Cover

Alfie Kohn

Der Mythos des verwöhnten Kindes

Erziehungslügen unter die Lupe genommen

Mit einem Vorwort von Claus Koch

Aus dem Amerikanischen
von Andreas Nohl

Impressum

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Myth of the Spoiled Child.
Challenging the Conventional Wisdom about Children and Parenting«

Published by Da Capo Press.

A Member of the Perseus Group

(c) 2014 by Alfie Kohn

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich:

ISBN 978-3-407-85757-6

Die im Buch veröffentlichten Hinweise wurden mit größter Sorgfalt und nach

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ISBN 978-3-407-22277-0

Inhalt

Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe

Einleitung

Von nachgiebigen Eltern, verwöhnten Kindern und anderen altbekannten Buhmännern

»Früher war alles besser«

Permissive Eltern

Verzärtelte Kinder und andere Tyrannen

Bringen permissive Eltern verwöhnte Kinder hervor?

Der Dauerbrenner: Kinder sollen tun, was ihnen gesagt wird

Plädoyer für eine Erziehung, die auf Zusammenarbeit beruht

Erziehungsirrtümer identifizieren

Verborgene Ideologien ans Licht holen

Mythos Helikopter-Erziehung und Überfürsorge

Die Anatomie der kontrollierenden Erziehung

Gehätschelt – oder kontrolliert?

Helikopter-Erziehung – nach dem Schulabschluss

Wofür soll Scheitern gut sein?

»Warum sich anstrengen, wenn sowieso jeder eine Belohnung bekommt?«

Lohn oder Preis?

Schmerz: Besser, man gewöhnt sich dran

Müssen Kinder scheitern lernen?

»Nur unter dieser Bedingung …«. Vom Unsinn von Strafen, Noten und Wettbewerb

»Es gibt nichts umsonst im Leben …«

Ohne Fleiß kein Preis? Von Wettbewerb und guten Noten

Liebesentzug

Die Erhaltung des Status quo

Der Angriff auf das Selbstwertgefühl

Was ist Wahrheit, was ist Fiktion?

»Ich mag mich selbst nur, wenn ich …«

Wie kommt an Bedingungen geknüpfte Selbstachtung zustande?

Warum Selbstdisziplin überschätzt wird

Schwammig und süß: Forschung verkehrt

Übermäßige Selbstkontrolle

Kontrolle von innen

Durchhaltevermögen

Selbstdisziplin als moralischer Imperativ

Selbstkontrolle als situatives Konzept

Wer profitiert wirklich?

Erziehung zur sanften Rebellion

Die Epidemie der Ergebenheit

Ein Modell für reflektiertes Rebellentum

Hey, Moment mal!

Sprich drüber

Anmerkungen

Literatur

Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe

Nimmt man das Buch Alfie Kohns zur Hand, dann würde man sich wünschen, jemand hätte bei uns eine solch detaillierte und profunde Erforschung aller Erziehungsmythen vorgenommen, die Eltern auch hier das Leben so schwer machen. Da aber keiner diesen Versuch so umfassend unternommen hat wie er, sind wir auf seine Untersuchungen angewiesen, die sich bei näherem Hinsehen trotz ihrer Nähe zu amerikanischen Verhältnissen ohne Weiteres auch auf unsere Situation übertragen lassen.

