Dieses Buch ist allen Stämmen der Erde gewidmet. Wir alle unterscheiden uns voneinander – als Individuen, Gruppen und Nationen doch wir müssen uns über Haß und das Böse hinwegsetzen und wie ein einziger Stamm um das Gute kämpfen. Wir alle haben in der Vergangenheit gelitten und vieles erduldet. Mögen wir die Kraft besitzen, unserer Zukunft entgegenzutreten.
Velma Wallis
KAPITEL 1
Zwei Rebellen
Vor langer Zeit lebte in einem Land, wo die Sonne im Sommer Tag und Nacht schien, aber während des bitterkalten Winters beinahe ganz verschwand, ein Stamm namens Gwich’in. Diese Indianer besiedelten die weiten Ebenen an einem mächtigen Fluß, den sie Yuukon nannten und der südlich der Bergkette verlief, die sich von einem Ende des Landes zum anderen erstreckte. Im Norden, hinter diesen Gipfeln, entlang der Küste des Nordmeeres, lebten die Ch’eekwaii, die Eskimos, die ihre Feinde waren.
Beide Stämme jagten das Karibu, ein Rentier, das in großen Herden über das weite Land zog. Jedes Jahr kamen sie von den Bergen, wo sie überwinterten, herab zu den Gebieten an der Küste, wo die Kühe ihre Kälber zur Welt brachten. Auf der Jagd nach diesen Tieren gerieten die Ch’eekwaii und die Gwich’in manchmal in die Jagdgebiete der anderen und verletzten Grenzen, die zu respektieren sie gelernt hatten. Schließlich führten diese wiederholten Übertretungen und die blutigen Vergeltungsmaßnahmen zu großem Haß zwischen den beiden Völkern.
In jener Zeit lebten zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, in verschiedenen Sippen der Gwich’in – zwei Rebellen, die Außergewöhnliches vollbrachten.
Der Junge war ein hübsches Kind. Sein langes, schwarzes, geflochtenes Haar schmiegte sich um ein Gesicht, das aufgrund seiner Jugend noch weiche Züge trug. Außer der durchschnittlichen Größe und einem schlanken Körper hatte er mit seinen Stammesgenossen wenig gemeinsam.
Den Jungen der Gwich’in wurde beigebracht, Spaß am Jagen und am Wettstreit zu haben, denn sie stellten später, wenn sie zu Männern herangewachsen waren, die Stärke ihres Volkes dar.
Aber dieser Junge interessierte sich nicht fürs Jagen, Ringen oder Wettlaufen. Er war ein Einzelgänger.
Sein Name war Daagoo, nach einem Vogel, dem Schneehuhn. Die Gwich’in verehrten den Vogel, der das Land bevölkerte, und sie wünschten sich, daß ihre Kinder die Kraft und die bewundernswürdigen Fertigkeiten dieser Tiere erlangten. Um ihnen zu helfen, genauso trittsicher zu sein wie ein Schneehuhn, schmückten viele Eltern die Mokassins ihrer Kinder mit kleinen Mustern, geflochten aus mit Pflanzen gefärbten Stachelschweinborsten, die Schneehuhnfüße darstellten.
Daagoos Eltern gingen noch einen Schritt weiter und gaben ihrem Sohn den Namen dieses Tieres. Mit der Zeit wurde der Junge jedoch nicht nur sicher auf den Beinen, sondern auch ebenso unstet wie der Vogel. Ständig war er unterwegs, um die Seen und Sümpfe, die kleinen Wasserläufe und Flüsse in den weiten Ebenen zu erforschen.
Wenn er sich im Lager aufhielt, verbrachte der neugierige Junge viel Zeit damit, lästige Fragen zu stellen. Eine Frage insbesondere ließ auf dem Gesicht der Älteren immer ein Lächeln erscheinen. Daagoo wollte wissen, was mit der Sonne im Winter geschah, wenn sie sich scheinbar in den Süden zurückzog und jeden Tag weniger hoch in den Himmel stieg, bis sie ganz am Horizont verschwunden war.
