Verlag C.H.Beck
Am 18. Juni 1815 wurde die Schlacht bei Waterloo (oder La Belle-Alliance) geschlagen. Dort beendeten Wellington, Blücher und Gneisenau mit ihren englischen und preußischen Truppen die Herrschaft der Hundert Tage, die Napoleon I., aus dem Exil zurückgekehrt, noch einmal hatte errichten können. Anlässlich des 200. Jahrestages der Schlacht bei Waterloo erläutert Marian Füssel in diesem Band ihre historischen Voraussetzungen, beschreibt den Weg Napoleons nach Waterloo, erzählt den Verlauf der Kämpfe, resümiert das Nachleben und erhellt die Entstehung des «Mythos Waterloo».
Marian Füssel ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte an der Universität Göttingen. Im Verlag C.H.Beck ist von demselben Autor lieferbar: Der Siebenjährige Krieg. Ein Weltkrieg im 18. Jahrhundert (22013).
Einleitung:
Zur Kulturgeschichte eines Ereignisses
I. Der Flug des Adlers:
Napoleons Rückkehr, die Armeen und Akteure
II. Ligny und Quatre-Bras:
Zwei Schlachten und keine Entscheidung
III. Auf dem Weg nach Waterloo:
Räume und Strategien
IV. Das Gesicht der Gewalt: Praktiken des Kampfes
V. In der Schlacht: Kalkül und Krise
VI. Aftermath: Nach der Schlacht
VII. Mythos Waterloo:
Erinnerungskultur und Gedenken
VIII. Epilog: Die berühmteste Schlacht der Welt
Weiterführende Literatur
Orts- und Personenregister
Bild- und Kartennachweis
Die Schlacht bei Waterloo ist wahrscheinlich die berühmteste Schlacht der Welt. Als solche ist Waterloo zu einer Chiffre für den entscheidenden historischen Kampf schlechthin geworden: Zahllose Akteure haben seitdem sprichwörtlich ihr Waterloo gefunden. Jeder kennt den Namen des kleinen Ortes nahe Brüssel und verbindet damit Napoleon, Wellington, Blücher und das Epochenjahr 1815. Die Schlacht beendete Napoleons Herrschaft der Hundert Tage und führte zum Ende des ersten französischen Kaiserreichs. Der Sieg verdankte sich wesentlich dem gemeinsamen Kampf der britisch-alliierten Truppen unter General Wellington und der preußischen Truppen unter Feldmarschall Blücher.
Doch bei näherer Betrachtung verschwimmen rasch die klaren Konturen des Ereignisses. Zwar konnte der Ausgang einer Schlacht kaum eindeutiger sein als diese Niederlage Napoleons. Aber wie war es dazu gekommen? Was hat damals genau stattgefunden? Warum wurde gerade Waterloo schon so rasch zu einem Mythos? Was wissen wir heute über den Ablauf der Schlacht, die Erfahrungen der Teilnehmer, ihre unaussprechliche Gewalt? Jede Antwort auf entsprechende Fragen verweist auf eine Kluft: Der Reduktion eines komplexen Ereignisses auf eine Chiffre für die militärische Niederlage eines der bekanntesten Feldherrn der Geschichte auf der einen Seite steht auf der anderen Seite eine ganze Industrie von militärhistorischer Waterlooforschung sowie erinnerungskultureller Vermarktung gegenüber.
Waterloo kann auch insofern als Inbegriff eines ‹historischen› Ereignisses gelten, als sich dort in kurzer Zeit und auf engstem Raum die Geschicke ganzer Nationen entschieden. Für Frankeich endete der sogenannte zweite hundertjährige Krieg mit England, der 1689 eingesetzt hatte, mit einer Niederlage; Großbritannien wurde zur beherrschenden Weltmacht des 19. Jahrhunderts. Für Preußen und die deutschen Staaten bildete die Schlacht eine Zäsur, ebenso wie auch für die Niederlande und Belgien, die bis zur belgischen Revolution von 1830 eine Einheit bildeten.
Gleichzeitig verweist Waterloo in anschaulicher Weise auf ein grundlegendes Paradoxon historischen Wissens. Es gibt wohl weltweit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kaum eine einzelne Schlacht, über die bis dato so viel geschrieben worden ist und die eine so dichte Überlieferung an Quellen aufweist wie Waterloo. Dennoch sind die Abläufe einzelner Handlungen ebenso wie die Gründe für den Ausgang des Gesamtereignisses bis heute Gegenstand endloser Debatten, ganz zu schweigen von den unterschiedlichen Bewertungen, nationalen Blickwinkeln und methodischen Zugängen der Historiker, Künstler, Politiker oder Militärs.
