Liselotte Welskopf-Henrich
Bertholds neue Welt
Erzählung
Mit einem Vorwort von Rudolf Welskopf
Palisander
Erstausgabe
1. Auflage März 2015
© 2015 by Palisander Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Covergestaltung: F. Elstner, unter Verwendung der Fotografie »Scene of destruction in a Berlin street just off the Unter den Linden« von No 5 Army
Film & Photographic Unit, Wilkes A (Sergeant), 3. 7. 1945
Lektorat, Redaktion & Layout: Palisander Verlag
ISBN 978-3-957840-18-9 (e-pub)
ISBN 978-3-957840-19-6 (mobipocket)
www.palisander-verlag.de
Liselotte Welskopf-Henrich (1901 - 1979) war eine deutsche Schriftstellerin und Wissenschaftlerin. In den Jahren der Naziherrschaft war sie am antifaschistischen Widerstandskampf beteiligt. Ihre Erfahrungen aus der Weimarer Republik und dem »tausendjährigen Reich« verarbeitete sie in ihren Romanen »Zwei Freunde« und »Jan und Jutta«. 1951 erschien die Urfassung ihres Indianerromans »Die Söhne der Großen Bärin«, den sie später zu einem sechsteiligen Werk erweiterte. 1966 erschien »Nacht über der Prärie«, der weltweit erste Gesellschaftsroman über die Reservationsindianer im 20. Jahrhundert. In den folgenden Jahren, bis zu ihrem Tod, entwickelte sie diese Thematik in vier weiteren Bänden weiter. Darüber hinaus war sie seit 1960 Professorin für Alte Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität und seit 1962 Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Sowohl als Wissenschaftlerin als auch als Schriftstellerin fand sie internationale Anerkennung. Die Stammesgruppe der Oglala verlieh ihr für ihre tatkräftige Unterstützung des Freiheitskampfes der nordamerikanischen Indianer den Ehren-Stammesnamen Lakota-Tashina, »Schutzdecke der Lakota«.
Cover
Titel
Impressum
Über die Autorin
Vorwort
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
XXIV
XXV
XXVI
Liselotte Welskopf-Henrich - Die Erzählungen und Romane
»Hitler kaputt!« – Der Sieg der Roten Armee in Berlin war für Rudolf Welskopf und Dr. Liselotte Henrich wahrlich eine lang ersehnte Befreiung. Die Nazis, die NSDAP, SA, SS, SD, Gestapo – die ganze Todesmaschine der Faschisten war zerschlagen. Ein ungeheurer Druck war von ihnen wie von Tausenden überlebenden Antifaschisten, Verfolgten, Juden und Regimegegnern genommen. Allzu viele von Ihnen waren ermordet worden ... Nun sollte ein neues Leben beginnen, zwischen Ruinen, aber auf einer neuen, humanen und gerechten Grundlage. Stalins Wort: »Die Erfahrungen der Geschichte besagen, dass die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt«, bewahrheitete sich. Aber: Würde das deutsche Volk so bleiben, wie es war? Würde der deutsche Staat so bleiben, wie er war? Das sind die Fragen, um die sich diese Geschichte dreht. Sie müssen offen bleiben, denn das Ende der Erzählung blieb offen. Sie sollte nur den Anfang eines großen Romans bilden, den Liselotte Welskopf-Henrich nicht weiter schreiben konnte. Ihre Lebenszeit reichte dafür nicht mehr aus.
Sie hatte in den 1970-er Jahren mit diesem Projekt begonnen, aber parallel arbeitete sie an den letzten Bänden der Pentalogie »Das Blut des Adlers« und an dem großen internationalen wissenschaftlichen Projekt über die sozialen Typenbegriffe im alten Griechenland, mit rund 100 Autoren aus 40 Ländern. In diesem Kontext wird verständlich, dass die Erzählung, die auf dem autobiographischen Werk »Jan und Jutta« und dem Gesellschaftsroman »Zwei Freunde« aufbaut, ein Fragment geblieben ist. Das Personal dieser Romane lebt weiter, arbeitet weiter und hat weiterhin Kämpfe auszufechten. Nicht nur einige Wochen im Frühling und Sommer des Jahres 1945, sondern noch viele Jahre und Jahrzehnte und einige hundert (oder tausend?) Seiten hätten daraus werden sollen.
