Solange man Eltern hat, bleibt man Kind. Auch wenn man 34 ist, längst in einer anderen Stadt wohnt, eigene Probleme hat und immer noch als Single durch die Straßen läuft. Keine Hand, die die eigene wärmt, keine Einladungen bei Kerzenschein, keiner, der die Miete teilt, über zu hohe Telefonrechnungen schimpft oder einen einfach schwängert, weil es mit der Karriere immer noch nicht klappt. Keine Ausrede weit und breit.
In solchen hoffnungslosen Momenten hilft nur noch die Flucht zurück ins Nest der Vergangenheit zu Mama. Ein Wochenende zu Hause.
Ändern wird diese Flucht nichts. Ich werde auch in Zukunft keinen Mann dadurch anziehen, und mein gestrichener Dispokredit wird nicht zu mir zurückkommen. Letzteres ist im Moment mein Hauptproblem. Keine Lösung weit und breit.
Das Einzige, was mich noch vor meinem finanziellen Niedergang retten kann, ist mein Glaube. In diesem Punkt habe ich wirklich Hoffnung, denn wenn man etwas in meinem Job gelernt hat, dann ist das die tiefe Kraft des Glaubens.
Dieser Beruf ist nützlich wie ein Allzweckreiniger, für den ich überzeugend werben würde, und so hoffnungsvoll wie die Serienrolle, in der ich mich bald glücklich spielen sah – als erfolgreiche Schauspielerin.
Während Deutschland den Superstar sucht, verbringe ich die meiste Zeit genauso erfolglos mit Werbecastings. Für die Besetzung von Serien oder Filmen werde ich leider selten eingeladen. Deshalb bemühe ich mich, meinem beruflichen Leben einen finanziellen Boden zu geben, indem ich wenigstens einmal die Calgon-Frau sein könnte oder mit einer Waschmittelwerbung das große Geld verdiene. Eine Art Berufsprostitution für saubere Wäsche und kalkfreie Spülmaschinen.
Werbung macht man nicht für den Ruhm, sondern wegen der Gage. Der Ablauf eines Castings ist immer gleich, die Sätze des Besetzungspersonals jedes Mal ähnlich. Gerade vor ein paar Tagen war es wieder so weit. Ein Käse-Casting in München-Schwabing. Ich liebe Käse!
Der Caster begrüßte mich routiniert freundlich und begann sofort mit der üblichen Einweisung mit leichter bayrischer Klangfärbung – das wirkte immer besonders beruhigend.
„So, äh Hannah, jetzt erzäihst uns a’ bissl wos von dir, vielleicht was d´ grad so machst, dann zoagst der Kamera dei Profil, de Händ und donoch back ma´s, ois glar?“
„Ja, ja klar, alles klar!“, entgegnete ich professionell.
Dann sprach ich freudig, mit bühnenerprobter Stimme und mit einem charmanten Strahlen im Gesicht direkt in die Kamera: „Hallo, ich heiße Hannah Eichhorn, bin seit acht Jahren Schauspielerin und lebe hier in München …“
In diesem Moment gab es keine Probleme mehr in meinem Leben. Ich kam nur in dieses kleine, unwichtige Casting-Büro, weil ich für das Produkt auserwählt war. Doch dann passierte es, wie es immer passiert, mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks. Mein innerer Kritiker wurde langsam wach. Dadurch sprach ich beim nächsten Satz schon etwas leiser, um ihn nicht aufzuwecken.
„… bin vierundreißig Jahre alt …“
„Zu alt, zu alt!“, spottete die kritische Stimme in mir und übernahm hellwach das Kommando. Ich war ausgeliefert!
„… habe schon viel an Theatern gespielt …“
„Ha! Wenn die wüssten, auf was für schlecht besuchten Hinterhofbühnen du dich rumgetrieben hast, du Versagerin!“
Ich versuchte trotzdem, stark zu bleiben.
