CATHERINE WILKINS

Aus dem Englischen

von Christine Spindler

Mit Illustrationen von Sarah Horne

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

arsedition, München 2015

Text copyright © Catherine Wilkins

Illustrations copyright © Sarah Horne

Titel der Originalausgabe: My Brilliant

Life and other Disasters

Die Originalausgabe ist 2013 bei Nosy Crow® Limited erschienen.

This translation of My Brilliant Life and Other Disasters is published by arrangement with Nosy Crow® Limited.

© 2015 arsEdition GmbH, Friedrichstr. 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Catherine Wilkins

Übersetzung: Christine Spindler

Coverbild und Innenillustrationen: Sarah Horne

Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition

1. digitale Auflage 

ISBN eBook 978 - 3-8458 - 1092-8

ISBN Printausgabe 978 - 3-8458 - 0623-5

www.arsedition.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Für Pat, Christopher, Joy und Colin. C. W.

»Sag mal, Jess, hörst du mir überhaupt zu?«, fragt Natalie.

»Na klar«, schwindle ich. In Wirklichkeit war ich meilenweit weg und habe an den Comic gedacht.

»Und …?«, sagt Nat. Widerstrebend lasse ich mich an unsere Tische in der 6c zurückholen. Ich versuche, meinen entrückten Blick in einen nachdenklichen Gesichtsausdruck zu verwandeln.

Es ist Dienstag, kurz vor dem Ende der Mittagspause. Natalie und Amelia planen Amelias Pyjama-Party am Samstag. Aber ich beschäftige mich gerade mit etwas viel Wichtigerem: Ich hatte einen genialen Einfall für einen Cartoon über eine Biene und eine Wespe, die sich streiten.

»Also?«, gibt Nat mir das Stichwort. »Was für Süßigkeiten wollen wir besorgen?«

»Oh, äh. Also, ich mag Brausestäbchen«, antworte ich.

»Ja, aber nicht jeder mag Brausestäbchen«, sagt Amelia.

Mal ehrlich, war diese Frage so wichtig, dass man mich deswegen aus meinen Gedanken reißen musste? Manchmal kommt es mir nicht so vor, als ob Natalie und Amelia es zu würdigen wissen, dass ich jetzt Teil eines kreativen Weltunternehmens bin. (Ihr wisst schon, eines Tages – möglicherweise – in der Zukunft. Man muss sich hohe Ziele setzen.) Morgen wird der Comic erscheinen, an dem ich mit Joshua und den anderen gearbeitet habe. Ich bin deswegen tierisch aufgeregt.

»Wie wäre es dann mit einer Mischung aus Süßigkeiten mit und ohne Brause?«, schlage ich geduldig vor.

Versteht mich nicht falsch. Ich bin megaglücklich, dass Nat und ich uns versöhnt haben. Natalie ist meine beste Freundin, seit wir zum ersten Mal erfahren haben, dass der alte McDonald eine Farm mit seltsamen, musikalischen Tieren besitzt. Und als wir uns im letzten Schuljahr verkracht und nicht mehr miteinander geredet haben, war es einfach grauenhaft.

»Ja, aber welche?«, fragt Amelia.

Gleichzeitig kann ich nicht anders, als mich über den Aufwand zu wundern, mit dem eine Pyjama-Party geplant wird. Sollten Pyjama-Partys nicht in erster Linie Spaß machen? Ich finde den Verwaltungsaufwand, den sie betreiben, völlig übertrieben.

Ich kann es kaum noch glauben, dass ich so eifersüchtig war, als Natalie sich mit Amelia, dem hochnäsigen neuen Mädchen in unserer Klasse, angefreundet hat. Nachdem sie mich in ihre geheime, besondere Welt aufgenommen haben, fand ich nämlich heraus, dass sie ihre Zeit überwiegend damit verbringen, Listen zu schreiben.

»Ich weiß nicht, was gibt es denn für welche?«, frage ich.

»Ich mache eine Liste«, sagt Nat. (Seht ihr?) Sie kramt einen Stift und Papier raus. Amelia beginnt zu diktieren, und ich merke, wie ich in Gedanken wieder wegdrifte.