Der »Gegenwartsroman« war in der DDR gerade in dieser Zeit ein häufig diskutiertes Sujet und ein »heißes Eisen«. Politisch war er durchaus erwünscht, denn der real existierende Sozialismus sollte literarisch keine Terra incognita bilden, aber zugleich sollte die Gegenwartsliteratur »natürlich« parteilich sein und vorwärtsweisend. Die Probleme um Macht und Machtmissbrauch, Legitimation und Privilegien, die die Menschen wirklich umtrieben, sollten nicht ausgesprochen werden. Nur selten gelang der Spagat, beides zu vereinen.
Als Welskopf-Henrich den vorliegenden Text schrieb, arbeitete sie auf einen »Gegenwartsroman« hin. Und ich kann mich noch an einige gesellige Runden mit Freunden und Autoren erinnern, in denen sie meinte: »Wenn ich mal einen Gegenwartsroman schreibe, dann wird der hier nicht veröffentlicht. Vielleicht irgendwann einmal nach meinem Tod ...« Nun, das war scherzhaft ausgesprochen, aber nicht als Scherz gemeint. Es war für sie nicht nur eine Frage der Ehre, wahrhaftig zu schreiben und sich nicht von Verlagen und Lektoren hineinreden zu lassen in wichtigen Fragen, sondern wenn sie schrieb, dann konnte sie nur die Wahrheit, ihre Wahrheit schreiben. So wird hier nichts beschönigt, nicht die falschen »Genossen«, nicht der NKWD, auch nicht, dass die legendäre »Gruppe Ulbricht« erst nach vielen Wochen an der Basis bemerkbar wurde und dann erst, im Juni 1945, die KPD wieder gegründet werden durfte.
Sie beschönigt auch nicht ihre Illusionen und den Glauben an den Kommunismus als eine gerechte und humane Gesellschaftsordnung, den sie damals hegte. Die Kommunisten, die sie persönlich damals kennenlernte, ihren späteren Ehemann Rudolf Welskopf und seine Genossen, die das KZ überlebt hatten, waren integere, grundehrliche Menschen, die für ihre Überzeugung unter schweren Misshandlungen eingestanden waren. Sie waren Vorbilder und Leitfiguren für sie in dieser chaotischen Zeit. Auch das kohärente wissenschaftliche Gebäude des Marxismus übte auf sie, wie auf viele andere, eine große intellektuelle Faszination aus. – Den aus heutiger Sicht naiven Glauben überträgt sie in diesem Romanprojekt auf den designierten Haupthelden, auf Berthold.
Liselotte Henrich hat, wie das »Fräulein Doktor«, 1945 - 46 in der Berliner Verwaltung, im Bezirksamt Charlottenburg gearbeitet. 1946 - 1949 führte sie mit Rudolf Welskopf einen Baustoff-Handel. Danach trat Rudolf Welskopf in den Reichsbahn-Baubetrieb ein, und sie begann ihre Laufbahn als Historikerin an der Humboldt-Universität. In allen diesen Tätigkeiten gab es Konflikte, nicht selten mit »gewendeten« Nazis, immer häufiger mit dogmatischen, bürokratischen Karrieristen, mitunter auch in Personalunion. Was für ein Romanstoff! Ja, diesen wollte sie thematisieren, wollte auch das scheinbar »trockene« Milieu der Wissenschaftler und der Universität als eine Schlangengrube schildern ...