Um das Kind zufriedenzustellen, erzählten ihm die Älteren vom Land der Sonne, einem warmen Land im Süden, wo die Sonne das ganze Jahr über schien. Vor vielen Jahren – so hieß es – sei eine Gruppe von Gwich’in dorthin gereist. Einige von ihnen hatten das Land der Sonne auch erreicht, während andere aus Angst vor den unbekannten Gegenden umgekehrt waren.
Ein älterer Mann erklärte, daß sein Urgroßvater einer derjenigen gewesen sei, die in den Norden zurückgekehrt waren. Er beschrieb die alte Route zum Land der Sonne, die sein Urgroßvater an ihn weitergegeben hatte, und zeichnete eine Karte für den kleinen Daagoo. Dieser übertrug die Karte begeistert auf ein Stück gegerbte Elchhaut, das ihm seine Mutter gegeben hatte.
Wenn Daagoo andere Erwachsene nach diesem Fabelland fragte oder ihnen seine Karte zeigte, runzelten sie oft nur die Stirn, denn die meisten nahmen solche Legenden nicht ernst. Aber Daagoo glaubte unbeirrt daran. Der kleine Junge schwor sich, daß er eines Tages das Land der Sonne finden würde.
Viele Meilen von der Stelle entfernt, wo Daagoos Sippe ihr Lager aufgeschlagen hatte, zog eine andere Sippe umher, in der ein junges Mädchen lebte. Sie wurde Jutthunvaa’ genannt, nach dem Schmuck, den sie trug. Seit sie ein Säugling gewesen war, hatte ihre Mutter, Na’Zhuu, Zierat für sie angefertigt. Sie machte Perlen aus dem Schienbein eines Elches, färbte sie und zog sie zu Ketten und Armbändern auf, mit denen sie ihre einzige Tochter schmückte.
Trotz aller Bemühungen Na’Zhuus, ihre Tochter schön und weiblich aussehen zu lassen, wurde Jutthunvaa’ mehr durch ihren Vater und ihre drei älteren Brüder beeinflußt. Ihr Vater, Zhoh, brachte seinen Kindern bei, ihre eigenen Waffen herzustellen und sie zu gebrauchen. Von den Männern der Gwich’in wurde zwar erwartet, daß sie ihre Söhne auf diese Weise schulten, aber niemand verlangte, daß auch eine Tochter in diesen Fertigkeiten unterrichtet wurde. Zu jener Zeit brachte man den Jungen bei, zu jagen und Tiere aufzuspüren, während die Mädchen lernten, zu kochen, Kinder großzuziehen, Tierhäute zu gerben, zu nähen und eßbare Pflanzen und Heilkräuter zu sammeln. Aber Zhoh war stolz auf das Interesse seiner Tochter an Dingen, die er und seine Söhne taten, und daher ermutigte er sie, ebenfalls laufen und jagen zu lernen.
Das junge Mädchen war eine eifrige Schülerin. Es lernte sogar, die Rufe der Vögel, die über die weiten Ebenen hinwegflogen, perfekt zu imitieren – eine Fertigkeit, die Jäger hoch schätzten, denn sie verständigten sich untereinander mit Vogelrufen, so daß die Tiere, die sich in der Nähe aufhielten, nicht verscheucht wurden. Mit der Zeit hörte Na’Zhuu auf, Jutthunvaa’ im Kochen und Nähen zu unterweisen und überließ es den Männern der Familie, ihre Tochter zu unterrichten. Sie protestierte nicht länger, wenn Zhoh und seine Söhne Jutthunvaa’ mit ihrem Kosenamen anredeten: Vogelmädchen.
Die Jahre vergingen, und die Tochter von Zhoh und Na’Zhuu wuchs zu einer schönen jungen Frau heran. Vogelmädchen wurde zu einer geschickten Jägerin, die dazu imstande war, weite Strecken zu laufen und in den stärksten Flußströmungen zu schwimmen. Sie lief mit den Jungen im Lager um die Wette und rang mit ihnen, wobei sie ihre Gegner oft besiegte. Ihre Familie sah, wie sie zu einer starken und geschickten Frau heranwuchs, und sie empfanden Stolz und Bewunderung für sie. Aber andere Mitglieder der Sippe begannen, darüber die Stirn zu runzeln.