»Wir sollten unbedingt Lakritze besorgen, weil meine Cousine Scarlett die so mag«, sagt Amelia. »Ich kann es kaum erwarten, dass ihr sie kennenlernt, Babes. Sie ist absolut umwerfend

Babes. Ich runzle die Stirn. Und nicht schon wieder Scarlett! Amelia ist derart aus dem Häuschen, weil ihre »absolut umwerfende«, »total coole« Cousine am Samstag dabei sein kann, dass sie über so gut wie nichts anderes mehr redet.

Wenn man Amelia so hört, könnte man meinen, Scarlett hätte im Alleingang alles erfunden: Mode, Musik und das Internet. Meine Erfahrung hat gezeigt: Wenn Amelia etwas umwerfend findet, dann finde ich das höchstwahrscheinlich nicht.

Na egal, Hauptsache, wir vertragen uns jetzt wirklich gut.

»Du musst nicht kommen, weißt du«, sagt Amelia zu mir, als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt.

Nun, wir verstehen uns beinahe wirklich gut. Es klappt fast wie am Schnürchen. Jedenfalls immer dann, wenn es nicht völlig in die Hose geht.

»Warum sagst du so was?«, frage ich.

»Na, warum machst du so ein Gesicht?«, fragt Amelia.

»Was für ein Gesicht?«

»Als ob das alles deiner nicht würdig wäre und dich langweilen würde«, sagt Amelia.

»Mein Gesicht sieht nun mal so aus!«, protestiere ich. »Aber, um ehrlich zu sein, ich finde das alles meiner echt nicht würdig und du langweilst mich ganz gewaltig«, füge ich hinzu, allerdings nur in Gedanken. Aber wie konnte Amelia das alles an meinem Stirnrunzeln erkennen?

Es geht doch nichts über einen einvernehmlichen Waffenstillstand. Und das ist alles andere als ein einvernehmlicher Waffenstillstand. Haha. Ich hab’s noch drauf. Hmmm.

Amelia und ich sind wie Hund und Katze. Oder wie ein Hund und eine richtig fiese, überhebliche Zicke, die am Anfang der sechsten Klasse an die Schule des Hunds kam und ihm die beste Freundin ausgespannt hat; und die ständig darüber ablästert, wie unmodisch und unreif der Hund ist; und die eine Geheimbande gründet und dem Hund nicht erlaubt mitzumachen, sodass ihm nichts anderes übrig bleibt, als seine eigene gegnerische Geheimbande zu gründen. (Ich bin in diesem Vergleich der Hund.)

Der Fairness halber sollte ich sagen, dass Amelia den ganzen Mist bleiben lässt, seit wir uns alle versöhnt haben. Sie hat aufgehört, meine Kleidung als »Pseudo-Armani« zu bezeichnen.

Ja, in dem Bemühen, das Kriegsbeil zwischen unseren rivalisierenden Geheimbanden (die nie besonders geheim waren) zu begraben, hat Amelia uns auf dem einzigen Weg zusammengebracht, der für sie denkbar war: mit Verwaltungskram.

Anstatt die beiden gegnerischen Banden einfach aufzulösen, hielt Amelia es für besser, sie unter einem neuen Bandennamen zu vereinen. Es musste ein neuer Name sein, denn sonst »würden wir jeweils unseren eigenen Namen verwenden wollen«.

Da lag sie nicht ganz falsch, denn meine Bande hatte einen genialen Namen. Sie hieß »Außergewöhnlich Clevere Einfälle« oder kurz ACE (danke, vielen Dank.) Amelias und Natalies Bande hieß »Coole Abgefahrene Chicks« oder CAC. (Ich fand, dass sich das anhörte wie eines der weniger schlimmen Schimpfwörter für »Scheiße«.)

Ich habe gerade mit Joshua am Comic gearbeitet, als Amelia mit den anderen zusammen den neuen Gangnamen besprochen hat, und als ich nach der Mittagspause zurückkam, erfuhr ich, dass Amelia sich für »Großartige Unzertrennliche Freunde« entschieden hatte. Oder, wie es abgekürzt unglücklicherweise heißt: GUF.

