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Rileys Fleisch- und Wildspezialitäten. Superintendent Richard Jury und Detective Sergeant Alfred Wiggins sahen im Schaufenster vor baumelnden Fasanen ihr Spiegelbild. Ein junger und ein älterer Mann bedienten die Frauen, die mit Körben und Einkaufsnetzen bewaffnet im Laden Schlange standen. Nach der Beschreibung, die man Jury gegeben hatte, musste der ältere Mann Albert Riley sein, der Vater des Jungen. Der Mord war erst zwei Tage zuvor geschehen, und am nächsten Tag sollte die Beerdigung sein. Jury wunderte sich ein wenig darüber, dass Riley trotzdem arbeitete.
Es schien eine besonders starke Nachfrage nach bestem britischem Rindfleisch oder aber einen Versorgungsengpass zu geben, denn die Frauen straften Jury und Wiggins mit strengen Feldwebelblicken, als die beiden direkt zum Tresen gingen. Allgemeines Gemurre setzte ein, man fragte die beiden, ob sie denn blind seien, und wollte sie ans Ende der Schlange schicken.
Jury zückte seinen Ausweis, und der junge Mann wurde so weiß wie der fleckenlose Teil seiner Schürze. Dann drehte er sich zu seinem Meister um, der gerade dabei war, rasch und sachkundig Koteletts von Fett zu befreien. Makaber, aber als Jury das sah, musste er unwillkürlich an die Autopsie von Rileys Sohn denken. Riley erstarrte und hielt das Messer vor sich in der Luft fest, als sein Gehilfe ihn auf die Beamten von Scotland Yard aufmerksam machte.
Er überließ dem jungen Mann die Koteletts, während die Frauen hinter Jury und Wiggins die Neuigkeit weitergaben wie Feuerwehrmänner ihre Wassereimer. Scotland Yard. Wahrscheinlich werden Rileys Fleisch- und Wildspezialitäten heute besonders gefragt sein, dachte Jury. In der Regel brachten Mordfälle so etwas mit sich.
Simons Vater wischte sich mit einem Lappen die Hände ab und befreite sich von seiner Schürze. Durch seine dicken Brillengläser wirkten seine kleinen Augen noch kleiner und sein rundes Gesicht noch runder. Er sprach leise und verschüchtert, und es war ihm sichtlich unangenehm, dass man ihn, den engsten Verwandten Simons, bei der Arbeit »ertappt« hatte. Der messerschwingende Meister war, kaum dass er das Messer aus der Hand gelegt hatte, ein absoluter Niemand.
»Gestern war geschlossen«, sagte er. »Aber ich bin fast verrückt geworden, immer nur im Zimmer auf und ab, und dann meine Frau, also Simons Stiefmutter, die mir die Ohren volljault.« Während er das sagte, führte er sie zu einer Tür hinten im Laden. »Auf Sie mag das kaltblütig wirken, ich und bei der Arbeit –«
Worauf Wiggins, der ja sonst alles andere als ironisch war, erwiderte: »Ob kalt oder warm, darüber steht uns kein Urteil zu. Hauptsache, Blut.«
Riley zuckte zusammen und stieg vor ihnen eine Wendeltreppe hoch. »Scotland Yard. Ich hab zu meiner Frau gesagt, sie soll das mit ihrem Bekannten, diesem Staatsanwalt, sein lassen. Hab gesagt, die Polizei von Dorset kommt schon allein zurecht. Andererseits können die natürlich immer Hilfe brauchen. Wir wohnen in der Wohnung über dem Laden. Wir haben noch ein anderes Haus, aber das hier ist praktischer. Meine Frau macht uns sicher ein Tässchen Tee. Ich könnte allerdings gut was Stärkeres vertragen.«
Mit »was Stärkeres« meinte Riley Jameson’s, wie sich herausstellte, und Rileys Frau machte keinerlei Anstalten, Tee zu kochen. Zwar war es Mittagszeit, aber ihr war mehr nach Whisky als nach Lunch oder Tee. Sie kippte ihr Gläschen mit ruhiger Hand, die ihres Mannes zitterte allerdings wie bei einem Spastiker. Als Riley die Brille abnahm und sich den Nasenrücken rieb, sah Jury, dass er rot geränderte Augen hatte, wohl vom Weinen. Mrs. Rileys Augen waren auch rot, doch es sah aus, als sei das eher auf den Schnaps zurückzuführen. Schließlich war sie nicht die leibliche Mutter, und sie schien zu glauben, dass diese Tatsache sie jedweder tränenreichen Trauerbekundung enthob.
