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Der „Islamische Staat“

Historische und politische Dimension

F.A.Z.-eBook 37

Frankfurter Allgemeine Archiv

Herausgeber: Wolfgang Günter Lerch
Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher

Key Account Management Archivpublikationen:
Christine Pfeiffer-Piechotta, c.pfeiffer-piechotta@faz.de
Projektleitung: Franz-Josef Gasterich
eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg

Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: Content@faz.de
© 2015 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Titelfoto: Propagandafoto des „Islamischen Staats in Irak und Syrien“ verbreitet über soziale Netzwerke

ISBN: 978-3-89843-382-2

Vorwort

Ein neues Kalifat

Von Wolfgang Günter Lerch

Wie der Ausbruch der Arabellion, so hat auch die Etablierung eines neuen „Kalifats“ oder des „Islamischen Staats“ (IS) die Weltöffentlichkeit überrascht, obwohl die Pläne jener Dschihadisten, die dieses Projekt betreiben, schon lange bekannt waren. Etwa ein Drittel Syriens und ein beträchtlicher Teil des Irak gehören schon zum Territorium dieses „Staates“, der sich anschickt, festgefügte Strukturen zu schaffen, um sich endgültig zu etablieren und von einem arrondierten Territorium aus die Nachbarn, ja sogar Europa zu bedrohen. Der selbsternannte „Kalif“ Abu Bakr al Bagdadi träumt von der Eroberung Konstantinopels / Istanbuls, von wo 1924 der letzte Kalif des Islams, Abdülmedschid II., von Mustafa Kemal Atatürk ins Exil geschickt worden war. Mossul und Raqqa sind die Hauptstädte dieses „Staates“, der mittlerweile über reichliche Öleinnahmen und ein enormes Waffenarsenal verfügt. Auch an Geld mangelt es nicht. Die ganze Bewegung stützt sich zu großen Teilen auf Reste des im Jahre 2003/04 durch die Amerikaner gestürzten, hauptsächlich von Sunniten getragenen Regimes von Saddam Hussein; und sie ist auch auf das engste verbunden mit dem Aufstand, dem „Dschihad“ der syrischen Sunniten gegen den Alawiten Baschar al Assad, wobei Rivalitäten mit anderen dschihadistischen Bewegungen, wie man weiß, nicht ausgeschlossen sind. Es sieht so aus, als habe der IS sogar al Qaida in den Hintergrund gedrängt. Hinzu kommen in dieser syrisch-irakischen Gemengelage Kämpfer jenes transnationalen Dschihadismus und Terrorismus, der mittlerweile für große Teile der islamischen Welt charakteristisch ist, das heißt Mudschahidin aus dem Maghrib, aus Ägypten, dem Jemen, Saudi-Arabien, dem Libanon, Jordanien, Syrien, dem Irak und – nicht ungewöhnlich – aus Tschetschenien. Die tschetschenischen Mudschahidin gelten als besonders motiviert. Neu ist die Anziehungskraft, die der IS auf salafistisch gesinnte Jugendliche in Europa, gerade auch in Deutschland ausübt – ein Phänomen, das Politikern wie Erziehern Rätsel aufgibt.

Die brutalen Grausamkeiten seiner Kämpfer, die Geiselnahmen und Enthauptungen wirklicher und vermeintlicher Feinde, die mehr einem Blutrausch gleichenden „Gefechte“ und die ebenso exzessive wie häufig willkürliche Anwendung der Scharia-Strafen haben das Ansehen der islamischen Weltreligion außerhalb des „dar al Islam“ weiter sinken lassen. Angesichts der archaischen Interpretation von Koran und Sunna, gegen welche sich unlängst weit über hundert islamische Gelehrte mit kritischen Worten gewandt haben, wachsen vor allem Ängste bei den Europäern; man fürchtet, die Rückkehrer aus der Region könnten in ihren europäischen Heimatländern den in Syrien und im Irak praktizierten Terror fortsetzen und die archaischen Wertvorstellungen dort weiter verbreiten. Auch in Deutschland sind vielerorts islamophobe Tendenzen bereits im Anwachsen. Die Kämpfe um die von Kurden bewohnte Grenzstadt Kobane haben zudem vielen bewusst gemacht, dass sich der IS nicht in fernen Welten etabliert hat, sondern an der Südost-Flanke der Nato; die Türkei ist von dieser Krise ebenso betroffen wie Iran und die übrigen Nachbarn. Unter der Führung des amerikanischen Präsidenten Barack Obama ist eine politische und militärische Allianz gegen den IS zustande gekommen, die disparateste Regime vereint; etwa Saudi-Arabien und Iran, das in den Vereinigten Staaten von Amerika, wenigsten in der Theorie, noch immer seinen Erzfeind sehen will. Moralisch krankt diese Allianz daran, dass alle Staaten zunächst ihr eigenes Interesse im Auge haben (etwa die Türkei, die sich zwiespältig verhält), oder selbst massive Menschenrechtsverletzungen begehen, wie Iran oder Saudi-Arabien, um nur sie zu nennen.