Es ist bekannt, dass ausgerechnet Wellington als der siegreiche Feldherr sich einer detaillierten Beschreibung der Ereignisse weitgehend entzogen hat und entsprechenden historiographischen Ambitionen mit einiger Skepsis begegnete. Für ihn ähnelte die Geschichte einer Schlacht vielmehr «der Geschichte eines Balls! Der eine oder andere mag all die kleinen Ereignisse behalten haben, deren großes Ergebnis die gewonnene oder verlorene Schlacht war; keiner aber vermag sich ihrer Reihenfolge oder des Zeitpunktes ihres präzisen Eintretens zu erinnern, und darin liegt der ganze Unterschied ihres Wertes oder ihrer Bedeutung». Der ‹Ball› von Waterloo wies jedoch eine erhebliche Anzahl von mitteilungsfreudigen Festteilnehmern auf, deren vielfältigen Eindrücken sich nicht nur die Kolporteure des 19. Jahrhunderts bedienten, sondern von denen auch jede moderne historische Auseinandersetzung profitiert. Doch die methodische Problematik, die sich jedem Rekonstruktionsversuch einer Schlacht wie Waterloo stellt, ist weitaus komplexer, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Zwei Texte aus dem Jahr 1839 mögen das verdeutlichen. So beklagte der Militärtheoretiker Antoine-Henri Jomini (1779–1869) als Stabschef von Marschall Michel Ney (1769–1815), selbst Zeuge der Schlacht, dass «in allen Berichten über die Schlacht die größte Konfusion» herrsche und man sich kaum ein «vergleichbares Chaos» vorstellen könne. Sein Précis politique et militaire de la campagne de 1815 galt als einer der bis dato akkuratesten Berichte über die Schlacht. Im gleichen Jahr veröffentlichte Marie-Henri Beyle, besser bekannt als Stendhal, seine Kartause von Parma (La Chartreuse de Parme), in welcher der Held Fabrice von Napoleon und der Schlacht bei Waterloo, an der er teilnimmt, buchstäblich nichts zu sehen bekommt. Die beiden grundlegenden Positionen sind damit markiert. Auf der einen Seite steht also der wissenschaftliche Wille, sich durch das Dickicht der Überlieferung hindurch doch noch ein Bild davon zu machen, «wie es eigentlich gewesen» (Leopold v. Ranke), auf der anderen die literarisch vermittelte Einsicht in die Fragmentierung und Brüchigkeit jeder Ereignisrepräsentation. Die radikale Perspektivität jeder Wahrnehmung und Darstellung eines historischen Ereignisses hat 1945 der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung theoretisch auf den Punkt gebracht, wenn er über die ‹Unsichtbarkeit› Waterloos schreibt: «Fabrice wollte die Schlacht von Waterloo sehen, so wie man eine Landschaft betrachtet, und er sah bloß verworrene Episoden. Sah der Kaiser auf seiner Karte wirklich die Schlacht? Sie zog sich ihm auf ein keineswegs lückenloses Schema zusammen: Warum kommt jenes Regiment nicht von der Stelle? Warum treffen die Reserven nicht ein? Endlich glaubt der Historiker, der nicht in der Schlacht engagiert ist und sie von allen Seiten zugleich sieht, die mannigfaltigsten Zeugnisse versammelt hat und ihren Ausgang kennt, sie in ihrer Wahrheit zu fassen. Doch er gibt nur eine Vorstellung von der Schlacht, er trifft sie nicht selbst, da im Augenblick ihres Geschehens ihr Ausgang eben noch ungewiss war, im Augenblick der Erzählung des Historikers aber es nicht mehr ist; da ferner für das einmalige Ereignis von Waterloo die letzten Gründe der Niederlage wie auch die zufälligen Umstände, die diese Gründe zum Tragen brachten, in gleicher Weise bestimmend waren, der Historiker aber das einmalige Ereignis in der Generallinie des Niedergangs des Empire einzeichnet. Das wahre Waterloo ist weder in dem, was Fabrice, noch in dem was der Kaiser, noch in dem was der Historiker sieht, es ist überhaupt kein bestimmbarer Gegenstand, es ist das was in den Konfinien all dieser Perspektiven sich ereignet, dem auch all diese Perspektiven entlehnt sind.»
