Zum Buch
CLARA RILKE-WESTHOFF (1878–1954), Tochter aus Bremer Kaufmannsfamilie und Ehefrau Rainer Maria Rilkes, war eine der Vorreiterinnen der Frauen in der Kunst. Wie ihre enge Freundin und Weggefährtin Paula Modersohn-Becker brach sie mit den Konventionen ihrer Zeit und wählte eine Domäne, die bis dahin vor allem Männern vorbehalten war: die Bildhauerei.
Sie geht nach München – um 1900 neben Paris die führende Kunststadt Europas –, dann in die Künstlerkolonie Worpswede, arbeitet bei Max Klinger und wird Schülerin Auguste Rodins. Zurück in Worpswede begegnet sie einem jungen Dichter, der tief beeindruckt von ihr ist: Rainer Maria Rilke. 1901 heiraten die beiden. Zeitlebens sollte die Künstlerin unter dem Spannungsverhältnis zwischen ihren privaten Lebensumständen, ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter und ihrem künstlerischen Schaffen leiden.
Einfühlsam und basierend auf fundierter Recherche erzählt die Sachbuchautorin Marina Bohlmann-Modersohn (»Paula Modersohn-Becker. Eine Biografie mit Briefen«) das Leben einer zu Unrecht vergessenen Frau, die Porträtskulpturen von großer Ausdruckskraft schuf und zu den wenigen Bildhauerinnen von Bedeutung in der deutschen Kunst der Jahrhundertwende zählt.
Zur Autorin
MARINA BOHLMANN-MODERSOHN, geboren in Bremen, arbeitete nach ihrem Studium an der Sorbonne für die Pariser Redaktion des SPIEGEL. Sie veröffentlichte zahlreiche biografische Essays und ist langjährige MERIAN-Autorin. Sie lebt heute mit ihrer Familie bei Bremen
MARINA BOHLMANN-MODERSOHN
Clara Rilke-Westhoff
Eine Biografie
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1. Auflage
Copyright © 2015 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung: semper smile, München,
Umschlagmotiv: Paula Modersohn-Becker »Porträt Clara Rilke-Westhoff«, 1905, Hamburger Kunsthalle © akg/picture alliance
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-12310-9
V002
www.btb-verlag.de
INHALT
KAPITEL I
Oh, München! Diese göttliche Freiheit!
OKTOBER 1896 –MÄRZ 1898
KAPITEL II
Eine Künstlerin muss frei sein …
sonst kann sie sich nicht entwickeln
WORPSWEDE – LEIPZIG, FRÜHJAHR 1898 – DEZEMBER 1899
KAPITEL III
Heute war ich wieder bei Rodin im Atelier
PARIS 1899 – SEPTEMBER 1900
KAPITEL IV
Ich habe sehr viel vor
WORPSWEDE 1900
KAPITEL V
Man nennt mich jetzt Frau Rilke
WORPSWEDE, JANUAR 1901 – SEPTEMBER 1902
KAPITEL VI
Ich war meiner Kunst noch nie so nahe wie jetzt
WORPSWEDE 1902
KAPITEL VII
Arbeiten, wie wir noch nie gearbeitet haben
WORPSWEDE – PARIS – ROM 1902 – 1904
KAPITEL VIII
Kann aber mit dem Mutter-Sein nicht so schnell
BREMEN – KOPENHAGEN – FRIEDELHAUSEN – WORPSWEDE 1904 – 1906
KAPITEL IX
Und da reitet man durch die Wüste auf einem Kamel
BERLIN – KAIRO 1906 – 1907
KAPITEL X
Mein Wunsch, Hauptmann zu modellieren
WORPSWEDE – PARIS – BERLIN 1908–1910
KAPITEL XI
Dass ich ein bisschen fester stehe im Leben
MÜNCHEN – PARIS 1911–1913
KAPITEL XII
Paris scheint mir ganz verödet ohne ihn
MÜNCHEN – FISCHERHUDE 1913–1917
KAPITEL XIII
Jetzt wird mir langsam wieder freier und froher
FISCHERHUDE 1918 – 1925
KAPITEL XIV
Einliegend zwei Fotos von einer Büste
FISCHERHUDE 1926 – 1954
ANHANG
PERSONENREGISTER
BILDNACHWEIS
BILDTEIL
KAPITEL I
Oh, München! Diese göttliche Freiheit!
