Der Berliner Fotograf Ali Ghandtschi machte sich auf den Weg nach Israel, um Schriftsteller und Künstler zu porträtieren und sich ein eigenes Urteil über das Land zu bilden. Irgendwann begann er – als Deutscher, Perser, Nichtjude in einer besonderen Position – Fragen zu stellen und ein Tonbandgerät mitlaufen zu lassen. Um die Unterhaltung nicht gleich auf Politik zu lenken, bat er seine Gesprächspartner, ihm von ihrer Kindheit zu erzählen. Fast alle waren erfreut, dass sich jemand für persönliche Geschichten und nicht nur für die Politik interessierte. Und dennoch spannt sich der Bogen der Erinnerungen in diesem Band fast immer bis in die Gegenwart und berührt die derzeitige Lage. Da alles in Israel mit Politik zu tun hat, sind auch Kindheitserinnerungen politisch.
Und auch die 32 Farbfotografien von Ali Ghandtschi zeugen von einem Alltag, der nur scheinbar alltäglich ist. Sie erzählen vom Übertönen, Ausstreichen und Recht-haben-Wollen. Von der Suche nach der einen Wahrheit.
So ergibt sich aus der Vielzahl der unterschiedlichsten Stimmen – moderat religiöse, orthodoxe und säkulare Juden, Zionisten und palästinensische Israelis kommen zu Wort – ein Gesamtbild mit unerwarteten Perspektiven.
Ali Ghandtschi wurde 1969 in Teheran, Iran, geboren. Seit 1995 arbeitet er als freier Fotograf. Ghandtschi fotografiert für nationale und internationale Musik- und Kulturmagazine, Theater und Museen, ist Fotograf der Berlinale und des Internationalen Literaturfestivals Berlin. Er lebt und arbeitet in Berlin.
www.ghandtschi.de
Mein Israel
Juden und Palästinenser erzählen
Herausgegeben von Ali Ghandtschi
Übersetzt von Eldad Stobezki und
Mirjam Pressler
Mit 32 Farbfotografien des Herausgebers
Suhrkamp Verlag
Für Laura, Elias und Maja
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4578.
© dieser Ausgabe: Suhrkamp Verlag Berlin 2015
© der Fotografien und der englischen Originaltexte: Ali Ghandtschi
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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
Umschlagfotos: Ali Ghandtschi
eISBN 978-3-518-74036-1
www.suhrkamp.de
Ich erinnere mich, wie ich als Kind, im Teheran der siebziger Jahre, auf unserem Schwarzweißfernseher Moshe Dayan sah. Ich war beeindruckt von seiner Augenklappe und musste an Schlachten auf Seeräuberschiffen denken.
Später, nach der iranischen Revolution und unserer Übersiedlung nach Deutschland, zeigte unser neuer Farbfernseher die Bilder der Intifada: Jugendliche, die Steine schleuderten gegen Soldaten mit Maschinengewehren. Dann explodierende Busse, zerfetzte Körper, Drohungen von Politikern; 2005 schließlich Israels Rückzug aus Gaza.
In meiner Jugend hatte ich israelische Freunde, die nach dem Libanonkrieg von 1982 aus der Armee ausgeschieden waren und nun die Welt bereisten, um das Erlebte zu verarbeiten.
Israel hat mich immer begleitet, Diskussionen zum Thema Israel gehörten zu meinem Leben. Jeder hatte eine Meinung, auch ich. Gleichzeitig hatte ich immer das Gefühl, eigentlich viel zu wenig über dieses Land zu wissen.
Als Fotograf des internationalen Literaturfestivals in Berlin hatte ich Kontakt zu israelischen Lyrikern und Schriftstellern. Im April 2011 beschloss ich, nach Israel zu reisen, Porträts von Künstlern zu machen und diese in einer Ausstellung zu zeigen.
Am Flughafen Ben-Gurion befragten mich sieben Beamte mehrere Stunden lang, was ich – Deutscher, Perser, Nichtjude – in Israel wolle. Schließlich ließ man mich einreisen. Und plötzlich fühlte ich mich merkwürdig zu Hause. Die Freundlichkeit und der Umgang der Menschen miteinander erinnerten mich an den Iran. Ich war im Nahen Osten angekommen, in einem Land, dass sich von den umgebenden Ländern abgrenzte und dennoch von der Mentalität des Orients durchdrungen schien.
