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PETRA HOFMANN

Nie mehr Frühling

Copyright © 2015 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: ©Naturbild/Johner/F1 online
eISBN 978-3-7117-5282-6
ISBN 978-3-7117-2019-1

Petra Hofmann, geboren 1959 in Süddeutschland. Studium der Germanistik, Linguistik und Philosophie auf dem zweiten Bildungsweg, gleichzeitig Theaterarbeit, nach Abschluss des Studiums Umzug in die Schweiz. Lebt seit 1996 bei Basel, arbeitet als freie Regisseurin und Lektorin für wissenschaftliche Texte und schreibt Erzählungen. Veröffentlichungen u. a. in der Schweizer Literaturzeitschrift »entwürfe«.

PETRA HOFMANN

Nie mehr
Frühling

ROMAN

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Und summt meine Lieder

Schon einen weißgewordenen

Sommer lang.

ELSE LASKER-SCHÜLER

Auf dem Küchenboden liegt sie, vor dem Herd, zusammengekrümmt.

Sie regt sich nicht.

Mutter?, sagt Paul.

In den Kleidern liegt sie da, die dünnen Beine in den Gummistiefeln.

Paul hält den Türgriff fest umklammert. Er kann nicht weitergehen und nicht umkehren. Er schließt die Augen.

Bevor er sie wieder öffnet, dreht er den Kopf weg, und dann fällt sein Blick auf den Strohhaufen neben dem Herd. Einzelne Halme und Büschel und die Wolldecke liegen zerwühlt daneben.

Paul lässt den Türgriff los, macht einen Schritt auf die Mutter zu.

Er sieht in ihr Gesicht, verzerrt ist es, der Mund aufgerissen, die einzelnen dunkelgelben Zähne darin sind übergroß, die Augen verdreht, blicklos.

Dass er jetzt über ihr steht, kommt ihm falsch vor. Und müde ist er auf einmal, unendlich müde, auf eine Weise, die ihm fremd ist. Er sinkt in die Hocke, legt beide Hände auf den Mund, reibt sich die Stirn, die Wangen. Ihm wird übel. Und doch muss er hinsehen, muss ihre Fratze betrachten, die kurzen grauen Fusseln auf ihrem Schädel, ihre schmale Gestalt in den zerlumpten Kleidern.

Ihre Arme auf dem Steinboden. Die Finger gebogen wie eingezogene Krallen, blaue Flecken an den Innenflächen der Hände. Packen möchte er die Mutter jetzt, sie schütteln, wach auf, möchte er schreien, verfluchtes Weibsstück, du elende Kreatur! Aber er hockt nur da und ballt die Hände zu Fäusten. Soll es das jetzt gewesen sein, will er schreien, und unerträglich ist ihm jetzt ihr Gestank, dieser widerliche Gestank nach Urin und altem Schweiß und Moder. Ihn ekelt, und in seine Abscheu, sein Entsetzen drängt sich auf einmal mit Wucht ein unbändiges Verlangen nach seiner Frau. Er möchte sich zu ihr legen, ihren lebendigen Körper spüren, ihre warme Haut. Er möchte sich ausruhen, schlafen.

Aber dann besinnt er sich, ihm ist, als erwachte er. Es ist früher Morgen, kalt, feucht. Es ist noch nicht einmal richtig hell geworden. Und er ist allein mit der toten Mutter in dieser ewig düsteren Küche, in diesem Haus, ein Totenhaus ist es, muffig, verdreckt, trostlos, nicht erst seit heute.

Er geht hinaus. Hinter ihm fällt die Tür zu. Vor dem Haus bleibt er stehen und schaut auf den Asphalt der Straße, auf die nasse Steintreppe.

Die einzelnen Stufen verschwimmen.

Wie bei den Richtfesten ist ihm. Jedes Mal steigen ihm da die Tränen in die Augen, er versteht es nicht, es passiert ihm einfach, jedes Mal nach dem Spruch: Das Glas zerschmettere am Grund, geweiht sei dieses Haus zur Stund. Dann lässt er das Glas auf die Erde fallen und es kommt ihm vor, als wankte der Richtbaum neben ihm und das Dach, auf dem er steht. Und jedes Mal ist es wie ein Wunder, dass er oben bleibt.