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IS-Terroristen ziehen in schwarzer Montur in eine nordsyrische Stadt ein. Propagandafoto des „Islamischen Staats“.

Mit einem raschen Zusammenbruch des IS ist kaum zu rechnen. Dazu bedürfte es des massiven Einsatzes von „boots on the ground“ – eine Vorstellung, die nach dem Afghanistan-Desaster alles andere als populär ist. Und selbst ein solcher Einsatz böte keine Garantie für den Erfolg. So ist die Ratlosigkeit angesichts dieser Entwicklung verständlich. Und der Gedanke, jene künstlich nach dem Ersten Weltkrieg durch die Mandats- und Kolonialmächte geschaffenen Grenzen aufzusprengen und die dem klassischen Islam fremden Nationalstaaten aufzulösen, genießt bei vielen fundamentalistisch gesinnten Muslimen eine gewisse Sympathie.

Die Beiträge in diesem Buch aus der F.A.Z. und der F.A.S. versuchen, die aktuelle Lage in der Region zwischen der Türkei, dem Nordirak und Syrien aufzuzeigen und ihre tieferen historischen wie religionsgeschichtlichen Hintergründe auf differenzierte Weise auszuloten.

Wolfgang Günter Lerch, Nordafrika- und Nahost-Redakteur im Politik-Ressort der F.A.Z. von 1978 bis 2012; jetzt freier Mitarbeiter.

Das Islamische Schisma: Sunniten, Schiiten, Alawiten und andere Strömungen

Lesarten des Korans

Der Koran ist die Mitte des islamischen Glaubens. Im Unterschied zu der Bibel enthält er nicht nur das Wort Gottes, er ist es. Die Bedeutung einzelner arabischer Worte und damit der Sinn des Textes sind jedoch nicht immer eindeutig.

Von Wolfgang Günter Lerch

Es ist ein Unterschied, ob Märtyrern des Dschihad weiße Weintrauben oder Paradiesesjungfrauen versprochen sind. Die historisch-kritische Koranforschung steckt noch in den Kinderschuhen.

Was ist der Koran? Ist dieses den Muslimen heilige Buch, so wie es sich heute darstellt, vom Himmel gefallen oder ein geschaffenes Werk, das freilich von Gott und seinem Walten in der Welt kündet? Der frühe Islam hat darüber sehr wohl gestritten, bis sich die orthodoxe Auffassung verfestigte, er sei das »ewige und ungeschaffene« Wort Gottes. Die gegenwärtige Konfrontation mit dem Islam hat auch den westlichen Koranforschern, deren wissenschaftliche Tätigkeit bis dato im verborgenen blühte, zu unverhoffter Resonanz verholfen. Und wie so vieles, begann auch – zumindest in neuerer Zeit in Deutschland – eine gründlichere Beschäftigung mit diesem Thema im 19. Jahrhundert mit dem Welt-Weisen aus Frankfurt und Weimar.

August Wilhelm Schlegel war es, der Goethe einmal einen »zum Islam konvertierten alten Heiden« nannte. Er spielte damit, ein wenig spöttelnd, auf dessen auffallend intensives Interesse am Orient an, das sich unter anderem in dem Versuch zeigte, in die arabische Schrift und die Anfangsgründe der arabischen Grammatik einzudringen. Allerdings war Goethe zu sehr Dichter, als dass ihn diese doch recht trockene Materie auf die Dauer hätte befriedigen können. Ihn fesselte vor allem die orientalische, die persische Dichtung. Über den Koran schrieb er in seinen »Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan«, er sei ein Buch, »das uns . . . immer von neuem anwidert, dann aber anzieht, in Erstaunen setzt und am Ende Verehrung abnötigt«.

Einen über jeden Zweifel erhabenen Korantext hatte er da nicht vor sich liegen. Dieser fehlt bis heute. Zwar haben sich die Muslime auf eine Fassung geeinigt, die unter dem dritten Kalifen Uthman (Osman), der von 644 bis 656 nach Christus über das expandierende muslimische Reich herrschte, zusammengestellt worden sein soll und der sie kanonische Bedeutung zumessen. Doch diese Authentizität ist immer wieder bezweifelt worden, am gründlichsten von einigen westlichen Koranforschern.

