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ISBN 978-3-218-00987-4
Copyright © 2015 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
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Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus, Wien
unter Verwendung eines Fotos von ferhaterdem/fotolia.com
Typografische Gestaltung und Satz: Sophie Gudenus, Wien
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
Einleitung
Die politische Entwicklung der Türkei seit Gründung der Republik 1923
Vom Straßenkind zum Staatsoberhaupt: Recep Tayyip Erdoğan
Die AKP
Die Opposition: Aussichtslos von Wahlschlappe zu Wahlschlappe
Das Militär: Ende einer kraftvollen Ära
Die Justiz: Aushöhlung des Rechtssystems
Die Wirtschaft: Ehrgeiziges Schwellenland mit beispiellosem Wachstum
Die Außenpolitik: Immer Ärger mit den Nachbarn
Der Glaube: Zwischen Allah und Atatürk
Die Frauenrechte: Gebärprämien für Mütter
Die Medien: Die Pressefreiheit nimmt ab
Das Internet: Sperren und zensieren
Die Gezi-Proteste: Es ging um weit mehr als ein paar Bäume
Die Ausschreitungen rund um den Gezi-Park
Die Entstehung einer neuen Zivilgesellschaft?
Die Regierung jagt ihre Kritiker
Fethullah Gülen: Erdoğans stärkster Gegner
Die Präsidentschaftswahlen 2014: Weichenstellung für ein neues Zeitalter
Danksagung
Zeittafel
Kleine Aussprachehilfe für türkische Eigennamen
Abkürzungen
Ausgewählte Literatur
Personenregister
Für Deniz
Es sind zwei Welten, die in einem Land aufeinanderprallen. Ein Staat zwischen Ost und West, zwischen Aufbruch und Stagnation. Es ist ein Einzelner, der diese Republik nach seinem Willen umgestaltet hat, und dessen Name schon jetzt in die Geschichtsbücher der Türkei eingegangen ist: Recep Tayyip Erdoğan. Und an Selbstbewusstsein, Machthunger und Aufstiegswillen fehlt es ihm nicht, im Gegenteil. Der Präsident regiert mit harter Hand, indem er aggressiv die Grundrechte des Einzelnen beschneidet, Kritiker jagt, eine demokratische Gewaltenteilung als störend betrachtet.
Seitdem die AKP regiert, befindet sich die Republik in einem Umbruch – sowohl innen- als auch außenpolitisch. Auch wenn das Land mit Wirtschaftsdaten glänzt, von denen andere Staaten nur träumen können, so wird intern ein unerbittlicher Machtkampf ausgetragen, mit den unterschiedlichsten Statisten – nur die Hauptrolle spielt grundsätzlich Erdoğan selbst, und bisher hat er immer gewonnen. Zwar nicht an Sympathien, aber das war ihm noch nie wichtig.
Dabei reicht es nicht aus, die Kritiker nur zu drangsalieren, es werden auch Gesetze erlassen, um diese zu bedrohen. Wenn man seinen Bürgern zeigt, dass sie ihren Lebensunterhalt verlieren, solange sie nicht der Parteilinie folgen, dann dauert es nicht mehr lange, bis eine Zivilgesellschaft eingeschüchtert wird.
Wer in der Türkei seine Meinung sagt, muss um Leib und Leben fürchten, wie Beispiele in diesem Buch zeigen. Es wird die Gefahr einer inneren und äußeren Bedrohung beschworen, die Bürger werden überwacht, kritische Bewegungen zerstört, hinterfragende Meinungen als Verrat oder Spionage abgestempelt, die Pressefreiheit wird eingeschränkt, der Rechtsstaat wird ausgehöhlt, das Internet zensiert, regierungskritische Demonstranten werden von der Polizei zusammengeschlagen.
Aber ist das Land tatsächlich so trostlos, wie es in den deutschsprachigen Medien immer wieder beschrieben wird? Wo man meistens Menschen sieht, die von der Polizei niedergeknüppelt werden? Die Frage lässt sich mit einem ganz klaren Nein beantworten. Die Türkei ist ein zutiefst vielfältiges, gegensätzliches, buntes und widersprüchliches Land. Das einzige Land der Welt, das auf zwei Kontinenten – Asien und Europa – liegt. Das einzige muslimische Land, das den Laizismus in seiner Verfassung verankert hat und Mitglied der EU werden will.
Die Türkei ist wesentlich westlicher orientiert als ihre Nachbarn, Frauen in Miniröcken gehören genauso zum Istanbuler Straßenbild wie die Kopftuchträgerinnen. Aber es ist auch eine Realität, dass sich die Gesamttürkei mehr und mehr in eine konservativ-religiöse Gesellschaft verwandelt. Nicht überall wird es gern gesehen, wenn man ein Bier auf der Straße trinkt oder unverheiratete Paare Hand in Hand spazieren gehen.