Jap. Ihr habt richtig gehört. Guf. Ganz genau. Amelia hat im letzten Halbjahr in puncto Akronyme nichts dazugelernt.

Als ich endlich Gelegenheit hatte, sie darauf aufmerksam zu machen, dass sich das auf Suff und Puff reimt – was beides nicht wirklich positive Assoziationen weckt –, war der Antrag schon angenommen worden und mein Argument verpuffte (haha, es verpuffte).

Natürlich besteht Amelia darauf, dass man es G.U.F. ausspricht, aber ich denke, wir wissen alle, wie das läuft. Wir hätten uns ACE nennen können. Diese Idioten.

Trotzdem hat es Spaß gemacht, für alle Mitglieder neue Cartoon-Buttons anzufertigen. (Obwohl ich der Versuchung widerstand, Schnapsflaschen draufzuzeichnen, auch wenn Joshua meinte, ich würde mich bestimmt nicht trauen, was es natürlich noch reizvoller machte. Und ich schrieb G.U.F. in winzigen Buchstaben.)

Gerade versucht Natalie, mich vor Amelias Anschuldigung in Schutz zu nehmen. »In echt, Amelia, Jess hat nun mal ein etwas seltsames Gesicht.« Danke, Natalie. Immerhin nimmt sie mich in Schutz. Das ist ein gewaltiger Fortschritt gegenüber dem letzten Halbjahr.

»Hey, Jessica?«, werden wir von Hannah, einem Mädchen aus unserer Klasse, unterbrochen.

»Äh, ja«, antworte ich.

»Kannst du bitte ein Kaninchen auf mein Schmierheft zeichnen?«

»Na klar«, antworte ich glücklich. Dann wende ich mich gespielt arrogant an Natalie und Amelia. »Entschuldigt mich bitte einen Augenblick, meine Damen. Mein Job als Cartoonistin ruft. Danach können wir gern weiter über mein seltsames Gesicht reden, wenn ihr mögt.«

Natalie lacht und dann sieht sie mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. »Du hast dich verändert«, sagt sie.

Ich weiß, dass Nat nur einen Witz gemacht hat, aber ich habe mich nicht verändert. Nur weil ich jetzt meine, dass ich genial gut Cartoons zeichnen kann, heißt das noch lange nicht, dass ich eingebildet bin oder so. Hmmm. Trotzdem.

Und überhaupt, denke ich, während ich von der Bushaltestelle nach Hause gehe, können Natalie und Amelia vielleicht einfach nicht damit umgehen, dass ich jetzt beliebt und umwerfend bin. Also, mehr oder weniger. Ich bin sozusagen diejenige, die von den CAC-Mädchen nicht mehr offen gemobbt wird. Und auch das ist ein großer Fortschritt gegenüber dem letzten Halbjahr.

Tatsache ist jedenfalls, dass ich mich nicht verändert habe. Was sich verändert hat, ist die Art, wie mein Talent von anderen wahrgenommen wird. (Man tuschelt schon ein bisschen über das morgige Erscheinen des Comics. Es wird den sechsten Jahrgang im Sturm erobern.) Aber ich bin dieselbe Person, die ich seit jeher war. Und ich habe immer schon für andere Cartoons auf ihre Hefte gezeichnet. Es stimmt, dass ich jetzt öfter darum gebeten werde, aber wisst ihr, Cartoons waren immer schon mein Ding. Ein klarer Fall von Eifersucht, beschließe ich, als ich in die Küche komme.

Zum Glück ist bei uns daheim der Sparkurs vorbei, den meine Eltern im letzten Halbjahr eingeführt haben.

»Du musst zwei Teebeutel nehmen, diese Billigmarke schmeckt nach nichts«, weist Mum gerade Dad an, der Teewasser kocht und nebenbei eilig die Einkäufe verstaut.

Sofort werde ich hellhörig. Preiswerte Teebeutel? Ich sehe, dass alle Artikel dasselbe Superbillig-Markenlogo tragen. Superbillig-Dosentomaten, Superbillig-Kürbis, Superbillig-Cornflakes. Wenn etwas nicht nur billig, sondern superbillig ist, dann kann das nichts Gutes bedeuten.