Doch gehören auch Muslime dazu. Noch heute haben etwa die in der Türkei lebenden, schiitisch-heterodoxen Aleviten vieles auszusetzen an dem von ihnen so genannten »Uthman-Koran«. Als Minderheit, die von den Sunniten oft verfolgt wurde, werfen sie den alten Redaktoren der heiligen Schrift Verbiegungen, Auslassungen und Verfälschungen vor mit dem Ziel, die Herrschaft nichtalidischer Kreise dauerhaft abzusichern. Mohammed der Prophet war 632 n. Chr. gestorben, ohne einen Nachfolger zu ernennen. Der Streit zwischen den Sunniten und den Anhängern Alis, eben diesen Aliden oder Schiiten (schiat Ali – Partei des Ali) um die legitime Nachfolge, das Kalifat, war zu jener Zeit bereits voll entbrannt. Machtlegitimation habe schon bei der damaligen Redaktion der verstreuten Offenbarungen zu einem einheitlichen Koran Pate gestanden, ein Vorgang, der aus der Geschichte anderer Hochreligionen auch bekannt ist.

In klarer arabischer Sprache.

Die Sache ist nicht ohne Pikanterie, denn für den orthodoxen sunnitischen wie schiitischen Muslim gilt gerade dieser heute vorliegende Koran als authentisches Gotteswort, als Offenbarung (wahy), die dem Propheten Mohammed über den Erzengel Gabriel »in klarer arabischer Sprache« übermittelt worden ist. Goethe musste bei seinen orientalischen Studien natürlich mit europäischen Übersetzungen des Korans arbeiten, was die Sache zusätzlich erschwerte.

Die Kette von Übertragungen des heiligen Buches der Muslime aus dem Arabischen reicht weit zurück, bis in das Hochmittelalter: Angeregt von Petrus Venerabilis, Abt von Cluny, schuf Robert von Ketton (Robertus Kettenensis) im Jahr 1143 die erste – durchaus lückenhafte und häufig auch paraphrasierende – Übertragung des Korans ins Lateinische. Die vorläufig letzte wissenschaftlich ambitionierte Übertragung ins Deutsche stammt von dem Tübinger Orientalisten und Koranforscher Rudi Paret (1901-1983), der wohl in der zweiten Hälfte des zurückliegenden Jahrhunderts die größte Autorität auf diesem Feld gewesen ist, zusammen mit dem Franzosen Régis Blachère (1900-1973) und dem Engländer Richard Bell (1876-1952).

Parets zweibändige Koranübersetzung mit Konkordanz erschien in den Jahren 1963/66. Sie wurde bald zu einem Standardwerk, das in der deutschsprachigen Literatur am häufigsten zitiert wird. Parets Übertragung gibt an vielen Stellen alternative Lesungen an, insgesamt dürfte ein Viertel des Korans, der mehr als sechstausend Verse umfasst und in 114 Suren oder Abschnitte gegliedert ist, für alternative Lesungen und Übersetzungen offen sein.

Dass es reichlich unklare Stellen gibt, fiel schon al Tabari, dem größten muslimischen Korankommentator, im 9./10. Jahrhundert auf. Die Notwendigkeit, klare Lesungen des Korans zu erstellen, trug nicht wenig zur Entwicklung der philologischen Wissenschaften im klassischen Islam bei: zur Lexikographie und Grammatik zum Beispiel. Paret folgt in seiner Auffassung vom Koran, ungeachtet der unklaren Stellen, die er deutlich benennt, doch der muslimischen Tradition. Dasselbe gilt für die meisten der heutigen Orientalisten, etwa den gegenwärtig bekanntesten deutschen Koranforscher Hartmut Bobzin aus Erlangen. Er nennt den Koran ein »missverstandenes Buch«, das für den Leser »nicht leicht zu erschließen« sei. So ist es.

Die gläubige Tradition geht davon aus, dass das vorliegende Korpus der Suren im großen und ganzen nicht mehr in Frage zu stellen sei, sondern nur (noch) auszulegen. Der Koran, weniger der Prophet, bildet seit der Frühzeit eben die Mitte des islamischen Glaubens. Manche Religionsphänomenologen haben deshalb für die Religion des Islams auch schon die Bezeichnung »Koranismus« vorgeschlagen.

Obwohl die heilige Schrift in zahlreiche westliche und auch orientalische Sprachen wie das Türkische übertragen wurde, gilt sie eigentlich als unübersetzbar; man muss sich, wenn möglich, an den arabischen Urtext halten. Doch was ist der Urtext? Und wie kam der jetzt vorliegende Text zustande?

Unter dem dritten Kalifen, so lautet die gängige Auffassung, wurden die Verse, die auf Knochen, Blättern, Steinen und anderen haltbaren Materialien niedergeschrieben worden waren, gesammelt und zusammengefasst. Hinzu kam die mündliche Überlieferung durch die »sahaba«, die Genossen des Propheten. Die mündlichen Traditionen spielen in den religiösen Überlieferungen des Orients – und das gilt bis heute – tatsächlich eine nicht zu unterschätzende Rolle.