Am ersten Tag meiner Reise besuchte ich die Altstadt von Jerusalem. An der Klagemauer geriet ich in Feierlichkeiten von orthodoxen Juden zu Ehren eines reichen Amerikaners, der dem Rabbiner der Klagemauer eine neue Torarolle übergeben hatte. Hunderte tanzten ausgelassen zu den Klängen eines Kinderchors, der von verzerrten, ohrenbetäubenden E-Pianoklängen begleitet wurde. Ich fotografierte das Fest und wurde bald von den Feiernden aufgefordert, mitzutanzen. Mit meiner Pappkippa auf dem Kopf sah ich wahrscheinlich aus wie ein Diasporajude auf Heimatbesuch. Nach einer Weile fragte mich der Assistent des Rabbiners, woher ich käme. Als ich ihm von meiner Herkunft erzählte und auf Nachfrage verneinen musste, Jude zu sein, war die Party für mich vorbei. Ich wurde aufgefordert, die Veranstaltung zu verlassen.
Dann ging ich zum Felsendom. Als ich meinen islamischen Namen nannte, wurde ich eingelassen. Ein freundlicher Mann zeigte mir jede Ecke des Doms, zu dem wiederum Juden keinen Zutritt haben.
Israelische Freunde, denen ich am Abend von meinen Erlebnissen erzählte, bezeichneten mich – halb im Ernst, halb scherzhaft – als »Religionshure«. Für jemanden, der wie ich in einer Gesellschaft lebt, in der Religion im öffentlichen Raum so gut wie keine Rolle spielt, waren das ganz neue Erfahrungen.
Mir wurde bald klar, dass es nicht genügen würde, in Israel einfach nur Porträts zu machen. Dieses Land faszinierte mich, ich wollte einen anderen Zugang dazu finden. Ich hatte ein Aufnahmegerät dabei und begann, die Künstler zu interviewen. Um das Gespräch nicht gleich auf Politik zu lenken, bat ich sie, mir eine Kindheitserinnerung mit Bezug zu Israel beziehungsweise dem damaligen Palästina zu erzählen. Fast alle waren begeistert von der Idee, dass sich jemand für persönliche Geschichten interessierte und nicht zwingend über Politik sprechen wollte. Dennoch spannten die Erzähler den Bogen fast immer bis zur heutigen Zeit. Da alles in Israel mit Politik zu tun hat, sind auch Kindheitserinnerungen politisch.
Nach drei Wochen hatte ich achtzehn Interviews geführt und war von den Geschichten so gefangen, dass das fotografische Porträt in den Hintergrund trat. Es war etwas anderes, das ich im Bild festhalten wollte. Ich begann, Nachrichten, die Menschen in der Öffentlichkeit hinterlassen hatten, zu fotografieren: Wandzeitungen, Graffiti, Parolen.
Zurück in Deutschland zeigte ich eine Auswahl der Geschichten und Bilder im Rahmen einer Ausstellung während des internationalen Literaturfestivals im Haus der Berliner Festspiele, was auf reges Interesse stieß. Ich beschloss, das Projekt weiter zu verfolgen. Auf fünf mehrwöchigen Reisen nach Israel sammelte ich fast achtzig Geschichten verschiedenster Persönlichkeiten und machte zahllose Aufnahmen – insbesondere von Wänden und Mauern.
Mein Plan, ein ausgewogenes Bild Israels aufzuzeigen, ging allerdings nicht auf. Die israelische Gesellschaft ist weit vielfältiger, als wir sie durch die Medien wahrnehmen.
Viele Intellektuelle, insbesondere linke und moderate, stehen der israelischen Politik sehr kritisch gegenüber und sind für Gespräche offen. Ultranationalistische und ultraorthodoxe Juden sowie islamische Würdenträger dagegen waren meist gar nicht bereit, mit mir zu sprechen. Der Radiomoderator und Rechtsanwalt Yoram Sheftel zum Beispiel, der den ehemaligen KZ-Aufseher John Demjanjuk bei seinem Prozess 1986 in Israel verteidigte, beschimpfte mich am Telefon lauthals, was ich als Deutscher mir erlaube, ihn anzurufen.
Ich war froh, dass sich Israel Har'el bereit erklärte, mir seine Geschichte zu erzählen. Er gehört zu den Gründern der nationalistischen und messianischen Siedlerbewegung »Gush Emunim«. Außerdem veröffentlicht er seit vielen Jahren Kolumnen in der Tageszeitung Haaretz. Das macht ihn auch jenseits der rechten Kreise zu einer Stimme des öffentlichen Lebens.
Auch der kontrovers diskutierte Musiker Ariel Zilber wollte anfangs nicht mit mir sprechen. Erst als ich ihm sagte, dass ich den auch von Siedlern verehrten Rabbiner Adin Steinsaltz getroffen hatte, war er bereit, mir seine Geschichte zu erzählen. Linke und moderate Kräfte des Landes lehnen Ariel Zilber ab, weil er seit einigen Jahren extrem nationalistische Positionen einnimmt. Selbst die aktuelle Regierung unter Benjamin Netanjahu und Avigdor Lieberman findet er zu linksgerichtet. Als wir nach unserem Gespräch in einem schäbigen Café in einem Industriegebiet Tel Avivs auf die Straße traten, wurde er indes von jungen Bauarbeitern, die am Nachbargebäude beschäftigt waren, erkannt und frenetisch bejubelt.