»Hi«, sage ich misstrauisch, während Mum den Sandwichtoaster aus dem überfüllten Schrank zerrt. Für einen Augenblick freue ich mich, denn ich liebe Sandwichtoast mit Käse. Aber die Freude vergeht mir gleich wieder, als ich sehe, wie Mum ungeduldig versucht, eine dünne Scheibe Superbillig-Brot zu buttern.

»Hi«, erwidert sie abwesend. Das Messer rutscht ins Brot und reißt mehrere Löcher hinein.

Ich behaupte ja nicht, Experte für Sandwichtoast zu sein, aber ich weiß, dass es eine Riesensauerei geben wird, wenn der Käse schmilzt. Ich möchte Mum gern darauf hinweisen, aber sie reagiert auf konstruktive Kritik sehr empfindlich. Ich muss äußerst taktvoll vorgehen.

»Äh, was ist denn mit dem Brot los?«, sage ich, vielleicht eine Spur zu direkt.

»Reiz mich bloß nicht!«, fährt Mum mich an.

»PPPRRRRAAAAAAAAASSSSCCCHHH!« In dem Augenblick kommt mein kleiner Bruder Ryan reingerannt. Er hält die Arme über den Kopf und tut so, als wäre er eine Rakete.

Er macht so einen Radau, dass es sich anfühlt, als würde das Haus wackeln. Wenn das ein Cartoon wäre, würde Putz von der Decke bröckeln, in der Nachbarschaft würden Hunde zu bellen anfangen, und es gäbe eine Einstellung, auf der man die Erde aus dem All sehen würde und wo Ryans Stimme immer noch zu hören wäre. Aber hier fängt nur Mums linkes Auge ein wenig zu zucken an.

»Zimmerlautstärke, Ryan, bitte«, sagt Dad ruhig, so als hätte Ryan nur den Bruchteil eines Dezibels zu laut geredet.

Ryan bleibt stehen und blinzelt Dad mit immer noch erhobenen Armen sichtlich überrascht an. »Aber Daddy, das geht nicht, ich bin doch eine Weltraumrakete«, erklärt er, als wäre Dad nicht ganz bei Trost. Dabei ist er nicht derjenige, der einen Helm trägt und sich für eine Rakete hält.

»Wenn du nicht aufhörst, so einen Krach zu machen, dann bekommst du mächtig Ärger«, droht Dad in höflichem Ton.

»Däng däng däng!«, ruft Ryan dramatisch und macht dabei das Geräusch, das man manchmal hört, wenn ein Fernsehfilm mit einem Cliffhanger endet oder die Handlung eine unerwartete Wendung genommen hat.

Insgeheim finde ich das irgendwie witzig. Aber dass Ryan dabei so laut ist, gefällt mir weniger. Ryan ist so süß, wie er nervig ist. Manchmal bin ich hin- und hergerissen, ob ich über ihn lachen oder ihn anmotzen soll. Ich weiß, dass er nichts dafür kann. Er ist ja erst sechs Jahre alt. Aber trotzdem. Wieso spielt er nicht eine Rakete, die mit abgestelltem Triebwerk lautlos irgendwo parkt?

Ryan scheint den Wink aber kapiert zu haben, also wende ich mich wieder an Mum. »Ich wollte dich nicht … reizen«, sage ich vorsichtig, um sie nicht unnötig aufzuregen. »Aber dieses Brot sieht für Sandwichtoast viel zu locker aus. Warum kaufst du nicht das gute Zeug?«

»Weil es zu teuer ist«, sagt Mum verärgert.

»Aber ich dachte, der Sparkurs wäre vorbei«, protestiere ich, auch wenn es angesichts der Beweislast zwecklos ist.

Es war grässlich, als wir auf Sparkurs lebten. Mum weigerte sich, irgendetwas Frisches zu kaufen, solange in den Küchenschränken oder im Kühlschrank noch etwas Essbares zu finden war. Also gab es Kombinationen wie Fischstäbchen mit roten Rüben aus der Dose, und das nannten meine Eltern dann Abendbrot.

»Der Sparkurs ist vorbei«, sagt Dad.

»Und was soll das dann alles?«, frage ich.