OKTOBER 1896 – MÄRZ 1898
Von jungen Mädchen findet man’s entsetzlich, wenn sie ein Selbst sein wollen, sie dürfen überhaupt nichts sein, im besten Fall eine Wohnstubendekoration oder ein brauchbares Haustier, von tausend lächerlichen Vorurteilen eingeengt.
Franziska zu Reventlow
Siebzehn! Das Bedürfnis, aufzubrechen, um sich weit weg von dort, woher sie stammt, allein und ungestört auf ihre künstlerische Laufbahn vorzubereiten, setzt eine gehörige Portion Selbstvertrauen voraus, viel Mut, einen exzessiven Freiheitsdrang und Neugier auf das Fremde.
Weiß Clara Henriette Sophie Westhoff, wie verbreitet die Vorurteile Frauen gegenüber sind, die Kunst studieren wollen mit dem Ziel, diese zu ihrem Beruf zu machen und damit Geld zu verdienen? Ist ihr bewusst, wie groß die männliche Konkurrenz ist, wie verschworen die Bünde der Meistermaler, die malende junge Frauen als Dilettantinnen verhöhnen und ihnen das Tor zu einem Akademiestudium immer noch verschlossen halten? Kann sie sich ein Bild machen, wie schwierig die Lebensbedingungen speziell für Künstlerinnen sind und schließlich: Wie kaum vereinbar Leben und Kunst?
Doch Fragen solcher Art übersteigen vermutlich ihre 17-jährige Vorstellungskraft, und statt sie sich zu diesem frühen Zeitpunkt ihres jungen Lebens überhaupt zu stellen, packt sie im Oktober 1895 lieber ihre Koffer und freut sich auf das nun beginnende Neue.
Dass der Vater, gebürtiger Bremer und Kaufmann in zweiter Generation, auf den Wunsch seiner einzigen Tochter, Malerin zu werden und für ihre künstlerische Ausbildung nach München zu gehen, mit wohlwollender Akzeptanz reagiert und nicht mit Entsetzen – in der von patriarchalischen Strukturen und moralischen Zwängen geprägten Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs ist das keine Selbstverständlichkeit.
Doch Friedrich Westhoff, der seine drei Kinder von früh auf im Zeichnen und Malen unterrichten ließ und selbst in jeder freien Minute hinaus in die Natur ging, um zu malen, fühlt sich der Kunst verbunden, und in der Familie seiner zweiten Ehefrau Johanna Westhoff, geborene Hartung, einer weltoffenen und von bürgerlichen Wertvorstellungen unabhängigen Frau, deren Mutter mit Clara Schumann musizierte, war künstlerische Betätigung ebenso wenig etwas Ungewöhnliches.
Friedrich und Johanna Westhoff haben Vertrauen in die Tochter und glauben an ihr Talent. Das temperamentvolle junge Mädchen wirkt so zielstrebig und entschlossen, dass sie ihr Vorhaben gerne unterstützen wollen. Trotz der vielen Kilometer zwischen Bremen und München und trotz der hohen Ausbildungskosten.
München gilt um 1900 neben Paris als führende Kunststadt Europas. Mit ihren bedeutenden Sammlungen, Museen und Ausbildungsstätten wie der renommierten Akademie der Künste oder der Münchner Damen-Akademie, lockt die alpennahe Residenzstadt nicht nur Maler und Bildhauer von überall her an. Auch Schriftsteller, Musiker, Meister der Lebenskunst und solche, die es werden wollen, lassen sich an der Isar nieder, vorzugsweise in Schwabing, im Norden der Stadt.
