Hanser Berlin E-Book
Warum erwachsen werden?
Eine philosophische
Ermutigung
Aus dem Englischen
von Michael Bischoff
Hanser Berlin
Die englische Originalausgabe erschien 2014
unter dem Titel Why Grow Up?
bei Penguin Books, London.
Von der Autorin bearbeitete und
erweiterte deutsche Ausgabe
Aus Gründen der Quellentreue wurden alle Zitate
in der jeweiligen Schreibung belassen.
ISBN 978-3-446-24869-4
© 2014 Susan Neiman
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2015
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München
Motiv © nuranvectorgirl/Thinkstock
Satz: Greiner & Reichel, Köln
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Für Leila
Einleitung
1 Historische Hintergründe
Mögliche Welten
Was ist Aufklärung?
Ketten zerbrechen
2 Säuglinge, Kinder, Jugendliche
Busy Being Born
Don’t Get Fooled Again
Dissatisfied Minds
3 Erwachsen werden
Erziehung
Reisen
Arbeit
4 Warum erwachsen werden?
Anmerkungen
Register
Man muss nicht Peter Pan sein, um Unbehagen angesichts der Aussicht aufs Erwachsenwerden zu empfinden. Tatsächlich kann man behaupten, Peter Pan, am drastischsten von Michael Jackson imitiert, sei ein Sinnbild unserer Zeit. Nach der verbreiteten Ansicht heißt erwachsen sein, auf die eigenen Hoffnungen und Träume zu verzichten, die Grenzen, die uns die Realität setzt, zu akzeptieren und sich mit einem Leben abzufinden, das weniger abenteuerlich, interessant und bedeutsam ist, als man zu Beginn annahm. Simone de Beauvoir beschloss den dritten Band ihrer Autobiographie mit der Beobachtung, dass es nicht viel auf der Welt gab, was sie nicht gesehen hatte: »die Pekinger Oper, die Stierkampfarenen von Huelva […], die Dünen von El Qued […], die Morgendämmerung in der Provence […], Castro, der zu 500.000 Kubanern spricht […], die weißen Nächte von Leningrad […], ein orangefarbener Mond über dem Piräus«.1 Sie bereiste die Welt nicht nur zu einer Zeit, als solche Reisen keineswegs selbstverständlich waren. Die Liebesbeziehungen und Freundschaften, die bedeutsamen Werke und der Beifall, den sie dafür erhielt, waren ebenso zahlreich und vielfältig wie die Orte, die sie besuchte. Man kann sich kaum ein Leben vorstellen, das erfüllter gewesen wäre oder weniger vergeudet. Dennoch beschließt sie die beneidenswerte Liste ihrer Reisen mit einem Rückblick auf das Mädchen, das sie einst war, »als ich diese Goldmine zu meinen Füßen betrachtete, ein ganzes Leben, das vor mir lag«.2 Und sie gelangt zu dem Schluss, dass sie betrogen worden sei. Manche Autoren behaupten, heute wollen nur wenige erwachsen werden. Aber wer könnte ihnen das verdenken, wenn Erwachsensein in Augenblicken großer Ehrlichkeit mit dem Gefühl einhergeht, betrogen worden zu sein?
Kann die Philosophie uns helfen, ein Modell für Reife zu finden, das nicht resignativ ist? (Nebenbei bemerkt, mein Oxford Thesaurus verzeichnet »philosophisch« als Synonym für »resigniert«.) Ich glaube, sie kann es, und am besten beginnen wir mit Immanuel Kants Darstellung des Reifungsprozesses der Vernunft gegen Ende seiner Kritik der reinen Vernunft. Lesern, die die Stelle nicht kennen, sei dies nachgesehen. Die Kritik der reinen Vernunft ist zugleich das wichtigste und am schlechtesten geschriebene Buch in der Geschichte der modernen Philosophie. Kant selbst räumte ein, es sei zu lang und zu trocken, um dann treffend hinzuzufügen, es sei »nicht jedermann gegeben, so subtil und doch zugleich so anlockend zu schreiben, als David Hume, oder so gründlich, und dabei so elegant, als Moses Mendelssohn«.3 In der Tat. Bertrand Russell war nicht der einzige Leser, der gestand, er sei eingeschlafen, bevor er das Ende erreichte. Wer jedoch durchhält, wird feststellen, dass dieses Modell für das Erwachsenwerden überzeugend ist.