»Nun …«, Dad macht eine nachdenkliche Pause, »… jetzt schnallen wir den Gürtel enger

»Däng däng däng!«, ruft Ryan.

»Ohne spitzfindig sein zu wollen«, sage ich vorsichtig, weil Mum immer noch leicht verärgert wirkt und ich nicht möchte, dass sie einen ihrer Wutausbrüche bekommt, »aber das meint dasselbe, klingt nur anders.«

»Es ist ähnlich«, stimmt Dad mir zu.

»Als ihr gesagt habt, dass der Sparkurs vorbei wäre, war er in Wirklichkeit also kein bisschen vorbei«, fahre ich fort.

»Habt ihr gelogen?«, fragt Ryan, plötzlich sehr interessiert.

»Sag nicht lügen, sag flunkern«, antwortet Dad. »Das ist höflicher.«

»Oh, Verzeihung«, antworte ich sarkastisch. »Also habt ihr uns höflich, aber gewaltig, gigantisch und episch angeflunkert?«

»Nein«, sagt Dad. »Wir schnallen den Gürtel enger. Das ist etwas anderes. Und dabei lernt ihr auch noch den verantwortungsvollen Umgang mit fiskalischen Ressourcen.«

Wenn Dad glaubt, er könnte den Streit gewinnen, indem er Wörter verwendet, die ich nicht kenne – dann hat er zunächst recht. Aber ich werde das später googeln.

»Warum macht ihr Kinder euch nicht nützlich und deckt den Tisch?«, sagt Mum.

»Warum«, gebe ich zurück, »essen wir nicht einfach mit den Händen und sparen Spülmittel? Vielleicht gibt es auch ein bisschen geschmacklose Pappe, die wir futtern könnten. Das wäre billiger und würde nicht so viel Dreck machen wie richtiges Essen.«

Meiner Mum kann man nicht mit Sarkasmus kommen. »Sagte ich nicht gerade, dass du mich nicht reizen sollst?«, fragt sie und knallt das Buttermesser auf die Arbeitsplatte.

»Tee!«, ruft Dad dazwischen. »Der Tee ist fast fertig. Dauert nicht mehr lange.« Dann fügt er mit barschem Unterton an mich gewandt hinzu: »Jessica, tu bitte, worum man dich bittet.«

»Aber ich dachte, es sei gut, seine Meinung zu äußern«, widerspreche ich frech. »Das hat Tante Joan gesagt.«

»Tja, Tante Joan denkt auch, sie hätte Bigfoot gesehen«, seufzt Dad und reicht Mum eine Tasse Tee.

Ich muss wohl akzeptieren, dass sie diese Runde gewonnen haben, und beginne murrend, Ryan Besteck zu reichen.

Das Problem mit meiner Mum ist, dass sie im Grunde ein wunderbarer Mensch ist, innen drin, aber dass sie nach außen hin ein wenig zu Wutausbrüchen neigt, wenn man sie nicht ständig mit Tee besänftigt. Dafür gibt es vielleicht einen medizinischen Fachbegriff. Tee-Wut-initus oder so.

Sie ist in vielerlei Hinsicht sehr ausgeglichen. Sie regt sich nur auf, wenn etwas zu teuer ist, oder zu laut oder zu unordentlich. Der Hauptgrund für ihr Leiden ist also der Umstand, dass sie mit uns zusammenlebt.

Manchmal regt sie sich über Kleinigkeiten auf. Wenn irgendwo eine lange Schlange ist; wenn jemand die Schere nicht an ihren Platz zurückgelegt hat; oder wenn meine große Schwester Tammy an einer Kundgebung teilnimmt und verhaftet wird.

In letzter Zeit nervt es sie, dass der Seitenspiegel an unserem Auto mit Klebeband befestigt ist, während unsere direkten Nachbarn (die VanDerks, mit denen sich meine Eltern merkwürdigerweise immer messen müssen) am laufenden Band mit ihrem neuen Auto angeben. Sie sagt dann immer wörtlich, das sei die Hölle.

Aber von all dem abgesehen ist sie ausgesprochen liebenswert.