Oft werde ich gefragt, ob meine Eltern denn noch bis zu ihrem Lebensende 1979 »an den Sozialismus geglaubt« hätten. Ja, mein Vater hat geglaubt, unter Schmerzen. Meine Mutter war aber zu sehr nüchtern analysierende Historikerin, als dass sie nicht irgendwann die grundlegenden Konstruktionsfehler dieses Systems erkannt hätte. Dieser Prozess setzte bei ihr erkennbar 1956 nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes ein. Wir besuchten in den Folgejahren regelmäßig Ungarn. Über Fachkollegen und Schriftsteller-Kollegen fand sie Wege zu Schriftstellern, die mit Berufsverbot belegt waren, und unterstützte diese auch finanziell. Die endgültige Desillusionierung brachte 1968 der Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei. Wir erlebten ihn unmittelbar in unseren Sommerferien dort mit, und wir sahen die Verzweiflung, die enttäuschten Hoffnungen der Tschechen und fühlten mit ihnen. Auch das hätte in diesen »Gegenwartsroman« gehört, zu dem »Bertholds neue Welt« den Auftakt bilden sollte ...
Rudolf Welskopf, im Januar 2015
Berthold saß auf der schiefen Holzbank. Alle anderen hatten den Steinhaufen verlassen, der einmal das Haus gewesen war, und sie alle hatten den Garten verlassen, hatten den geknickten Ahornbaum an der schmiedeeisernen Pforte sich selbst überlassen und sich nicht mehr nach der Kastanie umgesehen, die ihr zerschmettertes Geäst zum Himmel streckte, als ob er von ihr wissen müsse. Der Himmel war ein Raum für Welten und Sterne, blau heute, windlos, fern, und nur das Licht und die Wärme einer einzigen seiner Sonnen drang hindurch zu der Klage der Zerstörten. Der Apfelbaum aber blühte unbekümmert in der blauen Luft. Schon hatten sich Blüten geöffnet, weiß mit einem roten Hauch über den Rändern, und Knospen wollten aufspringen, da die Säfte sie trieben.
Der Rasen war zertrampelt. Wer wollte, konnte noch grobe Spuren der Soldatenstiefel erkennen und Splitter zersprungener Scheiben blinken sehen, die sich in die Erde einzugraben begannen. Das Notgrab des jungen Schützen, der sich am Ende selbst die Kugel gegeben hatte, trug sein Kreuz ohne Namen.
Berthold saß auf der Bank. Er war zwölf Jahre alt. Sein Haar war dunkel und lockig, seine Haut von einem matten Braun, feinporig; er hatte dunkelblaue Augen. Von Gestalt war er groß und kräftig für sein Alter, aber noch nicht ausgewachsen – nein, das konnte er im dreizehnten Lebensjahr noch nicht sein. Nicht ausgewachsen, nicht ausgegoren, von Erwartung getrieben, von Ungewissheit zurückgehalten. Fleisch und Blut gewordene Frage, die sich strecken konnte wie Fühler und sich einziehen, wenn der Schatten fremder Neugier darüber streifte.
Berthold wollte in diesen Stunden des Hellseins einsam bleiben, darum war er in den verlassenen Garten gegangen zwischen Steinhaufen, geborstene Bäume, Splitter, trocknende sich verflachende Spuren von Trampelfüßen. Er wollte allein sein. So sagte er zu sich selbst, und dieses Zu-sich-selbstsprechen erschien ihm als eine der großen Seltsamkeiten. Ein Mensch konnte mit seinem eigenen Ich sprechen wie mit einem anderen Ich, verständig und verständnislos, offen und lügenhaft. Es war verwirrend. Berthold hatte schon oft darüber nachgedacht; nicht in dieser Stadt, solange sie, an sich selbst glaubend, eine Stadt der kleinen hübschen oder pompösen geschmacklosen, alten oder neuen Wohnhöhlen gewesen war, Stadt der Hupen, der Klingeln, des Geratters, des Staubs, der Eile. Zu jener Zeit hatte Berthold nur fern von dieser Stadt zuweilen Einsamkeit gefunden, die keine Verlassenheit war. Aber die Ferne war jetzt abgeschnitten, die Stadt war auf sich selbst geworfen, und sie war keine Stadt mehr, sie war ein Platz mit wenig Wasser inmitten von Steinhaufen, Platz ohne Technik, Platz, an dem man Holz suchte und im Freien kochte, an dem man in Keller kroch, um Beute zu machen, nachdem die Läden leer geplündert waren. Diese Stadt war keine Natur und auch keine Stadt mehr; sie war eine Un-Stadt. Inmitten dieses Unwesens hatte sich für Berthold ein Stück neuer Einsamkeit aufgetan, die keine Verlassenheit war, das ehemalige Haus, der ehemalige Garten, die ehemalige Straße, der ehemalige Stadtteil, die alle ihre alte Form verloren hatten und etwas Anderes geworden waren: stumme Trümmer. Die Menschen, soweit sie nicht geflüchtet und nicht getötet waren, suchten nach Trinken, Essen, Kleidung, Behausung. Sie versteckten sich aber auch und suchten nach sich selbst, denn die meisten hatten ihr Selbst verloren, und ein Mensch suchte den anderen, denn viele waren voneinander getrennt worden; einige verbargen sich aus Angst; sie fürchteten, dass man ihnen antun werde, was sie anderen angetan hatten.