Er geht die Steintreppe hinunter. Auf dem Gehweg hält er inne. Er dreht sich um, schaut die Treppe hinauf und auf die Haustür. Es ist vorbei, denkt er. Endlich ist es vorbei. Ihm ist so wohl auf einmal, leicht ist ihm. Er stellt sich auf die Zehenspitzen, eine Weile lang wippt er hoch und runter, hoch und runter. Fast möchte er lachen, laut und anstandslos, alles fahren lassen, die ganze unmenschliche Anstrengung dieses Lebens, endlich, im Lachen oder im Weinen, es spielt keine Rolle mehr. Mein Gott, denkt er, wenn mich jetzt einer sieht, der meint, ich bin verrückt geworden. Natürlich; genau wie die Alte. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Und schon ist es vorbei mit der Leichtigkeit, dem Übermut, und übrig bleibt dieses dumpfe, wattige Gefühl, eine Art Betäubung, ihm wohlvertraut von jeher.

Er geht die Treppe nebenan hinauf, drückt die Tür auf, Erna, ruft er und geht in den Hausflur hinein zum Telefon. Er wählt und horcht dann auf das Tuten im Hörer. Erna erscheint im Türrahmen zur Küche, sie stützt sich auf den Stock und schnauft, endlich hört er die Stimme des Bruders.

Ich wollte nur schnell bei der Mutter vorbeischauen, sagt Paul ins Telefon hinein, bevor ich in die Werkstatt gehe.

Erna macht einen Schritt auf ihn zu, dann noch einen.

Paul schaut auf den Boden, während er weiterredet. Es hat doch das ganze Wochenende geregnet, sagt er, und dann dieser Sturm. Na ja, bei dir wird es wohl nicht anders gewesen sein. Da dachte ich, womöglich hat es wieder Ziegel vom Dach gehoben, und bestimmt ist der Zuber übergelaufen.

Dann wartet er, wartet darauf, dass der Bruder etwas sagt.

Er schaut auf in Ernas breites Gesicht mit den kleinen Augen, den welken Lippen.

Sie steht vor ihm, nah, viel zu nah, so nah, dass er ihren Atem riecht. Er wendet sich ab.

Den Hörer hält er fest in der Hand und horcht noch immer in die Stille hinein.

Braver Bub, sagt der Bruder jetzt, und da kann Paul nicht mehr an sich halten und schreit in den Telefonhörer hinein, sie ist tot, schreit er, tot, tot! Sie liegt auf dem kalten Küchenboden und ist tot! Endlich, sagt er noch, flüsternd jetzt, und gleich darauf heult er laut auf und drückt sich den Hörer ans Ohr und auf die Unterlippe, dass es weh tut. Komm her!, sagt er, sofort!, aus sich herauspressen muss er die Worte, er schnappt nach Luft, bitte, sagt er dann leise, flehend, aber da legt er schon auf.

Armer Junge, sagt Erna.

Es wird nie vorbei sein, denkt Paul, es ist wie ein Fluch.

Geh in die Küche, sagt er zu Erna, mach dir Kaffee.

Ja, sagt Erna, ich mach uns Kaffee.

Für dich sollst du Kaffee machen, sagt er und sieht ihr dabei ins Gesicht, nur für dich. Dann lässt er sie stehen und geht hinaus.

Es hat wieder angefangen zu regnen, und während er unter dem Vordach steht und wartet, betrachtet er die Lücke neben Ernas Haus, ein überwuchertes Stück Land, liegen gelassen, verwaist, sieht dann auf die Straße, auf die Wiese dahinter, und im Nacken spürt er Ernas Blick und denkt daran, dass man nicht glücklich sein muss, um alt zu werden.

Er schlägt den Kragen hoch, zieht das Päckchen mit den Zigaretten aus der Jackentasche und steckt sich eine an. Das wird wieder ein Gerede geben, denkt er und zieht den Rauch in die Lungen, dass es brennt. Was sind nicht schon alles für Geschichten erzählt worden über die Mutter! Jeder hat sie mit seinen Augen betrachtet und jeder hat es besser gewusst. Und dabei wohl auch seinen Stab gebrochen über sie, über ihr Leben. Aber das, denkt Paul, steht euch nicht zu, niemandem steht das zu. Ein Leben ist ein Leben, und es gilt. Das ist alles. Da gibt es nichts zu befinden, es gibt gefälligst nichts zu befinden! Er bläst den Rauch aus, hastig, er zieht, bläst wieder, raucht die Zigarette herunter bis auf den Filter, es schmeckt nach verbranntem Papier, er hustet, zieht noch einmal, es kommt kein Rauch mehr, und da wirft er den Stummel auf die Straße und steckt sich eine neue Zigarette an.