Beth Riley war eine große, ordinäre Frau, der eine schlichtere Frisur besser gestanden hätte als die rot gefärbte Wellenpracht, die ihren Kopf umgab. Sie konnte sich geschickter ausdrücken als ihr Mann, und das, obwohl ihre Zunge schon ziemlich schwer war. Sie durfte dem Jameson’s schon tüchtig zugesprochen haben.
»Beth musste ja unbedingt diesen Staatsanwalt aus London einschalten und Sie hinzuziehen –«
»Gut, dass wenigstens einer von uns jemand höher Gestellten kennt«, antwortete Rileys Frau und erklärte Jury: »Leonard Matching, Staatsanwalt. Er will für Brixton ins Parlament.« Nach dem wenigen, was Jury über den Maulhelden Matching gehört hatte, bezweifelte er stark, dass Brixton ihn im Parlament haben wollte. Dass Jury und Wiggins hier waren, verdankten sie der Tatsache, dass ein Assistant Commissioner mit Chief Superintendent Racer befreundet war und auf dem Dienstweg um Amtshilfe gebeten hatte, woraufhin Racer Jury ruckzuck in die Pampas geschickt hatte. Zu schade (so mochte Racer denken), dass es statt Belfast nur der alte Marktflecken Dorchester war, schlappe einhundertsechzig Meilen von London entfernt. Jury konnte sich vorstellen, wie erbaut Inspector Neal wohl darüber war, dass man ihm jemanden vor die Nase gesetzt hatte; doch Neal war zu fair, um Jury deswegen das Leben schwer zu machen. Nicht jeder wäre so großmütig gewesen.
»… und keine zwei honorigen Verwandten kriegt der zusammen«, sagte Beth Riley gerade in erschreckend bissigem Ton. Das Kind war tot. Was konnte da der gesellschaftliche Status irgendwelcher Verwandten für eine Rolle spielen?
»Schon gut, schon gut, Herzchen«, sagte Riley, damit sie endlich den Mund hielt. Dass der leibliche Vater die herzlose Stiefmutter tröstete – Jury konnte es einfach nicht begreifen. Irgendwie passten die beiden überhaupt nicht zusammen. Sie nutzte jede Gelegenheit, um ihm unter die Nase zu reiben, dass sie gebildeter war als er. Jury ließ sie reden und musterte das Zimmer. Auf dem Kaminsims standen Fotos, die wohl ein harmonisches Familienleben belegen sollten, aber dennoch wirkte das Ganze ziemlich frostig. Außerdem hingen ein Mahagoniwappen und Diplome an der Wand, eins davon mit Siegel.
»Tut mir leid, dass ich Sie in Ihrem Kummer belästigen muss«, sagte Jury zu Mrs. Riley. Sein Ton war eisig. »Aber wir haben da ein paar Fragen.«
Beth Riley lehnte sich zurück, sagte kein Wort und überließ es ihrem Mann zu antworten. Schließlich, so erinnerte sie Jury, war Simon Alberts Sohn gewesen.
»Ist Ihnen seit Ihrer Unterhaltung mit Inspector Neal noch etwas eingefallen, Mr. Riley? Freunde Ihres Sohnes? Oder Feinde?« Wie erwartet, hatte Simon keine Feinde gehabt – ein Zwölfjähriger und Feinde? Und Mr. Rileys Aussage entsprach den Ermittlungsergebnissen der Polizei von Dorset: Simon war bei seinen Klassenkameraden nicht außergewöhnlich beliebt gewesen, doch gehasst hatte ihn auch keiner. Außerdem ging eigentlich sowieso niemand davon aus, dass ein Schuljunge ein Messer von der Größe der Tatwaffe mit sich herumtrug.
Inspector Neal hatte, als er »Psychopath« sagte, womöglich noch besorgter dreingeschaut als Simons Vater. Aber wie sonst sollte man jemanden bezeichnen, der so einen Mord begangen hatte? Superintendent, Sie wissen, was das heißt. Ein Kindsmörder. In Dorchester.
Und Jury hatte bei sich gedacht, in London hätte ich so was auch nicht gern.
»… Psychopath«, wiederholte Albert Riley. Er wischte sich die Augen mit einem oft benutzten Taschentuch. Jury dachte mittlerweile anders über ihn; der Mann musste wohl einfach arbeiten, sonst würde er vermutlich vollkommen zusammenbrechen. Und seine Frau war ihm ja nicht gerade ein großer Trost.