Also, was hat zwei Daumen und musste gestern zum Abendbrot steinharten Sandwichtoast essen? Die da. (Ihr könnt mich nicht sehen, aber ich zeige gerade auf mich selbst, mit beiden Daumen. So weit kapiert? Ich weiß, ich krame alte Witze aus, aber ein guter Gag ist eine sichere Bank.)

Es hat mir wirklich nichts ausgemacht, denn es hat trotzdem gut geschmeckt. Und im Großen und Ganzen finde ich mein Leben zurzeit völlig in Ordnung. Und wie man so schön sagt, morgen sieht alles anders aus.

Nun, genau genommen ist heute morgen. Ich meine damit, es ist der nächste Tag. Heute, jetzt. Ihr versteht schon. Um genau zu sein, ist es Mittwoch. Ich bin in meinem Klassenzimmer, wo gerade unsere Namen aufgerufen werden, und tue so, als würde mich Natalie und Amelias Liste ihrer fünf beliebtesten Popstars interessieren.

Aber was noch viel wichtiger ist, heute erscheint mein erster Comic! Mir schießt kurz durch den Kopf, wie berühmt ich sein müsste, damit man den Wochentag mir zu Ehren umbenennen würde. (Ich habe mich aber eindeutig nicht geändert. Eindeutig nicht.)

Ich habe gestern nach dem Abendbrot im Internet das Wort »fiskalisch« nachgeschaut. Ich bekam eine Menge Suchergebnisse, die mit Wirtschaft und Regierungen und Staatskassen zu tun hatten. Soweit ich das verstanden habe, bedeutet »fiskalisch« so viel wie finanziell, also dass eine Sache mit Geld zu tun hat.

Warum hat Dad nicht einfach gesagt, dass wir mit unserem Geld vorsichtig umgehen müssen? Er kann es noch so sehr mit Fremdwörtern umschreiben – ich gehöre zur Generation Google und wir können das alles entschlüsseln. (Solange wir einen Internetzugang haben.) Wir sind schon mal mit wenig Geld ausgekommen, das schaffen wir auch wieder. Ich wünschte nur, meine Eltern würden offen darüber reden.

Ich sollte unbedingt ein Eltern-Handbuch oder etwas in der Art schreiben. Hey, vielleicht wäre das eine witzige Idee für den Comic! Aber die Glocke läutet, bevor ich dazu komme, die Idee zu notieren.

Blöde Morgenversammlung, die meine Inspiration stört, denke ich schmollend auf dem Weg in die Aula.

»Was ist mit dir los?«, flüstert Natalie, als wir uns am Ende unserer Schlange anstellen.

»Ach nichts, es ist nur – he, du hast nicht zufälligerweise einen Stift dabei?«, flüstere ich zurück. Vielleicht könnte ich die Idee schnell auf die Rückseite des Zettels mit dem Morgenlied kritzeln.

»Hmmm, lass mich nachdenken …« Nat tut so, als würde sie auf der Suche nach einem Stift ihre nicht vorhandenen Taschen abklopfen. »Äh, nein.« Sie runzelt fragend die Stirn.

»Alles easy, ich wollte nur eine Idee aufschreiben, die … ach, ist egal«, flüstere ich. Plötzlich ist es mir ein bisschen peinlich. Natalie und Amelia kapieren nicht, wie genial der Comic ist, darum ist er ihnen nicht so wichtig wie mir.

»Gott, dein Leidender-Künstler-Getue ödet mich dermaßen an«, flüstert Amelia, und Natalie kichert, was mich wirklich gewaltig ärgert.

Ach ja? Nun, mich ödet dein Gesicht an, denke ich. Und überhaupt, was denn für ein Leidender-Künstler-Getue? Ich bin ein glücklicher Künstler. Ich sage aber nichts, und wahrscheinlich ist es besser so. Mir fallen bestimmt noch geistreichere Bemerkungen ein.

In der Aula hängt eine Ankündigung, dass nach dem Mittagessen eine zusätzliche Versammlung für die sechste Jahrgangsstufe stattfindet. Mir ist aber egal, worum es dabei geht. Das wichtigste Ereignis ist für mich heute das Erscheinen unseres Comics in der Mittagspause. Selbst über Amelias Beleidigung ärgere ich mich heute nicht lange, denn dazu bin ich viel zu aufgeregt.

