus zwar allgegenwärtig sind, aber nicht spezifisch für jene Form der Zirkulation und Akkumulation, die den Kapitalismus ausmacht. Das soll keineswegs heißen, dass sie sich nicht auf die Kapitalakkumulation auswirken oder von dieser nicht affiziert (oder »infiziert«) werden. Beispielsweise hat der Kapitalismus den Rassismus vielfach bis ins Extrem getrieben (einschließlich der Gräueltaten von Genozid und Holocaust). Der zeitgenössische Kapitalismus profitiert auch von der Geschlechterungerechtigkeit oder der Entmenschlichung Farbiger. Die Überschneidungen und Wechselwirkungen zwischen Ethnifizierung und Kapitalakkumulation sind an vielen Orten mit Händen zu greifen. Aber wenn wir sie untersuchen, erfahren wir nichts Spezifisches über die Triebkräfte des Kapitals.
Für die längere Antwort muss ich näher auf den Zweck und die Methode der vorliegenden Studie eingehen. Wie Biologen manchmal ein bestimmtes Ökosystem mit seiner Dynamik (und seinen Widersprüchen) isoliert betrachten, so versuche ich die Zirkulation und Akkumulation des Kapitals von allen anderen Ereignissen zu trennen. Ich behandele es als »geschlossenes System«, um seine wichtigsten inneren Widersprüche zu bestimmen. Mit einem Wort, mittels Abstraktion entwerfe ich ein Modell, das zeigt, wie die Wirtschaft im Kapitalismus funktioniert. Mit Hilfe dieses Modells werde ich erforschen, warum und wie es zu periodischen Krisen kommt und ob es auf lange Sicht bestimmte Widersprüche gibt, die sich für die Fortsetzung des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, als fatal erweisen könnten.
Biologen räumen bereitwillig ein, dass äußere Kräfte und Störungen (Wirbelstürme, Erderwärmung, Anstieg des Meeresspiegels, Schadstoffbelastung von Luft und Wasser) häufig die »normale« Dynamik der ökologischen Reproduktion in dem Gebiet überlagern, das sie zu Untersuchungszwecken isoliert haben. Gleiches gilt für die Kapitalakkumulation: Kriege, Nationalismus, geopolitische oder religiöse Konflikte, Katastrophen verschiedenster Art sind an der Dynamik des Kapitalismus beteiligt. Ein nuklearer Holocaust würde seine Geschichte beenden, lange bevor irgendeiner der potentiell fatalen inneren Widersprüche sein Werk verrichtet hätte.
Daher behaupte ich nicht, dass alles, was im Kapitalismus geschieht, von den Widersprüchen des Kapitals bewirkt wird. Aber ich möchte jene inneren Widersprüche des Kapitals bestimmen, die die jüngsten Krisen verursacht und den Eindruck erweckt haben, dass wir um die Zerstörung der Lebensgrundlage von Millionen Menschen auf der Erde nicht herumkommen.
Gestatten Sie mir eine andere Metapher, um meine Methode zu erklären: Ein riesiges Kreuzfahrtschiff, das den Ozean befährt, ist ein ganz besonderer und komplizierter Ort, an dem verschiedene Klassen, Geschlechter und Ethnien – mal freundlich, mal feindselig – miteinander interagieren. Die Besatzung ist vom Kapitän an abwärts hierarchisch organisiert, wobei einige Teile der Mannschaft (etwa die Kabinenstewards) mit ihren Vorgesetzten und den ihnen anvertrauten (und zu anspruchsvollen) Passagieren auf Kriegsfuß stehen. Es ließe sich durchaus in allen Einzelheiten beschreiben, was auf den Decks und in den Kabinen dieses Kreuzfahrtschiffes geschieht. So könnten sich die Superreichen auf den Oberdecks einschließen und ihre Zeit mit einem endlosen Pokerspiel totschlagen, das den Reichtum unter ihnen umverteilt, ohne auch nur einen Gedanken an das Unterdeck zu verschwenden. Doch auf all das will ich hier nicht eingehen. In den Eingeweiden dieses Schiffs stampft nämlich ein Wirtschaftsmotor, der das Schiff Tag und Nacht mit Energie versorgt und über den Ozean treibt. Alles, was auf diesem Schiff geschieht, hängt davon ab, dass der Motor reibungslos funktioniert. Wenn er kaputtgeht oder explodiert, ist das Schiff manövrierunfähig.
Zweifellos stottert und klappert unser Motor in letzter Zeit besorgniserregend. Er erscheint ausgesprochen anfällig. In der folgenden Untersuchung möchte ich zeigen warum. Wenn er ausfällt und das Schiff hilf- und steuerlos im Ozean treibt, stecken wir alle in großen Schwierigkeiten. Dann muss der Motor entweder repariert oder durch einen anderen Motor ersetzt werden. Im letzteren Fall stellt sich die Frage, wie und mit welchen Vorgaben wir den neuen Motor konstruieren wollen. Dabei wäre es von Vorteil zu wissen, welche Teile in der alten Maschine gut funktioniert haben und welche nicht, damit wir ihre Vorzüge übernehmen können, ohne die Fehler zu wiederholen.