Neben der Darstellung der wichtigsten Fakten der Schlacht, der beteiligten Armeen und ihrer Soldaten, der einzelnen Schauplätze, Bewegungen und Konsequenzen muss an dieser Stelle folglich auch einigen methodischen Herausforderungen der Geschichte einer Schlacht als einer Kulturgeschichte organisierter Gewalt begegnet werden. Viele der älteren Darstellungen lassen sich nach zwei Zugängen unterscheiden, die man vereinfachend als an Individuen oder an Strukturen orientiert bezeichnen könnte. Während die einen im Extremfall über Napoleons Magenprobleme räsonieren, diskutieren die anderen Wetterbedingungen und soziale Herkunft der gemeinen Soldaten. Und je höherrangig die jeweils behandelten Akteure, desto hitziger werden die historiographischen Debatten. Auch Spekulationen des Typs «was aber wäre passiert, wenn?» sind bei der Betrachtung der kommandierenden Generäle auch in jüngeren Darstellungen immer noch leicht bei der Hand. Beide Perspektiven lassen sich mitunter auch in ein und derselben Darstellung finden. So kann der Hinweis auf die Tücken oder Vorteile des Terrains im Umkehrschluss auch immer als Determinante für Qualität oder Fragwürdigkeit der jeweiligen Taktik fungieren. Auch hat der strukturale Gesichtspunkt gewiss einiges für sich, wenn man bedenkt, welche enorme logistische Herausforderung es gewesen sein muss, rund 150.000 Männer auf einem Areal von vier bis sechs Quadratkilometern nicht nur zu positionieren, sondern auch zu versorgen, eine Situation, die wir in Gesellschaften des 21. Jahrhunderts in dieser räumlichen Verdichtung allenfalls von Großdemonstrationen und Musikfestivals kennen. Jedes ungeplante Zusammentreffen von diesem Ausmaß gilt hingegen meist als humanitäre Katastrophe. Die Analyse der räumlichen, materiellen und sozialen Strukturbedingungen ist jedoch nur bis zu einem gewissen Punkt in der Lage, gerade der Ereignishaftigkeit einer Schlacht gerecht zu werden.
Die Schlacht von Waterloo als ein Ereignis, d.h. als eine durch ihren konkreten Vollzug geprägte soziale Praxis ernst zu nehmen, wie etwa John Keegan (1976) oder Alessandro Barbero (2003) es meisterhaft getan haben, bedeutet, perspektivische Engführungen auf Strukturen oder Individuen konsequent hinter sich zu lassen. Jede Schlacht ist gleichzeitig ein einzigartiges Ereignis und steht historisch in einer ganzen Kette von anderen Schlachten. Eine Thematisierung der Schlacht als ‹historisches› Ereignis bleibt zweifellos trivial, wenn man keine Kriterien anlegt, die ein Ereignis von einem bloßen «Geschehen» unterscheiden. Drei Aspekte sind nach Andreas Suter und Manfred Hettling von Belang. Zunächst die Erfahrung der historischen Akteure, dass das, was vorgefallen ist, eine bestehende Ordnung bedroht, einen Wendepunkt bedeutet oder herrschende Vorstellungen in Frage stellt. Zweitens muss diese Erfahrung «kollektiver Natur» sein. So werden nicht nur alle Beteiligten durch ihre Teilnahme an dem Ereignis auf die eine oder andere Art verändert, verletzt oder schlicht bewegt, sondern auch die zeitgenössischen Gesellschaften insgesamt verarbeiten, deuten, erinnern oder verdrängen das Ereignis. Und drittens wirkt das Ereignis auf die strukturellen Kontexte zurück, aus denen heraus es entstanden ist. Nicht umsonst spricht man von einer «Entscheidungsschlacht» und stellt Waterloo damit in eine Reihe mit Marathon (490 v. Chr.), Hastings (1066) oder Höchstädt (1704), geographische Begriffe, die zu Chiffren für das Ende oder den Anfang einer ganzen Ära oder Kultur geworden sind. Setzt man etwas niedriger an, so bedeutet die kollektiv geteilte Erfahrung der Schlacht eine wichtige Markierung im Gedächtnis eines sozialen Kollektivs, die beispielsweise die Veteranen von den Nicht-Veteranen trennt.