„Im Fernsehen war ich auch schon …“
„Klar! Sag ihnen, dass du nie über die Tagesrolle der Nachbarin und Sekretärin rausgekommen bist!“
„… klar … äh … das können Sie auch in meiner Vita lesen …“
„Sag schon, warum, komm, sieht doch jeder, und eine Kamera auch, weil du zu ...?“
„… tja, die Kamera sieht es bestimmt, auf den Hüften ein paar Kilos zu viel, Tendenz steigend, BMI unbekannt.“
„Dick bist! Genau. Deine Figur gehört versteckt und nicht vor einer Kamera gezeigt.“
„So, das war schon alles, glaube ich … äh … danke. Tschüß.“ Diesen Kritiker in mir hätte ich schon mehrfach umbringen können. Bei jedem Casting war er mein treuster Begleiter. Er war die sichere Garantie für Misserfolg. Einen Vorteil hatte es natürlich. Ich stand nach einem Casting nie allein auf der Straße. Dieser kritische Begleiter war immer an meiner Seite.
Wenn man rund dreißig erfolglose Castings hinter sich gebracht hat und zum 31. wieder geht, weil man den Job bekommen möchte, dann ist man eine echte Schauspielerin. Man hat gelernt zu hoffen, zu glauben und sich nach Erfolg zu sehnen.
Ich wusste, dass die Sehnsucht immer der Schatten des Wunsches ist. In meinem Fall wurde dieser Schatten immer länger.
Die Erfolglosigkeit hatte mich zu einem Wesen gemacht, nach dem sich die Männer nicht gerade den Hals verrenkten. Ich hatte seit Jahren kein Pfeifen mehr gehört. Noch nicht einmal letztes Jahr in Italien. Da war ich noch fünf Kilo schlanker. Trotzdem fand ich mich heute attraktiver. Meine Sehnsüchte umfassten die gesamte Hitliste aller gängigen Lebensziele: Liebe, Karriere und Geld.
Die Besetzer und Filmpartygänger hatten mich in der Vergangenheit nie bemerkt und würden es auch in der Zukunft nicht tun. Mein Frauentyp war kein Fall für die Besetzungscouch. Ich könnte mich ohne Bedenken und absichtlich vor einem Produzenten auf den Boden schmeißen und, Entschuldigung, die Beine breitmachen. Er würde entweder denken, ich sei eine engagierte Performance-Künstlerin und dazu da, ihm auf originelle Weise die Richtung zum Buffet besser zu erklären, oder dass meine hohen Absätze, bei stark gebauten Frauen wie mir, nur Unfälle verursachen könnten. Der Herr Produzent hätte keine Hintergedanken gehabt.
In einer solchen Situation hilft dir noch nicht einmal jemand, wieder auf die Beine zu kommen. Ab Größe 44 wird man einsamer.
Gott sei Dank brauche ich für meine Karriere weder einen Produzenten noch einen Regisseur, noch eine der vielen professionellen Besetzungs-Frauen. Nein. Mein Weg zum Film ist ein anderer. Für die Erfüllung meiner Wünsche bin ich bereit, ungewöhnliche Wege zu gehen.
Auch Gott hat seine eigene Besetzungsabteilung, und sie ist die größte. Der Film- und Fernsehgott wird mich erhören, und bald werde ich wieder einiges für ihn tun. Damit er mich bemerkt. Darüber darf ich erst kurz vor Vollmond sprechen. Da bin ich abergläubisch.
Für nächste Woche versprach der Kalender zunehmenden Mond. Doch jetzt stand das Wochenende ins Haus! An diesem Freitagnachmittag verspürte ich zunehmend Heimweh und musste wieder einmal nach Hause ins warme Nest.
Es war wie das Gefühl, dringend eine heiße Wanne für die eigene Seele nehmen zu müssen. Eine Badewanne ist etwas Besonderes. Sie wärmt, schützt vor der Welt, die man in ihr vergessen darf, und man hat immer die Möglichkeit, den Stöpsel zu ziehen.