Die Kindheit der Vernunft ist dogmatisch. Kleine Kinder neigen dazu, alles, was man ihnen sagt, für absolute Wahrheit zu halten. Welche Sichtweise böte ihnen auch die Möglichkeit, etwas in Frage zu stellen? Wer von Autoritätspersonen wie Eltern oder Priestern missbraucht wird, benötigt Jahre, um zu erkennen, dass Missbrauch nicht zur normalen Ausstattung der Welt gehört – falls er dies überhaupt jemals erkennt. In glücklicheren Fällen scheint jeder Schritt, den das Kind macht, die eigenen Fähigkeiten und die Transparenz einer Welt zu bestätigen, die anfangs geheimnisvoll erschien. Das Kind lernt, dass Löffel (und Rasseln und Pudding) stets nach unten und nicht nach oben fallen, wenn es sie loslässt; dass Bälle (und Spielautos und Kätzchen) auch dann noch da sind, wenn sie hinter einem Vorhang verschwinden. Mit wachsenden eigenen Fähigkeiten wird die Welt immer verständlicher. Warum sollte das Kind nicht annehmen, dass beides grenzenlos sei? Jeden Tag versteht es ein wenig mehr, jeden Tag enthüllt sich ihm ein weiteres Geheimnis seiner Welt. Einem Kleinkind wird die dogmatische Metaphysik des überzeugten Optimisten Leibniz selbstverständlich erscheinen: Hätten wir nur Welt und Zeit genug, wären wir in der Lage, alles zu wissen – und zu begreifen, dass diese Welt die beste aller möglichen Welten ist. Wäre alles andere nicht sinnlos?
Die nächste Stufe der Vernunft ist der Skeptizismus, und obwohl der Ausdruck »Adoleszenz« zu Kants Zeiten noch nicht benutzt wurde, beschreibt dieser doch all deren Symptome: die seltsame Mischung aus Enttäuschung und Hochgefühl, die die Entdeckung des Teenagers begleitet, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte. Selbst die allerbesten Eltern und Lehrer – und die sind rar – haben ihre Schwächen. (Und jene unter uns, die ihrerseits Eltern und Lehrer geworden sind, waren selbst einmal Heranwachsende, wie alle Übrigen auch.) Sie wissen weniger, als wir glaubten, und können weniger Probleme lösen, als wir hofften. Selbst wenn sie nicht lügen, haben sie uns nicht alles gesagt, was sie hätten sagen können. Sie wollen uns auf die falsche Weise behüten und schaffen es nicht, uns auf die richtige Weise zu beschützen. Sie belästigen uns mit Gewohnheiten und Überzeugungen, die sie unausweichlich in früheren Zeiten erworben haben; sie kritisieren, was sie nicht verstehen, und hängen Zeiten nach, die sich längst geändert haben. Weshalb sollten wir nicht zu dem Schluss gelangen, dass alle Wahrheiten und Regeln, die wir von ihnen gelernt haben, fehlgeleitet sind, ja dass schon allein die Vorstellung von Wahrheit und Regel beerdigt werden sollte? Weshalb sollten wir nicht von grenzenlosem Vertrauen in die Welt zu grenzenlosem Misstrauen wechseln?
Kant sagt, diese Stufe sei reifer als die blauäugige Leichtgläubigkeit aus den Kindertagen der Vernunft und daher notwendig und wertvoll. (Er dachte an Hume. Allerdings hat er niemals einen Heranwachsenden erziehen müssen.) Doch der ungestüme Wechsel von grenzenlosem Vertrauen zu grenzenlosem Misstrauen bedeutet noch keine Mündigkeit. Mündigkeit ist, wie niemanden überraschen dürfte, Kants Metapher für seine eigene Philosophie, die uns die Weisheit verleihen soll, einen Mittelweg zu finden zwischen den beiden Möglichkeiten: alles, was man uns sagt, gedankenlos zu akzeptieren oder es blindwütig zu verwerfen. Erwachsen werden heißt, die Ungewissheiten anzuerkennen, die unser Leben durchziehen, und – schlimmer noch – ohne Gewissheit zu leben, aber einzusehen, dass wir unvermeidlich immer nach ihr suchen werden. Solch ein Standpunkt ist leichter zu beschreiben als durchzuhalten. Aber wer hat schon behauptet, es sei leicht, erwachsen zu werden?
Das Problem mit all dem liegt auf den ersten Blick nicht darin, dass es schwer, sondern dass es fade ist. Und schlimmer noch als fade, es klingt resigniert. Bietet dieser Standpunkt mehr, als Ihr harmloser, wohlmeinender Onkel mit seinem Bauchansatz Ihnen geben kann, wenn er sagt, das Leben werde weder so wunderbar sein, wie Sie als Kind dachten, noch so qualvoll, wie Sie als Jugendlicher meinten, und dass es an der Zeit sei, sich aufzuraffen und das Beste daraus zu machen? So banal diese Feststellung sein mag, so wahr ist sie auch. Aber ist es deshalb erstrebenswert? Warum nicht auf Kant pfeifen und lieber auf die Rolling Stones hören? If you try sometimes, you just might find you get what you need. Und da gerade von harmlosen Onkeln die Rede war: Kants Leben kann kaum als Vorbild für ein erstrebenswertes Erwachsenendasein gelten. Er entfernte sich niemals weiter als siebzig Kilometer von seinem Geburtsort und heiratete nie; selbst das Gerücht, wonach er eine Liebesaffäre hatte, wurde nie bestätigt. Sein Leben als Erwachsener bestand aus Routine: Vorlesungen, akademische Pflichten, Schreibtätigkeit waren so regelmäßig und anspruchsvoll, dass es heißt, seine Nachbarn hätten die Uhr nach dem Spaziergang stellen können, den er täglich zur Stärkung seiner schwächlichen Konstitution unternahm. Heinrich Heine meinte gar, Kants Lebensgeschichte sei leicht zu beschreiben, da er weder ein Leben noch eine Geschichte gehabt habe.