Wenn überhaupt einer Bescheid weiß, denkt er, dann doch wohl ich! Obwohl er ja eigentlich auch nicht wirklich sagen könnte, wer sie war, die Mutter, wer sie im Innern war, wie sie sich dort fühlte. Fremd war sie ihm, trotz allem. Eine Welt, zu der er keinen Zugang hatte. Die auch er nur immer von außen sehen konnte.

Jeder hatte seine Geschichte mit ihr, denkt Paul und bläst grauen Rauch in die Luft, aber was, denkt er, hatte sie wohl für eine Geschichte mit sich selber? Er wirft die Kippe weg, man wird verrückt von solchen Grübeleien, denkt er.

Er dreht sich um und schaut zum Haus der Mutter. Dort drinnen liegt sie jetzt in der Küche und ist tot. Das jedenfalls ist eine Tatsache und keine Geschichte.

Die Dorfstraße liegt im hellen Licht des Frühlings, voll Verheißung ist die Luft, und in Lene flackert eine unbekannte Aufregung, eine Ungeduld im Bauch, auch im Herzen. Sie geht schneller, komm, sagt sie zur Schwester, ich seh schon den Maibaum.

Ich auch, sagt Hermine, Hermine in ihrem neuen Kleid mit den Kornblumen darauf.

Bei Zuckermanns hat Lene den Stoff gekauft, mit der Hand hatte sie darübergestrichen, hatte das zarte und doch feste Gewebe unter ihren Fingerspitzen gefühlt. Und wie gut der Schwester jetzt das Kleid steht, denkt Lene, wie es ihrem Körper schmeichelt, satt sitzt es über der Brust, eng an der Taille, und beim Gehen umspielt es die Waden.

Was siehst du mich so an, sagt Hermine, stößt mit der Hüfte gegen Lene und lacht, und dann hüpft sie vor ihr her.

Lene denkt an die Mutter, wie sie ihr beim Nähen zusah, du bist geschickt, Kind, sagte sie, wenn deine Schwester doch wenigstens ein bisschen was davon hätte. Aber das Minchen, das ist schon mit zwei linken Händen auf die Welt gekommen, das ist zu nichts zu gebrauchen. Und wieder schneiden sie Lene in die Brust, die Worte der Mutter. Wenn man es nicht besser wüsste, sagte die Mutter noch, könnte man meinen, das Minchen sei ein Kuckuckskind.

Bevor sie aus dem Haus gingen, hatte Lene der Schwester die Haare hochgesteckt, bestimmt wird der Karl auch da sein, hatte Hermine in den Spiegel hinein gesagt, mit glänzenden Augen wie im Fieber. Und jetzt sind schon wieder ein paar Locken aus der Nadel gerutscht, die wollen sich nicht festhalten lassen.

Der Birkenbaum trägt junge, helle Blätter, bunte Bänder flattern an seinen Ästen im Wind. Sein Schatten ist lang, über die leere Bühne wirft er ihn und darüber hinaus.

Im Schatten, sagt Hermine, ist sogar der Maibaum nur grau. Auch die Bänder sind grau, sieh doch, wie sie tanzen, wie Gespenster.

Was dir wieder einfällt, sagt Lene.

Hermine lässt den Kopf auf Lenes Schulter fallen und schaut hinauf zur Spitze des Baumes. Bis in den Himmel reicht er, sagt sie. Die Musik spielt auf, sofort hebt Hermine den Kopf, ich muss den Karl suchen, sagt sie. Sie strahlt Lene an, ihre Wangen glühen, und gleich darauf ist sie verschwunden in der Menschenmenge.

Lene bleibt zurück.

Wenn heute einer käme für mich, denkt sie, und auf der Bühne drehen sich die ersten Paare.

Hermine springt die Stufen hinauf, sie zieht Karl hinter sich her, schon drehen sie sich im Kreis, schnell, immer schneller, Hermine jauchzt und wirft den Kopf in den Nacken.

Ein einziger Stern steht schon am Himmel.

