Meinen vier wunderbaren Jungs:
Frithjof, Valentin, Tilman und Benjamin.
Und Malcolm, dem Hund.
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ISBN 978-3-417-22787-1 (E-Book)
ISBN 978-3-417-28674-8 (lieferbare Buchausgabe)
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Umschlaggestaltung und Illustrationen: Dietmar Reichert, Dormagen
Satz: Katrin Schäder, Velbert
Inhalt
Erstes Kapitel, in dem es Herbst ist und Hunde nicht vom Himmel fallen
Zweites Kapitel, in dem sich Mama Sorgen macht und Jan ein großer Junge ist, obwohl er sich nicht danach fühlt
Drittes Kapitel, in dem der Bus schon wieder weg ist, eine gruselige Ankündigung gemacht wird und Jan von einem Mädchen mit Pferdeschwanz eine Einladung erhält
Viertes Kapitel, in dem Jan einer Einladung folgt, obwohl ein Jugendtreff vielleicht nicht harmlos ist
Fünftes Kapitel, in dem Jan vom lieben Gott hört und erfährt, dass man mit ihm reden kann, was sich auch Beten nennt
Sechstes Kapitel, in dem Jan erneut aus einer brenzligen Lage befreit wird
Siebtes Kapitel, in dem Jan ein Geschenk erhält und mehr über Gedichte erfährt
Achtes Kapitel, in dem es Jan noch einmal mit dem Jugendtreff versucht, einen Vortrag über Gutestun hört und wieder einen Brief schreibt, obwohl er immer noch keine Antwort bekommen hat
Neuntes Kapitel, in dem Jan Gutes tut, ohne es zu wissen
Zehntes Kapitel, in dem Jan einen Hund mit Fledermausohren kennenlernt, der auf den stattlichen Namen Arthur hört
Elftes Kapitel, in dem Jan einen Besuch wagt und die Geschichte eines Königs erzählt wird
Zwölftes Kapitel, in dem Jan zum ersten Mal Gassi geht und noch einmal eine Einladung erhält
Dreizehntes Kapitel, in dem Sebastian das Gebetsbuch der Bibel vorstellt und von einem guten Freund erzählt
Vierzehntes Kapitel, in dem Jan ausgerechnet im Deutschunterricht mit seinem Wissen herausplatzt und eine Prügelei übersteht, die keine ist
Fünfzehntes Kapitel, in dem ein großer Sturz vorkommt (den wir aber nicht sehen) und Jan sich als äußerst tapfer erweist (auch wenn ein Junge namens Stefan nach wie vor etwas anderes behauptet)
Sechzehntes Kapitel, in dem Jan an etwas erinnert wird, das er fast vergessen hat, oft Gassi geht und noch ein tiefgründiges Gespräch führt
Siebzehntes Kapitel, das eine große Überraschung und ein folgenschweres Gespräch enthält
Achtzehntes Kapitel, in dem die Dinge schön sind, aber auch Schönes kann sich ändern, wenn man „Den schrecklichen dreien“ begegnet
Neunzehntes Kapitel, in dem Jan ein Buch geschenkt bekommt, um die Dinge selbst zu prüfen und eine Entdeckung macht, die ihn, zumindest vorübergehend, tröstet
Zwanzigstes Kapitel, in dem Jan einen merkwürdigen Wunsch verspürt und ein schwerwiegendes Gespräch über Geduld vorkommt
Einundzwanzigstes Kapitel, in dem der Frühling endlich bleibt und Jan zusammen mit Luisa ein Bäumchen pflanzt
Zweiundzwanzigstes Kapitel, in dem die gefürchtete Deutschstunde bedrohlich näher rückt, Jan „Den schrecklichen dreien“ erneut unterwegs begegnet und noch einmal ausgelacht wird, und zwar schlimmer als zuvor
Dreiundzwanzigstes Kapitel, in dem Jan noch ein Gespräch mit Frau Schneider führt und mitten in der Nacht Besuch bekommt
Vierundzwanzigstes Kapitel, in dem Jan von einer Mutprobe erfährt und etwas sagt, obwohl er es nicht sagen will
Fünfundzwanzigstes Kapitel, das zwar kurz ist, dafür aber von einer großen Angst erzählt
Sechsundzwanzigstes Kapitel, in dem sich auch ein Panther als bedürftig erweist