Derselbe Dichter beschreibt Kant jedoch auch als einen Rebellen, der den Himmel erstürmte und den französischen Revolutionär Robespierre spießbürgerlich erscheinen ließ. Mit dieser Ansicht stand Heine nicht allein. Die meisten jüngeren Zeitgenossen Kants dachten ähnlich. Das beginnen wir zu verstehen, wenn wir uns Kants berühmter Erörterung der Mündigkeit zuwenden, die sich am Anfang des bekanntesten Aufsatzes der Aufklärung findet: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« Darin definiert er Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Wir wählen die Unmündigkeit aus Faulheit und aus Feigheit. »Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.«4 (Ja, selbst Kant konnte klare Sätze formulieren, wenn er für die Berlinische Monatsschrift schrieb.)
Es ist in der Tat oft unser eigenes Versagen: Wir sind nicht bereit, die Energie aufzubringen oder die Risiken einzugehen – sei es auch nur das Risiko der Peinlichkeit –, die Selbstdenken von uns forderten. Es ist kein Rätsel, warum ein Lehrer ebendiese Botschaft übermitteln möchte, wenn er den Aufsatz im Gymnasium behandelt. Schließlich sollten junge Menschen nicht auf die Idee kommen, dass es Probleme in der Gesellschaft gibt, deren Lösung mehr verlangt als ein wenig Anstrengung ihrerseits. Die Botschaft von »Was ist Aufklärung?« ist daher zu einem liberalen Mantra geworden, das nur die bestehenden Ordnungen stärkt: Es ist Ihre Schuld, wenn Sie mit der Welt nicht zufrieden sind. Sie müssten bloß Ihre Faulheit und Feigheit überwinden, und schon wären Sie aufgeklärt, erwachsen und frei. Kein Wunder, dass Deutsche bestimmter Altersgruppen nur stöhnen, sobald das Wort »selbstverschuldete Unmündigkeit« fällt.
Aber stöhnen Sie noch nicht! Es ist nicht allein Ihre Schuld. Sie mögen, wie ich auch, zu Faulheit und Feigheit neigen, aber diese Neigungen werden, wie Kant sagt, missbraucht. »Nachdem [die Vormünder] ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen.«5 Die darin liegende politische Botschaft ist ebenso radikal wie kräftig. Unsere Unmündigkeit ist nicht, oder nicht nur, unser Versagen. Die gesellschaftlichen Strukturen, in denen wir leben, sind so beschaffen, dass sie uns infantilisieren. Um uns am Denken zu hindern, kultiviert der Staat unsere schlimmsten Neigungen. Mit einer Vertrautheit, die bei einem kinderlosen Mann erstaunt, beschreibt Kant, wie wir laufen lernen. Ohne Hinfallen geht es nicht, aber Kinder am Gängelband zu halten, um sie vor Schrammen zu bewahren, macht sie ewig infantil. Hier denkt Kant natürlich nicht an überbetuliche Mütter, sondern an autoritäre Staaten, für die erwachsene Bürger nur Ärger bringen. Das Streben des Staates nach Kontrolle und unser Streben nach Bequemlichkeit bringen im Verbund Gesellschaften hervor, in denen es weniger Konflikte gibt, nur sind es Gesellschaften ohne mündige Bürger.
An welche Vormünder dachte Kant? Er lebte im Absolutismus, als selbst aufgeklärte Herrscher paternalistisch waren und »paternalistisch« noch kein Schimpfwort war. Wie sie ihre Untertanen damals auf Kinderniveau hielten, ist leicht zu verstehen, doch haben westliche Demokratien damit nicht aufgeräumt? Naja. Es kann kein Zufall sein, dass Europas mächtigster Politiker regelmäßig »Mutti« genannt wird, ebenso wenig wie es ein Zufall sein kann, dass die wichtigste Botschaft der Kanzlerin vor allem beschwichtigend ist: Macht ihr nur so weiter, Mutti kümmert sich schon um alles und hält euch Albträume wie griechische Schulden und spanische Arbeitslosigkeit vom Leibe.
Aber nennen wir das Metapher, keine unwichtige zwar, doch auch keine wirkliche Beschreibung dessen, wie westliche Demokratien funktionieren. Wie gelingt es einer modernen demokratischen Gesellschaft dann, uns infantil zu halten?