Warum liegt eine solche wissenschaftlich gestützte Kritik an traditionellen Erziehungsgrundsätzen, wie sie auch bei uns gang und gäbe sind, im deutschsprachigen Raum nirgendwo vor? Es mag daran liegen, dass es überhaupt nur wenige wissenschaftliche Forschungsbemühungen in dieser Angelegenheit gibt und wenn, diese gegenüber populären Elternratgebern eine Art Paralleluniversum bilden. Fragt man nämlich an den Universitäten tätige Erziehungswissenschaftler, Pädagogen oder Entwicklungspsychologen nach den Namen bedeutender Autoren von Erziehungsratgebern, so sind ihnen diese nahezu völlig unbekannt – obwohl sich Millionen Eltern nicht nur von deren Büchern, sondern auch über Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, die ihre »Message« verbreiten, »beraten« lassen. So können die Autoren von Erziehungsratgebern den Erziehungsdiskurs über Jahre und Jahrzehnte prägen – aber auch darüber liegen kaum wissenschaftliche Arbeiten vor, obwohl sich die Erziehungswissenschaften doch schon vom Namen ihrer Disziplin her dafür interessieren müssten. Dass Bücher wie das vorliegende in den USA entstehen, hat also auch damit zu tun, dass dort die elitäre Einstellung, die Adressaten von Lehre und Forschung sollten auf den Campus beschränkt bleiben, weniger vorherrschend ist, als das leider bei uns der Fall ist.1 Wobei sich aber auch umgekehrt die Autoren von Erziehungsratgebern, und darunter besonders diejenigen, die die auch in diesem Buch vorgestellten populären Erziehungsmythen pflegen, für hieb- und stichfeste Erkenntnisse der Wissenschaft kaum oder gar nicht interessieren.

In genau diese Lücke zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen auf der einen und der Aufrechterhaltung von Erziehungsmythen auf der anderen Seite stößt dieses leidenschaftlich aufklärerische Buch Alfie Kohns. Ob Konzepte wie die des »verwöhnten Kindes«, ob die landläufigen Vorstellungen von »Disziplin« oder »Selbstdisziplin« oder die Annahme, unsere Kinder würden nur dann funktionieren, wenn wir ihnen »Bedingungen« stellen: Kohn entlarvt sie alle – nicht im Rückgriff auf überholte Ideologien, sondern indem er sich auf international vorliegende Forschungsergebnisse stützt bzw. ihre mehr oder weniger bewussten Fehlinterpretationen akribisch nachzeichnet. Er zeigt auf, dass all diese Konzepte nur das eine Ziel haben, nämlich die Kinder an die in der Gesellschaft herrschenden Verhältnisse anzupassen, und zwar via Gehorsam, Unterordnung und Leistung. Am Ende des Buchs entwickelt er daraus die Gegenvorstellung eines »sanften Rebellentums«, das unseren Kindern hilft, sich moralisch in unserer Welt zu behaupten.

Alfie Kohn beginnt sein Buch mit der These, dass sich in den USA besonders in den letzten Jahren die Erziehungsvorstellungen zwischen traditionell eigentlich »verfeindeten« Lagern von Konservativen und Linksliberalen in puncto Erziehung immer mehr angleichen würden und sich eine, wie er es nennt, »traditionalistische« Vorstellung von Erziehung, die auf das »angepasste Kind« zielt, in immer mehr Büchern, Zeitungen, Zeitschriften und anderen Medien durchsetzt. Das mag, bezogen auf hiesige Verhältnisse, auf den ersten Blick irreführend anmuten, doch findet bei genauerem Hinsehen ein ähnlicher Prozess auch bei uns statt.

Erziehungsratgeber, die – im Gegensatz zu sämtlichen mittlerweile vorliegenden wissenschaftlichen Forschungsergebnissen – von der Annahme ausgehen, das Kind sei von Geburt an eher schlecht, triebhaft und unsozial und müsse vom Erziehenden deswegen, ob zu Hause, in der Schule oder sonst wo immer wieder gezähmt und »geführt« werden, erreichen Millionenauflagen, finden Eingang in die veröffentlichte Meinung und werden von vielen Eltern ganz unabhängig von ihren sonstigen politischen Einstellungen goutiert. Was ebenso auf Bücher zutrifft, die zu lasche und »symbiotische« Eltern oder die Verwöhntheit einer ganzen Generation Jugendlicher anprangern bzw. den Eltern Zwangsmaßnahmen empfehlen, damit Babys und Kleinkinder möglichst schnell einschlafen oder folgsam werden − ein Thema, auf das Alfie Kohn übrigens gleich zu Beginn seines Buchs zu sprechen kommt.