Denn das Leben in den Metropolen unterscheidet sich von dem in Städten wie Bingöl oder Sivas. Genauso wenig wie New York exemplarisch für die USA ist, ist es Istanbul für die Türkei. Doch mehr sehen die meisten Touristen nicht, und vom restlichen Land werden in den Medien meist ausschließlich wahre Schauergeschichten von Zwangsverheiratungen und sogenannten „Ehrenmorden“ gezeigt. Die Türkei ist frech und freizügig – zugleich aber auch konservativ und gehorsam.
Die Gezi-Proteste im Sommer 2013 zeigten der ganzen Welt, welch tiefer Riss durch die türkische Gesellschaft geht. Das Land ist geteilt: in jene, die an Erdoğan festhalten wollen, weil sie eine neue Zeit der Wirren befürchten – wie in den achtziger Jahren nach dem Militärputsch. Und jene, die auf den Straßen rufen: „Erdoğan, hau ab!“ Keines der beiden Lager schont das andere.
Aber welche Fehler hat der politische Tausendsassa Erdoğan gemacht, dass Liberale, Nationalisten, Kemalisten und auch unpolitische Menschen in ihrem Hass auf ihn vereint sind? Ist er nun der große Modernisierer, oder der große Islamisierer? Hat der Westen sich zu lange von dem beispiellosen Wirtschaftsboom blenden lassen, und dabei übersehen, dass der Machtpolitiker immer autokratischer wurde?
Die Arbeit an diesem Buch endete im Herbst 2014, spätere Entwicklungen sind somit nicht mehr dokumentiert. Ein Buch ist kein Blog oder Artikel, welche immer wieder aktualisiert oder fortgeschrieben werden können, die Arbeit muss irgendwann abgeschlossen sein. Der Umbruch in der Türkei allerdings geht weiter.
Immer am 10. November steht die Türkei für kurze Zeit still. An diesem Tag, morgens um 09:05 Uhr, hält der Verkehr an – auch auf den Autobahnen. Alle Radio- und Fernsehsender unterbrechen ihr Programm, die Menschen bleiben stehen, im ganzen Land heulen Sirenen, die Türken gedenken ihres Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, der an diesem Tag im Jahr 1938 zu dieser Uhrzeit starb. Auch fast 80 Jahre nach seinem Tod ist der Kult um Atatürk ungebrochen. Sein Porträt hängt in Teestuben, ziert Geldscheine, in jeder Behörde wacht er mit strengem Blick, überlebensgroße Denkmäler und riesige Flaggen mit seinem Bild sind überall präsent. Schon Grundschüler verkünden strammstehend ihre Liebe zu Atatürk. Jugendliche lassen sich seine Unterschrift eintätowieren, ihn zu beschimpfen ist strafbar.
Der Schöpfer der modernen Republik Türkei übernahm mit seiner 1923 gegründeten „Republikanischen Volkspartei“ (türkisch „Cumhuriyet Halk Partisi“, CHP) das Erbe der Jungtürken. Der Erste Weltkrieg war 1918 mit erheblichen Gebietsverlusten verloren worden, die Siegermächte besetzten einen Teil der Großmacht – das Osmanische Reich hörte nach über 600 Jahren auf zu bestehen. Der Traum von einem großtürkischen Reich, das alle turksprachigen Völker Asiens umfasste, war geplatzt. Wenigstens der Befreiungskrieg wurde 1923 nach vier Jahren gewonnen. Unter Führung des Generals Mustafa Kemal (den Beinamen Atatürk erhielt er später) konnte die griechische Armee besiegt werden, und die einstigen Siegermächte wurden zur Revision des Vertrags von Sèvres gezwungen, in welchem von den Alliierten 1920 die Aufteilungspläne der Türkei festgehalten worden waren.
Im Juli 1923 wurde im Vertrag von Lausanne die Türkei in ihren heutigen Grenzen festgelegt, der Staat bekam seine volle, anerkannte Unabhängigkeit – und in bewusster Abgrenzung von der osmanischen Hauptstadt Istanbul wurde Ankara zur Hauptstadt erklärt. Aus den Resten des einst riesigen Imperiums wurde am 29. Oktober die „Türkische Republik“, die „Türkiye Cumhuriyeti“ ausgerufen und Kemal zum Staatspräsidenten ernannt. Mit 42 Jahren bildete der Militärstratege nun das Zentrum der Macht, der Ministerpräsident Ismet Inönü war lediglich sein exekutiver Arm.
Damit war die Türkei das erste islamische Land, welches die Staatsform der Republik annahm. Mit einer Fläche von 784.000 km² ist das Land größer als Deutschland (357.000 km²) und Österreich (84.000 km²) zusammen. Etwa 14 Millionen Einwohner hatte die Republik bei ihrer Gründung – heute leben allein in Istanbul fast 15 Millionen Menschen.
Der Vertrag von Lausanne enthielt einen Passus über den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei. So mussten etwa eine halbe Million Türken griechisches Territorium verlassen, im Gegenzug wurden etwa eineinhalb Millionen Griechen gezwungen, aus der türkischen Ägäis und aus Anatolien in Richtung Griechenland umzusiedeln.