Sie sieht dasselbe wie ich, denkt Lene, denselben Himmel, denselben Stern. Und doch muss es anders sein für sie. Für sie ist immer alles anders. Und nicht nur, weil sie den Karl hat.

Hermine ruft ihm etwas zu und springt wild wie ein junges Pferd, er hebt sie hoch und sie fliegt im Kreis, beinahe waagrecht liegt sie in der Luft.

So müsste das Leben sein, denkt Lene, leicht, schwebend, ohne den Boden zu berühren.

Die anderen Paare drehen sich am Rand der Bühne, sie tanzen in den Schatten hinein und wieder hinaus, auch Erna und Heinrich sind dabei, Heinrichs linke Hand liegt auf Ernas Rücken, Erna hält sich an seinem Oberarm fest und kippt beim Tanzen von einem Bein auf das andere.

Und Ida tanzt dort mit Max, sie trägt ein Kleid, gelb wie Forsythien, im Haar einen Kranz aus Margeriten, und sogar in Max’ Hut steckt ein Sträußchen.

Das sieht ihm ähnlich, denkt Lene.

Oben auf dem Heuchelberg saßen sie, Max flocht Kränze aus Gänseblümchen, für die Damen, sagte er, und den ersten reichte er Ida, hielt ihn auf seinen Handflächen vor sie hin wie einen Schatz, und als es dämmerte, saßen sie noch immer dort oben, die Frauen bekränzt, und blickten über das weite Land mit den sanften Hügeln und dem ausgedehnten Himmel darüber. In der Ferne erst schien er die Erde zu berühren, aber vielleicht kippt er dort auch hinunter in einen Abgrund, dachte Lene. Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus, sagte Max unvermittelt, Lene erinnert sich noch an jedes Wort, und auch jetzt läuft ihr dabei wieder eine Gänsehaut über den Rücken.

Die Musiker legen die Instrumente weg und nehmen einen großen Schluck aus ihren Biergläsern. Die Bühne leert sich, nur Hermine und Karl stehen noch dort, sie liegen sich in den Armen, Hermine drückt sich noch enger an Karl, mitten auf dem Tanzboden.

Das ist doch nicht normal, hört Lene hinter sich eine Frau sagen, gleich schlupft sie noch in ihn hinein, sagt eine andere, die Hermine weiß nie, wann es genug ist, sagt wieder eine andere. Ich denke es immer wieder, die Rosa hat ihre Töchter nicht im Griff. Da fehlt eben der Mann im Haus, der seine Weiber in die Schranken weist.

Lene fährt herum, was geht’s euch an, sagt sie, die Hermine macht es, wie es ihr passt. Und weißt du, Laura, auf einen Tyrannen, wie du einen daheim hast, können wir gern verzichten.

Sei du lieber still, sagt Laura, du kannst allmählich froh sein, wenn du überhaupt noch einen kriegst.

Immer das gleiche Geschwätz, denkt Lene, schaut wieder zur Tanzfläche und sieht gerade noch, wie Karl Hermine auf seinen Armen wegträgt.

Wo soll so was nur hinführen, sagt Laura.

Dann versteht Lene nichts mehr, eine Weile lang hört sie nur noch das Stimmengewirr des Festplatzes.

Wir wollen unsern Kaiser Wilhelm wiederhaben, grölt dann auf einmal ein Mann laut hinter ihr, kannst dich beruhigen, Alter, ruft ein anderer lallend, es kommt bald wieder einer, der für Ordnung sorgt.

Auf der Bühne stellt sich der Männerchor auf. Einer nach dem anderen steigt die Treppe hinauf, auch Karl reiht sich ein, findet seinen Platz. Die Männer stimmen an und singen das Lied von der schönen Jugend.

Ob mir da einer gefallen könnte, denkt Lene. Aber es ist keiner dabei. Noch nie ist einer dabei gewesen bis jetzt.

Die Hyazinthen auf dem Sims hinter dem Spülstein sind voll aufgeblüht, sie duften und leuchten in den trüben Tag hinein, eine violette und zwei weiße. Hinter dem Fenster eine Wand aus Grau und unaufhörlich rinnt der Regen über die Glasscheibe. Es ist schön, allein zu sein, denkt Lene.