Berthold war aber in Wahrheit nicht nur darum in den verlassenen Garten gegangen, um allein zu sein. Sein Selbst wollte von dieser Redensart nichts weiter hören. Auch er hatte gesucht. Er suchte.
Dabei hatte er ein Pferd gefunden. Es war schön, ein edles Tier. Ja, an dieses Tier war das alte Wort »edel« nicht verschwendet. Es war edel von Gestalt, alles an ihm hatte sein gehöriges Maß, und es war edel in seiner Stummheit und Traurigkeit, mit der es Hunger, Durst und Ratlosigkeit ertrug. Die Menschen hatten es in den Krieg gehetzt und es dann verraten und verstoßen. Es war ein Militärpferd. Irgendeine Militärperson nicht ganz geringen Ranges musste auf diesem Pferderücken gesessen haben; nun war der Reiter tot oder gefangen oder geflüchtet und versteckt. Ein Schlachtermeister, in Bertholds Heimat Metzger genannt, und wenn es um Pferde ging, ein Abdecker oder Schinder geheißen, hätte dieses Tier eine Schindmähre genannt und nichts dafür gegeben, denn es war mager geworden und lahmte.
Das Pferd war Berthold nachgehinkt. Er hatte mit ihm gesprochen und seine Wange an die Nüstern geschmiegt, die sich dabei weich und schmiegsam öffneten wie in nie mitteilbaren Erinnerungen. Berthold hatte seinen Umweg eingeschlagen. An dem Parkteich, der moosgrün zwischen nicht mehr begangenen Wegen lag und mit seinen abgezirkelten Ufern noch immer die Ordnung widerspiegelte, die einmal gewesen war – gestern noch oder vorgestern oder vor unfasslich fern gewordener Zeit – an diesem Teich hatte das Pferd das Maul tiefer gesenkt und lange und gierig gesoffen. Es war wohl am Verdursten gewesen. Als es den Kopf wieder gehoben hatte und sein Maul noch triefte, schaute es Berthold an und schien zu fragen: »Was nun? Du bist der Herr.« – Berthold war weitergegangen zwischen den Bäumen, deren Kronen von den Geschossen der schweren Artillerie abgemäht worden waren, und hatte das Pferd am Zügel mitgeführt. Das Tier und er hatten die Axt- und Beilhiebe gehört, mit denen sich Menschen an Bäume heranmachten, deren Kronen abgemäht waren, und an solche, deren Kronen nicht abgemäht waren. Sie wollten Feuerholz für sich gewinnen. Feuerholz brauchten die Überlebenden an dem Platz, der einmal eine Stadt gewesen war. Sie brauchten auch Fleisch. Darum war selbst das magere Pferd in Gefahr. Man konnte es einfangen, ihm den Hals aufstechen und aus seinem zuckenden Fleisch Stücke herausschneiden. Der Hunger herrschte in der Stadt, nicht das Gemüt der Tierfreunde. Berthold hatte sein Pferd auf Schleichwegen hinüber zu dem Garten geleitet, in dem er nun auf der schiefen Bank saß und nachdachte. Er träumte nicht mehr wie als Kind. Er hatte in einer Berghöhle leben wollen, in der er Felswände bemalte und sich einen Löwen hielt, der die Bösen fraß. Jetzt dachte er nach, denn die Wirklichkeit drang auf ihn ein, unübersehbar. Unübersehbar, das war ein Wort mit einem Doppelgesicht und hieß: nicht zu umgehen und doch zu weit und zu groß, um begangen zu werden.