Am 20. April 1924 wurde die erste Verfassung der Republik verabschiedet. Seine Vorstellung von einem Nationalstaat prägte Kemal mit dem Ausspruch: „Wie glücklich derjenige, der sagt: Ich bin Türke!“ (türkisch „Ne mutlu Türküm diyene!“) Der Spruch hat bis heute Kultcharakter, ist auf riesigen Plakaten in der Öffentlichkeit zu sehen.
In einer unvergleichlich hastigen Kulturrevolution zwang Kemal der Gesellschaft seine eigene Vorstellung des Fortschritts auf. Er wollte das Land weg vom Orientalismus und nach Europa hinführen, nach dem Vorbild der französischen Aufklärung mit ihrem radikalen Antiklerikalismus. Religion wurde zu einer Privatsache erklärt.
Der Westen, gegen den im Befreiungskrieg noch gekämpft wurde, galt nun in Teilen als gesellschaftliches Ideal. Es war ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit. Trauer um das alte Reich war nicht gestattet, Nationalismus und Patriotismus waren angesagt. Was anderswo Jahrzehnte dauert, wurde in der Türkei innerhalb von wenigen Jahren durchgesetzt. „Wir müssen unnachgiebig an unserer Aufgabe festhalten. Wir werden unser Reformprogramm durchsetzen“, bestimmte Kemal.
Um nur die prominentesten Reformen unter Kemal zu nennen: Mit der Abschaffung der politisch-weltlichen Macht des Sultanats 1922 und der geistlichen Autorität des Kalifats 1924 wurden die starken Symbole der Vergangenheit beseitigt. Justizminister Seyit Bey begründete diese Entscheidung mit den Worten „Im Islam gibt es keine Geistlichkeit und keine Religionsverwaltung“. Der letzte osmanische Kalif, Abdülmecit II., verließ das Land. Denn „das Kalifat ist ein Märchen der Vergangenheit, das in unserer Zeit keinen Platz mehr hat. Religion und Staat müssen getrennt werden“, sagte Kemal. An dessen Stelle wurde das Präsidium für Religionsangelegenheiten, die „Diyanet“ gegründet. Dieses unterstand direkt dem Ministerpräsidenten und ist bis heute zuständig für Fragen des Glaubens, die Verwaltung der Gebetsstätten und für die religiöse Aufklärung. Die „Diyanet“ sorgt für Imame im In- und Ausland. Religiöse Gerichte wurden abgeschafft.
Im Jahre 1925 wurde das Hutgesetz verabschiedet, das das Tragen des Fes verbot und nur noch Hüte nach europäischem Vorbild erlaubte. „Es war notwendig, den Fes abzuschaffen, der auf den Köpfen unserer Nation als ein Zeichen von Ignoranz, Nachlässigkeit, Fanatismus und Hass auf Fortschritt und Zivilisation saß“, begründete Kemal die Vorschrift, dabei hatte er selbst einst einen Fes getragen. Wer sich nicht an das Verbot hielt, dem drohten Haftstrafen. Weil sich einige Widerspenstige weigerten, ihren Fes abzunehmen, wurden sie hingerichtet. Für Frauen gab es keine Kleidervorschriften, das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen wurde erst 1980 durch die Militärs eingeführt.
Der muslimische Kalender wurde durch den gregorianischen Kalender ersetzt, neuer wöchentlicher Ruhetag war fortan der Sonntag. Nach europäischem Vorbild wurden 1926 das Straf- und Zivilrecht geändert, die Zivilehe eingeführt, ein gleichberechtigteres Scheidungsrecht trat in Kraft. Noch kurz zuvor, im August 1925, hatte sich Kemal nach nur zweieinhalb Jahren Ehe von seiner Frau Latife Uşşaki nach islamischem Recht getrennt – er löste die Partnerschaft einseitig auf. Latifes Bruder Münci sagte über die Scheidung, Kemal sei ein Macho gewesen: „Meine Schwester war eine großartige Frau. Aber den Gazi [ein Ehrentitel Kemals] hat sie behandelt, wie man irgendeinen gewöhnlichen Mann behandelt.“ Dies habe das Staatsoberhaupt nicht verkraften können.
Der Islam als Staatsreligion wurde 1928 abgeschafft, und keine Regierung hat diese Entscheidung bisher zurückgenommen. Das arabische Alphabet wurde durch das lateinische ersetzt, Bücher mussten neu geschrieben werden. Das Land wurde laizistisch, Religion und Staat getrennt. „Unsere Inspiration beziehen wir nicht aus dem Himmel […], sondern aus dem Leben“, bestimmte der Staatspräsident. Die Gesellschaft war fortan gespalten in „weiße Türken“– die Kemalisten, die säkulare Mittel- und Oberschicht – und „schwarze Türken“, die anatolische Peripherie. Eine Spaltung, von der Erdoğan später profitieren sollte.