Davon, dass Kinder angeblich nur »auf Druck« bereit sind, etwas zu leisten und zu etwas zu werden, kann sich im Übrigen jede Leserin oder jeder Leser auch bei uns nicht nur in zahlreichen Büchern und Zeitschriftenartikeln ein Bild machen, sondern auch auf jedem x-beliebigen Schulelternabend, wenn Einzelne den Vorschlag einbringen, den Noten- und Leistungsdruck von unseren Kindern zu nehmen. In ihrem empörten Aufschrei, dass ohne Noten und entsprechenden Druck doch kein Kind mehr lernen würde, sind sich konservativ und »alternativ« eingestellte Eltern einig. Einig auch darin, dass Verwöhnung und Grenzenlosigkeit Kinder daran hindern, in unserer Gesellschaft zu bestehen und es später einmal zu etwas zu bringen. Auch dies ein Mythos, den Kohn in seinem Buch immer wieder unter die Lupe nimmt und als ebenso unrichtig entlarvt wie den Glauben daran, dass sich das Selbstwertgefühl eines Kindes daran festmachen müsse, dass es das zustande bringt, was die Gesellschaft von ihm erwartet.2

Bei der Lektüre dieses spannenden Buchs drängen sich der Leserin und dem Leser also viele Parallelen zu unserer Erziehungswelt auf, denn die Mythen, die Kohn entlarvt und anprangert, lassen sich mit Leichtigkeit auch bei uns finden. Insofern habe ich sparsam und nur an manchen Stellen im Text mit gekennzeichneten Fußnoten Hinweise angebracht, die die von Alfie Kohn vorgebrachten Argumente in dem einen oder anderen Fall nützlich ergänzen.

Claus Koch, im Januar 2015

Einleitung

Als der Linguist George Lakoff mit einem Freund im Garten plauderte, fiel ihm ein interessantes Gedankenexperiment ein. Gibt es eine Frage, deren Antwort einen Schluss darauf zulässt, ob die Befragten bei einer Reihe von politischen Themen eine »konservative« oder eher eine »linksliberale« Position einnehmen? Sein Freund meinte: »Ja. Frage sie einfach: Wenn Ihr Baby nachts schreit, nehmen Sie es dann auf den Arm?«1

Lakoff erzählt diese Geschichte zu Anfang seines Buchs Moral Politics, um zu erklären, wie er zu der Überzeugung kam, dass unsere Ansichten über alles Mögliche – Abtreibung, Todesstrafe, Waffenlieferungen, Umweltschutz, Außenpolitik, Einwanderung und so weiter – meist mit einer tieferen »moralischen Grundüberzeugung« zu tun haben. Und diese Grundüberzeugung, so behauptet er, lässt sich in »Familienmodellen« darstellen. Konservative Positionen spiegeln nach seinen Worten ein strenges Vatermodell, während linksliberale Positionen auf ein fürsorgliches Elternmodell verweisen.

Auch nach der Lektüre der fast 500 Seiten seines Buchs bin ich mir nicht schlüssig geworden, was Lakoff mit dem Hinweis auf diese Erziehungskonzepte eigentlich bezweckt hat. Sind es Metaphern? (An anderem Ort hat er beschrieben, wie unsere Gedanken und Handlungen von Metaphern beeinflusst werden, deren wir uns nicht einmal bewusst sind.) Oder ist unsere Einstellung zur Kindererziehung tatsächlich so etwas wie ein eindeutiges Indiz dafür, wie wir über all diese politischen Themen denken? Und wenn ja: Gibt es irgendeine Evidenz, die diese Hypothese stützt?