Der Tag gleißte fast ohne Schatten.
Das Pferd hatte zu weiden begonnen; es fraß eine übrig gebliebene Ecke Rasen ab, grüne schwellende Knospen und die dünnen der Zweige. Davon satt zu werden, war schwer, aber die karge Nahrung beruhigte die Eingeweide. Berthold wusste genau, dass er dem Pferd zu fressen geben musste. Er wusste noch nicht, wie. Das würde sich finden. Träume vermochten zu schweben und zu springen. Aber in der Wirklichkeit konnte man nur einen Schritt nach dem anderen tun. Übrigens war dieses Pferd ein Goldfuchs. Aber das musste im Augenblick als unerheblich gelten.
Die Erde drehte sich, wie es seit Urzeiten ihre Bestimmung und Gewohnheit geworden war. Das Fleckchen ihrer Kruste, auf dem sich Berthold mit seinem Pferd befand, geriet in eine neue Stellung zur Sonne. Damit alterte der Tag in einer verfließenden Sanftheit des Lichtes, in der mit dem Abschied schon die Gewissheit der Wiederkehr lag, denn die Kreisbahn hatte weder Anfang noch Ende.
Die harten Axt- und Beilhiebe und das Krachen stürzender sterbender Bäume verstummten. Schweigend, funkelnd schmeichelte die Sonne den Apfelblüten, dem geknickten Ahornbaum und dem zerfetzten Geäst der Kastanie, die alle schon wieder sprossten, wenn auch als Krüppel. Die Bank lag nun im frühen Schatten; es war maikühl. Das Pferd hatte aufgehört zu weiden. Berthold betrachtete es mit Sachverstand. Das Tier trug einen Sattel, einen Reitersattel, einen Sattel aus sehr gutem Leder. Wenn er diese Pferd sich selbst überließ, wurde es von irgendeinem Zweibeiner geschlachtet, und der Sattel wurde von irgendeinem Schleichhändler in Besitz genommen. Berthold aber konnte auf der Stute nach Hause reiten.
Er setzte den Fuß in den Steigbügel und schwang sich auf. Es war sein Pferd, und es spürte sofort, dass die Last leicht war und dass Berthold die Zügel zu führen verstand. Auf dem Dorf, in dem er als der uneheliche und formell doch eheliche Sohn des Schmiedbauern und der Aloisia geboren war, hatte er mit und ohne Sattel reiten gelernt. Die Hufe klapperten auf dem Pflaster, in unregelmäßigem Rhythmus, weil das Tier lahmte. Was Bertholds Adoptivvater sagen würde, aus dessen Samen er in Wahrheit gekommen war, wusste der Junge noch nicht, und er schickte dieser Frage auch nicht einen einzigen Gedanken nach. Er hatte sich entschieden. Er hatte gesucht, und was er gefunden hatte, war dieses Pferd. Nicht irgendein Pferd. Dieses Pferd.
Der Adoptivvater Bertholds konnte reiten, Onkel Justus konnte reiten. Das wenigstens konnten sie, wenn sie auch die Wirklichkeit nicht wirklich kannten. »Wirklich« war einer der sonderbaren Zustände und daher auch eines der sonderbaren Wörter. Berthold kannte nicht nur die Stadtsprache, er kannte auch die der Bauern und der Tiere. Wirklich, das hieß in der Tat, im menschlichen Tun; wirklich, das hieß wirkend und nicht nur im Geschwätz flattern; wirklich, das hieß hier und jetzt. Sonderbar aber bedeutete »auszusondern«; es bedeutete, das Wirkende aus dem vielen Wirkungslosen, darum Unnützen, herauszuholen und aufmerksam zu betrachten. Von dem allem fehlte dem Adoptivvater und Onkel Justus einiges, das fühlte Berthold, der als das ungeliebte Kind des Schmiedbauern und der Aloisia Wirklichkeit kennengelernt hatte; sein Gehirn war dadurch ein für allemal geprägt.