Weil es eines ideologischen Überbaus bedurfte, formulierte Kemal 1931 sechs Prinzipien, die als politische Leitlinie galten: Nationalismus, Laizismus (das heißt Säkularismus), Etatismus, Reformismus, Republikanismus und Populismus wurden allesamt Bestandteile der Verfassung. Diese Prinzipien, symbolisch durch sechs weiße Pfeile dargestellt, sind bis heute das Parteiemblem der CHP. Sogenannte Volkshäuser sollten nur gute, politische Nachrichten unter dem Volk verbreiten.
Im Jahr 1934 verbot die Regierung Zivilisten das Tragen religiöser Gewänder, Frauen erhielten das aktive und passive Wahlrecht, die Vorschrift, einen Nachnamen zu tragen, wurde eingeführt und die Pilgerfahrt nach Mekka verboten. Mustafa Kemal bekam den Ehrennamen Atatürk („Vater der Türken“), den bis heute niemand sonst führen darf. 1937 wurde der Kemalismus, auf Türkisch „Kemalizm“ oder „Atatürkçülük“, in der Verfassung verankert. „Wir müssen uns von der östlichen Zivilisation abwenden und der westlichen zuwenden“, lautet eine Atatürk-Überlieferung. Eine weitere: „Ich bin die Türkei. Mich vernichten wollen bedeutet: die Türkei selbst vernichten wollen.“ Der Kemalismus – wie die politische Ideologie Atatürks genannt wird – bestimmt heute noch das politische, kulturelle und religiöse Leben in der Türkei.
Ein generelles Parteienverbot sicherte Kemal die alleinige Herrschaft – so konnte rücksichtslos regiert werden. Zwar wurde 1930 eine Oppositionspartei genehmigt. Aber die „Freie Republikanische Partei“ (türkisch „Serbest Cumhûriyet Fırkası“, SCF) hatte so großen Zulauf, dass sie schon nach drei Monaten wieder verboten wurde. Widerstand gegen den Übervater wurde nicht geduldet. Als 1926 der Plan eines Attentats gegen Kemal aufflog, entledigte er sich mit einem Rundumschlag seiner Kritiker und ließ sie hinrichten. „Ich habe das Land erobert. Ich habe die Macht erobert. Warum darf ich nicht auch mein Volk erobern?“, sagte er am Tag der Vollstreckung der Todesurteile.
Am 10. November 1938 morgens um 09:05 Uhr starb Atatürk im Dolmabahçe-Palast in Istanbul an einer Zirrhose, angeblich wegen seines zu hohen Rakikonsums. Die in allen Zeitungen gedruckte Regierungsmeldung lautete: „Durch dieses schmerzliche Ereignis hat das türkische Vaterland seinen großen Schöpfer, die türkische Nation ihr überragendes Haupt, die Menschheit ihren großen Sohn verloren.“
In Ankara wurde ihm in den nächsten Jahren ein Mausoleum mit den Dimensionen eines römischen Tempels erbaut. Kein Staatsgast kann sich heute einem Besuch der Atatürk-Gedenkstätte verweigern. Eine Ausnahme bildete 2008 der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad. Als er in die Türkei reiste, ignorierte er das Grabmal. Für einen Gläubigen wie ihn war eine Verbeugung vor einem Islamkritiker wie Atatürk eine Unmöglichkeit. Ahmadinedschads Nachfolger Hassan Rohani tat es ihm 2014 bei seinem ersten Staatsbesuch in Ankara gleich.
Noch an Kemals Todestag wurde Inönü, politischer Weggefährte des Verstorbenen, zum neuen Staatspräsidenten und „unabsetzbaren Vorsitzenden“ gewählt, er bekam den Titel „Nationalchef“. Sükrü Saracoğlu wurde neuer Ministerpräsident. Die Ära nach Kemal zeichnete sich vor allem durch politische Instabilität aus. Bis auf Inönü (1923 bis 1924; 1925 bis 1937; 1961 bis 1965) und Adnan Menderes (1950 bis 1960) konnte sich kein Ministerpräsident länger als drei Amtszeiten durchgehend an der Macht behaupten. Viele Regierungschefs waren sogar nur wenige Monate im Amt. Doch zunächst einmal konnte die CHP wegen fehlender Alternativen ihre Alleinherrschaft noch ausbauen.
Auch die Regierung Inönü-Saracoğlu drängte den Islam aus dem öffentlichen Raum. So wurden 1941 Gebetsrufe vom Minarett – die seit 1932 auf Türkisch ausgeführt werden mussten – vollständig verboten. Ab 1939 wurde der Religionsunterricht aus den Dorfschulen verbannt.