Ich kann es kaum erwarten, dass die Doppelstunden in Englisch und Werken endlich vorbei sind, was eine Schande ist, denn ich mag Werken und habe nichts gegen Englisch. Aber ich kann mich beim besten Willen nicht auf den Unterricht konzentrieren.

Meine Freundinnen Cherry und Shantair sagen mir in Werken sogar, dass ich endlich aufhören soll, über den Comic zu faseln (was an sich schon bemerkenswert ist, denn die beiden sind meine Freundinnen aus dem Schachclub und normalerweise viel zu schüchtern, um so etwas zu sagen). Aber sie legen Wert auf gute Noten und ich habe sie abgelenkt.

Zum Glück sind sie nicht nachtragend und am Ende der Stunde versöhnen wir uns wieder. Und Shantair ist immer noch damit einverstanden, dass wir ihr Haarband benutzen, wenn wir beim Mittagessen feierlich den Comic vorstellen.

Meine Freundinnen Emily, Megan und Fatimah sind aufgeregter als die beiden anderen. Das sind meine Freundinnen, die lieber Spaß haben, als zu lernen. Sie stupsen mich in Werken immer wieder an und zeigen mir den hochgereckten Daumen. Ich glaube, das gehörte zu den Sachen, von denen sich Cherry und Shantair gestört gefühlt haben.

Ich sitze in diesen Fächern nicht neben Natalie, weil wir am Anfang des sechsten Schuljahrs alle umgesetzt wurden und sie neben Amelia gelandet ist.

In Werken fange ich hin und wieder Joshuas Blick auf, den er mir quer durch den Raum zuwirft. Ich glaube, wir sind beide ein bisschen nervös, aber zufrieden.

Joshua ist mein neuester Freund. Das ganze Schuljahr saß ich in Kunst schon neben ihm, aber er hat nicht viel mit mir geredet (abgesehen von dem »Was würdest du lieber machen?«-Spiel, das ich als Geistesblitz mal in einer Stunde vorgeschlagen habe).

Als ich mich dann mit Natalie verkracht habe, bin ich mehr mit meinen anderen Freunden herumgehangen, und um es kurz zu machen: Joshua und ich fanden heraus, dass wir beide Cartoons mögen. Es war seine Idee, einen Comic ins Leben zu rufen.

Endlich läutet die Glocke zur Mittagspause. Mein Magen schlägt einen Purzelbaum. Es kann losgehen.

»Hiermit verkünde ich, dass der erste Höllfern-Comic offiziell erschienen ist!«, dröhnt Tanya Harris und durchschneidet Shantairs Haarband, das um die erste Ausgabe gewickelt ist. Unsere acht Zuschauer in der 6c applaudieren höflich. Natalie, Amelia, Shantair, Cherry, Megan, Emily und Fatimah (also die ehemaligen ACE-Mitglieder, die jetzt eine Hälfte von GUF sind). Auch Harriet VanDerk ist da, um »zu kontrollieren, ob wir es richtig machen«.

»Jetzt!«, befiehlt Tanya, und wie aufs Stichwort ziehen Lewis und ich an den Schnüren von zwei Partybomben. Konfetti wird in die Luft geschleudert und landet größtenteils auf den Köpfen von Tanya und Joshua. Emily pfeift durch die Finger (was ich leider nicht kann). Ich widerstehe dem Drang, laut »Tadaaaaa!« zu rufen.

Ich finde, dass der Comic wunderschön geworden ist. Er ist nicht besonders dick, eigentlich nur ein gefaltetes Din-A4-Blatt, das Lewis heimlich auf dem modernen Drucker von seinem Dad vervielfältigt hat.

Auf dem Cover ist eins meiner Schaf-Cartoons, die inzwischenrichtig berühmt sind. Diesmal zeigt es unsere Französischlehrerin Miss Price. Auf dem Cartoon ist ein Schüler am Ersticken und kann nur noch quieken: »Rufen Sie den Notarzt!« Miss Price antwortet daraufhin: »Nur, wenn du es auf Französisch sagst!«