Schwabing, eben noch ein winziger Marktflecken inmitten von Wiesen- und Ackerland und erst seit kurzem ein Stadtteil von München, ist ein charaktervolles, idyllisches Viertel. Weitläufiges Grün, schmale, lange Straßen mit Häusern, in denen man preiswerte Zimmer mieten kann, zahlreiche Wirtshäuser; Universität und Kunstakademie sind nicht weit. In der Türkenstraße 28 ist eine Gruppe debattierfreudiger Kleinkünstler eben dabei, sich zu Deutschlands erstem politischen Kabarett »Elf Scharfrichter« zusammenzuschließen, und in der Kaulbachstraße 51a gründet der Verleger Albert Langen mit dem »Simplicissimus« eine satirische Zeitschrift, die vom 1. April 1896 an alle zwei Wochen in München erscheint. Ihr Wappentier ist eine rote Bulldogge. Zähnefletschend fegt das Tier durch die selbstherrlichen Amtsstuben des wilhelminischen Obrigkeitsstaats und entlarvt im Namen von Th. Th. Heine und Olaf Gulbransson, Frank Wedekind, Jakob Wassermann und Ludwig Thoma seine Schwächen: Zensur, Bürokratie, Militär, Parteien, Klerus. Dabei wird selbst die Frauenbewegung, für die München um 1900 ein Zentrum ist, in ihrem Kampf für weibliche Entfaltungsmöglichkeiten und bürgerliche Rechte nicht verschont. So erscheint im »Simplicissimus« ein Text mit einer Karikatur von Bruno Paul, die eine Studentin mit ihrem Lehrer zeigt: »Sehen Sie, Fräulein, es gibt zwei Arten von Malerinnen: die einen möchten heiraten und die anderen haben auch kein Talent.«
Und wer ist dieser junge Autor, den man häufig mit einem Stapel von Manuskripten unter dem Arm in die Kaulbachstraße gehen sieht? Es heißt, er arbeite für Albert Langen als Lektor und schreibe gerade an einem Roman. Schon bald erscheinen die »Buddenbrooks«, und der 26-jährige Thomas Mann jubelt: Die Kunst blüht, die Kunst ist an der Herrschaft … München leuchtet.
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Oh, München! Diese göttliche Freiheit! Clara Westhoff, seit wenigen Wochen Schülerin der privaten Malschule von Friedrich Fehr und Ludwig Schmid-Reutte in der Theresienstraße 71, ein Riesengebäude mit lauter Maler-Ateliers, besucht von jungen Damen, fühlt sich zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Unter Münchens Privatschulen, die seit einigen Jahren wie Pilze aus dem Boden schießen, ist Fehr/Schmid-Reutte die bekannteste und beliebteste. Mit ihrer Aufnahme in die Zeichenklasse von Friedrich Fehr hat Clara Westhoff Glück. Diese gilt als vorzüglich.
Keine Prüfung, keine Mappe, nichts ist nötig, was die Zulassung an privaten Schulen oder so genannten »Damenateliers« bedingte. Begabung hin oder her, die Masse macht’s. »Weiber« zu unterrichten ist ein lukratives Geschäft. Sobald ein junger Künstler die Akademie verlassen hat und seinen Lebensunterhalt noch nicht mit dem Verkauf seiner Bilder bestreiten kann, lehrt er vorzugsweise an einem Damenatelier oder leitet es sogar. Obgleich die Gebühren dort um ein Vielfaches höher sind als die an der staatlichen Kunstakademie, spielt die Qualität des Unterrichts in der Regel eine eher untergeordnete Rolle. Wichtig sind die Umsatzzahlen. Doch Frauen, die sich künstlerisch ausbilden lassen möchten, bleibt nur dieser Weg. Denn sowohl die Münchner Akademie der Künste als auch die anderen großen Kunsthochschulen in Dresden, Düsseldorf und Berlin verwehren ihnen bis auf ganz wenige Einzelfälle den Zugang. Daran wird sich auch in den kommenden zwei Jahrzehnten kaum etwas ändern.
Ich bin sehr froh, in dieser Schule zu sein, berichtet Clara Westhoff nach Hause. Die Eltern sollen es gleich wissen: Sie setze alles daran, erst einmal gründlich zeichnen zu lernen, ehe sie zu malen beginne. Der Fehler der meisten ist, dass sie zu früh anfangen, zu malen, schreibt sie im März 1896 nach Bremen und äußert sich abschätzig über die Damen in ihrer Klasse, die so für sich und ihre Familien etwas malen lernen wollen und deren Arbeiten so für den Haushalt genug, nämlich eher beiläufig ausgeführt würden und sich neben Handarbeit, Musik und Dichtung auf den häuslichen, familiären Bereich beschränkten. Doch natürlich gibt es Ausnahmen. Schnell weiß sie die Dilettantinnen von jenen Mitschülerinnen zu unterscheiden, die ernsthaft an ihrer künstlerischen Karriere arbeiten. Marie Czajkowska gehört dazu. Die polnische Porträt- und Landschaftsmalerin ist ein Jahr jünger als Clara Westhoff und studiert von 1896 bis 1900 ebenfalls bei Fehr/Schmid-Reutte. Die beiden Künstlerinnen werden sich, ohne dass sie es zu diesem Zeitpunkt ahnen könnten, während ihrer weiteren Studien in Paris wiedersehen.