Für eine Kriegsfinanzierung wurde 1942 eine „Vermögenssteuer“ eingeführt, die Minderheiten diskriminierte. Zwar sollten mit diesen Einnahmen offiziell die Rüstungsausgaben ausgeglichen werden, die Steuer war aber eher dazu gedacht, Minderheiten zu marginalisieren und so zu einer „Türkisierung“ des Volkes beizutragen. Neben den Kurden traf es vor allem Nichtmuslime. Wer nicht in der Lage war, die Steuer zu bezahlen, musste mit Haftstrafen, Beschlagnahmungen und Arbeit in Zwangsarbeitslagern rechnen. „Indem man die auf unserem Markt dominanten Ausländer beseitigt, geben wir den türkischen Markt in die Hände von Türken“, kommentierte Inönü die „Vermögenssteuer“.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 endete das Einparteiensystem. Zwar wurden neun Parteien zugelassen, doch verfügten die Kemalisten über genügend Instrumente, um sich zunächst ihre Macht zu erhalten. Im Juli 1946 gewann die CHP ein letztes Mal die Wahlen. Doch schon zu diesem Zeitpunkt machte sich Adnan Menderes daran, eine Opposition zu bilden. Menderes war bis 1945 Mitglied der CHP, trat aber aus Protest gegen den strengen Säkularismuskurs aus. 1946 gründete er die gemäßigt rechtsgerichtete „Demokratische Partei“ (türkisch „Demokrat Parti“, DP), mit der er sich vor allem an die ländliche Bevölkerung wandte.
Die DP verstand es, wie Jahrzehnte später auch die AKP, den Frust der Peripherie für sich zu nutzen. Die DP forderte einen Bruch mit dem Laizismus und die Rückkehr zum islamischen Staat, was vor allem den Menschen auf dem Land gefiel. Da half es der CHP wenig, dass sie den zuvor abgeschafften Religionsunterricht wieder einführte, um den religiösen Teil der Bevölkerung zu beruhigen. Bei den Parlamentswahlen 1950 wurde die CHP nach 27 Jahren an der Spitze von der DP mit 55 Prozent der Stimmen abgelöst. Menderes wurde Ministerpräsident, Inönü Oppositionsführer.
Menderes gilt als erster „islamischer“ Ministerpräsident der Republik. Eine seiner ersten Staatshandlungen war die Rücknahme einer Verordnung Atatürks. Der islamische Gebetsruf durfte wieder auf Arabisch ausgeführt werden, nicht wie auf Befehl Atatürks in türkischer Sprache. Religiöse Radioprogramme durften wieder gesendet werden, der Islamunterricht wurde als Pflichtfach in den Schulen eingeführt. In seiner ersten Regierungserklärung versprach Menderes ein Streikrecht, Pressefreiheit sowie die Senkung der Staatsausgaben durch die Überführung der staatseigenen Industrien in Privatbesitz. Obwohl er die meisten seiner Ankündigungen nicht einhielt, gelang es der DP auch 1954, mit 58 Prozent der Stimmen die Parlamentswahlen für sich zu entscheiden. Es war das Jahr, in dem Erdoğan geboren wurde.
Das Jahr 2003 war für Recep Tayyip Erdoğan das Jahr eines großen Sieges. Am 9. März wurde er zum Abgeordneten gewählt, anschließend konnte er Ministerpräsident werden. Was für ein Triumph, was für eine Genugtuung! Bis dahin hatten 87 Jahre lang Generäle das Sagen gehabt, und jetzt zog der Sohn eines unterprivilegierten Anatoliers an ihnen vorbei.
Der einst aus der Politik Vertriebene ist seitdem ein Global Player, ein Machthaber, den die Welt nicht mehr ignorieren konnte und der sich bisweilen feiern lässt wie ein Popstar. Zwei Militärputsche, drei Parteiverbote und das kemalistische Establishment konnten seinen Aufstieg nicht verhindern, im Gegenteil: Der gläubige sunnitische Muslim aus einem Hafenviertel erfand sich immer wieder aufs Neue, bis er ganz oben angekommen war.
Ein Teil der Bevölkerung erschuf sich aus dem einstigen Sesamkringel-Verkäufer einen Schutzheiligen, der für Stabilität und Ordnung sorgt. Tatsächlich übernahm Erdoğan ein krisengeschütteltes Land mit einer am Boden liegenden Wirtschaft, sozialen Spannungen und nationalen Konflikten. Ein Land mit vielen traumatischen Erfahrungen. Der türkische Aufschwung trägt maßgeblich Erdoğans Handschrift.
Ein Wirtschaftsboom mehrte sein politisches Gewicht; in seiner Regierungszeit begann die Türkei mit EU-Beitrittsverhandlungen. Der Politiker mit stets aufrechtem, stolzem Gang ist der erste türkische Regierungschef, der öffentlich den Kurdenkonflikt beim Namen nannte.
Noch im Amt lässt sich schon von ihm sagen, dass nach Atatürk kein Politiker das Land so sehr verändert hat wie Erdoğan. Der fromme Muslim wird geliebt und verehrt, ganze 50 Prozent wählten seine AKP bei den Parlamentswahlen 2011.
