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Buch

England, im ländlichen Dorset: Ein zwölfjähriger Metzgersohn und ein Chorknabe sind brutal ermordet worden, und Superintendent Jury von Scotland Yard soll den Schuldigen finden. Der ortsansässige Kommissar berichtet ihm, dass ein gewisser Sam Waterhouse vor wenigen Tagen aus dem Gefängnis entlassen wurde. Neunzehn Jahre zuvor war Waterhouse eines grausamen Mordes für schuldig befunden worden. Hat er auch die beiden Jungen auf dem Gewissen? Aber wer ist die geheimnisvolle Fotografin, die das Cottage an der Küste bewohnt? Auf einer Mole unweit von ihrem Haus wird die Leiche eines weiteren Kindes gefunden. Der Verdacht erhärtet sich, dass zwischen der Serie von Kindsmorden und dem Verbrechen von damals ein Zusammenhang besteht …

Autorin

Martha Grimes zählt zu den erfolgreichsten Kriminalautorinnen unserer Zeit. Sie wurde in Pittsburgh geboren und studierte an der University of Maryland. Lange Zeit unterrichtete sie kreatives Schreiben an der Johns-Hopkins-University. Mit ihren Inspektor-Jury-Romanen hat sie internationalen Ruhm erlangt. Martha Grimes lebt heute abwechselnd in Washington, D.C., und in Sante Fe, New Mexico.


Martha Grimes

Inspektor Jury
lichtet den Nebel

Roman

Aus dem Englischen
von Dorothee Asendorf

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Die Originalausgabe erschien 1985 unter dem Titel
»Help the Poor Struggler«
bei Little, Brown and Company, Boston/Toronto

© dieser Ausgabe März 2015
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Copyright © der Originalausgabe 1985 by Martha Grimes
Deutsche Erstausgabe Rowohlt Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg 1992
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle Rechte an der deutschen Übersetzung
bei Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagfoto: FinePic, München
AG . Herstellung: Str.
Satz: DTP Service Apel, Hannover
ISBN 978-3-641-16936-7
V003

www.goldmann-verlag.de

Für Leon Duke,
der mir mit Rat und Tat
zur Seite stand

und für Mike Mattil,
der einem verirrten Wanderer
zu Hilfe kam

In ihrem Kopf geht Ordnung vor,
Hier zählt nicht Not noch Schmerz,
Dem Frost verriegelt sie das Tor,
Im Regen bleibt ihr weinend Herz.

Dorothy Parker

In einem kühlen Grunde,
Da geht ein Mühlenrad,
Mein Liebchen ist verschwunden,
Das dort gewohnet hat.

Sie hat mir Treu’ versprochen,
Gab mir ein’ Ring dabei,
Sie hat die Treu’ gebrochen;
Das Ringlein sprang entzwei.

Hör’ ich das Mühlrad gehen,
Ich weiß nicht, was ich will –
Ich möcht’ am liebsten sterben,
Dann wär’s auf einmal still.

Volkslied

Prolog

Das kleine Mädchen im Flanellnachthemd hielt den Hörer in der Hand und wählte bedachtsam die Nummer, die ihre Mutter immer wählte, wenn sie die Vermittlung erreichen wollte.

Die Katze mit dem seidigen Fell zu ihren Füßen machte einen Buckel, gähnte und begann, sich zu putzen, während das kleine Mädchen mehrere Brr-brrs lang darauf wartete, dass bei der Vermittlung jemand abnahm. Die scheinen spät aufzustehen, dachte das kleine Mädchen. Mami sagte immer, sie sind faul. Die Kleine sah aus dem Fenster, das mit seinen Butzenscheiben fast unter dem Überstand des reetgedeckten Daches verschwand, sah, wie es im Frühlicht perlmuttfarben zu schimmern begann, während über dem Moor dahinter noch der Morgennebel lag. Zwischen Reet und Fenster hing ein Spinnennetz mit Tautropfen. Es hatte noch immer niemand abgenommen. Sie zählte zehn Brr-brrs, legte auf und griff erneut zum Hörer. Die Katze sprang auf den Tisch, setzte sich in Positur und beobachtete die Spinne, wie sie ihr Netz gewissenhaft fertigspann.

Diese dämliche Vermittlung, sagte ihre Mami immer, wenn sie hier am Tisch saß und wie die Katze durchs Fenster und übers leere Moor blickte, das sich rings um ihren Weiler erstreckte. Der Schleier aus grauem Licht hob sich wie ein zarter Vorhang und gab den Blick auf den fernen Horizont frei, auf eine goldene Linie, so fein gesponnen wie das Spinnennetz.