In den vergangenen Jahren hat ein in Deutschland lebender, unter dem Pseudonym Christoph Luxenberg publizierender Semitist nahöstlicher Herkunft mit seinem Buch »Die syro-aramäische Lesart des Korans« für Aufsehen gesorgt und eine sogenannte »Luxenberg-Kontroverse« hervorgerufen. Luxenberg versuchte, unklare Stellen des Korans nicht über das Arabische, sondern das Aramäische neu zu erschließen. Die Gebildeten in Mekka und Medina, den Wirkungsstätten Mohammeds, hätten zu dessen Lebzeiten viel mehr das Aramäische oder eine »Mischsprache« verwendet als das Hocharabische, wie es der Koran biete. Diese Sprache sei erst sehr viel später ausgereift. Zudem stützte Luxenberg sich darauf, dass die Koranverse zunächst in äußerst defektiver Schreibung vorgelegen haben.

Tatsächlich geben die Schriftsysteme der semitischen Sprachen im allgemeinen nur die Konsonanten wieder, nicht jedoch die Vokale, was die korrekte Lesung bisweilen erschwert. Außerdem entstanden erst lange nach dem Tod des Propheten jene Hilfszeichen, die die Vokalisierung der Wörter eindeutig(er) machen und die Identifizierung der Konsonanten erleichtern. In frühislamischer Zeit boten dagegen einige der defektiven Schriftzeichen bis zu sechs Möglichkeiten der Buchstaben-Identifikation.

Über das Aramäische versuchte Luxenberg, strittige Verse neu zu lesen, wobei – um nur das Spektakulärste zu nennen – bei ihm jene Paradiesesjungfrauen (»Huris«) eliminiert wurden, die der Koran nach traditioneller Lesart den gläubigen Männern im Paradies verspricht. Sie wurden in der aramäischen Lesung durch »weiße Weintrauben« ersetzt. Je mehr das Aramäische in Arabien verlorengegangen sei, desto weniger habe man mit bestimmten Stellen des Korans sprachlich und inhaltlich anfangen können und sie im sich ausdifferenzierenden Hocharabischen »verlesen« – bis hin zu gelegentlicher Unverständlichkeit, die den späteren muslimischen Kommentatoren Rätsel aufgegeben habe.

Das Echo auf Luxenbergs Thesen war geteilt. In der Fachwelt gab es wenig Zuspruch, aber viel Ablehnung. Dass der Koran zahlreiche aramäische Lehnwörter enthält, war schon lange bekannt. Sigmund Fraenkel (1855-1909) und Abraham Geiger (1810-1874) hatten bereits über fremde sprachliche Einflüsse, aramäische wie hebräische, gearbeitet. Immerhin fand vom 21. bis zum 25. Februar 2004 in Berlin unter Leitung der deutschen Islamkundlerin Angelika Neuwirth ein Symposion statt, das die Luxenberg-These zum Anlass nahm, den Problemkreis wieder einmal anzusprechen. Dabei wurde nun hinwiederum Luxenbergs ganz vorbildloses »Deutungsmonopol« in Frage gestellt und bekräftigt, dass man viel zu wenig über das Umfeld der Koranentstehung wisse.

Dennoch könnte die Koranforschung in Deutschland nach Jahren eines gewissen Stillstandes neue Anstöße erhalten und weniger bizarre Wege einschlagen als zuletzt die angelsächsische Schule des »Revisionismus« von John Wansbrough, Patricia Crone und Michael Cook. Ihre These von der Entstehung des Korans im Irak frühestens zwei Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten steht möglicherweise kurz vor ihrem Scheitern. Der Streit um Luxenberg legt demgegenüber wieder den Gedanken nahe, dass die Beziehungen Mohammeds wie des Korans zum Christentum sowie die christlichen Einflüsse auf die Entstehung des Islams intensiver waren als bekannt und anerkannt.

Die Muslime selbst sehen in Jesus den wichtigsten Propheten vor dem Stifter ihres eigenen Glaubens und im Christentum (wie Judentum) die Vorläuferreligionen. Der Koran enthält zahlreiche Überlieferungen der Bibel, berichtet von biblischen Gestalten, wenn auch in manchmal stark abweichenden Zusammenhängen. Und es zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass Teile des Korans schon vor dem Propheten vorhanden waren, dass Mohammed bei seiner Religionsstiftung sozusagen mit ihnen theologisch »arbeitete«. Später wurden sie in den übrigen, allein auf den Propheten zurückgehenden Koran eingefügt, bei den Redaktionen jedoch bisweilen so verlesen und umgearbeitet, dass ihre frühere Herkunft in Vergessenheit geriet.