Mein selbst beschlossener Auszug aus meinem Elternhaus war gleichzusetzen mit der Vertreibung aus dem finanziell abgesicherten Paradies. Dieser Einschnitt Richtung Erwachsenenleben lag zwölf Jahre zurück. So lange braucht man von der Geburt bis zum Eintritt in die Pubertät. An diesem Wochenende fühle ich mich höchstens so alt wie ein Teenager und bereite meine Flucht in die Heimat vor. Ich sammle meine gesamte Schmutzwäsche aus den Ecken zusammen, packe noch etwas Sauberes für den nächsten Tag ein und mache mich auf den Weg.
Ich wähle mein einzig mögliches Verkehrsmittel: die Deutsche Bahn! Seitdem ich letztes Jahr durch einen Unfall von meinem Auto getrennt wurde, kannte ich keinen Stau mehr, sondern nur noch Verspätungen.
Soziologisch betrachtet verbindet die Verspätung der Bahn die Reisenden miteinander. Schon nach der ersten Durchsage in die Abteile bilden sich kleine Leidensgemeinschaften, die sich spätestens jetzt über ihre Fahrziele austauschen. Schnell bildet sich eine Problemgruppe Anschlusszug, und an allem ist der gemeinsame Projektionsfeind schuld: die Deutsche Bahn.
Schwer beladen, aber überpünktlich verlasse ich meine Wohnabstellkammer, wie ich sie liebevoll nenne. München war schon immer teuer, aber liebenswert. Ich hatte mich in die heile Biergartenwelt und in alle mürrischen Bayern dieser Stadt verliebt.
Auch wenn ich in München mehr Miete zahlen musste als in jeder anderen Stadt Deutschlands. Es hatte natürlich auch berufliche Gründe. Schauspieler halten sich wie lauernde Katzen vor Mäuselöchern auf.
In den Großstädten Deutschlands sind die meisten potentiellen Arbeitsgeber-Mäuse zu finden. Ich hatte mich für das südlichste Mauseloch entschieden und wartete mit Tausenden anderer hungriger Katzen auf die Beute in Form von Drehtagen.
Mein Wohn- und Jagdrevier war schon seit Jahren Neuhausen. Eines der schönsten Wohngebiete meines Herzens. Zum Glück muss ich mein Gepäck nicht weit schleppen. Die U-Bahn-Station Rotkreuzplatz liegt nur drei Minuten von meiner Wohnung entfernt.
Der Zug, den ich mir ausgesucht habe, fährt ab München um 17.28 Uhr. Als ich die Rolltreppe zur U-Bahn hinunterfahre, fällt mein Blick auf die Uhr. Eigentlich müsste gerade jetzt die U-Bahn einfahren, und ich würde sie in diesem Moment verpassen. Es ist genau 17 Uhr, und die Bahnen fahren alle zehn Minuten. Nur in der Rushhour ist alles anders.
Da ich eine unstetig beschäftigte Schauspielerin bin, muss ich mich mit diesen Fahrplanverschiebungen nicht auskennen. Ich nehme in diesem Moment zehn Minuten gemütliche Wartezeit samt meinem Gepäck auf dem zugigen Bahngleis in Kauf.
Schließlich bin ich früh dran. Man fährt nur sieben Minuten von meiner Haltestelle am Rotkreuzplatz bis zum Münchner Hauptbahnhof. Es ist noch so viel Zeit, dass ich nicht einmal die Rolltreppen hinunterstürzen muss, um die U-Bahn zu erreichen.
Da könnte ich sogar noch die nächste Bahn durchlassen und denke kühn über den Kauf einer Frauenzeitschrift am Kiosk nach.
Nach meinem letzten Anfall von Frauenzeitschriftkauf war ich so enttäuscht, dass ich mit dem Geld genauso gut zu McDonald’s hätte gehen können. Man wird bei beiden eine unnötige Summe Geld los und fühlt sich danach vollkommen leer.
Ich lasse lieber den Kiosk im Zwischengeschoss links liegen, nehme aber diesmal die Treppe zum Gleis. Das baut Kalorien ab und gehört bestimmt zu den 1000 Tipps „Wie Sie Kalorien erfolgreich im Alltag verbrauchen“.