Es klickte, jemand hatte abgenommen. Die Stimme schien von weit her zu kommen, so als riefe jemand draußen im Moor.

Das kleine Mädchen umklammerte den schwarzen Hörer und bemühte sich, klar und deutlich zu sprechen, denn wenn sie einen bei der Vermittlung nicht mochten, legten sie einfach auf. Das behauptete jedenfalls ihre Mutter. Unverschämt, alle miteinander. Was die sich einbilden! Benehmen sich, als seien sie die Queen höchstpersönlich! Ihre Mutter telefonierte viel, und oft knallte sie den Hörer auf.

»Meine Mami ist tot«, sagte sie.

Stille. Hoffentlich würde die Telefonistin nicht auflegen wie die Queen. Nein, das tat sie nicht. Sie bat sie zu wiederholen, was sie gerade gesagt hatte.

»Meine Mami ist tot«, sagte das kleine Mädchen geduldig, und dabei fürchtete es sich so sehr. »Sie ist noch kein Mal gestorben.«

Jetzt hörte sich die Telefonistin viel näher an – nicht mehr wie von weit her aus dem Moor –, sie klang nett, als sie weiterfragte. »Wie heißt du denn, und wo wohnst du?«

»Ich heiße Tess. Wir wohnen im Moor.« Dieses blöde Moor, sagte ihre Mutter immer. Sie wohnte gar nicht gern hier. »Meine Mami ist in der Küche. Sie ist tot.«

»Nachname?«

»Mulvanney.«

Das weiße Fell der Katze schimmerte im Schein der eben aufgegangenen Sonne. Das Spinnennetz war mit glitzernden Diamanten besetzt, und während Tess sich alle Mühe gab, die Fragen der Telefonistin zu beantworten, zerriss es, und die Spinne – klitzeklein und braun – hing an einem Silberfaden herab. Die Katze zuckte mit dem Schwanz. Die Telefonistin fragte nach der genauen Adresse und Telefonnummer.

»Clerihew Marsh«, sagte Tess und gab der Telefonistin die Nummer durch, die auf der Wählscheibe stand. »Sie ist in der Küche und will nicht aufstehen. Ich hab gedacht, sie spielt bloß. Rufen Sie jetzt das Krankenhaus an, und schicken Sie einen Krankenwagen?«

Die Telefonistin war sehr nett, sie sagte, ja, natürlich doch. Und sie meinte, vielleicht wäre ihre Mami ja gar nicht tot, bloß krank, und sie würden einen Arzt schicken. Die Telefonistin bat sie nachdrücklich, sie solle ja nicht auflegen, sie würde jemanden anrufen und sich dann gleich wieder mit ihr unterhalten.

Erneut Stille. Die Katze trug jetzt einen Heiligenschein aus Licht, und die Spinne flickte ihr Netz mit unendlicher Geduld.

Dann meldete sich die Stimme der Telefonistin wieder, und Tess versuchte, sich ihr verständlich zu machen: »Ich hab gedacht, sie spielt bloß mit meinen Fingerfarben. In der Schule haben wir so Farben. Ich hab gedacht, sie hat sich das Rot genommen. Die Küche ist ganz rot. Sie hat sich geschnitten. Sie blutet. Sie hat Blut auf ihrem Kleid und im Haar.«

Die Telefonistin redete beschwichtigend auf Tess ein, sprach mit ihr über Schule und dergleichen. Ja, sagte Tess, sie gehe schon in die Schule. Die anderen Kinder ärgerten sie, aber sie sei kein Baby mehr. Sie sei schon fünf. Sie erzählte der Telefonistin von ihrer Lehrerin, die potthässlich war. Sie unterhielten sich lange, und Tess begriff jetzt, warum die Vermittlung so selten abnahm: Sie hörten nicht zu, sie schwatzten die ganze Zeit.

Die Katze gähnte und sprang vom Tisch, und Tess wusste, sie wollte Frühstück haben und würde in die Küche gehen. »Ich muss jetzt auflegen. Ich möchte nicht, dass Sandy, unsere Katze, in die Küche geht.« Tess hängte auf.

Rose Mulvanney lag mit verrenkten Beinen und in einem blutgetränkten Kleid unter dem Küchentisch. Überall Blutspritzer: auf dem Fußboden, auf den weiß getünchten Wänden, sogar auf den dunklen Balken der niedrigen Decke.