Siebenundzwanzigstes Kapitel, in dem Sebastian noch einmal einen Psalm vorliest und Jan vor allen anderen von sich erzählt, was man durchaus mutig nennen könnte
Achtundzwanzigstes Kapitel, in dem Jan mitten in der Nacht aufsteht und nicht weiß, was er tun soll
Neunundzwanzigstes Kapitel, in dem der Hund sich als ein Helfer in der Not erweist und Jan und Stefan einander die Hand reichen
Dreißigstes Kapitel, in dem endlich die gefürchtete Deutschstunde stattfindet und das noch einmal eine große Überraschung bereithält
Einunddreißigstes und damit letztes Kapitel, in dem manche Hunde eben doch vom Himmel fallen
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Erstes Kapitel, in dem es Herbst ist und Hunde nicht vom Himmel fallen |
Jan liegt in seinem Zimmer auf dem Bett. Durch das Fenster, das bis zum Boden reicht, sieht er in den Garten. Garten ist allerdings übertrieben. Der Fetzen Rasen hinter dem Haus gleicht eher einem Handtuch, das jemand dort zum Trocknen ausgebreitet hat, und er liegt eingepfercht zwischen den ebenfalls handtuchgroßen Gärten anderer, ähnlich kleiner Reihenhäuschen.
Aber Trocknen ginge heute gar nicht – wäre der Rasen tatsächlich ein Handtuch. Ausgesprochen trübsinnig platscht Regen vom Himmel, plopf, plopf, plopf, ununterbrochen, immerzu.
Jan seufzt.
Es rutscht ihm so raus, dagegen kann er nichts machen. Aber es stört auch nicht, weil es ohnehin keiner hört. Mama und Papa werkeln unten in der Küche. Sie bereiten das Abendessen zu, und nebenbei besprechen sie allerhand Dinge, wie es Papa nennt. Vielleicht erzählt er von den schwerwiegenden Gedanken, die er tagsüber auf der Arbeit begrübelt und die einmal, vielleicht, bahnbrechend sein und alle Welt begeistern werden, wenn er sie in seinen Aufsätzen, die von Bäumen und anderen Pflanzen handeln, veröffentlicht. Vielleicht aber reden sie auch über Mamas neue Arbeit. Seit das Schuljahr vor ein paar Wochen begonnen hat, geht sie am Nachmittag in Jans alte Grundschule in den Hort. Dort passt sie auf die Kinder auf, die nach der Schule nicht nach Hause gehen. Kinder hüten, sagt sie, als wären die Schüler ein Haufen Flöhe, den es einzufangen gilt.
Mich braucht sie nicht zu hüten, denkt Jan, ich bin schließlich schon groß. Aber dann seufzt er doch wieder.
Denn obwohl es stimmt, dass Jan inzwischen in die fünfte Klasse geht und damit zu den Großen zählt, größer jedenfalls als die Grundschüler in Mamas Hort, gefällt es ihm kein bisschen, dass das Haus jetzt leer steht, wenn er nachmittags von der Schule kommt. Viel zu laut knackt der Schlüssel im Schloss, wenn Jan die Tür öffnet, als wäre er ein Einbrecher. Und innen hallt es merkwürdig still, als wären alle ausgezogen.
Aber das ist nicht das Einzige, das Jan nicht mag in diesem Schmuddelherbst. Denn Mamas neue Arbeit und das leere Haus sind das eine.
Die Schule und Stefan aber sind das andere.
Sobald Stefan Jan sieht, verdreht er die Augen, als wäre ihm eine Fliege hineingesurrt. Geht Jan versehentlich zu dicht an ihm vorbei, schubst Stefan ihn. „Pass doch auf!“, faucht Stefan dann, „du kannst ja nicht mal richtig gehen!“
Das treibt Stefan, seit sie miteinander in die Grundschule gingen. Neu ist es also nicht wirklich und auch nicht, dass sie wieder in derselben Klasse hocken. Neu aber ist, dass Stefan prompt Verstärkung für seine Rangeleien gefunden hat. Sie nennen sich „Die schrecklichen drei“, und das sind sie auch: Stefan, Moritz und der dicke Nick.