In dem Lager, wo Daagoo lebte, runzelten die Männer ebenfalls die Stirn. Sie verloren die Geduld mit diesem Jungen, der lieber loswanderte und seine Umgebung erforschte, statt zu jagen und die Fährte von Tieren aufzunehmen. Sein mangelndes Interesse zeugte von einer unverhohlenen Respektlosigkeit. Daagoos Vater, Ch’izhin Choo, mußte sich die meiste Kritik der Männer anhören.
»Er ist dein Sohn, und du trägst die Verantwortung für ihn«, sagten sie.
Ch’izhin Choo wußte keine Antwort auf ihre Vorwürfe. Er gestand sich ein, daß er und seine Frau dem Jungen zu lange erlaubt hatten, eigene Wege zu gehen. Nun, da Daagoo ein Mann wurde, würde es schwierig sein, ihn zu ändern, das wußte Ch’izhin Choo.
Dabei war es nicht Daagoos Absicht, ein schlechter Sohn zu sein. Er liebte seine Eltern und bemühte sich, sie zufriedenzustellen. Ab und zu jagte er kleinere Tiere, wie Stachelschweine oder Erdhörnchen, die bei den Gwich’in als Delikatesse galten, und brachte sie seiner Mutter als Geschenk.
Trotzdem war da noch etwas anderes in Daagoo, das er nicht verleugnen konnte. Er war von einer ungeheuren Wanderlust besessen. Oft bereitete er seinen Eltern Sorgen, weil er tagelang das Land durchstreifte, ohne ins Lager zurückzukehren.
Eines Abends, als Daagoo von einem langen Spaziergang zurückkam, wartete sein Vater auf ihn. Die kritischen Bemerkungen der anderen Männer lasteten schwer auf seinem Herzen, und so begann Ch’izhin Choo, seinen Sohn über dessen Verhalten zu befragen.
Daagoo antwortete eifrig. »Vater, ich bin neugierig auf dieses Land und auf das, was dahinter liegt. Und ich möchte mehr über die Berge dort hinten wissen.« Er deutete auf die entfernt liegenden Gipfel. »Ich frage mich, wie es an den Orten aussehen mag, wo wir noch nie gewesen sind. Jedes Jahr benutzen wir dieselben Pfade, um zu unseren Lagerstätten zu gelangen. Niemals weichen wir von unserem Weg ab, und ich schaue mir diese Berge an, die so weit entfernt sind und frage mich, was wohl auf der anderen Seite liegen mag. Bist du auch neugierig auf solche Dinge?«
»Mein Sohn, wenn ich mich hinsetze und über diese Berge nachdenke, wird uns das unser Fleisch bringen?« erkundigte sich Ch’izhin Choo mit ernster Stimme bei seinem Sohn. »Wird uns das in einer kalten Winternacht wärmen? Wenn unser Volk die Berge besuchte, würde das viele Leben kosten, denn wir wären gezwungen, viel kostbare Zeit zu vergeuden, in der wir lieber jagen und Vorräte für den Winter sammeln sollten. Die Menschen würden erfrieren und verhungern wegen solch einer verrückten Neugierde.«
Daagoo hörte ihm nur mit halber Aufmerksamkeit zu. »Vater, beschäftigt dich nicht einmal der Gedanke an die Sonne?« fragte er ungläubig. »Wo sie des Nachts hingeht und während des langen Winters, wenn wir im tiefen Schnee und der Kälte ums Überleben kämpfen? Die Alten haben vom Land der Sonne erzählt, einem warmen Land, wo die Sonne die ganze Zeit scheint. Wir sollten der Sonne folgen, statt einen weiteren Winter hier zu durchleiden.«
Ch’izhin Choo verlor die Geduld und schüttelte zornig den Kopf. Keines seiner Worte hatte den geringsten Eindruck bei seinem Sohn hinterlassen.