Teresa Mulvanney überlegte, wie das Blut dorthin gekommen sein mochte. Sie stand da und schüttelte unaufhörlich den Kopf, aber dann vergaß sie alles, ihr Verstand verwirrte und trübte sich. Sie schloss die Augen und kratzte sich am Ellbogen. Sie hatte wohl wieder einmal eine schlechte Nacht, wahrscheinlich träumte sie bloß. Vielleicht war es nur Farbe oder Tomatenketchup. Rose, ihre Mutter, hatte ihr erzählt, dass man den immer beim Film nahm. Tess kniff fest die Augen zu und sagte zu ihrer Mutter, ist ja gut, aber jetzt kannst du aufstehen. Es war ein Spiel und sowieso alles nur ein Traum. Sogar das Brr-brr des Telefons und die Sirene in der Ferne, die sich nach dem Martinshorn eines Krankenwagens anhörte: Es fühlte sich an, als handele es sich um die Machenschaften dunkler Gestalten im Nebel. Und Teresa summte ein Lied, das Rose Mulvanney ihr vorgesungen hatte, als sie noch ganz klein war.

Sie vergaß, die Katze zu füttern.

Als Detective Inspector Nicholson und Sergeant Brian Macalvie von der Devon/Cornwall-Polizei das kleine Cottage in Clerihew Marsh betraten, summte Teresa Mulvanney vor sich hin. Und schrieb mit dem Blut ihrer Mutter ihren Namen auf die weiße Wand.

So etwas hatte Brian Macalvie noch nie im Leben gesehen, und er würde es nie vergessen. Damals war er dreiundzwanzig und wurde von allen für den besten Kriminalbeamten der Polizei von Devon und Cornwall gehalten. Selbst Macalvies Feinde dachten so. Er nahm nur ungern Befehle entgegen und wurde ständig befördert. Andauernd redete er von seinen schottisch-irisch-amerikanischen Vorfahren und hätte England lieber heute als morgen den Rücken gekehrt.

Auch als die Akte über den Mordfall Rose Mulvanney längst offiziell geschlossen war, beschäftigte er sich noch damit. Drei Monate nach dem Mulvanney-Mord hatte man einen jungen Medizinstudenten, der in Clerihew Marsh wohnte und an der Universität Exeter studierte, verhaftet, der unschuldig war, wie Macalvie beharrte. Man hatte ihn auf Grund von fadenscheinigen Beweisen festgenommen, ein reiner Indizienprozess. Der Angeklagte war leidenschaftlich in die fünfzehn Jahre ältere Rose Mulvanney verliebt gewesen. Man hatte auf das Motiv Eifersucht geschlossen.

Zur gleichen Zeit klärte Macalvie ganze sechs weitere Fälle auf, sodass der Divisional Commander nicht recht wusste, auf welcher Grundlage er ihm den Fall Mulvanney entziehen sollte. Macalvie ersetzte eine ganze Polizeitruppe. Wenn er ins Laboratorium kam, hielten sich Pathologen und Assistenten an ihren Mikroskopen fest. Macalvie behauptete, die Leutchen vom Erkennungsdienst könnten nicht einmal einen Stiefelabdruck auf einem Krankenhauslaken finden. Und das gesamte Ressort sei nicht dazu in der Lage, einen direkt vor dem Polizeipräsidium in Moorcombe abgestellten Rolls-Royce aufzufinden.

Als ihm der Divisional Commander dann befahl, den Fall Mulvanney endlich zu vergessen, warf Macalvie seine Polizeimarke auf den Schreibtisch und sagte: »Ich kündige!« Er hatte die Tür noch nicht erreicht, da änderte sich der Ton seines Vorgesetzten. Solange die Mulvanney-Sache Macalvie nicht von seinen anderen Pflichten abhielte …

»Sagen Sie das Sam Waterhouse«, sagte Macalvie und ging.

Sam Waterhouse war der Medizinstudent, den man ins Gefängnis von Dartmoor gesteckt hatte. Lebenslänglich, vielleicht würde er mit Bewährung eher rauskommen, da er nicht vorbestraft war und der Mord an Rose Mulvanney als crime passionnel angesehen worden war.

Die Polizei von Devon und Cornwall hatte Macalvies Zorn tüchtig zu spüren bekommen: Sie hatte das Leben des jungen Mannes und möglicherweise eine brillante Karriere zerstört.

Und wenn sich einer mit brillanten Karrieren auskannte, dann Brian Macalvie.

