Verlag Freies Geistesleben
Rudolf Steiner wurde am 27. Februar 1861 in Kraljevec auf der Murinsel in Kroatien, nahe der Grenze zu Ungarn, als Sohn eines Stationsvorstehers bei der österreichischen Südbahn geboren und starb am 30. März 1925 in Dornach in der Schweiz. Das Leben und Werk des Erbauers des avantgardistischen, in Beton gegossenen zweiten Goetheanum ist mit seinen rastlosen Reisen und über 6000 gehaltenen Vorträgen quer durch Europa ein einzigartiges Phänomen des 20. Jahrhunderts.
Er studierte Natur- und Ingenieurwissenschaften in Wien, promovierte in Philosophie an der Universität Rostock, gab die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes in Weimar heraus, begründete die Anthroposophie in Berlin, die Waldorfpädagogik in Stuttgart, die biologisch-dynamische Landwirtschaft in Koberwitz bei Breslau, die anthroposophisch erweiterte Medizin und die Heilpädagogik. In München brachte er seine vier Mysteriendramen zur Uraufführung. Er inspirierte eine geistig geprägte organische Architektur, eine neue Bewegungskunst, die Eurythmie, und eine erneuerte Kunst des Wortes.
Seine philosophisch-anthroposophischen Hauptwerke sind: Die Philosophie der Freiheit; Theosophie – Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung; Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? und Die Geheimwissenschaft im Umriss.
Sein Hauptantrieb war es, aus einer neuen Erkenntnis des Geistigen im Menschen wie im Kosmos die Freiheit und Initiativkraft aller Menschen zu fördern.
«Dadurch, dass wir auf einem persönlichen Lebenswege zu einer ewigen geistigen Wesenheit vordringen, dadurch stellt sich unsere Persönlichkeit erst in der richtigen Nuance in die wirkliche Welt hinein, denn dadurch bekommen wir das Bewusstsein, dass auf jeden von uns als Persönlichkeit gerechnet ist.»
Rudolf Steiner, Den Haag, 16. November 1923
Eine Einleitung von Lydia Fechner
Rudolf Steiners Vortrag vom 16. November 1923 handelt vom persönlichen Weg des Menschen zur Wahrheit. Dabei geht es ihm nicht um die dogmatische, abstrakte Wahrheit einer Lehre, die man wie ein äußeres Kleid anlegen kann und in dessen Besitz man sich wähnt. Steiner stellt keine Theorie auf, die definieren kann, was Wahrheit endgültig ist, sondern betrachtet zunächst einmal ganz lebensnah die Wirkung von bestimmten «Wahrheiten» auf den Menschen.
Da ist zunächst die Beobachtung, dass der Mensch ein ganz anderes Verhältnis zu Erkenntnissen erhält, wenn er sie selbst erringt, wenn sie ihn etwas angehen, wenn er etwas an ihnen erleben und über sich selbst erfahren kann, als wenn er sie von außen, in sich aufnehmen muss. Theoretisches Wissen steht immer in Gefahr, sich vom Menschen loszulösen.
Rudolf Steiner ist der Ansicht, dass eine solchermaßen «unpersönlich» aufgenommene Wahrheit keinen realen Bezug zur Welt herstellen kann. In einem Vortrag vom 22. Oktober 1909 über die Mission der Wahrheit unterscheidet er bereits zwei ganz unterschiedliche Haltungen des Menschen in Bezug auf die Wahrheitsfindung.1 Er unterscheidet dort «nachgedachte» von «vorgedachten» Wahrheiten. Im Nachdenken bildet der Mensch tatsächlich die gewordene Welt in seinem Denken nach. Ganz anders aber verhält es sich mit dem Vordenken. Denn hier gewinnt der Mensch ein schöpferisches Weltverhältnis. Alles, was er so denkt, kann er nicht aus der Beobachtung der Natur erhalten, sondern muss er es aus sich selbst, durch eigene Kraft hervorbringen. Dem Menschen, der bloß nachdenkt über die Welt, prophezeit Steiner eine düstere Zukunft: ein verödetes, vereinsamtes und erkaltendes Seelenleben. Währenddessen aber das Leben im Vordenken, also im Zustand innerer Produktivität, belebend, kraftspendend und die Persönlichkeit stärkend sei. Die Wahrheit des Nachdenkens realisiert sich im Erkennen; die Wahrheit des Vordenkens aber kann sich nur im Handeln verwirklichen.
Die Wahrheit des Vordenkers bewährt sich im Leben, indem der Mensch Neues schafft und die Welt verändert. Dazu muss er aber eine ganz andere innere Einstellung mitbringen als der Nachdenker: Er muss sich trauen, er muss mutig sein, ein Wagnis im Denken selbst einzugehen, von dem er erst sagen kann, dass es «wahr» ist, wenn es sich realisieren lässt – in der denkenden Wahrheitssuche, aber auch, wenn es Früchte in der Welt trägt. Dann setzt die Suche nach der «Wahrheit der Situation» unsere eigene Entwicklung in Gang und wird ein wirklicher Lebensvorgang.
Anthroposophie – so Steiner – sei eigentlich niemals aus einem Nachdenken zu erfassen, sondern setze den vor(aus)denkenden Menschen voraus; Anthroposophie rechnet nicht mit dem Nachbeter, Zitierer oder «Schüler,» sondern mit dem kühnen Denker, dem produktiven Geist, dem «Menschen der Initiative.»
Und so sind wir bei der frappierenden Erkenntnis angelangt, die einen Kristallisationspunkt des folgenden Vortrages ausmacht: dass nämlich «diese Begriffe Wahrheit und Irrtum, richtig und falsch ... sich im unmittelbaren Erleben der geisteswissenschaftlichen Wahrheiten [ändern].» Denn sie gelten nur für die äußere Welt, also die Natur. Sie ändern sich in die Begriffe «gesund» und «krank», in Zustände, die die menschliche Persönlichkeit als ganze ergreifen und betreffen.
Die anfangs gestellte, scheinbar reine Erkenntnisfrage nach der Wahrheit verwandelt sich in eine Lebens-, ja in eine Überlebensfrage. Die Spannung zwischen den Gegensatzpaaren Bewusstsein/Leben oder Erkennen/ Sein löst sich auf, denn beide Pole des menschlichen Daseins, das Bewusstsein und das Leben, fallen hier in eins zusammen. Indem der Mensch «Wahrheit produziert», nicht im subjektiven Sinne, sondern im lebendigen Weltverhältnis, wird er zum Mitschöpfer, und diese Schaffenskraft erstreckt sich bis in die eigene Leiblichkeit.