Wäre Jonas, Jans allerbester Freund, noch da, wäre alles wohl nur halb so schlimm. Aber Jonas ist weg. Fortgezogen in diesem Sommer an einen Ort, der immerzu von Wasser umspült wird. Ausgerechnet! Irgendwo im Norden sitzt Jonas jetzt auf einer Insel und schickt Jan Postkarten, auf denen putzige Seehundbabys aus großen schwarzen Kulleraugen in die Kamera blinzeln. „Die Nordsee“, kritzelt Jonas mit ungelenken Buchstaben, „würde dir gefallen. Komm mich besuchen!!!“ Und er setzt drei Ausrufezeichen dahinter. Jan aber mag sich gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn von allen Seiten Wasser rauscht und man mit dem Fahrrad nie weiter als fünf Kilometer radeln kann, ohne irgendwann ins Meer zu plumpsen. Am Rand der Neubausiedlung, in der Jan mit seinen Eltern lebt, seit er denken kann, gibt es allenfalls die schmalen Entwässerungsgräben, in denen das Wasser höchstens einmal kniehoch steht, an Tagen wie heute zum Beispiel, an denen es regnet ohne Unterlass.
All das, die Schule, Stefan, Mamas neue Arbeit und Jonas, der weg ist, dürfte, jedes für sich besehen, noch zu schaffen sein. Aber alles zusammen genommen, ist es ein bisschen viel, ziemlich viel sogar, um ehrlich zu sein.
Und immer noch prasselt der Regen vom Himmel. In langen grauen Fäden fällt er wie ein Vorhang.
Jan denkt an die Englischstunde von heute Vormittag.
„Wenn es heftig regnet“, hat Frau Kramer erklärt, „sagen die Menschen in England it’s raining cats and dogs, es regnet Katzen und Hunde.“
Sie haben alle gelacht, es klang immerhin zu komisch. Auch jetzt lacht Jan, aber es hört sich eher an wie ein Schnauben, ein Prusten, dass die Nasenflügel beben. Pah, das wäre wirklich zu schön, wenn Hunde aus dem Himmel purzelten! Dann würden sie heute in Massen fallen: Möpse. Pudel. Terrier. Pekinesen. Ganze Hunderudel würden vom Himmel plumpsen und sogleich zu ihm ins Zimmer spazieren. Die kleinen, Pinscher, Dackel, Chihuahuas, würden zu Jan hinauf aufs Bett hopsen, die großen, Bernhardiner und Doggen, würden sich, artig wie Wächter, davor legen.
Hätte ich einen Hund, denkt Jan, wäre all das viele Neue nicht so furchterregend. Dann nämlich wäre Jan nicht länger allein. Der Hund wäre da und würde mit ihm spielen. Und auf ihn warten, solange er in der Schule büffelt, ihn erwarten und schwanzwedelnd begrüßen, sobald er heimkäme, dass der Hundekörper vor Freude und Erleichterung hin- und herwackelte.
Jan und der Hund würden einander mögen auf immer und ewig. Und „Die schrecklichen drei“, Stefan, Moritz und den dicken Nick, würde der Hund mit einem einzigen zornigen Knurren aus seiner Kehle verjagen. Auf Nimmerwiedersehen.
Außerdem würde der Hund Jan verstehen. Und dafür bräuchte Jan nicht einmal zu reden. Denn Reden mag Jan nicht besonders. Stets rasen die Gedanken durch seinen Kopf wie Autos über die Autobahn. Ehe er die Worte aus dem Mund bekommt, sind seine Gedanken längst weitergestürmt. So schnell, da kommt er niemals hinterher.
Der Hund aber würde wissen, was Jan meint, ganz ohne Worte. Weil Hunde Gedanken lesen können und Jans Hund sowieso.