Ein Baby, das gerade gelernt hat, wie es auf die Welt einwirken kann, indem es durch das Zusammenspiel von Händen und Augen einen Gegenstand ergreift, streckt die Hand oft nach den falschen Sachen aus: der Brille seines Vaters, den Ohrringen seiner Mutter, dem Messer, das Sie versehentlich auf dem Tisch haben liegen lassen. Doch wie leicht lässt es sich ablenken. Man braucht ihm nur etwas anderes hinzuhalten – ein Schlüsselbund reicht meistens aus –, und schon hat es das ursprüngliche Ziel seiner Begierde vergessen. Wenn es größer wird, fällt das Ablenken schwerer, das Prinzip aber bleibt das gleiche. Sie haben ihr dreijähriges Kind durch den Supermarkt geschoben, ihm erklärt, man dürfe nichts essen, was noch nicht bezahlt worden sei, dass einige Lebensmittel besser als andere seien, dass die Verpackungen oft mehr verbergen, als sie zeigten, kurz, Sie haben Ihr Bestes getan, um das Kind mit dem komplexen Netz sozialer Interaktion bekannt zu machen, das nötig ist, um sich in einer Stadt des 21. Jahrhunderts mit Nahrung zu versorgen. Schließlich stehen Sie an der Kasse, wo das Kind entzückt die verlockenden Packungen voll lauter Mist erblickt, die genau auf seiner Augenhöhe aufgestellt sind, und das, wo die Fähigkeit des Kindes zum Bedürfnisaufschub schon hart auf die Probe gestellt worden ist. (Für die Industriepsychologen, die sich das haben einfallen lassen, sollte ein besonderer Platz in der Hölle reserviert sein.) Womit soll man es jetzt ablenken? Das hängt von dem Dreijährigen ab, und auch von seiner Laune: Manchmal reicht ein entschiedenes »Nein« und der Hinweis, dass es gleich auf den Spielplatz geht, manchmal tut es eine Banane und eine leichte Revidierung der vorherigen Belehrung, wonach man erst bezahlen muss, bevor man essen darf; an schlechten Tagen raunzen Sie das Kind an oder kaufen schließlich doch die Süßigkeit. Autoritäre Eltern scheuen sich nicht, ein Kind zu ohrfeigen, das unbedingt etwas haben möchte, was sie ihm nicht geben wollen. Alle anderen müssen verschiedene Formen der Ablenkung bereit haben.
Nach dem Kindesalter ist es komplizierter, einen Menschen von dem Gegenstand seiner Begierde abzulenken, aber dafür sind die Dinge, mit denen wir abzulenken sind, nahezu grenzenlos – seit der Erfindung des Cyberspace vermutlich buchstäblich grenzenlos. Meine Kinder behaupten, Menschen wie ich könnten gar nicht verstehen, wie entsetzlich unsere Kultur ist, weil wir Social Media nicht benutzen. Vermutlich haben sie recht. Nun kenne ich viele Erwachsene, die zu der Milliarde von Facebook-Nutzern gehören, und andere, die mich von der haiku-artigen Natur des Twitterns überzeugen möchten. Ich werde mich nicht anschließen, auch nicht, um den neunten Kreis der Hölle des 21. Jahrhunderts zu verstehen. Denn es gibt auch so schon genug Dinge, die mich ablenken. Mein Computer hat die letzten Monate ziemlich rumgestottert – er ist ja auch darauf programmiert, das kurz nach Ablauf der Garantie zu tun –, also habe ich schließlich einen neuen bestellt. Nun hat dieser aber neue Funktionen, die angeblich Verbesserungen darstellen, so dass ich alle mir mühsam angeeigneten Routinen jetzt erst einmal wieder verlernen muss. Würde man all die Stunden zusammenrechnen, die wir mit den so munter bezeichneten Upgrades verplempert haben – Wie stelle ich den neuen Wecker ein? Wie grille ich mit dem neuen Backofen? Wie speichere ich die Nachrichten auf dem neuen Smartphone oder die Bilder auf der neuen Kamera? –, wären das nicht genug Stunden, um Nahrungsmittel für alle hungrigen Kinder der Welt zu produzieren oder wenigstens ein Heilmittel gegen Krebs? Die autoritären Mechanismen, zu denen der Absolutismus griff, um seine Untertanen unmündig zu halten, sind weitaus subtileren, aber auch machtvolleren gewichen.
Warum ist Erwachsenwerden eher eine Frage des Mutes als des Wissens? Alle Informationen der Welt sind kein Ersatz für den Mut, die eigene Urteilskraft zu benutzen. Urteilskraft lässt sich erlernen – hauptsächlich, indem man andere beobachtet, die sie gut einsetzen –, aber sie lässt sich nicht lehren. Urteilsvermögen ist wichtig, weil sich keine der Fragen, die uns wirklich bewegen, beantworten lässt, indem man eine Regel befolgt. Mut ist nicht nur erforderlich, um zu lernen, dem eigenen Urteil zu vertrauen, statt sich auf den Staat, den Nachbarn oder den Lieblingsfilmstar zu verlassen. (Natürlich mögen Ihr Staat, Ihr Nachbar oder Ihr Lieblingsfilmstar oft recht haben, und gutes Urteilsvermögen setzt voraus, dass Sie auch das erkennen.) Noch wichtiger: Mut ist erforderlich, um mit dem Riss zu leben, der unser Leben durchziehen wird, mag es auch noch so gut sein. Ideale der Vernunft sagen uns, wie die Welt sein sollte; die Erfahrung sagt uns, dass sie selten so ist. Erwachsenwerden verlangt, sich der Kluft zwischen beidem zu stellen, ohne eines davon aufzugeben.