Der Weiler Clerihew Marsh bestand aus ein paar gedrungenen Cottages, die sich beiderseits einer Straßenbiegung eng zusammenduckten, und wirkte wie das Zerrbild eines Dorfes, so als sei man in einem Spiegelkabinett. Als Erstes kam eine Gruppe Häuser, die aussah, als bedeckte ein einziges Reetdach sie alle, die übrigen Häuschen standen einzeln darum herum. Das Cottage der Mulvanneys war das Letzte am Dorfrand. Es stand allein, hatte Fenster nach allen Seiten und war nicht zu übersehen.

Aber anscheinend war niemand vorbeigekommen, als jemand Rose Mulvanney mit dem Messer so übel zugerichtet hatte. Kein Zeuge hatte jemanden hinein- oder hinausgehen sehen. Niemand hatte einen Fremden herumlungern sehen. Niemand hatte etwas gehört. Und niemand, der Sam Waterhouse kannte, traute ihm eine solche Tat zu.

Macalvie ging allen nur erdenklichen Spuren nach – und das waren nicht allzu viele. Er befragte sogar den Milchmann und ließ sich von dem komischen Vogel in der Zweigpoststelle fast täglich etwas über Rose vorzwitschern, zum Beispiel, was sie so einkaufte. Macalvie schüchterte die Lehrerin des Kindergartens ein, wollte ihr das bisschen aus der Nase ziehen, was sie über Teresa Mulvanney wusste. Und er quetschte Teresas Schulkameradinnen aus, jede, die er zu fassen bekam, bis sich die Schulleiterin schließlich bei der Polizei von Devon und Cornwall beschwerte.

Eine der wichtigsten Personen in diesem Fall hatte er anfangs völlig übersehen, nämlich Roses ältere Tochter Mary. Sie war auf Klassenfahrt gewesen, als ihre Schwester die schaurige Entdeckung machte.

Eines Tages kam Mary Mulvanney in Macalvies Büro gestürmt, ein schlaksiges, fünfzehnjähriges Gör mit dürren Armen, flacher Brust und langem Haar. Da stand sie, und ihre Augen sprühten Feuer, sie schrie ihn an und warf ihm die schlimmsten Beleidigungen an den Kopf. Man hatte ihre kleine Schwester Teresa ins Krankenhaus gebracht. Teresa war Katatonikerin. Sie lag nur noch im Bettchen, hatte sich zusammengerollt wie ein Baby und nuckelte am Daumen.

Macalvie fühlte sich, als hätte er bisher in seiner eigenen Unfehlbarkeit gebadet wie in warmem Wasser (der Gedanke, er könnte einen Fall nicht aufklären, war ihm noch nie gekommen), und da platzte dieses junge Mädchen herein und zog den Stöpsel aus seiner Badewanne. Sie fegte hysterisch mit dem Arm über seinen Schreibtisch und warf Papiere, Kulis und gebrauchte Kaffeebecher auf den Boden. Das Mädchen sah er nie wieder.

Und es gelang ihm einfach nicht, den Mordfall Mulvanney aufzuklären.

Zwanzig Jahre später

Erster Teil

Die Gasse
beim Ständebaum

1

Simon Riley hatte gar nicht gemerkt, was mit ihm geschah.

Das jedenfalls meinte der Polizeiarzt, den die Beamten von Dorset zum Schauplatz des Verbrechens gerufen hatten. Ein schneller, zielsicherer Stoß in den Rücken, mit einem rasierklingenscharfen Messer. Der Pathologe pflichtete ihm bei und setzte noch hinzu, man könne an der Stoßrichtung erkennen, dass der Messerstecher merklich größer als Simon gewesen sein musste. Was der Polizei von Dorset nicht viel weiterhalf, denn Simon war ein zwölfjähriger Schüler. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er eine schwarze Jacke und einen Schlips, seine Schuluniform, getragen.

Man hatte den Jungen in der Gasse beim Pub »Der Ständebaum« gefunden. Er lag mit dem Gesicht auf der Erde da, in Fötushaltung vor der fensterlosen, zur Gasse gehenden Mauer des Gebäudes zusammengekrümmt. Neben dem Toten fand man eine Zehnerpackung John Players Special und einen Playboy. Simon hatte dem Doppellaster aller halbwüchsigen Schüler gefrönt – Zigaretten und Pornos –, als sich der Mörder von hinten angeschlichen hatte. So jedenfalls rekonstruierte Detective Inspector Neal von der Polizei Dorsets den Mord, und es gab keinerlei Grund, seine Theorie anzuzweifeln.

Die arme Küchenhilfe des Pubs hatte den Jungen am schrecklichen Abend des 10. Februar gefunden, als sie die Seitentür öffnete und einen Beutel Abfall in die Mülltonne werfen wollte. Die Polizei hatte sie derart in die Mangel genommen, dass man ihr ein Beruhigungsmittel geben musste.