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Exemplare des Korans werden in den Fußgängerzonen etlicher deutscher Städte verteilt. Salafistische Prediger mit geringen theologischen Kenntnissen verbreiten bei diesen Aktionen ihr schlichtes Weltbild, das auf einer vermeintlich wörtlichen Auslegung von Mohammeds Schriften beruht. F.A.Z.-Foto / Frank Röth.

All das hätte man freilich früher haben können. So sieht der Arabist und liberale protestantische Theologe Günter Lüling, ein Schüler Albert Schweitzers (1875-1965) und Martin Werners (1887-1964), Islam und Christentum in der Gestalt des Propheten Mohammed wie im Corpus des Korans selbst auf das engste miteinander verbunden. Wie Luxenberg stellt Lüling auf die extrem defektive Schreibung des frühen Arabischen ab, die noch etwa hundert Jahre lang nach des Propheten Tod vorgeherrscht hat und teilweise auch aus religiös-politischen Gründen im frühen Islam absichtlich umgeprägt wurde. Demnach enthält der Koran Teile, die sogar älter sein mögen als die Lebensspanne des Propheten, insgesamt bis zu einem Drittel christliche Strophenlieder und Hymnen, deren eigentümlicher Charakter aus der syrischen Liturgie später »verlesen« wurde.

Im Jahr 2003 erschien Lülings Hauptwerk, bezeichnenderweise in einem indischen Verlag und in englischer Sprache: »A Challenge to Islam for Reformation«. Es ist die erweiterte Fassung von Lülings Erlanger Dissertation aus dem Jahre 1970: »Über den Urkoran. Ansätze zur Rekonstruktion der vorislamisch-christlichen Strophenlieder im Koran«. Diese Arbeit erhielt zunächst das Prädikat eines »außergewöhnlichen Werkes« zuerkannt, verfiel dann jedoch wissenschaftlicher Ächtung. Lülings Thesen waren wohl dazu angetan, die Überlieferungen der Muslime allzu radikal in Frage zu stellen. Überdies widersprachen sie eklatant der Meinung einiger Autoritäten der Koranforschung. Für Lüling bedeutete das den Ruin seiner Karriere. Er lebte lange von der Sozialhilfe.

Ist das Klima heute günstiger? Zwingt nicht der »clash of civilisations« erst recht zur Vorsicht?

Lüling sieht sich ein wenig in der Funktion der »Hanifen«, jener Wahrheitssucher und »Einsiedler« Arabiens, die vor und zur Zeit des Propheten Mohammed gewissermaßen als seine Vorläufer auftraten. Er will nicht nur philologisch größere Klarheit in den Koran bringen, sondern auch religiös und theologisch größere Nähe zwischen Christen und Muslimen (wie auch Juden) herstellen. Mit Hilfe der Philologie, der Poetologie und der Religionsphänomenologie zeigt Lüling, dass große Teile der ältesten Schichten des Korans, etwa auch die berühmte Sure 96, mit der nach landläufiger Auffassung der Muslime die Offenbarungen einsetzten, ursprünglich ein altchristliches Lektionar enthalten, das offenkundig im altchristlichen Gottesdienst im Wechselgesang zwischen Gemeinde und Priester angestimmt worden ist.

Schon ältere Arabisten und protestantische Theologen der liberalen Schule sowie rabbinisch ausgebildete Orientalisten wie Karl Vollers (1857-1909) und Julius Wellhausen (1844-1918) hatten darauf hingewiesen, dass der Koran offenkundig auch strophische Dichtung enthält. 1926 nahm der bekannte ägyptische Gelehrte und Schriftsteller Taha Hussain, der unter anderem in Paris mit kritischen Methoden der Literaturbetrachtung bekannt geworden war, diese These auf und sprach von vorislamischen metrischen Texten im Koran. Doch er musste nach Protesten der Frommen und der theologischen Autoritäten widerrufen.