Das Jahr 2013 war für Erdoğan das Jahr einer großen Niederlage. Die ganze Welt war live dabei, als er brutal gegenüber seiner eigenen Bevölkerung agierte. Vor allem Teile der Mittelschicht, die während seiner Regierungszeit stärker geworden waren, lehnten sich gegen die AKP auf. Korruption, Rechtlosigkeit, Willkür, soziale Ungerechtigkeit und Intransparenz prägten die Türkei vor seinem Amtsantritt. Machtmissbrauch, Unterdrückung, eine Aushebelung der Justiz und des verfassungsrechtlich verankerten Laizismus prägten sie unter Erdoğan.
Der schlanke, dynamische, meist ernst blickende Mann mit dem streng gescheitelten Haar, dem ordentlich gestutzten Schnauzbart, stets in feinen Anzügen und fast zwei Meter groß, entledigte sich unabhängiger Medien, kritischer Bürger und der Opposition, indem er diese entmachtete oder drangsalierte. Erdoğan ist umstritten, wird gehasst.
Schritt für Schritt hat seine islamisch-konservative politische Kraft die alte, säkulare Elite verdrängt, zu der die Beamtenschaft, das Militär, Hochschullehrer, die Justiz und Teile der Medien gehörten. Nach und nach mussten die Türken und auch das Ausland begreifen, dass Erdoğan neben seiner Rolle als Reformer noch andere Seiten besitzt. Er schreckt vor keiner Provokation zurück, um patriotische oder religiöse Bindungen zu mobilisieren.
Zwischentöne waren nie seine Sache, er teilt genussvoll nach allen Seiten aus: Die Deutschen erschreckte er 2008 mit der Warnung, eine Assimilierung der in der Bundesrepublik lebenden Türken sei ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos eilte er zornig von der Bühne, weil er den Moderator als respektlos empfand (2009): „Ich tue das, was getan werden muss. Ich hätte es niemandem erlaubt, die Ehre meines Landes zu verletzen“, erklärt er seinen Abgang. Seine kaltschnäuzige Reaktion nach dem größten Grubenunglück in der Geschichte des Landes im westtürkischen Soma (2014) schockierte die Menschen. „So etwas passiert eben“, kommentierte er den Tod von 301 Männern.
Nach den Gezi-Protesten überrollten den Ministerpräsidenten Ende 2013 ein gigantischer Korruptionsskandal und ein erbitterter Streit mit seinem Widersacher, dem Prediger Fethullah Gülen. Doch egal was geschah, Erdoğan ließ sich nicht unterkriegen. Der Ehrgeizige wollte sich in einer Reihe mit der jahrzehntelang unangefochtenen Elite sehen, die auf ihn als Gläubigen und aus einfachen Verhältnissen stammenden Mann herabschaute. Als kühler Pragmatiker wusste er, wann er sich von unbequemen Freunden trennen musste.
Die Türken beten Erdoğan an oder verdammen ihn. Er wird umworben und geschmäht. Kalt lässt er keinen. Wer ist dieser Recep Tayyip Erdoğan?
In Erdoğan spiegelt sich die Entwicklung der Gesellschaft wider. Denn die einst armen Anatolier arbeiteten sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einer starken Mittelschicht empor, die nicht mehr nur hinnehmen wollte, sonder auch selbstbewusst Forderungen stellte. Heute sitzen Frauen mit Kopftuch im Parlament, der Zugang zu Konsum ist nicht mehr nur ein Privileg der urbanen „weißen Türken“. Betrachtet man Erdoğans Biografie, wird vor allem deutlich: Schon als Kind musste er erfahren, was es bedeutet, gegen den Strom zu schwimmen, um seine religiösen Ideale in dem laizistischen System nicht zu verraten.
Geboren wurde er am 26. Februar 1954 in Kasımpaşa, im Istanbuler Arbeiter- und Hafenviertel auf der europäischen Seite als jüngstes von fünf Geschwistern. Hier gab es kaum fließendes Wasser, der Strom fiel regelmäßig aus, die Müllabfuhr kam selten. Die Menschen beteten fünf Mal täglich, das Kopftuch gehörte zum Straßenbild. Das Istanbul der Nachtclubs, Galerien und Designer-Läden war zwar nur wenige Gehminuten entfernt, aber es wirkte wie eine andere, sündige Welt.
Wer hier wohnte, war erstens praktizierender Muslim, zweitens arm, drittens wütend. Über Kasımpaşa hieß es, der Stadtteil habe seine ganz eigenen Regeln, die Bewohner seien an ihrer rauen Körpersprache erkennbar, würden früh lernen, sich verbal und körperlich durchzusetzen, rasch zu reagieren und zu bluffen.
Erdoğans aufbrausendes Naturell wurde später immer wieder mit seiner Herkunft erklärt, denn das Austeilen sei auch eine Überlebensstrategie gewesen. Das rücksichtslose Durchmarschieren habe er seinem Geburtsort zu verdanken. Weil die Eltern kaum Geld hatten, verkaufte er als Kind Sesamkringel auf der Straße.