Kaum bin ich angekommen, fährt schon wieder eine U-Bahn ein. „Na so was, zwei nach?“, sage ich verwundert zu mir selbst.
„Rushhour!“, informiert mich eine junge Frau mit dynamischem Lächeln. Ich nicke ihr dankbar zu und stelle mich zwischen die „Ich arbeite bis fünf“-Leute. Wie die es immer bis zwei nach bis zur U-Bahn schaffen?
Wir sind eine beträchtliche Gruppe von zirka 55 einsteigenden Leuten, und die Bahn ist schon gut besetzt. Rushhour eben. Die Türen öffnen sich, und ich zwänge mich mit meinen Reisetaschen in den Wagen. Dabei brauche ich ungefähr den Platz, den normalerweise eine Mutter mit zwei kleinen Kindern benötigt. Mit 34 bin ich immerhin im richtigen Alter.
Meine Gepäck-Gedanken werden sofort von der Stimme des Zugführers jäh unterbrochen, der über seine viel zu laut eingestellten Lautsprecher eine Auskunft gibt, die in mir kein Freudenfeuer entfacht: „Die Weiterfahrt verzögert sich wegen eines Unfalls am Bahnhof um ungewisse Zeit.“
Jetzt weiß ich wenigstens, warum mich meine Intuition so früh aus dem Haus getrieben hat. Bleib ruhig, sag ich mir. Keine Frauenzeitschrift gekauft, keine Bahn durchgelassen, du hast Zeit.
Die zeternde Rentnerin neben mir anscheinend nicht. Sie macht sich umgehend mit einem Pulk gleichgesinnter Mitstreiter auf zum Zugführer, der selbst ahnungslos ist. „Was war’n des für a Unfoi?“, höre ich sie neugierig fragen.
„Schade“, denke ich mir, dass wir nicht aktuelle Bilder auf dem Video-Beamer schauen können. Dieses „U-Bahn-Kino“ informiert die wartende Masse an jeder Haltestelle mit kleinen Häppchen kurioser Nachrichten und Boulevardwahnsinns.
Da wäre doch auch Platz für die ersten Bilder vom Bahnhofunglück, für die voyeuristische Masse. Und der gute Zugführer vergießt noch nicht einmal einen Tropfen Blut in seiner Antwort. „Mei, wie schad.“
Abgesehen davon geht es weiter, und die neugierige Alte muss schauen, dass sie sich samt ihrem Pulk wieder in die U-Bahn packt.
Bei den nächsten Haltestellen füllen sich die Abteile so stark, dass ich Mitgefühl mit Tiertransporten bekomme.
Die nächste Station ist zum Glück meine: Hauptbahnhof.
Ich werde auf einer Woge flüchtender Menschen nach draußen getragen, eile im Laufschritt und mit ansteigendem Puls die Rolltreppe nach oben zur Bahnhofshalle. Dort erwarten mich schon die üblichen Freitagnachmittagsschlangen vor den Schaltern, die ich auf mindestens 15 Minuten Wartezeit einschätze.
Jetzt kann nur noch der „Maschinenkollege“ helfen. Ich steuere entschieden auf einen freien Fahrkartenautomaten zu, auf dessen Tastenfeld schon Hunderte Reisende verzweifelt geschlagen oder herumgeschmiert haben. Und das in der Hochsaison der Grippe!
Konzentration. Es geht los. Expresskauf und ein ruhiger Zeigefinger sind eine sichere Bank für eine 2-Minuten-Fahrkarte. Keine Reservierung, jetzt bloß nicht „electronic-cash“ mit „Geldkarte“ verwechseln, den Magnetstreifen, der sich unbedingt rechts unten befinden muss, schön gleichmäßig einführen. So.
Die Geheimzahl eingeben – geschafft! Karte akzeptiert, im Fahrkartenfach blinkt es schon.
Ich suche schnell nach einer genauen Uhrzeit, mein Blick fällt zurück auf das Fahrkartendisplay. Abfahrt des gewählten Zuges ist 17:28 Uhr, und es ist 17:28 Uhr, wie ich unten rechts bei der Zeitangabe der Bahn lesen kann.