Aber selbst wenn Jan etwas sagt, hätte der Hund doch Geduld, weil er warten würde, bis ihm die Worte über die Lippen gekommen sind. Und niemals, nie würde er lachen, wenn Jan sich dabei geschwollen ausdrückt, so wie Stefan behauptet. „Du redest wie ein Lexikon, das versteht doch kein Mensch!“, knurrt er und lacht. Aber es ist kein Lachen, das einen froh macht, sobald man es hört, sondern eines, bei dem Jan sich unbedeutend und winzig vorkommt. Lächerlich eben. Ein Kleinmach-Lachen.
Der Hund, das steht völlig außer Frage, wäre ein Freund. Jans Freund.
Aber von einem Hund kann keine Rede sein. Nicht einmal heute. Das Einzige, das nach wie vor vom Himmel platscht, ist Wasser. Kein Hund in Sicht, nicht einmal der klitzekleinste.
Aus dem Regal über dem Bett kramt Jan das große Buch. Geschichten aus der Vorzeit steht in schwarzen, geschwungenen Buchstaben oben auf dem Deckel.
Jan braucht nicht lange, bis er die Seite findet. Er hat sie schon so oft aufgeschlagen, dass das Buch dort fast von alleine aufklappt.
Jan liest, aber eigentlich kann er den Text längst auswendig: „Im hintersten Winkel einer Höhle in Südfrankreich, der Höhle von Chauvet, fand man die Spuren eines Jungen neben denen eines Hundes. Die beiden müssen vor mehr als sechsundzwanzigtausend Jahren nebeneinander hergegangen sein.“
Neben dem Text ist ein Foto abgedruckt. Jan betrachtet es eindringlich: die längliche, schmale Fußspur eines Jungen, daneben die gewölbten Pfotenabdrücke eines Hundes, darüber die spitzen Krallen, bis beide miteinander verschmelzen.
„Der Hund ist das älteste Haustier des Menschen“, liest Jan weiter. „Ob der Hund sich dem Menschen angeschlossen hat oder ob es eher umgekehrt war und der Mensch das zunächst wilde Tier zähmte, weil er in ihm einen nützlichen Begleiter erkannte, lässt sich nicht genau sagen. Fest steht jedoch, dass beide von Anfang an − trotz all ihrer Verschiedenheit − wunderbar zusammenpassten, bis sie schließlich zu Gefährten wurden.“
Jan klappt das Buch zu. Er sieht hinaus. Draußen platscht pausenlos der Regen und noch immer fallen keine Hunde vom Himmel.
Er wird es erneut versuchen und mit den Eltern sprechen, weil man die Dinge manchmal selbst in die Hand nehmen muss, wie es Papa sagt. Und weil Hunde offenkundig nicht vom Himmel fallen.
Allerdings bettelt Jan schon sehr lange um einen Hund, und er kennt die Antwort, ehe er die Frage stellt.
Die Antwort auf die Frage nach einem Hund lautet regelmäßig: „Nein!“
Der Regen scheint jetzt fast noch heftiger zu fallen, falls dies überhaupt möglich wäre, fast als würde der Himmel mit Jan weinen. Aber Jan weint nicht.
Wenn er die Augen schließt, verwandelt sich der Regen in ein Gurgeln wie bei einem Wasserfall.
Jan macht die Augen wieder auf. Unter dem Kopfkissen kramt er das bunte Heft hervor. Über die Seiten sind Linien gezogen wie in den Deutschheften in der Schule. Aber das Heft hat einen festen Einband aus bunter Pappe wie ein schillernder Regenbogen. Die Seiten sind noch unbeschrieben. Mama hat Jan das bunte Heft zum Schulbeginn geschenkt, als er in die fünfte Klasse kam. „Vielleicht gibt es Dinge“, hat sie gesagt, „über die du nicht reden willst und die du lieber einem Stück Papier anvertraust. Papier ist nämlich wundersam verschwiegen.“
Oben auf dem Deckblatt aber steht schon etwas. Entdeckungen, die Jan machte, als er elf Jahre alt war hat Jan darauf gekritzelt. Jetzt fischt Jan den Füller vom Schreibtisch. Er schreibt:
Heute, Mitte November, habe ich eine Entdeckung gemacht:
Wenn es regnet, sagen die Menschen, die in England leben, dass Katzen und Hunde vom Himmel fallen.
Das stimmt nicht.