Die Stunde der Trümmerstadt war jene Wirklichkeit, die alte Träume verdrängte und viele neue schuf. Berthold war in seinem Element. Was vorher gewesen war, hatte er nicht als das Wirkliche – und das konnte auch heißen, nicht als das Wahre – anerkannt: Nicht die Luftwörter des Lehrers, nicht die niedergeschlagene Menschlichkeit des Adoptivvaters, der in Wahrheit sein Vater war, nicht des Onkel Justus’ drahtiges Plichtbewusstsein, das bis aufs Blut schnürte und schnitt, nicht die gespenstisch arge Welt der SS, nicht einmal das Fahrtenmesser und den Schulterriemen der Hitlerjugend. Berthold hatte dem Lehrer die Aufsätze geschrieben, die dieser brauchte, und bei der HJ als faule Haut gegolten, aber als einer, mit dem anzubinden nicht ratsam war. Er hatte sein wahres Leben in einer anderen Welt gelebt und früh gelernt, in Zwiespalt zu existieren und sich in solchen Spalten zu verstecken. Jetzt lag die falsche Welt in Trümmern.
Mit seinem Freund Erwin Gopprecht, dessen Vater ein »Untermensch« gewesen war, wollte Berthold sich gern treffen. Erwin war in den letzten Kriegsmonaten mit der Schulklasse zusammen aus der Stadt herausgebracht worden, aber sein Vater meinte, Erwin werde sich wohl nach Hause durchschlagen, so schwierig das auch sein möge.
Seinen Freund Erwin hatte Berthold nie verraten. Wenn Erwin zurückkam, konnte Berthold ihm frei in die Augen schauen. Einen Aufsatz voller windiger Wörter und dummer Lügen schreiben oder einen Freund verraten, das war zweierlei, und Berthold hatte diesen Unterschied nie vergessen. In der HJ hatten sie Berthold gestellt und ihm seine Freundschaft mit dem Sohn des »Untermenschen« ausreden und endlich verbieten wollen. Er hatte sich alle ihre Argumente angehört und wieder angehört und noch einmal angehört und immer mit dem gleichen Satz geantwortet: »Sein Bruder steht an der Ostfront.« Es war seit Jahren Krieg gewesen, der hakenbekreuzigte Eifer hatte nachgelassen, und der Lehrer, der Bertholds Aufsätze brauchen konnte, hatte zu diesem Schüler gehalten.
Das war alles gewesen. Die Freundschaft konnte wiederkommen. Der Augenblick aber verlangte nur, dass Berthold nach Hause ritt, in seine familiäre Wirklichkeit. Das Pferd musste der Wirklichkeit eingepasst werden, oder es starb.
Im vollständig zerstörten Stadtviertel lagen die Straßen leer. Als der Reiter zu den bewohnten Häusern kam, schaute sich niemand nach ihm um. Was war schon Besonderes an einem Jungen, der auf einem Pferd saß und durch seine Haltung sagte, dass er es sich von niemandem wegnehmen lassen würde? Man hatte zu tun oder zu klagen und jedenfalls keine Zeit und keine Lust, sich über etwas zu wundern, was weder gefährlich noch besonders einträglich werden konnte.
Vor einem einzigen Haus war Leben. Ein Lastwagen der Besatzungsmacht stand davor, ein Lastwagen mit Mehlsäcken, die abgeladen werden sollten. In dem Haus befand sich eine Bäckerei mit Laden. Der Bäcker brauchte das Mehl. Zum Abladen brauchte man Leute. Ein Soldat winkte, Berthold verstand. Er sprang ab und band sein Pferd an einen der Bäume am Rand des Bürgersteiges.