Ein Griff ins Fahrkartenfach, Fahrschein raus, rennen und auf die Verspätung der Deutschen Bahn vertrauen. Das verbrennt Kalorien. Oder sind Sie schon mal mit 12-Kilo-Hanteln durch ihren Gymnastikraum gerannt, und das mit 20 bis 30 Leuten?
Ausweichen muss man übrigens auch noch. Da tut man sogar noch etwas fürs Koordinationsvermögen, wenn man nicht unnötige Bekanntschaften schließen will. Die Welt ist ein einziges Fitnesscenter.
Ich werde bei meinem Sturm aufs Gleis vom männlichen Reinigungspersonal angefeuert und werde belohnt: fünf Minuten Verspätung. Ein unerwarteter Erfolg an diesem Tag.
Ich renne an orientierungslosen Fahrgästen vorbei, lasse die Erste-Klasse-Wagons in Bestzeit neben mir liegen, verbrenne die nächsten 124 Kalorien und steige hinter dem ICE-Bistro in Wagen Nummer neun ein. Geschafft! Im Großraumabteil gibt es sogar noch Platz.
Ich sinke dezent schwitzend, aber in Siegerlaune, in meinen „Ich hab ja noch so viel Zeit“-Sessel. Das Leben kann so schön sein, auch wenn ich kurzatmig geworden bin. Keine Kinder im Großraumwagen, große Behindertentoilette auf dem Gang – diese Fahrt kündigt sich vielversprechend an.
Wenn ich erst einmal zu Hause, im Paradies, angekommen bin, werde ich meine mühsam verbrannten Kalorien wieder ohne schlechtes Gewissen aufstocken und meine Seele mit einem Schokoladenkuchen nach Art des Hauses trösten. Mit Schlagsahne.
„Die Fohrkoarten bitte!“ Der Schaffner nimmt mir meinen hektisch zerknitterten Fahrschein, der mittlerweile wie von letzter Woche aussieht, aus der Hand.
„Woos is denn dees?“
Aufgeschreckt schaue ich auf den Fetzen, den der Schaffner gerade infrage stellt. Erleichtert stelle ich fest, dass es sich wirklich um den Zettel aus dem Automaten handelt.
Im nächsten Augenblick schaue ich genauer hin. Was macht denn meine Kontonummer auf dem Fahrschein?
„Junge Frau, des is Ihr Abbuchungsbeleg. I brauch a Fohrkoarten!“
„Ja, ja, Moment.“ Ich krame aufgeregt in meiner Handtasche, um Zeit zu gewinnen. Ein paar Gedanken später finde ich die Lösung in meiner Erinnerung. Dort taucht der schemenhafte Hinweis des Fahrkartenautomaten auf. „Es werden zwei Belege gedruckt.“
Zwei! Eine 50:50-Chance, die ich verloren habe. Typisch für mich!
Mein Fahrschein wartet wahrscheinlich immer noch vergeblich im Automatenfach beim „Maschinenkollegen“ am Münchner Hauptbahnhof.
„O nein!“, entfährt es mir im ehrlichsten Ton der Verzweiflung.
Jetzt kann ich mich nicht mehr fragen: „Was is dees?“ und die hilflose Frau spielen.
„Aber Sie sehen doch, dass ich die Fahrkarte gezahlt habe.“ Meine spärliche weibliche Hilflosigkeit kann den gut fünfzig Jahre alten „Ich mach hier nur meine Arbeit“-Schaffner nicht überzeugen.
„Ober i brauch a Foahrkoartn, junge Frau.“
Der Zug muss aus Österreich kommen. Meine Chancen stehen gerade ganz schlecht. Keiner der konzentriert lauschenden Fahrgäste kommt mir in diesem Augenblick zur Hilfe. Um mich herum sitzt scheinbar ein lebendiges Wachsfigurenkabinett. Jetzt wären doch Kinder, so ab acht, gut gewesen. Die hätten etwas gesagt.
Es bleibt mir keine andere Wahl. Ich ziehe langsam, keine Waffe, aber meinen Geldbeutel aus der Tasche und zahle noch einmal: 66 Euro.