Aus dem Himmel kommt nur Wasser.
Im Winter wird daraus Schnee. Aber jetzt ist es erst Herbst, obwohl es schon ziemlich kalt ist. Auf den Herbst folgt der Winter. Dann kommt der Frühling. Es ist ein Kreislauf, sagt Papa, und es bedeutet, dass wir uns darauf verlassen dürfen, während wir uns auf andere Dinge nicht verlassen dürfen, wie zum Beispiel auf die Behauptung, dass aus dem Himmel Hunde fallen. Das ist allenfalls ein dummer Spruch. Oder ein falscher, wie es Papa sagen würde.
Gleich fühlt sich Jan viel wohler. Es ist schwer, seine Gedanken zu ordnen, wie das Papa nennt, besonders wenn sie so wild durcheinanderwuseln, wie sie es in Jans Kopf oft tun. Aber wenn Jan schreibt, gelingt es ihm manchmal eben doch.
Vielleicht wird er später einmal ein Dichter werden und dann wird er alles aufschreiben, was ihn bewegt, was er sieht und erlebt und entdeckt. Und was er sich wünscht. Denn das hat er mal in einem Gedicht gelesen: Einem Dichter geht es gut, weil er sich die Welt aus Worten kneten kann, wie sie ihm passt. Und das würde Jan dann machen. Auch wenn es lange, lange, lange dauert. Aber niemand wird ihn drängeln. Papier ist schließlich geduldig. Es kann warten, und er selbst kann das auch.
Auf alles kann Jan warten, nur nicht auf einen Hund. Den hätte er gerne bitteschön jetzt gleich, am liebsten schon gestern.
Der Hund bräuchte nicht einmal hübsch zu sein und auch nicht sonderlich artig. Es würde schon genügen, wenn er ab und an Sitz macht, sobald Jan ihn darum bittet. Nur einen Schwanz sollte er haben, bitte, und vier Beine, das wäre gut.
Man kann es ja versuchen, mit Worten fängt es an. Die kritzelt Jan jetzt in das bunte Heft:
Regentage
Ich wünsche mir
ein Tier,
am liebsten einen Hund.
Der färbte mir die Welt gleich wieder bunt.
Jan schlägt das bunte Heft zu. Draußen prasselt immer noch der Regen.
Wenn er jetzt über das nachdenkt, was er geschrieben hat, kommt es ihm ein wenig merkwürdig vor. Weil es wie eine Bitte klingt. Aber wer sollte sie hören?
Vielleicht wird Jan doch lieber etwas anderes als ein Dichter, am besten ein Forscher. Dann fährt er in die Höhle von Chauvet und sieht nach, ob sie auch wirklich da sind: die Fußspuren eines Jungen und seines Gefährten, des Hundes.
„Jan!“, schallt es durchs Treppenhaus. Das ist Mama. „Das Abendessen ist fertig!“
„Ich komme!“, ruft Jan.
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Zweites Kapitel, in dem sich Mama Sorgen macht und Jan ein großer Junge ist, obwohl er sich nicht danach fühlt |
„Nein“, sagt Mama und jetzt ist sie diejenige, die seufzt, „ich habe es dir doch schon sooooo oft erklärt, Jan. Es geht beim besten Willen nicht: Wir kaufen keinen Hund!“
Dabei sieht sie Papa an, aber Papa sagt nur: „Vielleicht versuchen wir es mal mit Fischen?“
Jan hat es schon gewusst, er kann es auch längst auswendig, was Mama ihm nun erklärt, zum wievielten Mal, weiß keiner: Ein Hund braucht Zuwendung. Zuwendung kostet Zeit. Zeit haben sie nicht. Weder Papa, der tagsüber und manchmal auch nächtelang über seinen schweren Gedanken, Blättern und Blüten brütet. Noch Mama, die jetzt eine Arbeit hat, die ihre Talente zur Entfaltung bringt, wie es Papa ausdrückt. Jan hat auch keine Zeit (sagt Mama), weil er in der Schule sitzt (festsitzt, sagt Jan) und bis zu den frühen Nachmittagsstunden über gewichtigen Schulbüchern schwitzt. Ein Hund ist ein Rudeltier, sagt Mama, daran gibt es nichts zu rütteln. Was bedeutet, dass er Gesellschaft braucht, viel Gesellschaft, am besten rund um die Uhr. Ob Jan das denn nicht versteht und ob er es bitte, bitte endlich einmal verstehen könnte?