Zwar kommt Friedrich Fehr, sehr jung, süßlich und parfümiert, nur zweimal in der Woche zur Korrektur, doch Clara Westhoff empfindet seine kritische und strenge Art als ehrlich und fühlt sich von ihm ernst genommen: Er kam zu mir, sprach mit mir einen Moment, schob meine Staffelei etwas anders, wischte meinen Anfang wieder weg und zeigte mir, wie man’s machen muss. Fehr hatte die Angewohnheit, mit seinem Daumen hier einen Schatten zu setzen, dort für ein effektvolles Licht zu sorgen. Das motivierte seine Schülerin: Je mehr ich studiere, je mehr ich lerne, je mehr ich sehe, desto mehr angefeuert werde ich.
Bald weiß sie, was ihr besonders liegt. Clara Westhoff zeichnet Porträts und macht Studien nach dem lebenden Modell. Wir zeichnen jetzt im Atelier einen Neger. Sehr interessant und schwer. Ganz andere Gesichts- und Schädelbildung. Am 12. Februar 1896 kann sie Vater und Mutter Westhoff voller Stolz von ihrer Teilnahme an Anatomiekursen berichten, die zu den speziellen Fächern bei Fehr/Schmid-Reutte gehören: Eine tote Menschenhand in Spiritus mit einem ganzen Stück Arm noch dran. Leichenteile. An diesen Anblick müsse sie sich erst gewöhnen, gesteht sie einschränkend ein, doch schließlich sei dieses Fach Teil ihres Studiums. Indem sie sich in dieser Disziplin übt, arbeitet die Malschülerin unbewusst an einer wesentlichen Voraussetzung für ihr späteres bildhauerisches Werk.
Und wie sieht es mit dem Aktzeichnen aus? Dass ein junges Mädchen vor dem nackten Modell arbeitet, gilt als anstößig und unschicklich. Darum ist die Teilnahme am Aktunterricht nicht ohne das Einverständnis der Eltern erlaubt. Zum Glück muss Clara keinen zähen Kleinkrieg mit ihrem Bremer Zuhause führen, um diese Erlaubnis zu erlangen. Vater und Mutter Westhoff geben ihrer Tochter umgehend grünes Licht.
Doch die praktische Ausbildung ist das eine, Museumsbesuche, die Erkundung der Stadt und Ausflüge in die Umgebung das Andere. Sie brauche dringend ein Fahrrad und die zum Radeln geeignete Kleidung, eine Hose und eine Kappe, hatte Clara Westhoff gleich zu Beginn ihrer Münchener Zeit nach Hause geschrieben. Obgleich der Anblick von Frauen in weiten Hosen, die sich allein und vergnüglich auf dem Fahrrad fortbewegen, noch keineswegs alltäglich ist, will sie auch diesbezüglich ihre neue Freiheit genießen, und schon bald kann man das Malweib, ein regelrecht emancipiertes fin-de-siècle-Weib, durch München sausen sehen, ihr Malgepäck auf dem Rücken.
Vor den Toren der Stadt liegt die Künstlerkolonie Dachau und seit bedeutende deutsche Maler, darunter Max Liebermann, Lovis Corinth und Emil Nolde dorthin reisen, um sich vorübergehend von der unberührten Landschaft des Dachauer Mooses inspirieren zu lassen, zieht der kleine Ort auch zahllose Malklassen aus Münchens Damenakademien und Malschulen an. Sepiafarbene Fotos zeigen Scharen junger Frauen in langen Kleidern und breitkrempigen Sonnenhüten, die an ihren Staffeleien stehen und malen.
Auch die Klassen von Fehr/Schmid-Reutte halten sich mehrfach in Dachau auf. Während eines ihrer Ausflüge lernt Clara Westhoff zwei Schriftsteller aus Bremen kennen, Rudolf Alexander Schröder und Alfred Walter Heymel. Gemeinsam mit dem Dresdener Schriftsteller Otto Julius Bierbaum geben sie in München die Monatszeitschrift »Insel« heraus. Für die künstlerische Gestaltung der reich illustrierten Bände haben sie einen jungen Grafiker gewinnen können, der Heinrich Vogeler heißt, ebenfalls aus Bremen stammt und im Begriff ist, sich als Jugendstilkünstler einen Namen zu machen. Außerdem ist er einer der fünf Maler, die unter dem Gruppennamen »Künstler-Verein Worpswede« im Sommer 1895 mit einer umfangreichen Ausstellung in München für Aufmerksamkeit sorgen.