Es trifft ja keine Arme.
„So ein Kaiserschmarrn!“, murmele ich wütend und stelle mir den Sitz in eine angenehmere Liegeposition. Langsam versuche ich mich wieder zu beruhigen. Immerhin bin ich noch 34, und es ist erst Mitte März. Das Jahr ist noch jung.
Trotzdem bin ich immer noch ohne neuen Job, und es gibt nicht einmal die Hoffnung auf einen Drehtag. Noch nicht einmal eine Einladung zu einem Werbecasting ist in Aussicht.
Kein Wunder, denn ich wollte ja unbedingt Schauspielerin werden.
Immerhin soll es uns noch besser gehen als den Journalisten und den Soziologen. Übrigens sind dies alles Berufe, die ich vor der Schauspielerei ins Auge gefasst habe. Meine Wahl war demnach die aussichtsreichste. Statistisch gesehen.
Kurz vor halb neun werde ich aus meinen Träumen gerissen.
„In wenigen Minuten fahren wir in Mannheim Hauptbahnhof ein. Zugführer Emil Jansen und sein Team verabschieden sich von unseren aussteigenden Fahrgästen und hoffen, Sie hatten eine angenehme Fahrt ...“
„Ja, und besonders teuer war es mit Ihnen“, kommentiere ich innerlich die Ansage des Zugführers. Eigentlich sollte er sich Zugkapitän nennen, diese Durchsage ähnelt immer mehr der bei einer Airline. Obwohl die Bahn manchmal teurer ist als ein Flug.
Auf dem Bahnsteig winkt mir schon voller Freude meine Mutter zu. Eigentlich könnte ich auch die Augen schließen und ihrer Stimme folgen: „Flöhchen, Flöhchen ...!“, ruft sie lautstark, als sie mich an der Zugtür sieht. So nannte sie mich als Kleinkind und wird mich noch so nennen, wenn ich 58 bin. Meine Mutter ist eine selbstbewusste Frau. Sie bemerkt nicht die peinlich berührten Blicke der Leute, die sich an mich heften.
Ich liebe die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit.
„Mama, ich bin nicht mehr Flöhchen. Mittlerweile bin ich eine erwachsene Filzlaus,“ zische ich ihr entgegen. Dann umarmen wir uns freudig, und ich ziehe meine Mutter vom Bahngleis.
„In deinem Alter habe ich mich auch für solche Dinge geschämt“, versucht sie mir Mut zuzusprechen.
Ich hoffe die restlichen Kleinigkeiten ändern sich auch noch.
„Wie geht es Papa?“, frage ich sie, während ihre Finger nervös nach dem Autoschlüssel suchen.
„Gut, glaube ich. Wir sehen uns ja kaum. Sein Restaurant läuft fantastisch. Er sollte sich ein Bett in die Küche stellen und einen Kochtopf heiraten. Sag mal, hast du meine Schlüssel gesehen?“
Meine Mutter wühlt verzweifelt in ihrer Handtasche. Das macht sie immer. Sie sucht, seit ich mich erinnern kann, nach ihren Schlüsseln.
Mein Vater ist leidenschaftlicher Koch. Während meiner Kindheit war er kaum existent. Wenn er nach Hause kam, lag ich schon längst im Bett. Die Gastronomie hat meine Kindheit gefressen.
„Mama, der Wagen ist offen. Ich glaube der Schlüssel steckt.“
„Ach ja?“
Meine Mutter bricht ihre Suche schlagartig ab und steigt ins Auto. „Also, das ist mir wirklich noch nie passiert. Aber da siehst du mal, wie sicher diese Stadt ist.“
Klar. Ist ihr noch nie passiert, wenn man vergesslich ist oder von den letzten Malen absieht. Sie fährt wie immer zügig aus der Parklücke und steuert schon das nächste Thema an. „Was macht dein Beruf, Flöhchen?“
Ich versuche meiner Mutter auszuweichen, weiß aber nicht in welche Richtung. Sie streichelt kurz über meine kühlen Hände, die auf meinen warmen Oberschenkeln Schutz suchen.