Hol deine Schwester da runter, sagt die Mutter. Sie atmet heftig, den tropfenden Schirm stellt sie in den Spülstein, die Hyazinthen verschwinden darunter. Die Mutter zieht die Stiefel aus und sieht Lene an mit diesem Blick schierer Verzweiflung. Ich komm ihr nicht bei, sagt sie, nimmt das Handtuch von der Herdstange und reibt sich das Gesicht ab. Auf dem Hügel steht sie, sagt die Mutter, ganz oben, breitbeinig und im Unterrock! Bei diesem Wetter! Sie setzt sich, Lene stellt ihr eine Tasse Malzkaffee hin. Die Arme hat sie ausgebreitet, sagt die Mutter, womöglich meint sie, sie kann fliegen.

Draußen muss Lene die Kapuze mit beiden Händen festhalten, sie läuft über den Hof, am Stall vorbei, durch den Hühnergarten und tatsächlich, oben auf dem Hügel steht die Schwester. Breitbeinig und im Unterrock und mit ausgebreiteten Armen, wie die Mutter gesagt hat. Es donnert und gleich darauf fährt ein Blitz über Hermine hinweg. Hermine, ruft Lene, und rennt den Hügel hinauf. Hermine lässt den Kopf in den Nacken fallen und beugt sich nach hinten. Gleich wird sie fallen, denkt Lene, Hermine!, ruft sie durch den peitschenden Regen, komm runter!

Endlich steht sie neben der Schwester. Der seidige Stoff des Unterrocks klebt an ihrem Leib, ihren Beinen, du hast ja nicht mal Schuhe an, sagt Lene, wieder donnert es und fast gleichzeitig blitzt es, komm jetzt, sagt sie. Du bist ja nicht ganz bei Trost.

Hermine lässt sich am Handgelenk führen, mit geschlossenen Augen tappt sie neben Lene her, das Gesicht hält sie noch immer in den Regen.

Komm, sagt sie auf einmal, schüttelt ihren Arm frei und packt dann Lenes Hand, wir rennen.

Lene lässt sich mitziehen, immer noch hält sie mit der freien Hand die Kapuze fest, nicht so schnell, ruft sie und kichert, wir rutschen, ruft sie, wir fallen, beide.

Ach was, ruft Hermine und stolpert, Lene rutscht und fällt mit Hermine ins nasse Gras. Hermine lacht und hält sich fest an ihr und Lene lacht auch, sie versucht aufzustehen, aber die Schwester hängt an ihr wie ein nasser Sack, lass mich los, kreischt Lene, aber Hermine lässt nicht los, und Lene muss lachen und will es gar nicht und bringt nicht heraus, was sie sagen will, das wird doch nichts, will sie nämlich sagen, zusammen schon gar nicht!

Auf einmal gibt Hermine nach, wird still.

Jetzt hab ich mir in die Hose gemacht, sagt sie.

Lene setzt sich auf und schließt die Augen.

Ich auch, sagt sie.

Der Regen rinnt aus ihrem Haar, über das Gesicht, in den Nacken, er fällt auf das Gesicht der Schwester, auf ihren Leib, ihre nackten Beine. Sie ist nass bis auf die Haut, denkt Lene. Sie ist vollkommen ungeschützt.

Wenn doch nur das Jahr schon vorbei wäre, sagt Hermine. Wart auf mich, hat er gesagt, dieses eine Jahr nur, und dann bleib ich bei dir. Für immer.

Wie romantisch, sagt Lene.

Einen Engel hat er mir geschenkt, sagt Hermine. Den hat er selber geschnitzt. Für Weihnachten, hat er gesagt, damit du weißt, dass ich an dich denke.

Mit einem Ruck richtet sie sich auf, aber wenn er nicht zurückkommt, sagt sie, wenn er auf seiner Wanderschaft eine andere findet. Oder stirbt!

Aber woher denn, sagt Lene und streicht ihr das nasse Haar aus der Stirn, es geht doch nicht immer gleich um Leben und Tod.

Es geht immer darum, sagt Hermine.

Vielleicht, sagt Lene, wenn man zu viel Fantasie hat.

Wenn man sich aufschwingen könnte, denkt sie, davonfliegen wie ein Vogel, durch die Wolken hindurch nach oben, wo es nur noch blau ist und hell, und dann weit fort. Am liebsten, sagt sie, würde ich auch in die Welt ziehen wie der Karl.