Die Person, die Simon auf dem Gewissen hatte, schätzte Jury allerdings anders ein als Neal und Riley. Ein einziger Stich in den Rücken, sauber, präzise, schnell – nicht ein blindwütiges Drauflosstechen, wie es für einen Mörder typisch wäre, der blutrünstig kleinen Jungs nachstellte. Und es gab keine Anzeichen sexuellen Missbrauchs. Das genügte Jury, um zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass der Mord geplant gewesen war, dass der Mörder es auf Simon und auf niemand anders abgesehen hatte. Neals Bericht zufolge hatten Simons Klassenkameraden – mit denen er kaum Kontakt hatte – nicht gewusst, dass er sich regelmäßig in die Gasse verkroch, um zu rauchen und sich Pornohefte anzusehen. Vielleicht wurden ja die falschen Fragen gestellt. Möglicherweise hatte Simon doch einen Feind gehabt. Oder das Ehepaar Riley. Diese Überlegungen stellte Jury jetzt jedoch nicht zur Debatte. Er sagte nur, er glaube nicht, dass ein Geisteskranker der Mörder sei. Riley sah ihn verwundert an. »Aber wer sonst könnte es getan haben? Sie scheinen davon auszugehen, dass jemand ganz gezielt Simon ermorden wollte. Aber warum?«
»Dafür könnte es alle möglichen Gründe gegeben haben, Mr. Riley.« Jury ließ sich von Mrs. Riley nachschenken, eher weil er sie bei Laune halten musste, als weil er wirklich etwas trinken wollte. Jurys Spekulationen schienen Beth zu interessieren. Sie lebte ein wenig auf. Doch Beths Neugierde und ihre plötzliche Lebhaftigkeit schlugen genauso aufs Gemüt wie der graue, bleierne Himmel. »Vielleicht wollte jemand wirklich Ihren Sohn umbringen – tut mir leid«, setzte Jury hinzu, als Riley bei seinen Worten zusammenzuckte. Jury trank einen Schluck Whisky, und Beth Riley blickte ihn beifällig an. Weil er als Polizist im Dienst trank? Oder weil jemand ihren Stiefsohn hatte umbringen wollen? »Vielleicht wusste Simon etwas, was er nicht wissen sollte. Oder er hatte etwas gesehen, was nicht für seine Augen bestimmt war. Vielleicht ist er unfreiwillig Zeuge von irgendetwas geworden. Tatsache ist, er hielt sich in einer Gasse auf, und keiner seiner Schulkameraden wusste das. Sie liegt nicht auf seinem Nachhauseweg. Und die Schule war schon über eine Stunde aus, wenn der Polizeiarzt Recht hat und Simon zwischen fünf und ungefähr acht Uhr abends getötet wurde. Da kommt einem doch der Gedanke, dass ihm vielleicht jemand gefolgt ist.«
Riley war mittlerweile beim dritten Glas angelangt, er trank mit leerem Blick und hielt sich das Taschentuch ans Gesicht. »Vielleicht hat man ihn hingezerrt.«
Jury schüttelte den Kopf. »Nein. Dafür müsste es Spuren geben. Blut, blaue Flecke –«, deutete Jury an.
Die Rileys wechselten einen Blick und schüttelten den Kopf.
»Wollte er sich vielleicht mit jemandem treffen?«
Ausdruckslose Mienen.
»Kinder kommen auf die komischsten Ideen.«
Riley schoss vom Stuhl hoch. Reichte es nicht, dass der Junge tot war? Musste die Polizei nun auch noch seinen Charakter anzweifeln? Jetzt mischte sich sogar Beth ein. Auch wenn sie Simon nicht sonderlich zu vermissen schien – nun stand der gute Ruf der Familie auf dem Spiel.
Jury erhob sich, entschuldigte sich für die Störung und riskierte noch einen Blick auf die Fotos, die Erinnerungsstücke auf dem Kaminsims. Beth als junges Mädchen. Beth als junge Frau. Kein Foto von Riley, soweit er sehen konnte. Wiggins stand neben ihm, klappte das Notizbuch zu, steckte den Kuli weg und griff zu seinen Halspastillen.
Der Februar hier an der Küste war fürchterlich ungemütlich. Dorchester lag zwar zehn Meilen landeinwärts, aber für Wiggins war das immer noch zu nahe.