Der Wirtschaftsmotor des Kapitals ist zahlreichen Gefährdungen ausgesetzt. Wenn er infolge äußerer Ereignisse überflutet wird (etwa durch einen Atomkrieg, eine globale Pandemie, die den Welthandel zum Erliegen bringt, oder einen nachlässigen Kapitän, der das Schiff auf ein Riff setzt), dann stoppt der Motor des Kapitals aus Gründen, die nichts mit seinen inneren Widersprüchen zu tun haben. Auf den folgenden Seiten werde ich sicherlich einige dieser Gefährdungen ansprechen, aber ich werde darauf verzichten, ihre Konsequenzen im Einzelnen zu verfolgen, da ich beabsichtige, die inneren Widersprüche des Kapitals zu isolieren und zu analysieren, und nicht die Widersprüche des Kapitalismus als Ganzem.
In gewissen Kreisen ist es in Mode gekommen, Studien wie die vorliegende verächtlich als »kapitalozentrisch« abzutun. Ich kann daran jedoch nichts Falsches finden, vorausgesetzt natürlich, dass die aus ihnen erwachsenden Interpretationsansätze nicht zu weit gefasst sind und in die falsche Richtung gehen. Meiner Ansicht nach ist es sogar unbedingt erforderlich, dass viel mehr differenzierte und gründlichere kapitalozentrische Studien durchgeführt werden, damit wir die jüngsten Probleme der Kapitalakkumulation besser verstehen. Wie sonst ließen sich die aktuellen Dauerprobleme der Massenarbeitslosigkeit, der wirtschaftlichen Abwärtsspirale in Europa und Japan, der ungewissen, schlingernden Fortschritte in China, Indien und den anderen sogenannten BRIC-Staaten erklären? Ohne einen brauchbaren Ansatz zum Verständnis der Widersprüche, die diesen Phänomenen zugrunde liegen, werden wir ratlos bleiben. Es wäre also kurzsichtig, wenn nicht sogar gefährlich und lächerlich, Interpretationen und Theorien, die den Prozess der Kapitalakkumulation auf die gegenwärtige Konjunktur beziehen, als »kapitalozentrisch« abzutun. Denn ohne solche Studien werden wir die Ereignisse, deren Zeugen wir sind, höchstwahrscheinlich missverstehen und fehldeuten. Und falsche Interpretationen werden fast mit Sicherheit zu falscher Politik führen, die die Akkumulationskrisen und das daraus resultierende Elend vertiefen, statt sie zu lindern. Ich halte das für ein ernstzunehmendes Problem in großen Teilen der heutigen kapitalistischen Welt: Falsche Maßnahmen, die auf falscher Theoriebildung beruhen, verschärfen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und das daraus resultierende gesellschaftliche Elend. Für die antikapitalistische Bewegung, die sich gegenwärtig formiert, ist es unabdingbar, nicht nur besser zu verstehen, wogegen sie opponiert, sondern auch, klar zu artikulieren, was sie verändern kann und warum dies zwingend erforderlich ist, damit die Mehrheit der Menschheit in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ein angemessenes Leben führen kann.
Mir geht es hier also primär um ein besseres Verständnis der Widersprüche des Kapitals und nicht des Kapitalismus. Ich möchte wissen, wie der Wirtschaftsmotor des Kapitalismus arbeitet und warum er immer wieder stottert und stockt und manchmal kurz vor dem Totalschaden zu stehen scheint. Außerdem möchte ich zeigen, warum und wodurch dieser Motor ersetzt werden könnte.
Teil eins
Grundwidersprüche
Die ersten sieben Widersprüche sind grundlegend, weil das Kapital ohne sie seine Aufgabe nicht erfüllen kann. Außerdem sind sie alle so eng miteinander verflochten, dass es nicht möglich ist, einen von ihnen aufzulösen, ohne die anderen ebenfalls anzugehen. Wenn wir beispielsweise die beherrschende Rolle des Tauschwerts bei der Versorgung mit einem Gebrauchswert wie Wohnraum in Frage stellen, hat das Auswirkungen auf die Rolle des Geldes oder impliziert sogar die Abschaffung der uns vertrauten privaten Eigentumsrechte. Das ist der Hauptgrund, warum die Suche nach einer antikapitalistischen Alternative so schwierig ist: An vielen Fronten müssten gleichzeitige Veränderungen stattfinden. Schwierigkeiten an einer Front sind häufig durch starke Widerstände andernorts eingedämmt worden, so dass allgemeine Krisen verhindert werden konnten. Doch gelegentlich erweist sich die Verkettung zwischen den Widersprüchen auch als fatal. Probleme können ansteckend werden. Verstärkt sich dieser Ansteckungseffekt (wie es zweifellos in den Jahren 2007–2009 der Fall war), kann es zu einer allgemeinen Krise kommen. Das ist gefährlich für das Kapital und gibt den Systemgegnern Rückenwind. Aus diesem Grund ist eine Analyse der Widersprüche, die solche allgemeinen Krisen hervorrufen, außerordentlich wichtig. Denn wenn wir wissen, was bei Entfaltung der Widersprüche zu erwarten ist, können wir uns die (geographische wie sektorale) Entwicklung und Vertiefung der Widersprüche im Verlauf der Krise auch besser zunutze machen. Wenn Krisen vorübergehende und zerstörerische Phasen sind, in denen sich das Kapital neu organisiert, lassen sie auch Raum für grundlegende Kritik und alternative Weltentwürfe.