»Auch ich schaue die Berge an und frage mich, was wohl dahinter liegen mag, aber wir müssen unseren Verstand auf das richten, was wichtig ist, mein Sohn. Unser Überleben! Nichts könnte wichtiger sein.«
Ch’izhin Choo seufzte erschöpft, denn er wußte, daß es nicht so einfach sein würde, wie die anderen Männer glaubten, den Jungen zu ändern. Daagoo träumte davon, eines Tages der Sonne zu folgen. Diesen unmöglichen Traum wollte Ch’izhin Choo nach Möglichkeit zerstören, denn sein Sohn mußte tun, was Recht war, nämlich mit auf die Jagd gehen, um sein Volk am Leben zu halten.
Nicht lange nach diesem Gespräch kamen der Häuptling und die anderen Männer des Rats zu Ch’izhin Choo.
»Wir können das Verhalten deines Sohnes nicht länger dulden«, sagte ein Jäger. »Was wäre, wenn unser Leben von diesem Jungen abhinge? Dann wären wir bald tot. Er jagt ja nicht einmal!«
Ch’izhin Choo, den diese herausfordernden Worte trafen, beeilte sich, Daagoo zu verteidigen. »Ich habe meinem Sohn alles beigebracht, was er über das Jagen wissen muß. Solltest du oder ein anderer in diesem Lager jemals seine Hilfe benötigen, könnte er dein Leben und das Leben aller hier retten!«
»Genug!« sagte der Häuptling und hielt die Hände hoch, um die beiden Männer, die sich mit geballten Fäusten gegenüberstanden, zum Schweigen zu bringen. »Streitereien werden das Problem nicht lösen. Wir müssen uns vernünftig unterhalten.«
Er wandte sich Ch’izhin Choo zu und sagte: »Du wirst mit deinem Sohn reden. Sag ihm, daß wir seinen Ungehorsam nicht länger dulden werden. Wir alle wissen, was passiert, wenn Angehörige dieses Stammes sich weigern, den Regeln zu folgen.«
Daagoos Vater blieb nichts anderes übrig, als zustimmend mit dem Kopf zu nicken. Die Gwich’in lebten bereits seit Tausenden von Jahren in den weiten Ebenen und hatten ein striktes Regelwerk entwickelt. Jedes Mitglied der Gruppe mußte seine oder ihre Pflichten klaglos erfüllen, damit das Überleben gesichert wurde. Gehorsam wurde mit Strafe erzwungen. Es kam vor, daß Stammesmitglieder aus der Gruppe ausgestoßen wurden, weil sie sich weigerten, die uralten Sitten und Gebräuche zu akzeptieren. Eine stillschweigende Übereinkunft besagte, daß die Gwich’in nicht nur die Tiere und das Land selbst benötigten, um zu überleben, sondern die Mitglieder der Sippe auch aufeinander angewiesen waren. Sie kannten die Wichtigkeit von Gehorsam und die schrecklichen Konsequenzen, die eine unkluge Rebellion nach sich ziehen würde.
KAPITEL 2
Ein Treffen am Fluß
Bevor Ch’izhin Choo mit seinem Sohn reden konnte, hatte sich der bereits zu einer weiteren Wanderung über die weiten Ebenen aufgemacht. Es gab noch so viele Stellen, die es zu erforschen galt! Er liebte es ganz besonders, auf die Hügel weiter im Norden zu steigen, denn von dort konnte er auf die in der Ferne liegenden Berge hinüberblicken oder auf die Ebenen zurückschauen, die sich, durchschnitten vom Yuukon, Hunderte von Meilen weit erstreckten.
Heute wanderte er an eben diesem großen Fluß entlang. Im Sommer kämpfte sich der größte aller Fische, der Lachs, gegen die Strömung hier herauf, wo er von den Gwich’in gefangen und zum Trocknen auf Weidengerüste gehängt wurde. Der Yuukon hatte den Gwich’in, solange sie sich erinnern konnten, als Lebensgrundlage gedient.