Was auch immer bezweckt sein mochte, die Modelle selbst sind schlüssig und unzweifelhaft überzeugend – auf das Strenger-Vater-Modell komme ich später zu sprechen –, und es ist ein faszinierender Gedanke, dass die Art, wie man mit seinen Kindern umgeht, tatsächlich eine Voraussage darüber zulässt, welche politischen Ansichten man hat. Geht eine autoritäre Erziehung, die vor allem Gehorsam einfordert, notwendig mit einer Ablehnung sozialer Hilfsprogramme einher? Sind Eltern, die Konflikte mit ihren Kindern im Gespräch und nicht mit Prügeln klären, eher für Steuervorteile zur Förderung erneuerbarer Energien? Diese möglichen Zusammenhänge geben dem Diktum von Wordsworth, »Das Kind ist der Vater des Menschen«, eine neue Bedeutung.

Es gibt nur ein Problem mit Lakoffs Theorie: Sehr viele Menschen, die politisch eher linksliberal denken, klingen wie Ultrakonservative, wenn es um Kinder und Erziehung geht. Es ist diese erstaunliche Diskrepanz, die mich dazu bewogen hat, das Buch zu schreiben, das Sie gerade lesen.

Zuerst fiel mir diese Widersprüchlichkeit in der Diskussion über Bildung und Pädagogik auf. Während Ansichten über andere Fragen in großem Umfang variieren können, erhalten wir von links bis rechts eine verblüffend gleichlautende Perspektive, wenn es um Kinder geht, und diese lautet etwa so:

Diese – in Ermangelung eines besseren Worts –»traditionalistischen« Ansichten über unsere Kinder kann man überall und unablässig hören. Aus ihnen speisen sich die Erziehungsmethoden unserer Gesellschaft, und wenn in den Medien über Erziehungsthemen berichtet wird, so meist aus dieser Richtung. Geht es um Selbstwertgefühl, lautet die These, die Kinder hätten übergenug davon. Geht es um Disziplin (und um von den Eltern gesetzte Grenzen), wird uns gesagt, die Kinder hätten heute zu wenig davon. Und Durchhalte- oder Durchsetzungsvermögen gelten immer als positive Eigenschaften, ohne je hinterfragt zu werden.

Die weitverbreitete Übernahme einer solchen traditionalistischen Perspektive zeigt, dass selbst politisch aufgeschlossene Menschen bei Themen, die sich auf Kinderfragen beziehen, zutiefst konservative Grundsätze vertreten. Und ebenso gilt umgekehrt: Die Tatsache, dass Menschen, die wir eher der politischen Linken oder der Mitte zuordnen würden, mit dem rechten Lager übereinstimmen, erklärt, warum der traditionalistische Standpunkt zur allgemeinen Haltung geworden ist.

Kindererziehung lässt sich als eine verborgene Front im Kulturkampf bezeichnen, bei dem nur niemand auf der anderen Seite kämpft.

Wenn Sie je Zeitungsartikel, Blogs und Bücher zur Kindererziehung gelesen haben, dann kennen Sie mehr oder weniger alle. Greifen Sie einfach irgendeinen Text heraus, und als Erstes wird Ihnen eine Auswahl verschiedener Klagen und Beschwerden begegnen, als seien sie untereinander austauschbar.3 Die Eltern werden dafür kritisiert, dass sie überfürsorglich und zu lax seien (ohne einen Hinweis darauf, dass es sich hier um zwei vollkommen verschiedene Paar Schuhe handelt). In einem Satz wird behauptet, Kinder hätten zu viel Spielzeug; im nächsten werden sie angeklagt, sie seien respektlos oder unmotiviert oder ichbezogen. Alles, was dem jeweiligen Autor gegen den Strich geht, wird in den Bottich geworfen. Kinder sind zu viel Werbung ausgesetzt! Sie gehen zu vielen außerschulischen Betätigungen nach! Sie werden von zu viel Technologie abgelenkt! Sie sind wahlweise zu materialistisch, zu individualistisch oder zu narzisstisch – wahrscheinlich weil ihre Eltern zu fordernd, zu nachgiebig oder zu »progressiv« waren. (Wenn der Autor oder die Autorin Akademiker ist, wird oft ein einziges Etikett auf die Anklage geklebt – etwa »überfürsorgliche Erziehung« oder »übermäßige Zuwendung« –, und eine verwirrende Vielfalt an Phänomenen wird als Beispiel zitiert.)4