Natürlich versteht Jan das. Wenn jemand in dieser Familie Ahnung von Hunden hat, dann ist schließlich er es. Jan besitzt unzählige Bücher über Hunde. Entdecke deinen Hund, heißen sie. Oder Liebe deinen Hund. Dein Hund und du. Verstehe deinen Hund. Um nur ein paar zu nennen.
Denn wenn Jan schon keinen Hund hat, so kann er doch zumindest über sie lesen. Und Bilder von ihnen anschauen. Die schönsten Hunderassen dieser Erde. Hundert Hunderassen auf einen Blick. Vom Wolf zum Hund.
Nein, ein Hund ist ein Rudeltier. Daran gibt es nichts zu rütteln.
Es ist aber genau diese Tatsache, wie es Papa ausdrücken würde, die in Jan die unumstößliche Überzeugung hat reifen lassen, dass er einen Hund braucht. Und zwar unbedingt. Weil er ebenfalls ein Rudel braucht. Der Hund wäre dann sein Begleiter. Ein Gefährte. Sein Freund.
Jan lässt die Erbse von der Gabel kullern. Sie platscht in den Kartoffelbrei, den Mama zum Abendessen gemacht hat. Wenn Jan nachmittags nach Hause kommt und niemand da ist, der für ihn kochen könnte, macht er sich meistens, wenn er hungrig ist, ein Müsli. Aber das reicht nicht. Wegen der Vitamine. Sagt Mama. Und deshalb kocht sie abends manchmal noch was.
„Jan?“ Mama spricht es aus wie eine Frage mit vielen Fragezeichen dahinter, „es tut mir leid, aber es geht nicht!“ Und dabei sieht sie mit einem Mal so traurig aus, dass Jan erschrickt. Plötzlich kommt sie ihm winzig klein vor, als wäre sie geschrumpft und er wäre gleichzeitig gewachsen. Und dabei größer geworden als sie. „Ich weiß, dass es viel ist. Für dich. Und für uns alle“, murmelt Mama. „Ich hätte die Stelle eben doch nicht annehmen sollen!“ Und alle Traurigkeit und Sorge der Mütter, die arbeiten gehen und ihre Kinder währenddessen allein zu Hause wissen, schwingt in ihrer Stimme mit.
Jan wünscht sich nichts sehnsüchtiger als einen Hund, aber was Mama da sagt und vor allem WIE sie es sagt, gefällt ihm auch nicht. Es gefällt ihm sogar ausgesprochen wenig.
Da kann er nicht anders: Jan springt von seinem Stuhl auf. Er läuft um den ganzen Tisch herum und drückt Mama so fest an sich, als hätte er Angst, sie könnte sich in Luft auflösen und als wäre er wirklich schon der große Junge, von dem sie dauernd spricht.
„Mama“, sagt er und die Worte kommen, er wundert sich selbst darüber, ganz leicht über seine Lippen, „mach dir keine Sorgen und geh ruhig weiter arbeiten. Ich schaffe das schon!“
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Drittes Kapitel, in dem der Bus schon wieder weg ist, eine gruselige Ankündigung gemacht wird und Jan von einem Mädchen mit Pferdeschwanz eine Einladung erhält |
Der Wecker klingelt. Sechs Uhr in der Früh. Jan streckt sich und reckt sich. Er will sich am liebsten wieder in die Kissen eingraben, denn sofort kriecht der Gedanke an die Schule heran. Jan spürt, wie sich sein Bauch verkrampft, als hätte er zu viel gegessen. Oder zu wenig. Jedenfalls wird es, sobald er an die Schule denkt, dunkel um ihn her, als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Oder als würde wieder Regen fallen. Viel Regen. So wie gestern.