Chaim Gouri, einer der beliebtesten Lyriker des Landes und bei weitem kein Extremist, sagte höflich ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg, so erzählte er mir am Telefon, half er, ehemalige KZ-Häftlinge zu betreuen, und begleitete als Journalist den Eichmann-Prozess. Dies mache es ihm bis heute unmöglich, an einem deutschen Projekt teilzunehmen. Er wisse, dass ich ein junger Mann und unschuldig sei, ich solle es ihm aber bitte nachsehen.
Einige arabische Israelis wiederum wollten sich nicht interviewen lassen, weil sie nicht zusammen mit Juden in einem Buch erscheinen wollten, auch aus der Angst heraus, dadurch in der arabischen Welt angefeindet zu werden. Wenn ich zwei Bücher herausbringen würde, eines mit Interviews von Juden, eines mit Interviews von Arabern – dann wären sie bereit, mit dabei zu sein.
Mein Israel? Wessen Israel ist also damit gemeint? Das Land ist voll der verschiedensten Biographien. Innerhalb der jüdischen Gesellschaft gibt es so viele verschiedene Strömungen: Juden aus dem europäischen und dem arabischen Raum, eritreische und persische Juden, moderat religiöse, messianische, orthodoxe und ultraorthodoxe. Es gibt säkulare Juden, Zionisten und absolute Antizionisten, die mit Holocaust-Leugnern gemeinsame Sache machen. Dazu gibt es die Siedler, und wer die richtig schlimm findet, der kennt noch nicht die Hilltop-Gangs. Dazwischen und darum herum gibt es natürlich noch Beduinen, Drusen und die mit 20% Bevölkerungsanteil nicht ganz kleine Gruppe der von den Juden »arabische Israelis« genannten moslemischen und christlichen Araber, die sich selbst aber als »palästinensische Israelis« bezeichnen. Und obwohl das Land so klein ist, ist es den einzelnen Gruppen möglich, ein Leben zu führen, ohne mit Mitgliedern der jeweils anderen Gruppierungen in Berührung zu kommen. Das war eine Erkenntnis, die mich mit am meisten irritierte.
Ein bisschen fühle ich mich wie in dem Witz, den mir der Rabbiner Adin Steinsaltz erzählte: Ein Journalist kommt nach Israel und wird gefragt, was er tue. Er schreibe an einem Buch, antwortet dieser. Seit wann er denn im Land sei? »Seit gestern.« Und wann er denn wieder abreise? »Morgen.« Und wie das Buch heißen soll? »Israel gestern, heute und morgen«. Das, was ich in den drei Jahren, in denen ich regelmäßig in Israel war, gehört und erfahren habe, kann nur ein winziger Einblick in die Komplexität dieses Landes sein, das sich in stetigem Wandel befindet. Es bleibt interessant, in welche Richtung es sich entwickeln wird.
Ali Ghandtschi
Die Gespräche wurden auf Englisch geführt, nur die mit Uri Avnery, Asher Reich, Micha Ullman und Ruth Peled-Ney auf Deutsch.
Alle Gespräche fanden vor dem Gazakrieg »Operation Protective Edge« vom Sommer 2014 statt.
Also hör zu, es ist nicht so, daß ich misstrauisch bin, aber ich werde dir nichts von meinen persönlichen Angelegenheiten erzählen. So ist es nun mal. Das hat mich das Leben gelehrt. Und ich bin ein vorsichtiger und aggressiver Optimist. Deshalb hoffe ich, dass eines Tages alles besser wird. Und weil ich Menschen respektiere, die Ideen für ein Projekt haben, hoffe ich, dass du das nicht als Entschuldigung missbrauchst und dass du die Lage so zeigst, wie sie ist, interessant und sehr komplex. Keine der Seiten hat recht oder unrecht. Es ist eine komplexe Situation, in der keine Seite schuldlos ist.
Was hier passiert, ist ziemlich traurig, und ich kann von keinem erwarten, das zu verstehen oder zu erklären, aber ich kann dir sagen: Es ist ein höchst aufregendes Land, und hier leben viele interessante Menschen. Hier ist nicht alles einfach schwarz und weiß, und möglicherweise gibt es keine Lösung, aber dieses Land zeigt, dass man mit Hoffnung leben kann, selbst wenn man weiß, dass es für den Konflikt darin keine Lösung gibt.
Micha Bar-Am