»Der Ständebaum« lag versteckt in einer Seitenstraße von Dorchester. Die düstere, kleine Gasse, wo man den Jungen gefunden hatte, endete vor einer nackten Wand. Günstig gelegen für Simon Rileys geheime Vergnügungen. Leider auch günstig gelegen für einen Mord.

2

Rileys Fleisch- und Wildspezialitäten. Superintendent Richard Jury und Detective Sergeant Alfred Wiggins sahen im Schaufenster vor baumelnden Fasanen ihr Spiegelbild. Ein junger und ein älterer Mann bedienten die Frauen, die mit Körben und Einkaufsnetzen bewaffnet im Laden Schlange standen. Nach der Beschreibung, die man Jury gegeben hatte, musste der ältere Mann Albert Riley sein, der Vater des Jungen. Der Mord war erst zwei Tage zuvor geschehen, und am nächsten Tag sollte die Beerdigung sein. Jury wunderte sich ein wenig darüber, dass Riley trotzdem arbeitete.

Es schien eine besonders starke Nachfrage nach bestem britischem Rindfleisch oder aber einen Versorgungsengpass zu geben, denn die Frauen straften Jury und Wiggins mit strengen Feldwebelblicken, als die beiden direkt zum Tresen gingen. Allgemeines Gemurre setzte ein, man fragte die beiden, ob sie denn blind seien, und wollte sie ans Ende der Schlange schicken.

Jury zückte seinen Ausweis, und der junge Mann wurde so weiß wie der fleckenlose Teil seiner Schürze. Dann drehte er sich zu seinem Meister um, der gerade dabei war, rasch und sachkundig Koteletts von Fett zu befreien. Makaber, aber als Jury das sah, musste er unwillkürlich an die Autopsie von Rileys Sohn denken. Riley erstarrte und hielt das Messer vor sich in der Luft fest, als sein Gehilfe ihn auf die Beamten von Scotland Yard aufmerksam machte.

Er überließ dem jungen Mann die Koteletts, während die Frauen hinter Jury und Wiggins die Neuigkeit weitergaben wie Feuerwehrmänner ihre Wassereimer. Scotland Yard. Wahrscheinlich werden Rileys Fleisch- und Wildspezialitäten heute besonders gefragt sein, dachte Jury. In der Regel brachten Mordfälle so etwas mit sich.

Simons Vater wischte sich mit einem Lappen die Hände ab und befreite sich von seiner Schürze. Durch seine dicken Brillengläser wirkten seine kleinen Augen noch kleiner und sein rundes Gesicht noch runder. Er sprach leise und verschüchtert, und es war ihm sichtlich unangenehm, dass man ihn, den engsten Verwandten Simons, bei der Arbeit »ertappt« hatte. Der messerschwingende Meister war, kaum dass er das Messer aus der Hand gelegt hatte, ein absoluter Niemand.

»Gestern war geschlossen«, sagte er. »Aber ich bin fast verrückt geworden, immer nur im Zimmer auf und ab, und dann meine Frau, also Simons Stiefmutter, die mir die Ohren volljault.« Während er das sagte, führte er sie zu einer Tür hinten im Laden. »Auf Sie mag das kaltblütig wirken, ich und bei der Arbeit –«

Worauf Wiggins, der ja sonst alles andere als ironisch war, erwiderte: »Ob kalt oder warm, darüber steht uns kein Urteil zu. Hauptsache, Blut.«

Riley zuckte zusammen und stieg vor ihnen eine Wendeltreppe hoch. »Scotland Yard. Ich hab zu meiner Frau gesagt, sie soll das mit ihrem Bekannten, diesem Staatsanwalt, sein lassen. Hab gesagt, die Polizei von Dorset kommt schon allein zurecht. Andererseits können die natürlich immer Hilfe brauchen. Wir wohnen in der Wohnung über dem Laden. Wir haben noch ein anderes Haus, aber das hier ist praktischer. Meine Frau macht uns sicher ein Tässchen Tee. Ich könnte allerdings gut was Stärkeres vertragen.«

Mit »was Stärkeres« meinte Riley Jameson’s, wie sich herausstellte, und Rileys Frau machte keinerlei Anstalten, Tee zu kochen. Zwar war es Mittagszeit, aber ihr war mehr nach Whisky als nach Lunch oder Tee. Sie kippte ihr Gläschen mit ruhiger Hand, die ihres Mannes zitterte allerdings wie bei einem Spastiker. Als Riley die Brille abnahm und sich den Nasenrücken rieb, sah Jury, dass er rot geränderte Augen hatte, wohl vom Weinen. Mrs. Rileys Augen waren auch rot, doch es sah aus, als sei das eher auf den Schnaps zurückzuführen. Schließlich war sie nicht die leibliche Mutter, und sie schien zu glauben, dass diese Tatsache sie jedweder tränenreichen Trauerbekundung enthob.