Die »Jahresausstellung von Kunstwerken aller Nationen« im Glaspalast ist ein Großereignis. Allein der imposante Riesenbau aus Gusseisen und Glas mit seinen plätschernden Brunnen und kostbar ausgestatteten Interieurs auf dem Gelände des Alten Botanischen Gartens ist sehenswert und zieht die Menschenmassen an. Die Worpsweder sind mit 50 Gemälden, Aquarellen und Radierungen in einem eigenen Saal vertreten: Mächtige Wolkenformationen türmen sich über der flachen, weiten Ebene; weißstämmige Birken, schlank und frühlingshaft zart oder knorrig krumm, säumen Moorkanäle und sandige Wege oder spiegeln sich in Wassertümpeln; ärmliche Katen liegen windschief und wie geduckt in der Landschaft, ihre Dächer aus Stroh reichen bis auf den Boden.
Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Fritz Overbeck, Heinrich Vogeler und Hans am Ende haben die Akademien und ihre Ateliers in Düsseldorf und Karlsruhe verlassen und im norddeutschen Teufelsmoor eine Landschaft gefunden, die sie zum künstlerischen Arbeiten unter freiem Himmel inspiriert, »en plein-air«. Den französischen Malern von Barbizon folgend, wollen sie der großstädtischen Modernität ein Leben in Einfachheit entgegensetzen.
Clara Westhoff kann sich gut an den Verriss der ersten Ausstellung der Künstlergruppe in der Kunsthalle Bremen nur wenige Monate zuvor, im Frühjahr 1895, erinnern. Presse und Publikum hatten die fünf jungen Männer aus dem Moor als »Apostel des Hässlichen« und »Lachkabinett« verspottet. Jetzt, in München, sind die Reaktionen überraschend positiv. Ihre Kunst sprenge die üblichen Sehgewohnheiten, sei neu und originell und setze der klassizistischen Malerei ein Ende, ist sich die Kritik überwiegend einig. Fritz Mackensen, der als Entdecker Worpswedes für die Kunst gilt, erhält für sein monumentales Gemälde »Gottesdienst im Freien« die Goldene Medaille I. Klasse der Künstlergenossenschaft. Das Königreich Bayern kauft von Otto Modersohn das großformatige Gemälde »Sturm im Moor« für die Neue Pinakothek der bayerischen Staatsgemäldesammlungen an. Rezensionen und Beiträge feiern die Ausstellung als »Europäisches Ereignis« und machen die Worpsweder Künstler über Nacht bekannt.
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In seinem Schwabinger Atelier in der Gabelsbergerstraße sitzt Heinrich Vogeler an einem Großauftrag. Tafelsilber, Tischleuchter und Wandkandelaber sollen das Esszimmer des »Insel«-Herausgebers Alfred Walter Heymel schmücken, der als junger Millionär in einer luxuriös ausgestatteten Wohnung in der nahen Leopoldstraße lebt. Vogeler zeichnet Ranken und Pflanzen, Früchte und Blätter und arbeitet mit der Linie als Ornament: Ein reiches Rosengitter, aus Messing gestanzt, war für die Kaminverkleidung entstanden. Aus flammenden Grasblumen wuchs es auf zu einem wogenden Rhythmus rosenbeladener Böschung.
Über Heymels Reichtum und seine Kostbarkeiten aus aller Welt sind die fantastischsten Gerüchte im Umlauf – altes venezianisches Glas, antike Terrakotten, Meißner- und Sèvres-Porzellan, japanische Holzschnitte und primitive Kunst aus Afrika sollen in seinen Räumen verteilt sein. Bei Heymel kommt im Schein lodernder Kaminfeuer regelmäßig eine kleine Gesellschaft schöner Frauen und auserwählter Musiker und Schriftsteller zusammen. Bald zählt auch ein junger Dichter aus Prag zu dem illustren Kreis. René Maria Rilke hat seine Maturitätsprüfung am Prager Grabengymnasium mit Auszeichnung bestanden und einige Monate Kunstgeschichte, Philosophie und deutsche Literatur an der Karl-Ferdinands-Universität studiert. Ein kleiner, eher zartgliedriger Mann. Sein Gesicht ist blass und schmal und wird von großen, tief liegenden Augen beherrscht, die verwundert und sorgenvoll in die Welt blicken.