Draußen blieben sie kurz stehen, und Jury zündete sich eine Zigarette an. »Mehr hätten wir sowieso nicht aus ihnen herausgequetscht. Und morgen wird der Junge beerdigt. Lassen wir’s für heute gut sein.«
In Rileys Laden stand nun niemand mehr an. In den Gesichtern der Passanten las Jury eher Furcht als Neugier. Sie gingen an der Bürgersteigkante, als ob man sich am Schauplatz einer Tragödie anstecken, als ob sich die Gefahr auf ihre eigenen Kinder übertragen könnte.
Das »Geschlossen«-Schild hing ein wenig schief. Wiggins musterte das Fasanenpärchen, das, an den Beinen zusammengebunden, mit dem Kopf nach unten im Schaufenster baumelte. »Die dürften auch einiges durchgemacht haben.« Jury dachte, er meinte die Rileys, doch dann sagte Wiggins: »Da könnte man glatt zum Vegetarier werden.«
Jury grübelte immer noch über den Mann nach, der seinen Sohn verloren hatte, und über den Sohn selber, doch dann schob er diese Gedanken beiseite und sagte: »Nie mehr Fisch und Chips, Wiggins? Kann ich mir kaum vorstellen.«
Wiggins überlegte. »Fisch mag ja noch angehen. Aber Fleisch nicht.«
Jury lächelte müde »Etwas die Straße runter ist das Restaurant ›Zum fröhlichen Richter‹. Haben Sie Hunger? Es geht doch nichts über ein Mahl unter dem wachsamen Auge der Justiz.« Jury sah erneut die Fasane an.
Mensch, Wild, Geflügel. Was galt schon ein Leben.
*
Wie wenig ein Leben tatsächlich galt, das wurde ihm klar, als sie in Wynchester das Polizeipräsidium von Dorset betraten.
»Ein neues Opfer«, sagte Inspector Neal mit noch düsterer Miene als bei ihrer letzten Begegnung. »In Wynchcoombe. Wieder ein Junge, Davey White, ein Chorknabe.« Neals Stimme zitterte. Es schien ihn überhaupt nicht zu freuen, dass er mit seiner Theorie wohl richtig gelegen hatte. Erleichtert und gleichzeitig ein wenig schuldbewusst sagte er: »Gott sei Dank sind wir nicht zuständig. Wir sind das Revier der Polizei von Devon und Cornwall. Wynchcoombe liegt in Dartmoor.« Das Telefon unterbrach ihn – offenbar ein Anruf seines Vorgesetzten, denn er nickte unentwegt. »Ja, ja, ja. Wir haben jeden verfügbaren Mann darauf angesetzt … Ja, ist mir auch klar, dass die ganze Stadt in Panik ist –« Schließlich legte Neal kopfschüttelnd auf.
Jury fragte nur: »Wie weit ist es nach Wynchcoombe?«
Neal antwortete verwundert: »An die vierzig Meilen.«
Ein Wachtmeister – ein netter, junger Mann – zeigte Jury den Ort auf der Landkarte an der Wand. »Sicher wollen Sie zuerst ins Präsidium. Es liegt etwas außerhalb von Exeter.«
»Was sollte ich da? Wie komme ich am schnellsten nach Wynchcoombe?«
»Ich dachte nur, Sie würden sich auf dem Präsidium melden wollen, Sir«, fügte der junge Mann leise hinzu.
»Reine Zeitverschwendung.«
Neal wühlte in den Papieren auf seinem Schreibtisch, es war nicht zu übersehen, dass er demnächst einmal aufräumen musste. »Sie trampeln in Divisional Commander Macalvies Blumengarten herum, Mr. Jury.«
»Und wenn es der Blumengarten des Kaisers von China wäre! In Dorchester ist ein Junge ermordet worden, in Wynchcoombe ein zweiter. Ich muss auf dem schnellsten Wege dorthin. Und der Divisional Commander wird dafür bestimmt Verständnis haben.«
Der Wachtmeister blickte Jury nur an. Schließlich sagte er: »Mit dem hab ich mal zusammengearbeitet. Hab ein bisschen Scheiße gebaut, und dann –« Er zeigte seine Zähne und lispelte: »Zähne futsch. Alles Kronen.«
Jury nahm die Landkarte, auf der der Wachtmeister ihm die Strecke markiert hatte. Wiggins beugte sich vor und begutachtete die Zähne. »Toll, Ihren Zahnarzt möchte ich haben.«