Einen Sack Mehl konnte er schon tragen. War sehr schwer, aber er konnte ihn tragen. Berthold half den Bäckersleuten und gehorchte den Soldaten. Er konnte etwas Russisch; das hatte er von Natascha, dem Hausmädchen, der verschleppten Ukrainerin, gelernt. Die Soldaten freuten sich und lachten, weil der Junge kräftig war und ihre Sprache mit einem vertrauten Dialekt sprach.
Mit lahmem Kreuz und schmerzenden Schultern, vier Brote als Belohnung im Sack auf dem Rücken, bestieg Berthold wieder sei Ross und ritt vollends nach Hause.
Das Miethaus, vor dem Berthold anhielt, war ein Haus aus der Zeit des Prunks der Stadt und jetzt schon alt. Es stammte aus jenen Nachkriegsjahren eines vergangenen Jahrhunderts, die die Glücksspanne der Siegreichen und der sich aufschwingenden Geschäftemacher gewesen war. Berthold wusste nicht viel von dieser Vergangenheit, in der die Urgroßväter geherrscht hatten. Jetzt war das Haus eine halbe Ruine, man konnte bei genauerer Berechnung auch sagen, eine einsturzgefährdete Achtzig-Prozent-Ruine zwischen hundertprozentigen Ruinen, und sie stellte eben durch ihre Teilzerstörtheit etwas Begehrenswertes dar, denn hier konnte man noch unterkommen, wurde aber von keinem anderen Bombengeschädigten, Behausung-Suchenden beneidet. Berthold band das Pferd an einen Laternenpfahl und eilte über ein paar breite Treppenstufen aus Marmorimitaten zur Wohnungstür im Parterre. Die Klingel funktionierte nicht, die Tür war nicht verschlossen. Berthold lief in das Hinterzimmer, das sein und seines Cousins Hinrich Ludwigs Reich war. Er lud seinen Brotsack in einer versteckten Ecke ab. Der Cousin war nicht da. Berthold rannte zurück zu seinem Goldfuchs, um abzusatteln; er lud sich den Sattel auf den Nacken und brachte ihn zu dem Brotsack in die Zimmerecke.
Die Familie musste unterdessen durch die nur halb verklebten Vorderfenster das Pferd gesehen und Berthold beobachtet haben. Es war draußen schon düster, aber ein Pferd und einen zwölfjährigen Burschen konnte man auch ohne Lichtschein erkennen, den Laternen ohne Gas und ohne Elektrizität nicht mehr gaben. Berthold hörte von der Küche her die Geräusche leichten Hantierens; da wurde wohl aus Nichts ein Etwas gezaubert oder auch das schwarzdunkle Brot geschnitten, das durch Wassergehalt das von der Besatzungsmacht vorgeschriebene Gewicht erreichte. Bertholds vier Brote im Sack waren von besserer Qualität, aber die hatte er ja für das Pferd bestimmt.
Im Vorderzimmer neben der Haustür standen Bertholds Adoptivvater und Onkel Justus am Fenster. Sie waren die ersten Menschen, die sich über das Pferd wunderten; nicht eigentlich über das Pferd, denn der Krieg hatte viele solcher unglücklichen herrenlosen Kreaturen zurückgelassen. Sie mussten sich wundern, was Berthold wohl mit dem Tier anfangen wollte. Aber als Berthold leise in das Zimmer eintrat, drehten sie sich nicht einmal um. Er setzte sich an den Tisch, der seinem Adoptivvater als Schreibtisch diente. Es war weder ein schöner noch ein praktischer Tisch, aber Ausgebombte pflegten nicht wählerisch zu sein. Berthold nahm sich ein Blatt Papier – kostbares, weil knappes Gut – und malte einen Aushang:
Z U V E R L Ä S S I G E N A C H R I C H T E N- U N D
P A K E T- Ü B E R M I T T L U N G
– innerhalb der Stadt –
MELDEN PARTERRE RECHTS BEI BERTHOLD
WICHMANN