Der 21-Jährige hat Heimat und Familie verlassen und will sich in München ganz seiner dichterischen Aufgabe widmen. Da ihn die Geschichte der Bildenden Künste im Zeitalter der Renaissance interessiert, geht er hin und wieder in die Universität und hört Vorlesungen dazu.
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Um dieselbe Zeit hält sich vorübergehend eine Frau in München auf, die ihren Wohnsitz eigentlich in Berlin hat. Louise von Salomé ist Gast im Hause ihrer engen Freundin Frieda von Bülow in der Schellingstraße. Sie ist 36 Jahre alt, in St. Petersburg geboren, mit dem Orientalisten Friedrich Carl Andreas verheiratet und Schriftstellerin. Eine ungewöhnliche Erscheinung. Groß und schlank mit einer Ausstrahlung, die auf Anhieb besticht. Selbstbewusst, geistreich und herzlich offen, dabei rebellisch und unkonventionell.
Lou Andreas-Salomé hat in Zürich Philosophie, Kulturwissenschaften und Kunstgeschichte studiert. Sie ist viel gereist und als Autorin bereits eine bekannte Größe in Europas intellektuellen Kreisen. Sie kennt August Strindberg und Richard Dehmel persönlich, ist mit Gerhart Hauptmann befreundet, in Wien Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal begegnet, in München Frank Wedekind und Jakob Wassermann. Die Männer lieben sie. Sie sei eine Frau, die Männer sammle wie andere Leute Gemälde, wird hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Es heißt, Lou Andreas-Salomé knüpfe eine leidenschaftliche Beziehung zu einem Mann, und neun Monate später bringe er ein Buch zur Welt. Zuletzt hat ihre Liaison mit dem achtzehn Jahre älteren Philosophen Friedrich Nietzsche europaweit für einen Skandal gesorgt.
Es ist ein warmer Frühlingsabend im Mai 1897, als Lou Andreas-Salomé anlässlich einer Einladung zum Abendessen bei Jakob Wassermann der deutsch-österreichische Autor René Maria Rilke vorgestellt wird.
René Maria ist augenblicklich fasziniert von der so viel Älteren mit der Aura einer berühmten Literatin. Zufällig habe er kürzlich ihren Essay »Jesus der Jude« gelesen, verrät er ihr noch am Abend ihrer ersten Begegnung in München und gesteht, dass er zwischen ihrem Text und seiner Lyrik auf eine geradezu geheimnisvolle Weise eine tiefe Verwandtschaft spüre.
Beide sehen sich einen Tag darauf im Theater wieder. Erstaunlich, wie viele Leute sie kennt, einflussreiche Leute aus der Kunst- und Kulturwelt. Ich bin mit ein paar Rosen in der Hand in der Stadt und dem Anfange des Englischen Gartens herumgewandert, um Ihnen Rosen zu schenken, schreibt der entflammte Rilke an Lou, ja, statt sie an der Tür mit dem goldenen Schlüssel abzugeben, trug ich sie mit mir herum, zitternd vor lauter Willen, Ihnen irgendwo zu begegnen.
Als die Angebetete den Anfang 20-Jährigen auffordert, strenger mit sich zu sein und disziplinierter zu arbeiten, ist die Folge eine bisher nicht gekannte dichterische Schaffensperiode. Unter Lous Einfluss gleicht sich Rilkes bisher eher nachlässige Handschrift ihrer klaren, deutlichen Schrift an, und als sie sich eines Tages kritisch über seinen viel zu französisch und wenig männlich klingenden Taufnamen »René« äußert, ändert er ihn umgehend in »Rainer« um. Er orientiert sich an den Ideen der Lebensreformbewegung so wie sie, und jedes seiner Liebesgedichte, die später in der Sammlung »Dir zur Feier« zusammengefasst werden, richtet Rainer Maria Rilke von nun an nur noch an Lou Andreas-Salomé.