Die Verallgemeinerungen sind nicht nur vielfältig, sondern vor allem auch widersprüchlich. Wir erfahren, dass die Eltern übertriebene schulische Erfolgsanforderungen an ihre Kinder stellen (indem sie deren Hausaufsätze selbst schreiben, Nachhilfelehrer anstellen und verlangen, dass sie besser sind als ihre Mitschüler), aber andererseits versuchen, ihren Kindern Wettbewerbsdruck zu ersparen (indem alle Kinder Pokale und Preise bekommen). Die Anforderungen seien gesunken, zu viel Aufmerksamkeit werde darauf gerichtet, die Kinder glücklich zu machen. In ähnlicher Weise werden junge Erwachsene als selbstbezogene Nervenbündel beschrieben – selbstzufrieden trotz mangelnder Leistung, aber zugleich so unglücklich, dass sie Therapien machen müssen. Oder die Helikopter-Erziehung5 wird zur Epidemie, obwohl die Eltern mit ihren eigenen elektronischen Geräten so beschäftigt sind, dass sie ihre Kinder kaum wahrnehmen. Man setzt offenbar voraus, dass der geneigte Leser stillschweigend nickt und sämtliche Widersprüche übersieht, solange der Ton nur abwertend genug und der Blickwinkel traditionalistisch ist.

Nur selten werden über die vorherrschenden Missstände oder ihre angeblich katastrophalen Folgen tatsächlich belastbare Daten zitiert. Stattdessen verlassen sich die Autoren hauptsächlich auf Anekdoten, die so aufgearbeitet werden, dass sie den Eindruck erwecken, diese sorgfältig ausgewählten Beispiele seien repräsentativ für die Gesellschaft als Ganze. Dabei wird natürlich nicht versäumt, andere Kollegen zu zitieren, die die Thesen des Autors über permissive Eltern und tyrannische Kinder, die nie einen Misserfolg erleben mussten, stützen.

Erstaunlicherweise wiederholen diese Autoren zwar nur, was alle anderen auch sagen, sie stellen sich aber als mutige Warner dar, die kühn gegen den Zeitgeist kämpfen.

Vielleicht hätte ich mich über all diese Schriften – schlampig, widersprüchlich oder wenig überzeugend, wie sie sind – nicht so geärgert, wenn es Aufsätze gäbe, die die vorherrschenden Überzeugungen infrage stellen, Aufsätze, die Titel tragen könnten wie: »Der neue Puritanismus: Wem nützt es eigentlich, wenn Kindern beigebracht wird, Arbeit mehr zu schätzen als Spiel?«, oder: »Warum Eltern alles kontrollieren wollen, und wie das ihre Kinder schädigt«, oder: »Die Erfindung der ›Helikopter-Eltern‹: Wie man eine Krise aus heißer Luft herbeiredet«. Sollte so etwas in den Medien erschienen sein, muss es mir trotz aufmerksamer Suche entgangen sein.

Die einschläfernde Monotonie der Texte über Kinder und Erziehung sowie das Fehlen jeglicher kritischer Überprüfung ihrer Grundlagen ist befremdlich genug. Wenn jedoch in zahllosen Publikationen verwöhnte, tyrannische Kinder auf immer die gleiche Art bloßgestellt und die Eltern der Laxheit und übermäßigen Nachgiebigkeit geziehen werden, dann bleibt das nicht ohne Wirkung auf das öffentliche Bewusstsein – etwa so, wie ein politischer Kandidat durch hetzerische Wahlclips bei den Wählern diskreditiert werden kann. Und wenn es einen solchen öffentlichen Konsens gibt, ist die Frage umso wichtiger, ob die Vorwürfe eine überzeugende Grundlage haben. Eben dies ist die Aufgabe, die ich mir hier gestellt habe: ungesicherte Behauptungen im Lichte der Evidenz zu überprüfen.