Sein Vater Ahmet kam als armes Kind aus der religiös-konservativen Schwarzmeerstadt Rize an den Bosporus und arbeitete als Seemann. Der Sohn beschrieb ihn später bewundernd als gläubig, streng und autoritär. Der Name Recep Tayyip setzt sich aus der türkischen Form des arabischen „Radschab“, einem Monat des islamischen Kalenders, und dem Vornamen des Großvaters „Tayyip“ zusammen.
Mutter Tenzile war Hausfrau, sie zog die vier Söhne und eine Tochter groß und natürlich war auch sie gläubig, trug Kopftuch. Später, als Erdoğan Ministerpräsident war, zeigte er sich regelmäßig mit seiner Mutter. Auf Fotos hält er sie lächelnd und stolz fest im Arm, küsst ihr die Hand, streichelt ihr über eine Wange. Das knappe Bild, das er von seiner Familie zeichnet, ist nüchtern und respektvoll.
Das gesellschaftliche und politische Klima war zu dieser Zeit von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Republik geprägt. Die DP-Regierung bat die USA um einen Kredit von 300 Millionen US-Dollar, was die Amerikaner aber ablehnten. Stattdessen schenkten sie der Türkei 30 Millionen US-Dollar, dazu Weizen und Fleisch. Die Türkei musste Hilfen des Internationalen Währungsfonds annehmen, die Kreditwürdigkeit ging verloren, die Lira wurde massiv abgewertet. Bei den Parlamentswahlen 1957 gelang es der DP zum dritten Mal zu gewinnen, diesmal holte die Partei 48 Prozent der Stimmen. Menderes blieb Ministerpräsident, seine Wahlversprechen aber hielt er nicht ein: Die Arbeiter durften immer noch nicht streiken, die Presse wurde geknebelt, die Staatsausgaben wuchsen.
Die politische Situation spitzte sich immer mehr zu. Im Januar 1958 wurden neun Offiziere mit dem Vorwurf festgenommen, eine Verschwörung gegen die Regierung zu führen, im Mai 1960 übernahm die Armee die Macht und setzte Menderes ab. Es war der erste Militärputsch der Republik, Menderes wurde 1961 hingerichtet.
Die dem Kemalismus verpflichtete Elite, die den Islam strikt aus der Politik heraushalten wollte, stand dem Großteil der Bevölkerung gegenüber, den konservativen, islamischen, ländlichen oder kleinstädtischen Massen. Die „schwarzen Türken“ gehörten zwar zur Mehrheit, wurden aber von der Minderheit, den „weißen Türken“, verachtet.
Menschen wie die Erdoğans galten als ländliche Habenichtse, die, wenn sie es in die Großstädte schafften, die Toiletten des Establishments putzen durften. Sie gehörten zur Unterschicht und waren pauschal verdächtig, Islamisten zu sein. Aber Erdoğan wäre nicht Erdoğan, wenn er diesen angeblichen Nachteil nicht am Ende in eine Stärke umgedeutet hätte. Die Feindseligkeit der anderen bescherte ihm Ausdauer. Für die zugefügten Wunden würde er sich rächen.
Seine Eltern schickten ihn auf eine Istanbuler Imam-Hatip-Schule. An diesen werden auch Prediger und Vorbeter ausgebildet, meistens wurden sie als Stiftungen oder durch Spenden unterhalten – auch Erdoğans vier Kinder sollten später diese religiösen Gymnasien besuchen. Wer in diese staatlichen Schulen ging, hatte fromme und arme Eltern. Denn durch Stipendienprogramme oder niedrige Schulgebühren wurden vor allem mittellose Kinder gefördert. Bis heute sind es entweder reine Mädchen- oder Jungenschulen.
Neben dem ganz normalen Schulstoff werden hier zusätzlich das Arabische, die Koranlektüre und die islamische Geschichte unterrichtet. Weil – anders als im Rest des Landes – die Mädchen an diesen Schulen ihre Kopftücher tragen dürfen, werden vor allem die Töchter konservativer Muslime dorthin geschickt, auch wenn die Mädchen in der Moschee nie eine Leitungsfunktion übernehmen können. Wegen der guten Lernbedingungen werden die Imam-Hatip-Einrichtungen auch „Privatschulen des kleinen Mannes“ genannt.
Der junge Recep soll besonders wegen seines religiösen Eifers aufgefallen sein. Eine Erdoğan-Überlieferung besagt, dass er sich in der Schule geweigert habe, eine Zeitungsseite als Gebetsteppich zu verwenden – er fand es unpassend, auf einem Stück Papier zu beten.