Wir sind meist versucht, eine der beiden Seiten aufzugeben. Wer an den Dogmen der Kindheit festhält, kann sein Leben lang leugnen, dass die Welt nicht den Überzeugungen entspricht, die uns lieb sind. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele – manche Prediger oder Politiker kommen einem in den Sinn –, aber heutzutage trifft man eher auf Menschen, die im Sumpf der Adoleszenz steckengeblieben sind. Es zeigt sich, dass die Welt nicht den Ideen und Idealen entspricht, die sie darin verwirklicht sehen wollen? Umso schlimmer für die Ideale. An Idealen festzuhalten, für die es in der Welt keine Verwendung gibt, wird zu einer Quelle der Enttäuschung und sogar der Scham. Da erscheint es besser, Ideale ganz aufzugeben, als unter der Erinnerung an eine enttäuschte Hoffnung zu leiden, und weitaus mutiger, der Verkommenheit der Realität ins Auge zu blicken, als an etwas festzuhalten, das sich als Illusion erwiesen hat.
Solch ein Standpunkt ist weniger mutig, als Sie denken, denn er erfordert absolut nichts außer der Pose, dass man die Welt durchschaut hat. Weitaus mehr Mut ist nötig, um anzuerkennen, dass Ideale und Erfahrung gleichermaßen Anforderungen an uns stellen. Erwachsen werden heißt, diese Anforderungen anzunehmen und nach besten Kräften zu erfüllen, in dem Wissen, dass dies nie vollständig gelingen kann, und sich weder dem Dogma noch der Resignation zu ergeben. Wer lange genug lebt, wird wohl mit beiden Versuchungen konfrontiert werden. Erwachsen sein heißt, nach besten Kräften in seinem Teil der Welt darauf hinzuwirken, den Idealen näherzukommen, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, wie sie tatsächlich ist. Wer das Glück hat, einen wohlbeleibten Onkel zu haben, der ihn dies gelehrt hat, darf sich glücklich schätzen.
So viel, erst einmal, zur Vernunft. Es gibt herzlich wenige Punkte, über die in der westlichen Philosophie Konsens besteht, und einer davon besagt, dass sowohl Vernunft als auch Erfahrung bei den meisten Dingen, die wir lernen, eine Rolle spielen. Auch hier ist Kant von entscheidender Bedeutung. Rationalisten wie Descartes betonten, wie oft unsere Sinne uns zu täuschen vermögen, und behaupteten, allein die Vernunft könne uns zuverlässig die Wahrheit über die Welt sagen. Hatte die Physik nicht gerade entdeckt, dass Farben, zum Beispiel, nicht zum Wesen der Materie gehören, sondern bloße Eigenschaften sind? Hatte die Mathematik nicht begonnen, die Tiefen des Universums zu ergründen? Empiristen wie Locke bezeichneten den Verstand dagegen als eine tabula rasa, eine Tafel, die leer bleibt, bis die Erfahrung etwas darauf schreibt. Lockes Erbe David Hume nannte die Vernunft sogar impotent. Nach Ansicht der meisten Philosophen beendete Kant eine zweihundertjährige Debatte, indem er zeigte, dass Erkenntnis sowohl der Vernunft als auch der Erfahrung bedarf. Wie er es ausdrückte: Begriffe ohne Anschauung sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Gleichwohl entbrennen solche Debatten immer wieder von neuem. Dennoch bestätigt die heutige Hirnforschung Kants Auffassung zwar nicht dem Buchstaben, wohl aber weitgehend dem Geiste nach. Experimente zeigen, dass gewisse Erfahrungen tatsächlich die Gestalt des Gehirns verändern, so wie manche mentalen Strukturen unsere Erfahrung prägen. Die Frage, wie sowohl Vernunft als auch Erfahrung unser Erwachsenwerden beeinflussen, begleitet dieses Buch.
Welche Arten von Erfahrung sind für das Erwachsenwerden von zentraler Bedeutung? Wer sich auf die Welt, wie sie ist, einstellen soll, muss etwas von ihr gesehen haben. Auch wenn Philosophen wie Blaise Pascal und Lao Tse meinten, man könne alles Nötige auch zu Hause lernen, halten viele das Reisen doch für ganz wesentlich. So sagt Kant in seinen Vorlesungen zur Anthropologie, Reisen sei ein sehr gutes Mittel zur Erweiterung der Menschenkenntnis, sofern man zunächst einmal seine eigenen Landsleute kennengelernt habe.
Doch, könnten Sie einwenden, haben Sie uns nicht eben gesagt, er sei niemals weiter als siebzig Kilometer aus Königsberg herausgekommen?
Wir dürfen nicht vergessen, dass Reisen damals noch etwas anderes war als heute. In einer Kutsche über steinige Straßen holpern, die diesen Namen kaum verdienten. Ständig die Ohren offen halten und nach den Schritten von Räubern und Wegelagerern lauschen. Unsichere Wirtshäuser über Wochen und Wochen. Und das nur, um von Weimar nach Sizilien zu gelangen – die große Reise Johann Wolfgang Goethes, Kants jüngeren, abenteuerlustigeren und privilegierteren Landsmanns. Aber auch Goethe konnte von weiteren Reisen allenfalls träumen.