Seit Jan aufs Gymnasium geht, fährt er mit dem Bus zur Schule. Morgens hin, am Nachmittag zurück. Träublingen ist zu klein für ein Gymnasium. Da können sie schon froh sein, dass es überhaupt eine Grundschule gibt. Sagt Papa. Das Gymnasium liegt ein paar Kilometer weiter in der nächstgrößeren Stadt, und weil Mama findet, dass es wahnsinnig gefährlich ist, mit dem Fahrrad dorthin zu fahren, vor allem mit dem schweren Ranzen und wie sollte das erst im Winter gehen, bitteschön, nimmt Jan den Bus.
Das Busfahren ist es jedoch nicht, das Jans Magen grummeln lässt. Denn eigentlich macht es ihm sogar Spaß.
Im Bus sitzt er höher als die Autofahrer, und er kann ihnen zusehen, wie sie aufs Lenkrad trommeln, während sie an den Haltestellen hinter dem Bus warten und sich darüber ärgern, dass sie nicht überholen können. Nein, Busfahren an und für sich, wie es Papa ausdrücken würde, ist nicht schlimm. Schlimm ist, dass Stefan Kupfernagel, Moritz Dörrstedt und der dicke Nick ausgerechnet an der Haltestelle zusteigen, an der auch Jan einsteigt.
Dreimal hält der Bus in Träublingen, jeweils an den Rändern und einmal in der Mitte. Und weil Stefan, Moritz und der dicke Nick in Jans Nähe wohnen, aber wo genau, weiß er nicht, trödelt Jan jeden Morgen auf dem Weg zur Bushaltestelle, damit er dort nicht allzu lange warten muss. Nicht lange genug jedenfalls, dass Stefan, Moritz und der dicke Nick ihn nicht noch schubsen oder ihm den Ranzen vom Rücken zerren und in den Rinnstein schleudern könnten, wo heute die Pfützen vom Vortag in einer milchigen Herbstsonne dampfen, als wollte die Sonne beweisen, dass sie auch anders kann. Und während Stefan, Moritz und der dicke Nick mit Unschuldsmiene beteuern, dass alles doch ein großer Spaß sei, ein Ulk, wie sie sagen, denkt Jan, dass sie den, der ihnen das glauben soll, sicherlich für mächtig blöd halten. Er jedenfalls findet rein gar nichts Komisches und schon gar keinen Gefallen daran. Und weil Jan solche Gedanken jeden Morgen hat, während er die Straße zur Haltestelle hinuntertappt und schon den Hals reckt, um nach dem Bus, aber auch nach „Den schrecklichen dreien“ Ausschau zu halten, werden seine Schritte immer langsamer. Und langsamer. Es lässt sich nicht leugnen: Jan trödelt. Biegt aber der Bus um die Ecke, macht Jan einen gewaltigen Satz und huscht gerade noch rechtzeitig durch die halbgeöffnete Tür, die sich soeben mit einem schmatzenden Geräusch schließen will. Was allerdings nicht immer klappt. Dann saust ihm der Bus vor der Nase weg. Stefan, Moritz und der dicke Nick pressen innen im Bus die Nasen ans Fenster und lachen, dass man das Glas fast beben sieht.
So auch heute.
Als der Bus schnaubend an der Haltestelle hält, steckt Jan noch fünf Schritte vor dem Zebrastreifen. Aber weil der schnittige Mercedes, der jetzt herandonnert, nicht bremst, drosselt Jan seinen Sprung. Knapp an der Bordsteinkante bleibt er stehen. Denn überfahren werden will er nicht. Schließlich würde er auf diese Weise auch kaum pünktlich zur Schule kommen.
Drüben klappen die Türen. Der Bus fährt ab.
Der nächste Bus kommt erst zwanzig Minuten später.
Kein einziges Schulkind steckt drin. Ohnehin wirkt alles wie gedämpft, als hätte sich sämtliche Morgenaufregung gelegt und die Welt würde erleichtert Atem holen. Auch die Berufstätigen scheinen mittlerweile bei ihrer Arbeit angekommen zu sein. Nur wenige Fahrgäste tummeln sich im Bus. Die meisten sind Senioren. Mit zitternden Händen umklammern sie ihre Rollwägelchen, mit denen sie zum Einkaufen wackeln.