Ich würde nie von hier fortwollen, sagt Hermine, nie!

Lene schaut durch den Regen hinunter auf den Stall und das Haus und dann in den grauen undurchdringlichen Himmel hinein.

Sie steht auf, lächelt Lene an, kurz nur, aber Lene sieht die Begeisterung in ihren Augen, den Glanz. Dann geht Hermine auf Karl zu mit dem prächtigen Strauß im Arm.

Das sind doch keine Hochzeitsblumen, hat die Mutter vorhin gesagt. Erst recht nicht, wenn sie schon voll aufgeblüht sind. Die werden schon in der Kirche die Blätter verlieren, wirst sehen. Hermine hat vernünftig sein sollen, nur dieses eine Mal. Aber sie hat sich nicht abbringen lassen, hat die Pfingstrosen mit den satten dunkelroten Blüten abgeschnitten, einen ganzen Arm voll, pass doch auf das Kleid auf, hat die Mutter gesagt, Minchen!, man geht doch nicht mit dem Hochzeitskleid in den Garten!

Und jetzt steht sie neben Karl vor dem Altar, und tatsächlich klebt etwas Erde am Absatz ihrer Schuhe.

Mit mir im Rücken steht sie da, denkt Lene, mit der Mutter und der ganzen Gesellschaft, rechts die Männer, links die Frauen. Nur die Familienbank hinter Karl ist leer. Ganz und gar verloren erscheint er ihr auf einmal, wie er da vor dem Altar steht als Bräutigam, allein neben Hermine, wie ein einzelner Baum auf offener Flur, aber vielleicht, denkt Lene, sitzen ja auch die Toten in den Bänken und wir sehen sie nur nicht.

Ja, ich will, sagt Hermine laut und legt den freien Arm über Karls Schulter, bis in den Tod und darüber hinaus, sagt sie noch lauter, dann küsst sie ihn auf die Wange.

Lene kann nichts tun gegen die Tränen. Immer muss das Kind übertreiben, flüstert neben ihr die Mutter, und, ja, ich will, sagt nun auch Karl, bis in den Tod und darüber hinaus.

Die Mutter schnäuzt sich. Sieh zu, dass du auch endlich einen findest, flüstert sie, damit ich in Ruhe sterben kann.

Karl dreht das Gesicht zu Hermine hin, legt den Kopf ein wenig schräg und lässt sich auf den Mund küssen.

Nicht mal Ringe haben die Kinder, flüstert die Mutter. Bloß wegen ihrer Sturheit.

Vor ein paar Wochen war Karl in der Küche gestanden, wieder blühten die Hyazinthen, eine violette, eine weiße und anstelle der zweiten weißen zum ersten Mal eine rosafarbene. Er hatte Hermine den Ring hingehalten. Lene waren die Tränen in die Augen gestiegen.

Ich will keinen Ring, hatte Hermine gesagt.

Einige Augenblicke war es sehr still gewesen. Dann hatte Karl gelacht und den Ring wieder eingesteckt. Recht hast du, mein Mädel, hatte er gesagt.

Und dann war für Lene kein Platz mehr in der Küche gewesen.

Vor dem Haus war die Mutter auf der Bank gesessen. Ein wunderbarer Frühling, hatte sie gesagt, kaum ein trüber Tag, und die Sonne wärmt schon.

Lene hatte sich neben sie gesetzt. Wenn der Sommer nur auch so schön wird, hatte Lene gesagt.

Das weiß man nie, hatte die Mutter gesagt. Wenn der Wind dreht, kann es kalt werden. Auch mitten im Sommer.

Ich bete an die Macht der Liebe, singt jetzt die Gemeinde und Lene schließt die Augen. Sie steht selbst vor dem Traualtar. Blumen im Haar, einen goldenen Ring am Finger. Ich geb mich hin dem freien Triebe, singt die Gemeinde und da hebt Lene vom Boden ab. Sie schwebt. Sie will nach der Hand ihres Bräutigams fassen, aber sie fasst ins Leere. Das Lied ist zu Ende. Laut, mächtig setzt die Orgel ein, steh auf, sagt die Mutter ungeduldig. Lenes Herz lässt einen Schlag aus.