Diese Behauptungen lassen sich in drei Kategorien einteilen. Manche sind deskriptive Aussagen (Eltern erlauben ihren Kindern alles. Scheitern ist nützlich. Die Jugend von heute ist narzisstischer als die früherer Generationen). Andere sind Voraussagen (Kinder, die übermäßige Zuwendung erfahren, werden es als Erwachsene schwer haben. Das Fehlen von Wettbewerb fördert Mittelmäßigkeit). Und schließlich gibt es Werturteile (Selbstwertgefühl muss man sich verdienen. Eltern sollten ihre Kinder vor allem zu Selbstständigkeit erziehen). Mein Ziel ist es, herauszuarbeiten, ob die Beschreibungen zutreffen, ob Daten existieren, welche die Voraussagen stützen, und ob die Werte vertretbar sind. Mich beschäftigt auch die Weltsicht, auf der all diese Aussagen beruhen, in Verbindung mit der Wut, die sie häufig beseelt – und was das über uns selbst aussagt.

In den ersten beiden Kapiteln beschäftige ich mich mit dem Vorwurf, die Eltern seien permissiv und die Kinder verwöhnt – eine Anklage, die, wie wir sehen werden, nicht gerade neu ist. Jede Generation behauptet, nie sei es so schlimm gewesen wie gerade jetzt. Um zu verstehen, warum so viele Menschen diese Klagen unbedingt glauben wollen, müssen wir uns mit der Kindererziehung als solcher beschäftigen – und mit der Frage, welche Art von Erziehung die Kinder wirklich nach vorn bringt.

In Kapitel 3 beschäftigen wir uns mit dem Vorwurf der übermäßigen Zuwendung. Ebenso wenig wie bei der Permissivität, also der übermäßigen Nachgiebigkeit, existiert hier belastbares Material, welches belegen könnte, dass dieses Phänomen weitverbreitet ist. Wo ein solches Erziehungsverhalten vorkommt, ist die Wirkung auf Kinder nicht deshalb schädlich, weil sie verwöhnt würden, sondern weil sie kontrolliert werden. Das gängige Vorurteil, junge Erwachsene würden von Helikopter-Eltern durchs Leben gelotst, hat so gut wie keinen Bezug zur Realität, weder was die Verbreitung, noch was die Folgen betrifft.

Kapitel 4 und 5 untersuchen unterschiedliche Situationen, in denen Kinder angeblich vor unangenehmen Erfahrungen beschützt werden oder in denen sie zufriedener mit sich sein dürfen, als sie es verdienen. Der Vorwurf lautet: Kinder werden ohne wirklichen Grund gelobt, gute Noten werden ihnen hinterhergeworfen, und sie bekommen Pokale und Medaillen, selbst wenn sie niemanden besiegt haben. Traditionalisten geraten außer sich, wenn nur die bescheidenste Bemühung ruchbar wird, kompetitive Aktivitäten oder Bestrafungspraktiken – vom Völkerball bis zum nach Noten sortierten Ausgeben der Klassenarbeiten – zu beschränken. Diese intensive Gegnerschaft basiert, wie ich ausführen werde, auf drei Überzeugungen: dass Belohnungen notwendig sind, um Menschen zu motivieren, dass diese Belohnungen künstlich verknappt und nur den Siegern gegeben werden sollten und dass man Kinder am besten auf zukünftiges Unglück vorbereitet, indem man sie schon früh Unglück erfahren lässt. Zwar sind diese Annahmen nachweislich falsch, doch wird jede einzelne von einer ideologischen Überzeugung getragen, die sich durch bloße Beweise nicht aushebeln lässt: Demnach muss alles Erstrebenswerte verdient werden (also an Bedingungen geknüpft sein), Exzellenz ist nur wenigen vorbehalten (und muss durch Wettbewerb erworben werden), und Kinder müssen kämpfen (ohne Liebesentzug und Entbehrungen geht es nicht).