Die Frage der ‹Entscheidung› unterscheidet eine Schlacht von anderen Ereignissen wie Naturkatastrophen oder Revolten und rückt sie eher in die Nähe eines Rechtsverfahrens. Für die Schlachten der Frühen Neuzeit ist der Entscheidungscharakter in der Forschung umstritten. Waterloo hebt sich daher umso deutlicher von vorherigen Schlachten ab, erfüllt es doch offenbar in geradezu idealtypischer Weise die Erwartungen an eine Schlacht als entscheidender Wendepunkt der Geschichte. Doch hat bereits John Keegan die Kategorie der Entscheidung als das primäre Erkenntnisziel einer historischen Beschäftigung mit Schlachten stark relativiert. Er hat sich stattdessen dafür stark gemacht, das, «was in der Schlacht wirklich vor sich geht», als das eigentliche Thema zu profilieren.
Eine Schlacht vollzieht sich nach bestimmten Regeln und Konventionen, doch jeder einzelne taktische Zug, jeder Kampf ereignet sich auf je individuelle Weise stets neu. Eine simple, aber folgenreiche Tatsache, die von der älteren Generalstabsgeschichtsschreibung mit ihrem unmittelbar anwendungsbezogenen Erkenntnisinteresse meist ignoriert wurde. Denn auch Ereignisse ähnlichen Typs ereignen sich niemals in der gleichen Weise ein zweites Mal. Von einer Schlacht als einem Ereignis zu sprechen, birgt zweifellos immer auch eine notwendige Verkürzung komplexer Handlungszusammenhänge. Denn genau genommen waren es vier Schauplätze, auf denen sich zwischen dem 15. und dem 18. Juni 1815 das Schicksal Europas entschied: am 16. Juni die Gefechte von Quatre-Bras und Ligny sowie am 18. Juni die von Waterloo und Wavre. Das Geschehen war von einem vielschichtigen Ineinandergreifen unterschiedlicher Faktoren, wie den taktischen Entscheidungen Napoleons und Wellingtons, dem Eigensinn ihrer Generäle, den Friktionen in der Nachrichtenübermittlung, der Beschaffenheit des Geländes und den Wetterbedingungen sowie der Kampfkraft der jeweiligen Truppen, bestimmt. Eine Schlacht setzt sich zudem aus einer Vielzahl von Einzelhandlungen zusammen, sei es den Planungen der Generalstäbe, einzelnen Gefechten oder den individuellen Kampfpraktiken einzelner Soldaten. Erst gemeinsam ergeben sie mit ihren zahllosen einzelnen Wahrnehmungen, Deutungen und Darstellungen das Gesamtereignis ‹Waterloo›.
Welche Quellen stehen uns aber zu dessen Rekonstruktion zur Verfügung? Die Überlieferung ist ausgesprochen reichhaltig, aber gleichwohl einigen klassischen Filtern und Hierarchien unterworfen. Am häufigsten zitiert werden die Briefe, Depeschen und Tagebuchaufzeichnungen von Napoleon und Wellington; ihnen folgen die offiziellen Korrespondenzen und Befehle der übrigen Generäle und Offiziere. Briefe, Tagebücher und Autobiographien beteiligter Soldaten bis hin zu den Mannschaften bilden dann das Gros der Überlieferung, die allerdings in vielen Fällen erst mit einigem zeitlichen Abstand zur Schlacht verfasst wurden. Besonders hervorzuheben sind darunter von britischer Seite die sogenannten «Siborne Letters»: Briefe, die Veteranen der Schlacht Mitte der 1830er Jahre auf dessen Ersuchen an William Siborne (1797–1849), den Erbauer eines Dioramas der Schlacht, sandten. Neben den Schriftquellen sind jedoch auch schlachtfeldarchäologische Befunde und Objekte wie Waffen oder Karten ausgewertet worden. Der Blick auf die Entstehungskontexte der meisten dieser Quellen zeigt, dass Ereignis und Erinnerung kaum voneinander zu trennen sind. Viele Zeugnisse entstanden erst aus dem Bewusstsein des jeweiligen Gewährsmannes, Zeuge eines bedeutenden historischen Ereignisses gewesen zu sein oder sich im Widerstreit konkurrierender Erinnerungen engagieren zu müssen. Auch ist der Übergang zwischen Zeitzeugenbericht und analytischer Geschichtsschreibung mitunter fließend, wie etwa die Abhandlung Carl von Clausewitz’, selbst Teilnehmer der Schlacht, über den Feldzug von 1815 in Frankreich. Ein gewisser Überhang an Quellen auf der Siegerseite hat schließlich das ohnehin vorhandene Übergewicht historischer Aufarbeitung von britischer Seite noch weiter verstärkt.