„Das wird schon. Kopf hoch. Nicht jeder wird früh entdeckt.“
Meine Mutter glaubt noch immer an meine Karriere als Schauspielerin. Auch wenn ich die Schallgrenze von zwei Drehtagen noch nie durchbrochen habe und mein Jungschauspieler-Bonus schon seit Jahren verlebt ist. Preise für die beste Nachwuchsschauspielerin werde ich nie in Händen halten, und leider werde ich niemals in einer gelungen verheulten Rede meiner Familie danken können. Warum auch? Ich habe sie schon tausendfach in Tagträumen und schlaflosen Nächten gehalten. Jedes Mal eine Art von Orgasmus – beruflich.
Immer wieder, in einem neuen Abendkleid und mit einem überrascht glücklichen Gesicht, trete ich ans Mikrofon und strahle in die vor mir sitzende Menge. Die Scheinwerfer sind so stark, dass diese Masse zu einem energetischen schwarzen Loch wird, in das ich lächle, heule und meine Dankesrede spreche. Unvorbereitet charmant beuge ich mich, wie fast alle Preisträger, zum Mikrofon hinunter.
Wenige scheinen zu wissen, dass man das Mikrofon nicht fressen muss, um verstanden zu werden. Bucklig bedanke ich mich bei allen, die mir einfallen. Dann verneige ich mich vor meinen Eltern, und meine Sprechzeit ist schon zu Ende. Hat jemand, der einen Preis verliehen bekommt, Probleme mit den Eltern?
Die beiden liebe ich sehr, obwohl mein Vater nie wirklich Zeit für mich hatte. Aber Distanz hält Liebe frisch. Meine Mutter sieht mich heute noch als kleines Kind, oder höchstens als junge Frau in der Studienzeit. Nicht als erwachsene, verantwortungsvolle Frau Anfang dreißig. Bin ich auch nicht.
Vielleicht liebe ich meine Eltern auch gerade deshalb, weil sie sich früher nie aufgedrängt haben – das nimmt mir heute den Erfolgsdruck. Wir konnten uns ohne ein Zuviel an Nähe lieben, und das gibt meinem Vater die Chance, irgendwann dort anzusetzen, wo das Zeitvakuum entstand, um es zu füllen: mit seiner Anwesenheit.
Zu Hause wartet schon eine Schokoladentorte im Kühlschrank. Mit einem leckeren Vanillekern.
Alle Sorgen sind für einen Moment vergessen. Ich schütte meiner Mutter mein Herz aus, esse drei Stückchen Kuchen und sinke gegen halb eins müde in die Kissen. Eigentlich ist zu Hause immer alles gleich. Sieben mal „immer“ geben mir die scheinbare Geborgenheit meiner Kindheit zurück: Im Gang der Wohnung meiner Eltern steht immer der gleiche Geruch, der Schokokuchen hat immer einen zu weichen Vanillekern und zu viele Schokoladenstreusel, meine Mutter hört sich immer halb abwesend, aber immer mit einem verständnisvollen Mona-Lisa-Lächeln, meine immer gleichen Probleme an, und mein Vater kommt immer gegen drei Uhr nachts nach Hause.
Erst dann kann ich richtig einschlafen. Immer.
„Nie Gastronomie!“, denke ich im Halbschlaf, bevor ich mich in den Tiefschlaf begebe.
Am nächsten Morgen frühstücke ich mit meiner Mutter. Mein Vater steht samstags erst gegen Mittag auf. Ich setze ihn schon seit meiner Kindheit in Form eines gut gelaunten Geistes an den Tisch. Jetzt sind wir eine Familie.
Meine Mutter hat schon die altbekannte große Tupper-Schüssel auf den Tisch gestellt. Sie ist fast ein Fossil. Mein Vater bringt jede Nacht einen kleinen Rest seiner Abendkarte in einem Plastikschälchen nach Hause. Erkaltete Kochkunst.