Diese Werturteile haben keinen geringen Einfluss darauf, was Erwachsene für Kinder tun, und ebenso auf die Selbstwahrnehmung der Kinder. Kapitel 6 untersucht den bisherigen heutigen Kenntnisstand über die Wichtigkeit des Selbstwertgefühls und wie diese Forschungsergebnisse sich mit den Auffassungen der Traditionalisten vertragen, die das ganze Konzept diskreditieren. Sodann konzentriert es sich auf den wichtigsten Streitpunkt, der wiederum die Bedingungen betrifft. Besondere Empörung und Häme ruft der Gedanke hervor, Kinder dürften sich ganz ohne beeindruckende Leistungen wohl in ihrer Haut fühlen, obwohl, wie ich nachweisen werde, Studien zeigen, dass ein bedingungsloses Selbstwertgefühl notwendiger Bestandteil der seelischen Gesundheit ist.

Ebenso lassen die besten Theorien und Forschungsstudien starke Zweifel an der Behauptung aufkommen, dass größere Selbstdisziplin für alle Kinder notwendig und hilfreich sei. Kapitel 7 untersucht dieses Konzept eingehend, geht der Dynamik der Selbstkontrolle auf den Grund und erforscht die Ideologie, die viele Menschen verleitet, von Kindern zu verlangen, dass sie hart arbeiten, jeglicher Versuchung widerstehen und auf alles verzichten, was ihnen Spaß macht. Selbst wenn unsere Kinder so selbstverliebt und verwöhnt wären, wie behauptet wird, könnten wir darauf reagieren, indem wir ihnen helfen, an sozialen Veränderungen zu arbeiten, anstatt das protestantische Arbeitsethos heranzuziehen oder sie strenger zu bestrafen. Kapitel 8 beschäftigt sich mit Methoden, wie man ein kritisches Bewusstsein fördern kann, das den Status quo infrage stellt und sich weigert, Dinge zu akzeptieren, die keinen Sinn ergeben.

Auf den folgenden Seiten möchte ich Leserinnen und Leser, die sich nicht für sozialkonservativ halten, dazu einladen, traditionalistische Einstellungen gegenüber Kindern zu hinterfragen, die sie vielleicht schon akzeptiert haben. Und ich möchte alle Leserinnen und Leser, unabhängig von ihren politischen oder kulturellen Ansichten, einladen, allgemein vertretene Überzeugungen über Kinder und Kindererziehung mit neuen Augen anzuschauen. Immerfort sollen wir uns Sorgen machen: Sind wir streng genug mit unseren Kindern? Mischen wir uns zu sehr in ihr Leben ein? Sind die Kinder heutzutage zu selbstgefällig? Diese Fragen sind meiner Meinung nach großenteils müßig. Sie lenken uns ab oder machen uns sogar argwöhnisch gegenüber den Veränderungen, denen wir unser Augenmerk wirklich widmen sollten. Die vernünftige Alternative zu übermäßiger Zuwendung ist nicht weniger Zuwendung, sondern bessere Zuwendung. Die Alternative zur Permissivität ist nicht mehr Kontrolle, sondern reflektiertes Dagegenhalten.

Kurzum, wenn wir seelisch gesunde und lebendige Kinder erziehen wollen, müssen wir zunächst die von den Medien verbreiteten Ängste infrage stellen, wir könnten sie verwöhnen.

Kapitel 1

Von nachgiebigen Eltern, verwöhnten Kindern und anderen altbekannten Buhmännern

»Früher war alles besser«

Es gibt ein beliebtes rhetorisches Klischee in Elternratgebern und langweiligen akademischen Monografien: Man bringt ein anonymes Zitat, das zum Thema passt, und enthüllt dann, dass die Quelle jahrzehnte-, wenn nicht gar jahrhundertealt ist.