Jan ergattert einen Sitzplatz. Er schiebt den Ranzen vom Rücken, drückt den Kopf ans Fenster und sieht hinaus.
Die Autofahrer haben es noch immer eilig, aber es sind nicht mehr so viele. Wenn ich einen Hund hätte, denkt Jan, würde mir der Bus nicht länger vor der Nase wegfahren. Denn alle Autos würden mit quietschenden Bremsen für uns anhalten, sobald wir am Zebrastreifen auftauchen. Der Hund wird sich, weil Jan das so möchte und weil das so sicherer ist (er hat es in seinen Büchern gelesen), neben Jan an die Bordsteinkante setzen, die Schnauze schnuppernd in die Luft richten und warten, bis Jan „komm, wir gehen!“ sagt.
„Was für ein schönes Paar!“, werden die Autofahrer ausrufen und ihre Hälse recken und ihre Hüte zum Gruß lüften, wenn sie welche auf den Köpfen tragen würden. Und während Jan und der Hund über die Straße stolzieren, denn sie sind stolz, der Hund mit erhobener Rute und Jan mit einem gnädigen Lächeln im Gesicht, sähen ihnen alle voll Bewunderung zu – die Autofahrer links und rechts, aber auch Stefan, auch Moritz, auch der dicke Nick.
Als Jan ohne anzuklopfen ins Klassenzimmer platzt, steht die Deutschlehrerin Frau Pauli vorne an der Tafel und schreibt mit ausladenden, schwungvollen Druckbuchstaben DAS GEDICHT darauf.
„Jan Täubner!“, ruft Frau Pauli erschrocken und lässt die Kreide sinken, sodass das T abrutscht und einem gesunkenen Anker ähnelt. „Das ist schon das dritte Mal in dieser Woche, dass du zu spät kommst. Irgendwann werde ich deinen Eltern Bescheid sagen müssen. Und klopf das nächste Mal bitte an. Sonst bleibt mir ja das Herz vor Schreck stehen!“
Im Klassenzimmer ertönt ein Kichern. Hihihihi! Aus drei Jungenkehlen gluckert es wie Hähnchengackern. Das sind Stefan, Moritz und der dicke Nick. „Die schrecklichen drei“. Natürlich.
„Jan, der Herzschreck“, lachen sie.
„Der schräge Schreck!“
„Der Herzensbrecher!“
„Jan kann doch nicht einmal eine Fliege erschrecken. Wo der auftaucht, lachen doch die Hühner!“
Zisch!, saust ein Papierflieger, schnittig auf Kante gefaltet, schneidig wie ein Düsenjet, durch das Klassenzimmer. Tschibong!, trifft er, als wäre er ferngesteuert, Stefan genau im Nacken. „Autsch! Wer war das?“
„Lass ihn in Ruhe!“, zischt eine Stimme klar vernehmbar, sodass es alle im Klassenzimmer hören.
Das ist Luisa! Jan erkennt ihre Stimme sofort. Luisa Klinger, das Mädchen mit dem Pferdeschwanz aus blondem Haar, der so lang ist, dass er ihr über die Schultern wippt, wenn sie den Kopf schüttelt. Luisa, die Jan anlächelt, selbst wenn Stefan, Moritz und der dicke Nick daneben stehen. Luisa, die mit Jan spricht und auch dann noch auf seine Antwort wartet, wenn die anderen längst weitergestürmt sind. Und die nicht lacht und nicht die Augen verdreht, wenn Jans Antwort geschwollen klingt, wie Stefan behauptet.
„Luisa“, sagt die Lehrerin, die den Einwurf ebenfalls gehört hat, „es ist zwar durchaus ehrenwert, dass du Jan verteidigst. Aber jetzt haben wir Unterricht, und wir wollten soeben klären, was ein Gedicht ist. Weißt du es denn?“
Darauf antwortet Luisa nichts. Aber sie schaut Jan an und schickt ihm ein breites Lächeln, dass ihre Zähne funkeln.
Rasch bückt sich Jan und kramt in seinem Ranzen nach dem Deutschbuch.
„Schlagt bitte die Seite 98 auf!“, sagt Frau Pauli, „und Nick, du liest bitte vor, was links unten steht.“