Daagoo folgte einem Pfad, den er nicht kannte. Das tat er immer, wenn er sich auf Entdeckungsreise machte. Es war die Spannung, nicht zu wissen, wo ein Pfad endete, die ihn dazu brachte, weiterzulaufen. Manchmal lief er auf ausgetretenen Spuren an den Ufern der Flüsse und Moraste entlang und mußte feststellen, daß sein Weg plötzlich von Dickicht oder Weidenzweigen versperrt war. Diese Pfade waren von Bibern oder Kaninchen angelegt worden, denen es ohne Mühe gelang, unter solchen Hindernissen hindurchzukriechen. Er entdeckte auch Pfade, die von Frauen angelegt worden waren und die zu Beerenbüschen führten.
Einmal, an einem Frühlingsnachmittag, als der Tag sich langsam neigte und der Abenddämmerung näherte, hatte er ein Kaninchen und einen Fuchs entdeckt, die zwischen den Weiden hervorgeschossen kamen und bei ihrer Verfolgungsjagd beinahe über seinen Pfad hinwegflogen. Daagoo bestaunte dieses Schauspiel und fragte sich, ob andere Menschen wohl jemals Zeugen solcher Dinge wurden. Aber oft raste sein Herz auch vor Furcht, womöglich einmal den geheimnisvollen sprechenden Tieren aus den Geschichten seiner Mutter zu begegnen.
Während dieser neuen Entdeckungsreise, auf der Daagoo über all diese Dinge nachdachte, hatte er plötzlich das Gefühl, nicht allein zu sein, und als er aufblickte, entdeckte er eine junge Frau. Bevor er sich verstecken konnte, drehte sie sich zu ihm um. Für einen Moment starrten sich die beiden nur an.
Den Kindern der Gwich’in wurde schon von frühester Jugend an eingeschärft, Fremden zu mißtrauen. Ihre Eltern jagten ihnen Angst ein, indem sie ihnen androhten, daß die Ch’eekwaii aus dem Norden kommen und sie mitnehmen würden, wenn sie zuviel Lärm machten. Obwohl dies lediglich dazu diente, die Kinder ruhig zu halten, wenn ein Tier in der Nähe war, erfüllten diese Geschichten die Phantasie der Kinder mit schrecklichen Bildern des Feindes, den sie noch niemals zu Gesicht bekommen hatten.
Daagoo war ein wenig erleichtert, als er sah, daß das Mädchen ein Kleid mit spitzen Fransen im Stil der Gwich’in trug. Seine Augen nahmen die bunten Knochenketten und Armbänder wahr, die sie schmückten, aber auch den Bogen und die Pfeile, die sie trug. Das machte ihn neugierig – es war eigenartig, ein Mädchen zu sehen, das Schmuck trug und auch Waffen mit sich führte. Daagoo hörte sich fragen: »Was machst du hier ganz allein?«
Das Mädchen lächelte erleichtert, da sie seine Worte verstand.
»Ich jage«, erwiderte sie schlicht.
Daagoo hob erstaunt die Augenbrauen. Während seiner ganzen Wanderungen war ihm bisher noch nie ein Mensch begegnet, von einem jagenden Mädchen ganz zu schweigen. Er wußte nicht, wie er auf dieses seltsame Mädchen, das seinen Weg versperrte, reagieren sollte. Sie stand wie er bewegungslos da und erwiderte seinen starrenden Blick.
»Wie lautet dein Name?« erkundigte sie sich schließlich.
Er nannte ihn ihr.
»Ich werde Vogelmädchen genannt«, sagte sie, obwohl er nicht nach ihrem Namen gefragt hatte. Als Daagoo nichts darauf entgegnete, fragte sie: »Was machst du hier?«
Daagoo suchte zögernd nach einer passenden Antwort. Menschen, die ständig um ihr Überleben kämpfen mußten, verstanden nie, warum er kostbare Zeit mit der Erforschung seiner Umgebung vergeudete.
»Ich wandere nur so herum«, murmelte er.