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An der Malschule Fehr/Schmidt-Reutte sind die Preise für die Kurse kürzlich schon wieder erhöht worden und das ärgert Clara Westhoff. Für die Zeichenklasse bei Fehr müssen die Schüler jetzt 30 Mark monatlich bezahlen und wenn dann noch die Kosten für den Abendakt in Höhe von 12 Mark dazukommen, macht das insgesamt 42 Mark. Nicht zu vergessen die Anatomie. Das ist doch haarsträubend. Aber man muss nur bedenken, wie billig die Herren studieren, dann kriegt man doch ’ne Wut. Fehr ist ja schlau. (…) Uns hat er sicher, denn wohin sollen wir arme Schlucker uns sonst wenden?
Die inzwischen 19-Jährige erregt sich über so viel weibliche Diskriminierung und will diese Ungerechtigkeit nicht schweigend hinnehmen:
Da existiert eine sogenannte ›Anatomie‹, wo täglich Vorträge für Ärzte sind und wo sie einmal in der Woche für Künstler stattfinden. Und zwar nur für die Akademie und Kunstgewerbeschule und nur für Herren. Jetzt sag mir einer, warum nur für Herren? Das muss anders werden und soll mich nicht wundern, wenn wir’s durchsetzten. Wenn der Staat sich verpflichtet fühlt, für die männlichen Künstler ganz ungeheure Unterstützung zu leisten, warum tut er es nicht für die weiblichen?
Um diese Frage zu klären, macht sich Clara Westhoff auf den Weg zur Behörde. Es dauert lange, bis sie sich endlich zu den Verantwortlichen durchgearbeitet hat, dem bayerischen Minister für Cultus und Unterricht Robert Ritter von Landmann gegenübersteht und ihm ihr Anliegen vortragen kann. Man möge auch Künstlerinnen an den kostenlosen Anatomiekursen teilnehmen lassen, fordert sie. Die Zulassung von Frauen an den Anatomiekursen? Wie lächerlich! Abgesehen davon, dass diese Erlaubnis vermutlich nur weitere emanzipatorische Forderungen zur Folge haben würde, seien die Frauen den harten Anforderungen des Anatomieunterrichts körperlich wie geistig nicht gewachsen. Der Herr Rat war ein kleines Ekel und unseren Plänen entschieden nicht geneigt. Die Malschülerin ist entrüstet über den Schwall an fadenscheinigen Argumenten des Ministers, doch ebenso enttäuscht sie die mangelnde Solidarität ihrer Mitschülerinnen:
Viele Damen wollen so für sich und ihre Familie etwas malen, dann zeichnen sie etwas, fangen dann etwas zu malen an, Aquarell und Öl vielleicht, können dann vielleicht ganz nette Landschaften malen und so für den Haushalt genug. Das kann man in zwei Jahren erreichen. Sie können dann aber nichts ordentlich.
Eine von denen, die den Zeichen- und Malunterricht vor allem als Vorbereitung auf die Ehe betreiben, will sie nicht sein, das schwört sich Clara Westhoff. Wenn sie sich zur Künstlerin ausbilden lässt, dann mit dem Ziel, die Kunst zu ihrem Beruf zu machen.
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Regelmäßig erkundigt sich Friedrich Westhoff bei seiner Tochter, wie es ihr gehe und ob die Ausbildung sie weiterbringe. Schließlich halte sie sich schon seit nahezu zwei Jahren in München auf. Seiner Bitte, Proben ihrer künstlerischen Arbeit nach Bremen zu schicken, damit er sich zu Hause ein Bild machen könne, entgegnet sie:
Du schreibst, ich möchte Zeichnungen mitschicken, ich habe aber meine letzten alle in München gelassen. Ich hätte sie schon geschickt, aber sie sind nicht so vorteilhaft zum Zeigen und das kommt daher, weil sie anders gemacht sind, als meine früheren. Ich hätte eigentlich vorgehabt, sie Dir zu schicken, aber sie sehen wirklich nicht danach aus. Wißt Ihr, ich bin doch noch nicht fertig im Studium, sondern in einer Art Übergangsstadium.