Beth Riley war eine große, ordinäre Frau, der eine schlichtere Frisur besser gestanden hätte als die rot gefärbte Wellenpracht, die ihren Kopf umgab. Sie konnte sich geschickter ausdrücken als ihr Mann, und das, obwohl ihre Zunge schon ziemlich schwer war. Sie durfte dem Jameson’s schon tüchtig zugesprochen haben.

»Beth musste ja unbedingt diesen Staatsanwalt aus London einschalten und Sie hinzuziehen –«

»Gut, dass wenigstens einer von uns jemand höher Gestellten kennt«, antwortete Rileys Frau und erklärte Jury: »Leonard Matching, Staatsanwalt. Er will für Brixton ins Parlament.« Nach dem wenigen, was Jury über den Maulhelden Matching gehört hatte, bezweifelte er stark, dass Brixton ihn im Parlament haben wollte. Dass Jury und Wiggins hier waren, verdankten sie der Tatsache, dass ein Assistant Commissioner mit Chief Superintendent Racer befreundet war und auf dem Dienstweg um Amtshilfe gebeten hatte, woraufhin Racer Jury ruckzuck in die Pampas geschickt hatte. Zu schade (so mochte Racer denken), dass es statt Belfast nur der alte Marktflecken Dorchester war, schlappe einhundertsechzig Meilen von London entfernt. Jury konnte sich vorstellen, wie erbaut Inspector Neal wohl darüber war, dass man ihm jemanden vor die Nase gesetzt hatte; doch Neal war zu fair, um Jury deswegen das Leben schwer zu machen. Nicht jeder wäre so großmütig gewesen.

»… und keine zwei honorigen Verwandten kriegt der zusammen«, sagte Beth Riley gerade in erschreckend bissigem Ton. Das Kind war tot. Was konnte da der gesellschaftliche Status irgendwelcher Verwandten für eine Rolle spielen?

»Schon gut, schon gut, Herzchen«, sagte Riley, damit sie endlich den Mund hielt. Dass der leibliche Vater die herzlose Stiefmutter tröstete – Jury konnte es einfach nicht begreifen. Irgendwie passten die beiden überhaupt nicht zusammen. Sie nutzte jede Gelegenheit, um ihm unter die Nase zu reiben, dass sie gebildeter war als er. Jury ließ sie reden und musterte das Zimmer. Auf dem Kaminsims standen Fotos, die wohl ein harmonisches Familienleben belegen sollten, aber dennoch wirkte das Ganze ziemlich frostig. Außerdem hingen ein Mahagoniwappen und Diplome an der Wand, eins davon mit Siegel.

»Tut mir leid, dass ich Sie in Ihrem Kummer belästigen muss«, sagte Jury zu Mrs. Riley. Sein Ton war eisig. »Aber wir haben da ein paar Fragen.«

Beth Riley lehnte sich zurück, sagte kein Wort und überließ es ihrem Mann zu antworten. Schließlich, so erinnerte sie Jury, war Simon Alberts Sohn gewesen.

»Ist Ihnen seit Ihrer Unterhaltung mit Inspector Neal noch etwas eingefallen, Mr. Riley? Freunde Ihres Sohnes? Oder Feinde?« Wie erwartet, hatte Simon keine Feinde gehabt – ein Zwölfjähriger und Feinde? Und Mr. Rileys Aussage entsprach den Ermittlungsergebnissen der Polizei von Dorset: Simon war bei seinen Klassenkameraden nicht außergewöhnlich beliebt gewesen, doch gehasst hatte ihn auch keiner. Außerdem ging eigentlich sowieso niemand davon aus, dass ein Schuljunge ein Messer von der Größe der Tatwaffe mit sich herumtrug.

Inspector Neal hatte, als er »Psychopath« sagte, womöglich noch besorgter dreingeschaut als Simons Vater. Aber wie sonst sollte man jemanden bezeichnen, der so einen Mord begangen hatte? Superintendent, Sie wissen, was das heißt. Ein Kindsmörder. In Dorchester.

Und Jury hatte bei sich gedacht, in London hätte ich so was auch nicht gern.