Vogelmädchens Augen füllten sich mit Neugier. Sie hatte noch nie von jemandem gehört, der einfach herumwanderte, und sie wollte mehr erfahren.
Aber es war Daagoo, der die nächste Frage stellte. »Sind deine Leute in der Nähe?«
Er spürte, wie seine Wangen unter ihrem direkten Blick erröteten. Sie war nicht wie die Frauen, die er kannte. Normalerweise hatte eine Frau Angst, einem Mann in die Augen zu blicken, besonders, wenn es sich um einen Fremden handelte. Und doch schaute sie ihn neugierig an und sprach als erste, statt ihn reden zu lassen.
»Ich jage allein. Meine Leute sind im Lager«, erwiderte Vogelmädchen. Sie erkannte, daß er nicht wie die anderen Jungen war. Die jungen Männer in ihrer Gruppe behandelten sie mit Wut und Verachtung, weil sie sich immer daran erinnerten, daß Vogelmädchen gegen sie gekämpft und gewonnen hatte. Sie wußte, daß die Jungen sich durch ihre Kraft und ihr selbstbewußtes Verhalten bedroht fühlten. Doch Daagoo schien nicht von ihr eingeschüchtert zu sein. Aber sie verstand immer noch nicht, was er damit meinte, wenn er sagte, daß er einfach herumwandere. »Jagst du auch?« fragte sie.
Daagoo beschloß, ihr keine allzu ausführliche Antwort zu geben. Zu oft hatte er Menschen verärgert, wenn er versuchte, ihnen seine Entdeckungsreisen zu erklären.
»Ich jage nicht sehr viel. Ich erkunde die Gegend«, erwiderte er.
Vogelmädchen spürte, daß ihr dieser Junge nicht die ganze Wahrheit sagte, aber sie hörte auf, Fragen zu stellen, denn sein Gesicht war starr wie eine Maske geworden.
Die beiden jungen Leute standen am Ufer des mächtigen Flusses, der unter ihnen hinwegfloß. Sie starrten in den warmen Sommertag, in den sich schon bald die Kühle des Herbstes mischen würde.
Schließlich sagte Daagoo: »Ich muß gehen.« Er wollte seine Wanderung fortsetzen. Obwohl ihn dieses Mädchen interessierte, drängte ihn doch seine Rastlosigkeit, weiterzugehen.
Die beiden verabschiedeten sich voneinander. Nachdem Daagoo ein Stück auf dem Pfad gegangen war, blickte er sich um und sah, daß Vogelmädchen ihm hinterherstarrte. Er wandte seinen Kopf schnell wieder um und schritt zügig weiter.
Vogelmädchen lächelte und schüttelte den Kopf. Was für ein seltsamer Junge. Manchmal unterbrachen ungewöhnliche Ereignisse die Eintönigkeit des täglichen Überlebenskampfes. Dieses hier würde sie nicht vergessen.
KAPITEL 3
Die Entscheidung des Häuptlings
Vogelmädchens Vater, Zhoh, stand in der Abenddämmerung und blickte hinauf zu einem winzigen Lichtschein am Himmel. Wenn dieser kleine Stern um diese Zeit des Jahres erschien, dann bedeutete es, daß der Sommer vorüber war. Wieder einmal war die Zeit gekommen, für den Winter zu planen. Er wandte sich um und trat in das Zelt aus Tierhäuten, in dem seine Frau saß. Sie warteten beide auf Vogelmädchen, um ihr die Neuigkeit gemeinsam mitzuteilen.
»Ist sie schon wieder zurück?« fragte Na’Zhuu ihren Mann, als er in ihren Unterschlupf zurückkehrte. Er schüttelte den Kopf.
Zhoh seufzte tief. Er wußte, daß es sich einfach anhörte, die eigene Tochter an die Regeln erinnern zu müssen, aber das war es nicht. Vogelmädchen befand sich in der Phase zwischen Mädchen und Frau. Sie konnte so sanftmütig sein wie ein Fisch, der ruhig unter der Wasseroberfläche schwamm, aber es gab auch Zeiten, in denen sich in ihren Augen die rebellische Wut eines alten, oft verwundeten Bären widerspiegelte. Zhoh erschauderte. Er fragte sich, woher er den Mut nehmen sollte, seiner Tochter von der Entscheidung zu berichten.