Es war auch erörtert worden, ob der Koran nicht ursprünglich in arabischer Umgangssprache verfasst worden sei, also nicht in dem Hocharabisch, das mit der Einführung von Kasusendungen die ursprüngliche Prosodie der Strophen beseitigt, die Texte damit in Prosa respektive Reimprosa »umfrisiert« habe. Lüling will mit seinem Ansatz unter anderem diesen älteren, ebenfalls theologisch gebildeten Gelehrten der Orientkunde Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Lülings Buch ist eine beständige Auseinandersetzung mit den Lesungen Parets. Dieser gibt den berühmten Anfang von Sure 96 wie folgt wieder: »Trage vor, im Namen deines Herrn, der erschaffen hat / den Menschen aus einem Embryo erschaffen hat / Trag vor! Dein Herr ist edelmütig wie niemand auf der Welt / (er), der den Gebrauch des Schreibrohrs gelehrt hat / den Menschen gelehrt hat, was er (zuvor) nicht wusste . . .« In Lülings Version wird aus dem »Trag vor« (oder »Lies!«, das Geoffenbarte) ein hymnisches: »Rufe an, den Namen deines Herrn / der erschaffen hat den Menschen von Lehm / Rufe an, denn dein Herr ist gnädig / der mit der Schrift lehrte / lehrte den Menschen, was er nicht wusste . . . » Lüling nimmt etliche der bedeutendsten Suren in den Blick und kommt zu verblüffenden Lesungen, die nicht allein durch sprachlich-grammatikalische Rekonstruktionen, sondern auch durch den Verweis auf biblische Topoi oder auf die frühchristliche religiöse Literatur insgesamt angereichert werden. Gelegentlich gelingt es ihm sogar, die nur noch indirekt vorhandenen »verräterischen« Spuren früherer Textfassungen zu erschließen, die bei der späteren Redaktion verlorengingen.

Koranforschung ist freilich nicht möglich, ohne das Umfeld zu beschreiben, in dem der Prophet Mohammed wirkte. Auch da hat Lüling Erstaunliches zu bieten. Bis heute wird der Muslim mit einer Version groß, die um den Begriff der »dschahilija«, des altarabischen Heidentums, kreist. Zu Zeiten des Propheten habe in Arabien, zumal in der Stadt Mekka, ein altarabischer Götter- und Götzenkult mit der Kaaba als zentralem Heiligtum geherrscht. Diesen habe der Koran als Polytheismus verurteilt und durch die koranische Botschaft des Monotheismus ersetzt. Nur vereinzelt habe es unter der arabischen Bevölkerung Sucher nach dem einen Gott gegeben. Jüdische Gemeinden, etwa in Medina und der Oase von Chaibar, sowie einige verstreute Christen hätten die religiöse Landschaft vervollständigt.

Ohne trinitarische Verfälschung.

Nach Lülings Auffassung (»Die Wiederentdeckung des Propheten Muhammad, Eine Kritik am ,christlichen‹ Abendland«, Erlangen 1981) war das Arabien zu jener Zeit, da der Islam gestiftet wurde, zum großen Teil schon christlich. Die Hauptgegner des Propheten, seine mekkanischen Landsleute vom Stamm der Banu Quraisch, erscheinen bei Lüling nicht als Bekenner heidnischer Vielgötterei und Götzenkulte, sondern als Christen, und zwar hellenistisch geprägte Christen, die dem Dogma von der Trinität anhingen. Genau dagegen habe sich der Prophet mit Entschiedenheit gewandt, um einen reinen Monotheismus »ohne trinitarische Verfälschung« zu etablieren als Rückkehr zu jenem unverfälschten Ein-Gott-Glauben der Semiten (»Abrahams und der Stämme«), der auch Judentum und Christentum ursprünglich zugrunde lag, von diesen aber im Laufe der Zeit verändert, angepasst und uminterpretiert wurde.

In der Tat ist die Lehre von der Dreifaltigkeit bis heute einer der strittigsten Punkte zwischen Christen und Muslimen, die in der Trinität eine »Beigesellung« anderer Wesen zum Wesen des einen und einzigen Gottes sehen, damit aber »Polytheismus«. Das habe der Prophet, so lautet Lülings Botschaft, in Mekka nicht abstrakt gegenüber altarabischen Polytheisten und Götzendienern vorgebracht, sondern gegenüber arabischen Christen eben in seiner Heimat, deren Glaube vom Hellenismus und den Lehrentscheidungen der frühchristlichen Konzilien bestimmt gewesen sei.

An anderer Stelle hat Lüling sprachliche, historische, architektonische, kunsthistorische Hinweise und Belege dafür gesammelt, dass die Kaaba zur Zeit Mohammeds eine Kirche gewesen sei (»Der christliche Kult an der vorislamischen Kaaba als Problem der Islamwissenschaft und christlichen Theologie«, Erlangen 1992) und dass der Prophet, als er nach acht Jahren des Exils in Medina im Jahre 630 n. Chr. im Triumph nach Mekka zurückgekehrt sei, die Kaaba keineswegs, wie die Überlieferung berichtet, von altarabischen Götzen oder Götterbildern gereinigt habe, sondern von christlichen Heiligenbildern. Die bis heute zu beobachtende Scheu der Muslime vor jeder bildlichen Darstellung ist ein Nachhall des prophetlichen Willens, zurück zum bildlosen einen Gott zu gelangen.