»… Psychopath«, wiederholte Albert Riley. Er wischte sich die Augen mit einem oft benutzten Taschentuch. Jury dachte mittlerweile anders über ihn; der Mann musste wohl einfach arbeiten, sonst würde er vermutlich vollkommen zusammenbrechen. Und seine Frau war ihm ja nicht gerade ein großer Trost.

Die Person, die Simon auf dem Gewissen hatte, schätzte Jury allerdings anders ein als Neal und Riley. Ein einziger Stich in den Rücken, sauber, präzise, schnell – nicht ein blindwütiges Drauflosstechen, wie es für einen Mörder typisch wäre, der blutrünstig kleinen Jungs nachstellte. Und es gab keine Anzeichen sexuellen Missbrauchs. Das genügte Jury, um zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass der Mord geplant gewesen war, dass der Mörder es auf Simon und auf niemand anders abgesehen hatte. Neals Bericht zufolge hatten Simons Klassenkameraden – mit denen er kaum Kontakt hatte – nicht gewusst, dass er sich regelmäßig in die Gasse verkroch, um zu rauchen und sich Pornohefte anzusehen. Vielleicht wurden ja die falschen Fragen gestellt. Möglicherweise hatte Simon doch einen Feind gehabt. Oder das Ehepaar Riley. Diese Überlegungen stellte Jury jetzt jedoch nicht zur Debatte. Er sagte nur, er glaube nicht, dass ein Geisteskranker der Mörder sei. Riley sah ihn verwundert an. »Aber wer sonst könnte es getan haben? Sie scheinen davon auszugehen, dass jemand ganz gezielt Simon ermorden wollte. Aber warum?«

»Dafür könnte es alle möglichen Gründe gegeben haben, Mr. Riley.« Jury ließ sich von Mrs. Riley nachschenken, eher weil er sie bei Laune halten musste, als weil er wirklich etwas trinken wollte. Jurys Spekulationen schienen Beth zu interessieren. Sie lebte ein wenig auf. Doch Beths Neugierde und ihre plötzliche Lebhaftigkeit schlugen genauso aufs Gemüt wie der graue, bleierne Himmel. »Vielleicht wollte jemand wirklich Ihren Sohn umbringen – tut mir leid«, setzte Jury hinzu, als Riley bei seinen Worten zusammenzuckte. Jury trank einen Schluck Whisky, und Beth Riley blickte ihn beifällig an. Weil er als Polizist im Dienst trank? Oder weil jemand ihren Stiefsohn hatte umbringen wollen? »Vielleicht wusste Simon etwas, was er nicht wissen sollte. Oder er hatte etwas gesehen, was nicht für seine Augen bestimmt war. Vielleicht ist er unfreiwillig Zeuge von irgendetwas geworden. Tatsache ist, er hielt sich in einer Gasse auf, und keiner seiner Schulkameraden wusste das. Sie liegt nicht auf seinem Nachhauseweg. Und die Schule war schon über eine Stunde aus, wenn der Polizeiarzt Recht hat und Simon zwischen fünf und ungefähr acht Uhr abends getötet wurde. Da kommt einem doch der Gedanke, dass ihm vielleicht jemand gefolgt ist.«

Riley war mittlerweile beim dritten Glas angelangt, er trank mit leerem Blick und hielt sich das Taschentuch ans Gesicht. »Vielleicht hat man ihn hingezerrt.«

Jury schüttelte den Kopf. »Nein. Dafür müsste es Spuren geben. Blut, blaue Flecke –«, deutete Jury an.

Die Rileys wechselten einen Blick und schüttelten den Kopf.

»Wollte er sich vielleicht mit jemandem treffen?«

Ausdruckslose Mienen.

»Kinder kommen auf die komischsten Ideen.«

Riley schoss vom Stuhl hoch. Reichte es nicht, dass der Junge tot war? Musste die Polizei nun auch noch seinen Charakter anzweifeln? Jetzt mischte sich sogar Beth ein. Auch wenn sie Simon nicht sonderlich zu vermissen schien – nun stand der gute Ruf der Familie auf dem Spiel.

Jury erhob sich, entschuldigte sich für die Störung und riskierte noch einen Blick auf die Fotos, die Erinnerungsstücke auf dem Kaminsims. Beth als junges Mädchen. Beth als junge Frau. Kein Foto von Riley, soweit er sehen konnte. Wiggins stand neben ihm, klappte das Notizbuch zu, steckte den Kuli weg und griff zu seinen Halspastillen.

Der Februar hier an der Küste war fürchterlich ungemütlich. Dorchester lag zwar zehn Meilen landeinwärts, aber für Wiggins war das immer noch zu nahe.