Dennoch sind schlechte Straßen eine schlechte Ausrede, wenn Kant in seinen Vorlesungen über Anthropologie die Vorzüge des Reisens in dieser Weise herausstreicht!
Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Dass Kant selbst eine gewisse Verlegenheit verspürte angesichts seines Unvermögens, den eigenen Rat zu befolgen, geht aus einer Fußnote zum Abschnitt über das Reisen hervor – das einzige ad hominem vorgetragene und unfreiwillig komische Argument, das ich jemals in seinen Werken gefunden habe:
Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landescollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur Cultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes sowohl, als auch mit angränzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten, einen Verkehr begünstigt, – eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntniß als auch der Weltkenntniß genommen werden; wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann.6
Es klingt, als suchte Kant nach Ausflüchten, aber könnte die These nicht doch stimmen? Vielleicht gibt es ja an manchen Orten Menschen, deren Geist so weit und offen ist, dass sie nicht weit reisen müssen, um ihn zu füllen. Möglicherweise war Kant einer dieser Menschen, und wer auch immer diese Worte an irgendeinem Bildschirm liest, könnte es ebenfalls sein. Bietet das Internet nicht mehr Raum und Zeit, als die Menschheit jemals erträumt hätte? Wer seine Zeit im Cyberspace verbringt und sich nicht nur Pornos und koreanische Rap-Videos anschaut, kann dabei viel gewinnen. Er oder sie kann Nachrichten aus hunderten Quellen in aller Welt lesen und feststellen, wie verschieden manchmal über ein und dasselbe Ereignis berichtet wird. Leider haben neuere Studien ergeben, dass unser Horizont durch das Internet oft noch kleiner wird. Wir lesen die Blogs und Websites, die unsere Freunde lesen, was unsere Sicht noch weiter einschränkt, aber die Möglichkeiten einer Erweiterung liegen auf der Hand. Der Arabische Frühling erlaubte uns – ungeachtet seiner Folgen – einen Blick auf diese Möglichkeiten, und gegen ein gelegentliches koreanisches Rap-Video ist auch nichts einzuwenden. Wer hätte das schon gedacht?
Wer jedoch lange genug in einer fremden Sprache und einem fremden Land gelebt und vor allem gearbeitet hat, weiß, wie viel den anderen entgeht. Selbst wer die Sprache beherrscht, versteht manche Anspielungen nicht – zum Beispiel auf Lieder, mit denen die neuen Landsleute einst als Kinder in den Schlaf gewiegt wurden und die sie niemals ganz vergessen. Witze und Nuancen und manch eine Ironie bleiben unverstanden. (Hartgesottene Dylan-Fans werden aufstöhnen, wenn sie hören, dass eine deutsche Frauenzeitschrift kürzlich »Boots of Spanish Leather« als optimales Lied für Fernbeziehungen empfahl.) So gelten denn Reisen an andere Orte als den Cyberspace vielfach als entscheidender Schritt auf dem Weg zum Erwachsensein. Die Praxis ärmerer Leute, ihre Söhne zur Ausbildung in die Fremde zu schicken, ist in Europa heute seltener anzutreffen als früher, aber in Ländern wie Tunesien oder auf den Philippinen ist sie weiterhin lebendig. Wohlhabendere Kinder – die inzwischen genauso oft aus Moskau oder Beijing wie aus London oder New York kommen – werden immer noch auf Reisen geschickt, die Ähnlichkeit mit der Grand Tour des 19. Jahrhunderts haben. In Europa, wo diese Praxis den politischen Zusammenhalt fördern soll, trägt sie den Namen Erasmus-Programm; in Amerika kennt man sie unter der Bezeichnung »junior year abroad«.
Nach neueren Untersuchungen leistet das Erasmus-Programm womöglich nicht so viel für die europäische Integration, wie es eigentlich soll; viele Studenten erklären, sie hätten erst bei der Rückkehr erkannt, wie stark sie sich ihrem Heimatland verbunden fühlten. Doch als Schritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden funktioniert es deutlich besser als die Auslandsstudienprogramme der meisten amerikanischen Colleges, wenn auch vielleicht nur, weil es in Europa als geradezu ungebührlich gilt, nur eine Sprache zu beherrschen. Der frühere Harvard-Präsident Larry Summers sagte kürzlich der New York Times, das Erlernen einer Fremdsprache sei Zeitverschwendung; man solle seine Zeit besser auf die Maximierung von etwas Quantifizierbarem verwenden. Offenbar ist Sprache für Ökonomen wie Larry Summers nur ein Mittel zur Sammlung von Information. In den USA wie auch in England gilt die Sprachkompetenz als Zeichen besonders hoher Bildung, aber ein tunesischer Lehrling kennt mehr Sprachen als Larry Summers. Es ist gut möglich, dass eine deutsche Sekretärin, die von ihrem Griechenland-Urlaub begeistert war, die griechische Sprache lernen möchte und deshalb zwischen ihren (nun alljährlichen) Reisen nach Kreta Griechisch-Abendkurse besucht. Wird das Reisen dadurch besser? Auf jeden Fall konsequenter – und in mancherlei Hinsicht auch bequemer. Sich lediglich unter der Obhut eines Führers – sei es eines College-Angestellten, eines angesehenen Konferenzorganisators oder eines teuren Reiseveranstalters – von einem Ort zu einem anderen zu bewegen trägt sehr wenig zum Erwachsenwerden bei, und es könnte sogar davon ablenken, weil es uns die Illusion vermittelt, wir hätten die Welt gesehen, und dabei waren wir im Grunde nicht da. Wer sich nicht die Füße nass und die Hände schmutzig macht, kann auch gleich zu Hause bleiben. Die Sixtinische Kapelle lässt sich ohnehin besser im Web anschauen.