Spätere Generationen haben, so Lüling, diese religiösen und theologischen Ereignisse und Begleitumstände um den Propheten und den Koran vergessen. Außerdem haben sie die Erstellung eines einheitlichen Korans den sich wandelnden politischen Strukturen und Machtverhältnissen in einem entstehenden islamischen Großreich mit und in seiner arabischen Gelehrten und Literatursprache angepasst. Lüling will mit seinen Forschungen nicht Muslime und Christen aneinandergeraten lassen, sondern erreichen, dass beide Herkunft und Art ihrer Dogmen sowie deren Verfestigung überdenken und so die Nahost-Konfrontation geistig überwinden.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.06.2005

Eskalierender Bruderstreit

Die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten nehmen fast überall zu

Von Wolfgang Günter Lerch

Zwischen der sunnitischen Mehrheit und der schiitischen Minderheit hat es in der islamischen Geschichte nicht selten Streitereien und bewaffnete Auseinandersetzungen gegeben, bei denen die Minderheit meistens den Kürzeren zog. Nun ist zu beobachten, dass in jenem Maße, in dem die Schiiten nach langer Zeit der Marginalisierung und Unterdrückung eine Wiedergeburt erleben, die Spannungen zwischen beiden Konfessionen stetig zunehmen. Sogar in europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten von Amerika, unter islamischen Migranten, sind nun bisweilen offene Feindseligkeiten zwischen den Anhängern beider Richtungen zu bemerken.

Das Wiedererstarken des Schiismus ist verknüpft mit dem Wiedererstarken des Islams überhaupt nach dem Ende des Kolonialzeitalters und dem Scheitern der verschiedenen nahöstlichen Nationalismen, vor allem des sogenannten Arabismus, dessen Verheißungen nicht eintrafen. Der erste und wichtigste Schritt zur schiitischen Emanzipation in unserer Zeit war die für viele im Westen wie in der islamischen Welt selbst unerwartete »islamische Revolution« Ajatollah Chomeinis in Iran nach dem Sturz des Schahs im Jahre 1979. Zwar wollte Chomeini die Einheit aller Muslime und bezeichnete die Spannungen unter den 1,2 Milliarden Gläubigen als ein »Machwerk westlicher Verschwörungen«, doch sein machtpolitischer Erfolg ermutigte vor allem die Schiiten außerhalb Irans und förderte ihre Selbstbehauptung, dann ihren Aufstieg: etwa im Libanon, im östlichen Saudi-Arabien und am Persischen Golf. In Bahrein, wo die Schiiten die Mehrheit stellen, kam es zu Unruhen; Unruhe stifteten mehrfach auch iranische Pilger schon in den achtziger Jahren an den heiligen Stätten in Mekka und Medina in Saudi-Arabien, das Vormacht des sunnitischen Islams ist – noch dazu in seiner strengsten Observanz.

Ein zweites Ereignis hat zur gegenwärtigen Eskalation der Gegensätze mindestens ebenso viel beigetragen wie die iranische Revolution: der Sturz Saddam Husseins durch Amerikaner und Briten. Die Niederlage des irakischen Diktators, der aus der Umgebung der Stadt Takrit am Tigris nördlich von Bagdad kam und im Wesentlichen von den Sunniten seines Landes gestützt wurde, die er auch bevorzugte, während er die Schiiten benachteiligte oder verfolgte, hat die schiitische Bevölkerungsgruppe nun an die Macht gebracht, die unter den irakischen Arabern die Mehrheit stellt. Der langjährige Ministerpräsident al Maliki ist ein Schiit.

Mit dieser drastischen Veränderung haben die Schiiten ein weiteres Kernland des erweiterten Nahen Ostens in ihre Verfügbarkeit gebracht, noch dazu ein Gebiet, das für sie gewissermaßen »heiliger Boden« ist, denn im Irak wurde seinerzeit die schiitische Konfession geboren. Dort liegen die wichtigsten Heiligtümer der Schiiten, dort auch existiert mit der Hauzah von Nadschaf die wichtigste theologische Lehranstalt. Im Irak kommt hinzu, dass die in der Mitte seines Territoriums lebenden Sunniten keinen Zugang zu den Ölfördergebieten haben: Diese liegen im mehrheitlich schiitischen Süden des Landes und im Norden. Die Ölstadt Kirkuk ist nicht zuletzt deswegen zwischen Kurden und sunnitischen Arabern so heftig umstritten. Die Hinrichtung Saddam Husseins sowie seines Halbbruders Barzan und des Richters al Bandar wird die Feindseligkeit zwischen den irakischen Sunniten und den Schiiten weiter anwachsen lassen.