Draußen blieben sie kurz stehen, und Jury zündete sich eine Zigarette an. »Mehr hätten wir sowieso nicht aus ihnen herausgequetscht. Und morgen wird der Junge beerdigt. Lassen wir’s für heute gut sein.«

In Rileys Laden stand nun niemand mehr an. In den Gesichtern der Passanten las Jury eher Furcht als Neugier. Sie gingen an der Bürgersteigkante, als ob man sich am Schauplatz einer Tragödie anstecken, als ob sich die Gefahr auf ihre eigenen Kinder übertragen könnte.

Das »Geschlossen«-Schild hing ein wenig schief. Wiggins musterte das Fasanenpärchen, das, an den Beinen zusammengebunden, mit dem Kopf nach unten im Schaufenster baumelte. »Die dürften auch einiges durchgemacht haben.« Jury dachte, er meinte die Rileys, doch dann sagte Wiggins: »Da könnte man glatt zum Vegetarier werden.«

Jury grübelte immer noch über den Mann nach, der seinen Sohn verloren hatte, und über den Sohn selber, doch dann schob er diese Gedanken beiseite und sagte: »Nie mehr Fisch und Chips, Wiggins? Kann ich mir kaum vorstellen.«

Wiggins überlegte. »Fisch mag ja noch angehen. Aber Fleisch nicht.«

Jury lächelte müde »Etwas die Straße runter ist das Restaurant ›Zum fröhlichen Richter‹. Haben Sie Hunger? Es geht doch nichts über ein Mahl unter dem wachsamen Auge der Justiz.« Jury sah erneut die Fasane an.

Mensch, Wild, Geflügel. Was galt schon ein Leben.

*

Wie wenig ein Leben tatsächlich galt, das wurde ihm klar, als sie in Wynchester das Polizeipräsidium von Dorset betraten.

»Ein neues Opfer«, sagte Inspector Neal mit noch düsterer Miene als bei ihrer letzten Begegnung. »In Wynchcoombe. Wieder ein Junge, Davey White, ein Chorknabe.« Neals Stimme zitterte. Es schien ihn überhaupt nicht zu freuen, dass er mit seiner Theorie wohl richtig gelegen hatte. Erleichtert und gleichzeitig ein wenig schuldbewusst sagte er: »Gott sei Dank sind wir nicht zuständig. Wir sind das Revier der Polizei von Devon und Cornwall. Wynchcoombe liegt in Dartmoor.« Das Telefon unterbrach ihn – offenbar ein Anruf seines Vorgesetzten, denn er nickte unentwegt. »Ja, ja, ja. Wir haben jeden verfügbaren Mann darauf angesetzt … Ja, ist mir auch klar, dass die ganze Stadt in Panik ist –« Schließlich legte Neal kopfschüttelnd auf.

Jury fragte nur: »Wie weit ist es nach Wynchcoombe?«

Neal antwortete verwundert: »An die vierzig Meilen.«

Ein Wachtmeister – ein netter, junger Mann – zeigte Jury den Ort auf der Landkarte an der Wand. »Sicher wollen Sie zuerst ins Präsidium. Es liegt etwas außerhalb von Exeter.«

»Was sollte ich da? Wie komme ich am schnellsten nach Wynchcoombe?«

»Ich dachte nur, Sie würden sich auf dem Präsidium melden wollen, Sir«, fügte der junge Mann leise hinzu.

»Reine Zeitverschwendung.«

Neal wühlte in den Papieren auf seinem Schreibtisch, es war nicht zu übersehen, dass er demnächst einmal aufräumen musste. »Sie trampeln in Divisional Commander Macalvies Blumengarten herum, Mr. Jury.«

»Und wenn es der Blumengarten des Kaisers von China wäre! In Dorchester ist ein Junge ermordet worden, in Wynchcoombe ein zweiter. Ich muss auf dem schnellsten Wege dorthin. Und der Divisional Commander wird dafür bestimmt Verständnis haben.«

Der Wachtmeister blickte Jury nur an. Schließlich sagte er: »Mit dem hab ich mal zusammengearbeitet. Hab ein bisschen Scheiße gebaut, und dann –« Er zeigte seine Zähne und lispelte: »Zähne futsch. Alles Kronen.«

Jury nahm die Landkarte, auf der der Wachtmeister ihm die Strecke markiert hatte. Wiggins beugte sich vor und begutachtete die Zähne. »Toll, Ihren Zahnarzt möchte ich haben.«

Zweiter Teil

Die Kirche
im Moor