Ich werde behaupten, auf die richtige Art zu reisen sei in der Tat ein wesentlicher, wenn auch weder notwendiger noch hinreichender Schritt auf dem Weg zur Reife. Wie de Beauvoir anmerkte, reicht es nicht aus, die Welt zu sehen, um mit dem eigenen Platz in ihr zufrieden zu sein. Auch brauchen wir eigentlich nicht zu reisen, um formell zu lernen, dass Kulturen verschieden sind. Es reicht, die Bibel zu lesen, um zu erfahren, dass Kinderopfer Bestandteil vieler Religionen waren, bis Gott zu Abraham sagte, er müsse es nicht tun. Und welche Sechzehnjährige hätte noch nicht gehört, dass die Eskimos ihre Alten auf einer Treibeisscholle aussetzen? Dieses Beispiel ist für Teenager besonders reizvoll, die es gerne als Argument für ethischen Relativismus verwenden. Die durch echte Reisen vermittelte Auseinandersetzung mit einer anderen Kultur stärkt jedoch unser Bewusstsein für die Gemeinsamkeiten wie auch für die Unterschiede. Diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden subtiler sein, als wir es uns vorstellen, und das selbst bei Kulturen, die (weitgehend) dieselbe Sprache sprechen. Amerikaner können von Downton Abbey ebenso begeistert sein wie Engländer von Lady Gaga, aber in den Vereinigten Staaten gelten Dinge wie Gesundheitsfürsorge oder Mutterschaftsurlaub als Vergünstigungen, während sie in England wie im größten Teil der zivilisierten Welt als Rechte angesehen werden. Diese Begriffe können demnach für äußerst unterschiedliche Vorstellungen von Freiheit und Gerechtigkeit stehen.
Wie Kant sagte, hat das Reisen in andere Kulturen nur dann Sinn, wenn man bereits ein gewisses Verständnis der eigenen Kultur erworben hat – auch wenn Ersteres durchaus vorteilhaft für Letzteres sein dürfte, da es hilft, in der eigenen Kultur das zu erkennen, was man zuvor für selbstverständlich hielt. Als ich nach meinem ersten sechsjährigen Aufenthalt in Berlin in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, war ich jedes Mal empört, wenn ich die New York Times aufschlug. Dabei ging es nicht um den Inhalt der Berichterstattung, sondern um deren Form. Während deutsche Zeitungen Texte und gelegentlich illustrierende Fotos bringen, verwendet die beste amerikanische Tageszeitung oft drei Viertel einer Seite für Anzeigen, die Nachrichten müssen sich mit dem Rest begnügen. Uns ist nicht bewusst, wie diese Gewichtung unsere Aufmerksamkeit von dem Blutbad in Bosnien auf die Verkaufsaktionen bei Bloomingdale’s verlagert, aber das tut sie. Welches Ereignis wird größer erscheinen, wenn wir jeden Morgen diese räumliche Aufteilung vor Augen haben? Einige Monate lang versuchte ich, die Empörung in meine Vorlesungen zur politischen Philosophie an der Yale University einfließen zu lassen. Doch nach einer Weile gewöhnte ich mich wieder so sehr an die Zeitung, dass meine Reaktion nicht mehr aus dem Bauch kam. Empörung ist entnervend und lässt sich deshalb nicht lange durchhalten.