Heute gibt es Suppe zum Frühstück. Ein kleines Etikett klebt auf dem Deckel der Schüssel. Es ist abwaschbar und beschriftet wie der Ausschnitt einer Speisekarte: Muskatkürbis mit Orangenöl.
Das ätherische Öl einer Orange wirkt stimmungsaufhellend und schenkt Lebenskraft. Wir müssen die Zaubersuppe nur noch erhitzen und Sahne unterheben.
Nach diesem gelungenen Start in den Tag stürzen wir uns in das morgendliche Getümmel der Stadt. Ich finde heute noch nicht einmal Trost bei den Kleidern. Normalerweise gehe ich gerne mit meiner Mutter einkaufen. Ein paar textile Trostpflaster für die Seele kaufen und befriedigt durchatmen, wenn die Hose passt.
Heute streifen wir durch ein paar Cafés und stöbern in ein paar Boutiquen. Die neue Kollektion ist eingetroffen.
Für meine Mutter finden wir ein traumhaft schönes Frühlingskostüm in einem Fliederton. In Größe 38 sieht einfach alles gut aus. Besonders an meiner Mutter. Ich bin einfach glücklich, die Stadtluft meiner Heimat zu atmen. Mannheim liebt man nur, wenn man dort geboren ist. Die Stadt bekommt Liebe durch Geburt. So viele Schritte bin ich schon durch die Straßen gegangen, um die Quadrate gelaufen, mit aufsteigendem Körpergewicht und Schuhgrößen. Von hier aus habe ich von der großen weiten Welt geträumt und zukünftigen Erfolgen, wenn ich einmal groß bin. In dieser Stadt habe ich meine erste große Liebe geküsst und wieder verloren.
Hier habe ich Walzer tanzen gelernt.
Gegen sechs sind wir wieder zu Hause, und mein Vater steht schon längst für die Abendkarte in der Küche. Meine Familie ist schlimmer als ein ICE auf einer Beschleunigungsgeraden.
Ich bin mir nicht einmal sicher, ob meine Mutter mitbekommen hat, dass es mir schlecht geht. Sie hätte es schon an meiner erschöpften Ironie bemerken müssen. Und daran, dass ich langsam nicht mehr in Größe 44 passe.
Es ist trotzdem mein Paradies. Diese Fünfzimmerwohnung meiner Eltern ist wie eine große Wiege für mich. Der Schutzraum der Vergangenheit, in dem nichts Neues passiert. Die Luft bleibt immer die gleiche. Bald muss ich wieder aufbrechen. Ein Wochenende vergeht immer schnell.
Zwei Trommeln Wäsche am Nachmittag und ein Kinobesuch am Abend, schon ist es Sonntag.
Auf dem Weg zur Bahn schaue ich noch im „Büro“ meines Vaters vorbei, wie ich gerne seinen fettigen Arbeitsplatz nenne. Sein kleines Restaurant liegt nur fünf Minuten vom Bahnhof entfernt. Sonntags steht er schon morgens am Herd, um alles vorzubereiten. Als ich in die Küche komme, kocht schon das Mittagessen in den Töpfen.
„Mensch Kleine, schön dich zu sehen.“ Mein Vater blickt mich erstaunt durch dampfende Töpfe an. Der Dampf wirkt bestimmt wie ein Weichzeichner und macht mich Jahre jünger.
„Ich bin seit Freitagabend da. Na, vielleicht das nächste Mal.“
„Was macht der Job, Kleine?“
Auf diese Frage hätte ich verzichten können. Hätte er einfach „Wie geht es dir?“ gesagt, hätte ich gerne den nächsten Zug verpasst. Wenn er mich gebeten hätte, noch einen Tag zu verlängern, damit wir etwas zusammen unternehmen können, ich wäre geblieben.
Montag ist sein freier Tag.
„Warte kurz, ich muss noch ein Blech aus dem Ofen holen. Kannst du mir schnell helfen?“ Mein Vater streckt mir ein Handtuch wie eine weiße Flagge entgegen. Schnell ziehen wir ein großes Blech mit überbackenem Fisch aus dem Ofen.