Als wichtigste kulturhistorische Zugänge, die über eine reine Sequenzanalyse einzelner Operationen hinausgehen, können die Erfahrungs- und die Erinnerungsgeschichte gelten. So kann die Geschichte einer Schlacht nicht losgelöst von den Erfahrungen, Emotionen und Deutungen ihrer Teilnehmer behandelt werden. Je nach Dienstgrad, Alter, Erfahrung, Geschlecht, der eigenen Position auf dem Schlachtfeld oder der körperlichen Verletzung wurden nicht nur unterschiedliche Erfahrungen gemacht, sondern diese auch auf sehr verschiedene Art gedeutet, verarbeitet und niedergeschrieben, wobei der zeitliche Abstand, aber auch der emotionale Zustand des Autors die Zuverlässigkeit solcher ‹Ego-Zeugnisse› erheblich beeinflussen kann. Die Inszenierung und Mythologisierung des ‹Weltereignisses› Waterloo setzte bereits unmittelbar nach den Kampfhandlungen ein. Von den ersten Medienberichten über Schlachtfeldtouristen aus Brüssel und London bis zu den späteren visuellen und audiovisuellen Verarbeitungen in Ausstellungen von Beutestücken, in Diorama und Panorama, Kunst, Literatur, Populärkultur, Spielfilm und Reenactment spannt sich mittlerweile eine breite erinnerungskulturelle Verarbeitung der Schlacht, die eine neue Qualität von ‹Ereigniskultur› gewonnen hat. Auch sie ist Teil der Geschichte von Waterloo. Mit jeder Generation transformiert sich unser Bild der Schlacht ebenso wie die Inhalte, Emotionen und Erinnerungen, die wir mit der Nennung ihres Namens aufrufen. Besonders deutlich wird dies 2015 zu Tage treten, wenn man anlässlich ihres zweihundertjährigen Jahrestages der Schlacht gedenkt. Schließlich sollte man aber nicht vergessen, dass eine Schlacht kein historisches Schauspiel ist, sondern der Kulminationspunkt extremen menschlichen Leidens.
Im Folgenden werden zunächst die Rückkehr Napoleons und die beteiligten Armeen und Akteure beleuchtet (I.), um dann auf die beiden unmittelbar vorangehenden Ereignisse bei Ligny und Quatre-Bras einzugehen (II.). Die Schlacht bei Waterloo wird in fünf Schritten zunächst in ihren räumlichen und strategischen Bedingungen (III.), in ihren einzelnen Kampfhandlungen (IV.) sowie als Erfahrungsgeschichte der einzelnen Schauplätze, Bewegungen und Teilereignisse rekonstruiert (V.). Den unmittelbaren Folgen und Konsequenzen (VI.) sowie der erinnerungskulturellen Verarbeitung der Schlacht zu einem Schlachtenmythos (VII.) sind die weiteren Kapitel gewidmet, bevor ein Epilog zur historischen Bedeutung Waterloos die Darstellung beschließt (VIII.).
Mit der Abdankung Napoleons im April 1814 waren 21 Jahre Krieg zu Ende gegangen, die ausgehend von der Französischen Revolution von 1789 ihren Anfang im Jahr 1792 genommen hatten. Europas Monarchen waren in einen Krieg gegen das revolutionäre Frankreich gezogen, der sich zu einem Konflikt globalen Ausmaßes ausgeweitet hatte, ein Krieg, der sowohl Moskau (1812) als auch Washington (1814) in Brand gesetzt hatte und an Schauplätzen in Europa und Südamerika, in Ägypten und Indien ausgefochten wurde. Napoleons Truppen waren im Baltikum ebenso marschiert wie in Westfalen oder Südspanien, und die Brüder und Schwäger des Kaisers der Franzosen hatten Throne in ganz Europa besetzt. Nach Millionen von Toten schien die Gefahr im Frühjahr 1814 endlich gebannt und Bonaparte dauerhaft ausgeschaltet zu sein.