Pfarrer Habicht geht durch den Mittelgang auf die Ausgangstür zu, Hermine und Karl folgen ihm. Die Pfingstrosen haben noch kein einziges Blatt verloren. Lene wirft noch einen Blick in die leere Bankreihe auf der anderen Seite. Dann geht sie hinter dem Brautpaar her, in den Bänken stehen jetzt alle, Lene geht mit wildem Herzklopfen dazwischen hindurch wie durch einen dunklen, dröhnenden Tunnel.

Die Kirchentür wird geöffnet, draußen scheint die Sonne. Lene atmet auf.

Ein Windstoß bläst in die Soutane des Pfarrers, sie bläht sich auf, der Wind fegt weiße Blütenblätter vom Pflaster, trägt sie in die Höhe, wirbelt sie durch die Luft und auf das schwarze Gewand des Pfarrers, dort verweilen sie einen Augenblick, um gleich darauf abzufallen, während andere sich in Hermines Haar festsetzen. Mein Mädel vom Lande, singt der Männerchor hinein in die breiten Töne der Orgel, und unter die weißen Blütenblätter mischen sich größere, dunkelrote.

Erna kann sich beherrschen. Sie kann warten.

Hilda kommt näher, die Bäckerin hinter der Theke verschränkt die Arme über der Brust.

Das ist doch nicht normal, sagt Erna. Man kann fast von Glück reden, dass die Mutter vom Karl das nicht mehr miterleben muss.

Hilda reißt die Augen weit auf und streckt den Kopf in Ernas Richtung, die Bäckerin beugt sich über die Theke.

Tag und Nacht Turbulenzen, sagt Erna flüsternd. Die können gar nicht genug kriegen!

Deswegen haben die beim Frühstück auch so einen guten Appetit, sagt die Bäckerin.

Hilda lacht schrill auf und schüttelt sich, das sind eben zwei ganz Heißblütige, sagt sie.

Ein bisschen Anstand würde trotzdem nicht schaden, sagt Erna.

Ach so, sagt Hilda, deswegen kommt bei euch nichts nach!

Erna spürt, wie ihr die Hitze in die Wangen steigt, mein Heinrich, sagt sie, ist eben rücksichtsvoll.

Jetzt hört euch das an, sagt Hilda, der ruht sich doch den ganzen Tag aus hinter seinem Sparkassenschalter, da müsst er abends doch noch bei Kräften sein!

Erna beißt sich auf die Lippen.

Immerhin kommt er nicht mit dreckigen Kleidern heim, sagt die Bäckerin, das ist auch was wert.

Genau, sagt Erna, und ein Haus für uns allein könnten wir uns schon gar nicht leisten von einem Arbeiterlohn.

Nein, sagt Hilda, da müsstet ihr eben mit den Eltern unter einem Dach auskommen, wie andere auch. Und würdet vielleicht auch ein bisschen Nachwuchs zustande bringen.

Ein Angestelltenhaushalt ist kein Kaninchenstall, sagt Erna. Wieder steigt ihr die Hitze in den Kopf. Das hat sie nicht sagen wollen. Das ist ihr herausgerutscht.

Einer, der den ganzen Tag in Zahlen denkt und am Geld herumfingert, pfui Teufel, sagt Hilda prompt. Was soll mit so einem schon los sein! Ein richtiger Mann ist mir allemal lieber als so ein muffiger Schreibstubenheini. Aber du hast ja was Besseres haben wollen.

Recht hast du gehabt, Erna, sagt die Bäckerin, und weißt du, heißblütig oder nicht, das legt sich sowieso bald.

Erna wischt sich mit dem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht, dass die sich nicht schämt, das lüsterne Weibsstück, denkt sie und am liebsten würde sie auch dieses beklemmende Gefühl wegwischen, aber das sitzt zu tief, es hat sich in ihren Leib gekrallt, ins Herz, in den Magen und in den Schoß. Sie trocknet sich den Nacken, diese Temperaturen schon wieder, sagt sie und fährt mit dem Tuch noch schnell in die Achselhöhlen.

Und während die Bäckerin für Hilda eine große Tüte mit Brötchen füllt, sieht Erna Karl vor sich, groß, kräftig, breitschultrig, einmal von so einem umarmt werden, denkt sie, ein einziges Mal nur. Und ob sich das legte oder eben nicht, könnte ihr dann egal sein.

Und du, Erna, sagt die Bäckerin, ein Graubrot?