Zhoh dachte an die Zeiten zurück, bevor die Schwierigkeiten begonnen hatten. Er und seine Frau liebten ihre Tochter und hatten ihr erlaubt, zu laufen und zu jagen, statt sie zu zwingen, sich die üblichen Fertigkeiten einer Frau der Gwich’in anzueignen.
Anfangs hatte niemand etwas einzuwenden gehabt. Vogelmädchen begann, wie ihre Brüder zu jagen, und brachte Fleisch für ihre Familie und andere Stammesangehörige, die sich nicht selbst versorgen konnten, ins Lager. Zhoh erinnerte sich, wie stolz er auf die Fertigkeiten gewesen war, die er und seine Söhne dem Mädchen beigebracht hatten. Sie konnte weite Strecken laufen, ohne müde zu werden, über gefallene Bäume springen und viele verschiedene Arten von Tieren jagen. Aber besonders stolz war Zhoh darauf, daß Vogelmädchen all dies besser konnte als die meisten jungen Männer in der Sippe, sogar besser als ihre eigenen Brüder. Dies warf ein helles Licht auf seine Begabung als Lehrer.
Erst heute, nachdem die anderen Männer mit ihren Beschwerden zu ihm gekommen waren, hatte er seinen Fehler erkannt. Obwohl Vogelmädchen ihre Familie mit Fleisch versorgte, billigten die anderen ihr Verhalten nicht. Sie waren der Ansicht, daß sie heiraten sollte. Eine kleine Gruppe von Männern hatte sich versammelt, um die Aufmerksamkeit ihres Anführers darauf zu lenken.
Der Häuptling war ein Mann, der sein Sinnen und Trachten darauf richtete, den Frieden zu erhalten und seine Leute dazu zu bringen, gemeinsam für das Überleben der Gruppe zu arbeiten. Er hatte keine Meinung über Vogelmädchen. Er sah nichts Schlechtes darin, daß sie Jägerin war, aber er sah auch keinen Grund, warum sie nicht verheiratet werden sollte. Jetzt würde sie jeder Mann gerne nehmen, aber später würde man sie für zu alt für die Ehe halten. Wenn jeder der Ansicht war, daß sie verheiratet werden sollte, dann würde er seine Pflicht tun und dafür sorgen, daß dies geschah.
Mit den anderen Männern im Rücken trat der Häuptling vor Zhoh und sagte mit gleichgültiger Stimme: »Deine Tochter ist alt genug, um verheiratet zu werden. Der Tag, an dem sie einem Mann hätte zur Frau gegeben werden sollen, ist lange vorüber. Wir verlangen, daß du einen Mann für sie auswählst.«
Zhoh blieb stumm. Er nahm an, daß diese Männer seine Tochter schon seit langer Zeit ablehnten. Sie war selbstbewußt, stellte dauernd Fragen und blickte den Männern gerade in die Augen – ganz im Gegensatz zu den anderen Frauen, die schweigend lauschten und ihren Männern gehorchten, ohne deren Autorität in Frage zu stellen.
Zhoh hätte seine Tochter gerne verteidigt und ihnen gesagt, daß sie noch einige Zeit benötigte, um sich an den Gedanken einer Heirat zu gewöhnen, aber er konnte nicht mit seinen Jagdgefährten streiten. Er wußte, daß die Schuld allein bei ihm lag. Er kannte die strikten Regeln, denen sein Volk seit vielen Generationen folgte, und war sich der Traditionen bewußt, die alles im Gleichgewicht hielten. Dennoch war er mit seiner Tochter nachsichtig gewesen und hatte eine Regel verletzt, die niemals hätte gebrochen werden dürfen. Er hatte die Pflichten seiner Frau übernommen und seine Tochter selbst unterrichtet. Nun würde Vogelmädchen den Preis für seinen Fehler zahlen müssen.