Insofern wurden die Vertreter der europäischen Großmächte, die seit September 1814 in Wien unter Leitung des Fürsten von Metternich über die politische Neuordnung Europas berieten, im März 1815 von der Botschaft der Rückkehr Napoleons mehr als überrascht. Am Morgen des 6. März erhielt Graf Metternich die Nachricht aus Genua, dass Napoleon von Elba verschwunden sei. Kurze Zeit später druckte die Leipziger Zeitung folgende Meldung aus Wien vom 8. März: «Gestern nachmittag um 3 Uhr kam mittels eines englischen und eines toskanischen Kuriers die unerwartete Anzeige hier an, daß Bonaparte am 26. Februar von Elba in seiner eigenen Korvette weggesegelt sei. Anfangs wollte man der Nachricht keinen Glauben beimessen, doch wurde sie bald zur Gewißheit. […] Eine allgemeine Sensation bei allen unseren politischen Parteien läßt sich heute nicht verkennen.» Am 1. März 1815 war Napoleon an Bord der Inconstant im Golf von Juan bei Cannes gelandet und nach Paris marschiert. Zu seinen Soldaten soll er angeblich gesagt haben: «Ich werde in Paris eintreffen, ohne einen Schuss abzufeuern.» Als er in La Mure im Süden Frankreichs auf das ihm entgegengesandte 7. Infanterieregiment unter Führung von Oberst Charles de La Bédoyère traf, das ihn aufhalten sollte, reagierten die Soldaten, statt das Feuer zu eröffnen, mit einer enthusiastischen Begrüßung und schlossen sich ihrem Kaiser bereitwillig an. Sein «Adlerflug» («vol d’aigle»), wie sein nun beginnender Siegeszug gern genannt wurde, brachte Napoleon bereits am 20. März in die französische Hauptstadt. Der neue, von den Alliierten eingesetzte König Ludwig XVIII. hatte keinen Rückhalt in der französischen Armee und floh noch am Tag von Napoleons Ankunft ins belgische Gent. Damit begann die sogenannte «Herrschaft der Hundert Tage».
In Wien waren nun fast alle maßgeblichen Entscheidungsträger vor Ort, weshalb ein schnelles und entschlossenes Handeln möglich war. Am 13. März hatte der Wiener Kongress eine Resolution veröffentlicht, die Napoleon «als Feind und Zerstörer der Ruhe der Welt» öffentlich ächtete, ihn dem «vindicte publique» unterwarf. Dass die Maßnahme seiner Person galt und man nicht Frankreich den Krieg erklärte, war nur konsequent, denn noch regierte dort offiziell König Ludwig XVIII. Persönliche Briefe, die der ehemalige Kaiser der Franzosen an die europäischen Monarchen schrieb, um ihnen zu erklären, dass er keinerlei Ansprüche auf die von ihm eroberten Territorien mehr hege, blieben wirkungslos. In London öffnete man den entsprechenden Brief erst gar nicht und sandte ihn mit unversehrtem Siegel wieder zurück.
Napoleons Kalkül, die alliierten Mächte würden seine Rückkehr zur Macht politisch akzeptieren, ging nicht auf. Vielmehr planten sie, Frankreich mit vier verschiedenen Heeresgruppen von Osten und Norden gleichzeitig anzugreifen. Eine 200.000 Mann starke österreichische Armee, der später aus ähnlicher Richtung eine russische Armee von weiteren 150.000 Soldaten folgen würde, sollte von Elsass-Lothringen aus marschieren. Im Norden planten die Preußen, in Südbelgien eine Armee von 100.000 Mann zusammenzuziehen, die dann, mit einer bereits in den Niederlanden stationierten britisch-niederländisch-belgischen Armee vereint, Richtung Frankreich aufbrechen sollte, um der napoleonischen Herrschaft so rasch wie möglich wieder ein Ende zu machen. Ohne auf einen alliierten Vormarsch Richtung Frankreich zu warten, ergriff jedoch Napoleon die Initiative, um, wie es seiner bisherigen Strategie entsprach, seine Gegner einzeln der Reihe nach zu treffen und zu besiegen. Ohnehin standen ihm nur zwei strategische Optionen offen – eine Taktik der Verteidigung und allmählichen Frustration der Gegner oder eine rasche zerstörerische Offensive, die den gegnerischen Gesamtplan in Frage stellte. Mit den 200.000 Mann, die Napoleon damals trotz Wiederabschaffung der Wehrpflicht durch die neue Regierung noch zu Gebote standen, schien rein zahlenmäßig eine reelle Chance zum Erfolg zu bestehen, wenn schnell genug gehandelt würde. Napoleon forderte weitere 150.000 Soldaten von der Nationalgarde an, und schon im Frühsommer standen ihm insgesamt bereits wieder rund 360.000 Mann zur Verfügung. Die erfahrensten Einheiten wurden in Gesamtstärke von etwa 125.000 Mann als künftige Armée du Nord im Norden Frankreichs stationiert.
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