Das ist natürlich nur ein kleines Beispiel für die Art, wie wir in eine Gesellschaft hineinwachsen, die unsere Wahrnehmung der Welt in kaum merklicher Weise prägt. Es war vielleicht kein Zufall, dass Peter Pan kurz vor dem Ersten Weltkrieg veröffentlicht wurde. Es wäre tollkühn zu behaupten, J.M. Barrie hätte gewusst, was kommen würde, und The Children’s Book von A.S. Byatt lässt uns hinter die Kulissen einer Welt schauen, die uns heute unschuldig erscheint. Aber verglichen mit dem, was danach geschah, mag die Wende zum letzten Jahrhundert so unbeschwert erscheinen, dass wir wünschten, die Zeit wäre damals stehengeblieben. Doch vergessen Sie, falls Sie es können, die beiden Weltkriege und die Atombombe, die darauf folgte, und betrachten Sie die Kritik in Paul Goodmans Mitte des Jahrhunderts erschienenem Klassiker Aufwachsen im Widerspruch. Haben wir eine Kultur geschaffen, die Raum für Erwachsene lässt, eine Kultur, die es wünschenswert macht, erwachsen zu werden? Goodman behauptete, eben nicht. Er war der Meinung, die Menschen sollten in eine Kultur hineinwachsen, die sinnvolle Arbeit, Gemeinschaftssinn und den Glauben bietet, dass die Welt auf die eigenen Bemühungen reagiert. Wenn statt befriedigender Arbeit Konsumgüter ins Zentrum unserer Kultur rücken, schaffen wir eine Kultur ewiger Heranwachsender (oder nehmen sie stillschweigend hin). Goodmans Werk, wenngleich in den 1960er Jahren unverzichtbar – Susan Sontag nannte ihn den amerikanischen Sartre –, ist inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten, aber seine Kritik trifft heute noch mehr zu als damals. Das gilt in noch höherem Maße für den Mann, dessen Sicht des Erwachsenwerdens Immanuel Kant am stärksten inspirierte – den faszinierenden und aufreizenden Jean-Jacques Rousseau. Rousseaus Werk ist eine brennende Anklage gegen die Kultur, die über die »Eisenketten, die sie beschweren« lediglich »Blumengirlanden« ausbreite.7 Kunst und Wissenschaft dienten eher unserer Eitelkeit und unserem Geldbeutel als unserer Menschlichkeit. Folglich verführe uns die Kultur dazu, Gesellschaftsordnungen zu akzeptieren, die wir eigentlich in Frage stellen sollten. Die Verlockungen der Gesellschaft seien so verführerisch und allgegenwärtig, dass nur radikale Lösungen helfen könnten. Die Probleme und Versprechen des Emile von Rousseau – des einzigen umfassenden Versuchs in der Philosophiegeschichte, ein Handbuch für das Erwachsenwerden zu verfassen – werden ausführlicher im dritten Kapitel behandelt. Ich werde zeigen, wie Rousseau und Kant den Rahmen für die Diskussion abstecken, bevor ich der Frage nachgehe, warum das Erwachsenwerden im 21. Jahrhundert noch schwieriger geworden ist.
Weil es uns nicht gelungen ist, Gesellschaften zu schaffen, in die unsere Jugend gerne hineinwachsen möchte, idealisieren wir die Phasen der Kindheit und Jugend. Wenn wir in die staunenden Augen schauen, mit denen Kleinkinder jedes Stück der Welt betrachten, beneiden wir sie um ihre Offenheit und Naivität, vergessen dabei aber die Angst und die Frustration, die jeden kleinsten Fortschritt begleiten, vom Aufrechtstehen bis hin zum ersten Strichmännchen. Die schädlichste Idealisierung dieser Art ist die weit verbreitete Ansicht, die besten Jahre unseres Lebens seien das Jahrzehnt zwischen sechzehn und sechsundzwanzig, wenn die Muskeln der jungen Männer und die Haut der jungen Frauen am schönsten erblühen. Das liegt an den Hormonen, und Evolutionsbiologen erklären uns, warum das so ist. Aber Ihr Ziel ist nicht die größtmögliche Fortpflanzung, was auch immer von Ihren Genen behauptet werden mag. Wenn wir die schwerste Zeit des Lebens als die beste ausgeben, machen wir diese Zeit nur noch schwerer für alle, die sie gerade durchmachen. (Wenn ich jetzt zerrissen und verängstigt bin, was soll ich von den Zeiten meines Lebens erwarten, die nur schlimmer werden, wie alle mir sagen?) Und das ist der Punkt. Wenn wir das Leben als einen Prozess des Niedergangs beschreiben, bereiten wir junge Menschen darauf vor, sehr wenig davon zu erwarten – und zu verlangen.
Kaum etwas illustriert das besser als die fortschreitenden Wandlungen, die die Geschichte von Peter Pan durchgemacht hat. In der ursprünglichen Romanfassung sind Erwachsene einfach langweilig: Mr Darling kennt sich nur mit Aktien aus, seine einzige Leidenschaft ist es, mit den Nachbarn mithalten zu können. Mitte des 20. Jahrhunderts hat er etwas leicht Bedrohliches angenommen und ist zu einem autoritären Charakter geworden, der so leicht zu einem Despoten mutiert, dass derselbe Schauspieler sowohl den Vater als auch den Piraten spielen konnte. Ende des 20. Jahrhunderts ist der Erwachsene nur noch lächerlich. In Hook, Steven Spielbergs verstörender Version der Geschichte, ist Peter Panning Gegenstand der Verachtung. Erwachsene sind auch hier langweilig und steif, aber zugleich so jämmerlich, dass Teenager sich zu Recht über sie lustig machen. Die Varianten der Geschichte spiegeln den Niedergang, den das Bild vom Erwachsensein selbst erfahren hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schien das Erwachsenwerden nur öde, an seinem Ende wirkte es nun kläglich.
Dieses Buch wird untersuchen, in welcher Weise unser Verständnis der Welt, wie sie ist, und der Welt, wie sie sein sollte, durch verschiedene Erfahrungen gefördert – und behindert – wird. Es wird die These vertreten, dass Erwachsensein selbst ein Ideal ist: ein subversives Ideal, das nie vollkommen erreicht wird, nach dem zu streben sich aber umso mehr lohnt.
Historische Hintergründe
Geschichte der Kindheit