Die Machtergreifung der Schiiten im Irak hat darüber hinaus Auswirkungen bis weit in die Region hinein. Saudi-Arabien ist angesichts der alarmierenden Entwicklung in Bagdad, auch angesichts des iranischen Engagements dort besorgt. Der jordanische König Abdullah hat den Begriff eines »schiitischen Gürtels« aufgebracht, der von Iran über den Irak und Syrien bis in den Libanon und nach Palästina reiche (obzwar die Palästinenser Sunniten sind). Von den arabischen Golfstaaten, die seit Mai 1981 im Golf-Kooperationsrat zusammengeschlossen sind, kommen immer wieder Hinweise, man werde über die Entwicklung der Nukleartechnik nachdenken, wenn das schiitische Iran im Atomstreit bei seiner Haltung bleibe. Riad und Teheran hatten in den neunziger Jahren einen Modus Vivendi gefunden, der durch den Umsturz im Irak jetzt wieder gefährdet ist.

Doch die Ereignisse in Bagdad haben auch der schiitischen Hizbullah (»Partei Gottes«) zu neuem Auftrieb verholfen. Diese fordert nicht nur Israel heraus, sondern auch die libanesische Regierung, auf die sie nicht unerheblichen Druck ausübt, gerade auch von der Straße. Schiitische Unterstützung, und zwar sowohl aus Teheran als auch durch die Hizbullah, genießt auch die Hamas der Palästinenser. So wird auch dort der schiitische Einfluss schon seit geraumer Zeit greifbar. Fast überall, wo Schiiten leben, hat sich der Antagonismus zu den Sunniten in letzter Zeit erheblich und explosiv verschärft.

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Die Schiiten stellen den kleineren Teil der Muslime im Mittleren Osten. F.A.Z.-Grafik / Sieber.

Dabei trennen ursprünglich weder ethnische noch theologische Unterschiede die beiden Ausprägungen des Islams. Der Anschein, dass das Schiitentum eine vornehmlich iranisch-persische Erscheinung sei, ist nur dadurch entstanden, dass der Schiismus seit dem sechzehnten Jahrhundert dort Staatsreligion ist. Am Beginn der islamischen Verkündigung war der Schiismus ebenso arabisch wie der Islam generell. Auch seine Begründer waren Araber, nämlich die Nachfahren des Propheten Mohammed, soweit sie auf dessen leiblichen Vetter und Schwiegersohn Ali Ibn Abi Talib zurückgehen. Dieser war mit Fatima, einer der Töchter des Propheten, verheiratet. Die Spaltung wurzelt zunächst in rein machtpolitischen Gegensätzen nach dem Tod Mohammeds im Jahre 632 nach Christus. Die Partei Alis (»Schiat Ali«) verlangte, dass Ali und seine Erben die (ungeklärte) Nachfolge des Propheten antreten sollten, ihre Gegner hingegen lehnten das ab und akzeptierten das Wahlverfahren, nach dem die ersten Nachfolger Mohammeds von bedeutenden Prophetengefährten bestimmt worden waren. Dies führte zum Bürgerkrieg zwischen der Schia und dem Haus der Omajjaden, die in Damaskus residierten und im Jahre 680 nach Christus den Streit fürs Erste für sich entschieden: Unter der Führung des Omajjaden Yazid massakrierten sie den schiitischen Thronprätendenten Hussein, Sohn Alis und Enkel Mohammeds, bei Kerbela im Irak mit seinen etwa siebzig Getreuen. Dieses kollektive Martyrium markiert die »Gründungskatastrophe« einer Konfession, die später auch eigene Gebräuche, eine eigene Theologie und eigene Herrschaftsvorstellungen hervorbrachte. Vor allem auf die wirklich oder vermeintlich benachteiligten Untertanen der islamischen Reiche entwickelte der Schiismus eine starke Anziehungskraft. Im Mittelalter entstanden teilweise glanz- und machtvolle schiitische Dynastien, wie die Fatimiden, deren Kraft jedoch unter den Schlägen von frisch zum Islam bekehrten türkischen Stämmen gebrochen wurde. Nur in Iran erlebte der orthodoxe Schiismus durch die Machtergreifung der Safawiden unter Schah Ismail seit 1501 einen dauerhaften Aufstieg.

Im Nahen Osten wird viel davon abhängen, wie das syrische Regime auf die neuen Entwicklungen reagiert. Es ist säkular ausgerichtet, aber gleichwohl mit Iran verbündet.

Getragen wird es von der Alawiten-Gemeinschaft, einer islamischen Konfession und Minderheit von etwa zehn bis zwölf Prozent der Syrer, die sich aus dem heterodoxen Schiismus entwickelt hat. Manches spricht dafür, dass Damaskus, weil es sich vom um sich greifenden radikalen Islam überhaupt bedroht sieht, von Iran abrücken und einer umfassenden Friedenslösung in der Region nähertreten könnte.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.01.2007