Bis heute sehen Kritiker in diesen Bildungseinrichtungen eine Bedrohung der säkularen Ordnung. Das Militär setzte durch, dass durch Beschränkungen die Imam-Hatip-Schüler einen erschwerten Zugang zu den Universitäten hatten, im Vergleich zu Absolventen der allgemeinbildenden Gymnasien. Nicht selten wurden die Religiösen bei universitären Eingangsprüfungen dermaßen benachteiligt, dass ihnen nur ein Theologiestudium offenstand. Auch eine Karriere beim Militär war für diese Absolventen lange Zeit nicht möglich. Erdoğan änderte diese Ungleichbehandlung 2004 mit einer Hochschulreform.
In den siebziger Jahren war wieder das ganze Land in Aufruhr. Wachsende Spannungen zwischen rechts und links, unruhige, von einer Polarisierung geprägte Zeiten wühlten die Türkei auf. Wegen einer Wirtschaftskrise wurde erneut die Lira abgewertet, es mussten Stabilisierungsprogramme umgesetzt werden.
Die politische Bühne war leergefegt, denn die Generäle hatten nach ihrem Putsch von 1960 die führenden Politiker der regierenden, konservativen DP gehängt. Nach dem Militärputsch gewann die CHP 1961 die Wahlen, musste aber mit der DP-Nachfolgerin, der rechtsgerichteten „Gerechtigkeitspartei“ (türkisch „Adalet Partisi“, AP) unter Süleyman Demirel, eine Koalition eingehen. 1965 schaffte es dann die AP, die Wahlen zu gewinnen, Demirel wurde Ministerpräsident. Obwohl aus dem ländlichen Westanatolien stammend, galt der Ingenieur als Verfechter des Kemalismus, war aber kein Sympathisant des Säkularismus. „Der Staat kann laizistisch sein, aber die Nation kann nicht ohne Religion existieren“, sagte Demirel.
Erdoğan wollte raus aus der Armut, aus der Enge, aus dem tristen Viertel. Deswegen absolvierte er zusätzlich noch eine allgemeine Sekundarschule, um zu einem Wirtschaftsstudium zugelassen zu werden. 1981 machte er seinen Abschluss an der Istanbuler Marmara-Universität, und während dieser Zeit spielte er als Fußballer für verschiedene Amateur- und Profivereine, sein Spitzname lautete „Imam-Beckenbauer“. Der Istanbuler Spitzenklub Fenerbahçe bot ihm einen Vertrag an, er lehnte jedoch ab.
Zum einen drängte ihn sein Vater zu einem akademischen Werdegang, denn er empfand den Sport wegen der kurzen Hosen als unislamisch, weswegen der Sohn zuhause zeitweise sogar seine Fußballschuhe im Kohlenkasten versteckte. Zum anderen wollte Erdoğan seinen Bart nicht abrasieren, was von ihm als Profifußballer verlangt worden wäre. Stattdessen vertiefte er bei einem Seminar des Groß-Scheichs Mehmed Zahid Kotku (1897–1980), der als Begründer des politischen Islam in der Türkei gilt, seine religiösen Studien. Nach Beendigung des Studiums arbeitete er als Buchhalter in einer Wurstfabrik, machte seinen Militärdienst, wechselte später zu den Istanbuler Verkehrsbetrieben.
Mit gerade einmal 15 Jahren wurde Erdoğan politisch aktiv und trat 1969 der neugegründeten „Nationalen Ordnungspartei“ (türkisch „Millî Nizam Partisi“, MNP) bei. Dies war die erste Partei der „Millî Görüş“-Bewegung (deutsch „nationale Sicht“), einer radikalen Vereinigung intellektueller Muslime, in der die Rückkehr zu religiösen Werten gepredigt wurde. MNP-Gründer Necmettin Erbakan hielt von den laizistischen Grundwerten Atatürks sehr wenig. Stattdessen entwickelte Erbakan, der in Deutschland Maschinenbau studiert hatte, eine islamistisch-nationalistische Ideologie, die er „blutig oder unblutig“ umsetzen wollte. Erbakan stand den ägyptischen Muslimbrüdern nahe, seinen Antisemitismus verbarg er nicht. Seine Anhänger blieben beim Spielen der Nationalhymne sitzen, um ihre Ablehnung der Republik zu demonstrieren.
Die Partei strebte die Wiederherstellung einer islamischen Ordnung nach osmanischem Vorbild an. Der westliche, technologische Fortschritt sollte übernommen, eine „imitierende Verwestlichung“ aber vermieden werden – eine Forderung, die von der AKP in ähnlicher Weise später aufgegriffen wurde.
Weil die neue Partei für Kemalisten eine Bedrohung darstellte, wurde sie unter dem Druck des Militärs bereits 1971 wieder verboten. Doch schon 1972 gründete Erbakan die religiös-konservative „Nationale Heilspartei“ (türkisch „Millî Selamet Partisi“, MSP), die bis Ende der 1970er-Jahre an drei Koalitionsregierungen beteiligt war. Erdoğan schloss sich auch dieser Partei an, wobei er 1976 zum Vorsitzenden von deren Istanbuler Jugendorganisation ernannt wurde. Später sollte er einen seiner Söhne nach seinem politischen Ziehvater Erbakan benennen.