15. Mai 1897
Vor allem hat sie durch die Begegnung mit einem jungen Bildhauer eine künstlerische Disziplin kennen gelernt, die sie gedanklich nicht mehr loslässt. Ignatius Taschner hat an der Münchener Kunstakademie Grafik, Illustration und Bildhauerei studiert und arbeitet jetzt in einem eigenen Atelier. Er soll für die alljährliche Ausstellung im Glaspalast ein Porträt einreichen und bittet Clara Westhoff, ihm Modell zu sitzen. Bei meinem Bildhauer habe ich schon gesessen, berichtet sie euphorisch nach Hause, das Porträt habe bereits Ähnlichkeit, der Mensch ist riesig talentiert. Taschners Können beeindruckt die 19-jährige Malschülerin und sie freut sich darüber, dass sein Porträt von ihr im Sommer 1897 im Glaspalast ausgestellt wird.
Wie soll es nun weitergehen? Auf die Briefe des Vaters, der seine Tochter daran erinnert, dass sich ihre Lehrzeit in München und seine damit verbundene finanzielle Unterstützung nun langsam dem Ende nähere, kann sie nur mit der Bitte antworten: Habt weiterhin Geduld mit mir! Während des Sommers lernt sie fünf Monate bei dem Landschaftsmaler Bernhard Buttersack, Gründungsmitglied der »Münchner Secession« und im Glaspalast mit der Goldenen Medaille ausgezeichnet. Er hat vor den Toren Münchens in Haimhausen ein geräumiges Atelierhaus und unterrichtet dort Privatschüler im Malen.
Hoffentlich erwartet Ihr auch nicht, dass ich Euch etwas arbeite, entschuldigt sie sich angesichts des nahenden Weihnachtsfestes vorbeugend, Handarbeiten tue ich ja nie, aber malen und zeichnen kann ich Euch auch nichts. Es kränkt mich selbst tief, aber ich kann nichts dabei machen. Das, was ich arbeite, ist noch nicht zum Verschenken, ich kann doch nichts verschenken, was nicht gut ist und deshalb keine Existenzberechtigung hat.
Seitdem Clara Westhoff die Bilder der Worpsweder Maler im Glaspalast sah, zieht es sie gedanklich immer wieder in ihr heimatliches Land um Bremen, und sie sehnt sich danach.
Schon als Kind fühlte sie sich dem Sommersitz der Familie vor den Toren der Stadt viel mehr verbunden als dem engen Giebelhaus in der Bremer Wachtstraße. Wie gut kann sie sich an die zahlreichen Wochenenden und langen Ferienaufenthalte in Oberneuland erinnern, an den großen Garten mit den hohen Bäumen, und wie sehr genoss sie die Wintermonate, wenn der kleine Fluss Wümme über die Ufer stieg und Wiesen und Felder überschwemmte. Dann breiteten sich blanke Wasserflächen aus, und war es ein sehr kalter Winter, froren sie zu und man konnte auf Schlittschuhen bis in das nicht weit entfernte Worpswede laufen.
Im Dezember 1897 fasst Clara Westhoff sich ein Herz und radelt in die Gabelsbergerstraße zu Heinrich Vogeler, den sie über eine gemeinsame Bremer Tanzstundenfreundin flüchtig kennt. Sie möchte mehr über die aktuelle Situation in Worpswede wissen, und er müsste genau der Richtige sein, ihr Auskunft zu geben. Vogeler erzählt, dass er nach dem Tod seines Vaters Geld geerbt und sich dafür in Worpswede einen alten Bauernhof gekauft habe, den er gerade zu einem Atelierhaus um- und ausbauen lasse. Er berichtet auch von den zahlreichen Malerinnen, die inzwischen in Worpswede lebten und sich bei Fritz Mackensen, Fritz Overbeck und Otto Modersohn künstlerisch ausbilden ließen.
Nach diesem Besuch bei Heinrich Vogeler steht für Clara Westhoff fest, dass sie München bald verlassen und für ihre weitere künstlerische Ausbildung nach Worpswede gehen wird.
Vogeler erinnerte sich später:
Ich hatte sie lange nicht gesehen, jetzt sah ich ihr schmal aufgebautes Gesicht wie zum ersten Mal, ein paar widerspenstige Locken drängten sich an den Schläfen vor unter dem Kranzgewinde von wildem Hopfen. Weiß war ihr Kleid. Die großzügigen Bewegungen hätten die einer Diana sein können. Ich dachte, der müsste man einen Wurfspeer in die Hand geben; ihre lockeren, kraftversprechenden Bewegungen würden sich dann bis in die Fersen des elastischen Körpers straffen, der alles in die Wucht des Speeres treibt, einem fernen Ziele zu.