Dieser Kunstgriff birgt allerdings Potenzial für mehr als akademische Unterhaltung. Wenn Beobachtungen oder Gedanken von Leuten, die längst tot sind, überraschend bekannt wirken, raubt ihnen das den Nimbus der Einzigartigkeit, und das kann so manche vorgefasste Meinung ins Wanken bringen. Wenn wir beklagen, dass gewisse Aspekte des modernen Lebens Anlass zu Empörung geben, dann sollte die Tatsache, dass unsere Großeltern oder Altvorderen genau das Gleiche gesagt haben, uns mitten im Satz verstummen lassen.

Nehmen wir zum Beispiel die Bildung. Journalisten und altgediente Lehrer äußern häufig im Ton der Resignation oder auch des Abscheus, dass die Leistungen der heutigen Schüler und die Anforderungen, die an sie gestellt werden, immer laxer werden. Die Schüler tun nur noch ein Minimum an Arbeit und kommen ungestraft damit durch. Sie sind sogar noch stolz darauf und werden gelobt – für ihre Mittelmäßigkeit.

»In jüngerer Zeit«, liest man in so einem Artikel, »geht ein Aufschrei durch die Elternschaft, weil die Kinder nicht laut lesen und sauber schreiben können und außerdem mit der Rechtschreibung gravierende Probleme haben. Ausbilder beschweren sich, dass Mechaniker nicht einmal einfache Gebrauchsanweisungen lesen können. Die Universitäten beklagen, dass das Leseverständnis der Schulabgänger nicht ausreicht, um wissenschaftliche Texte zu lesen. In den weiterführenden Schulen müssen Lesekurse eingerichtet werden für Kinder, die in der Grundschule nicht richtig lesen gelernt haben.« Dieses vernichtende Urteil über unser Bildungssystem setzt sich noch seitenweise fort. Aber vielleicht sollte man es nicht »unser« Bildungssystem nennen, denn nur wenige von uns hatten etwas zur Schulpolitik zu sagen, als dieser Artikel im Jahr 1954 erschien.1

Vergleichbares wurde in den 1970er- und 1980er-Jahren publiziert. Aber könnte man nicht anführen, dass diese Äußerungen, ähnlich wie die heutigen, das Erbe des Multikulturalismus, der Achtundsechziger und des kulturellen Paradigmenwechsels nach der Studentenbewegung spiegeln, der alle traditionellen Werte innerhalb und auch außerhalb der Schulen gestürzt hat? Ja, dieses Argument könnte man tatsächlich aufs Tapet bringen. Aber es lässt sich nicht leicht verteidigen, wenn man weiß, dass das dysfunktionale Bildungssystem noch vor der Einwanderungswelle der Gastarbeiter, vor dem Vietnamkrieg und vor dem Feminismus beklagt wurde.

Wenn also schon vor sechzig Jahren über den Niedergang der Schulen und über Schüler, die kaum des Lesens mächtig sind, geklagt wurde, dann stellt sich die Frage: Wann genau war das Goldene Zeitalter, in dem die hohen Maßstäbe galten? Die Antwort lautet: Es hat nie existiert. Jede Generation schwärmt von der guten, alten Zeit, in der, wie wir feststellen müssen, die Leute genau dasselbe getan haben wie wir.

Nun brachten die letzten Jahre ganze Schiffsladungen von Polemiken, die sich nicht so sehr damit beschäftigen, wie Kinder unterrichtet, sondern wie sie erzogen werden. Da Letzteres das Hauptthema des vorliegenden Buchs ist, liegt die Frage nahe, was es mit der Behauptung auf sich hat, die Kinder von heute seien verwöhnter als jemals zuvor und die elterliche Autorität sei im Lauf der Zeit erodiert. Kann es sein, dass man auch dies alles »schon mal irgendwo gehört« hat?

Auch ohne einen Archivbesuch werden Leser eines gewissen Alters sich erinnern, dass die Verdammung übermäßiger Nachgiebigkeit keineswegs neu ist und dass die gleichen Klagen über nachlässige Eltern und ihre verzärtelte Nachkommenschaft bereits in den 1990er-Jahren Bücher füllten.6 Nun besteht natürlich die Möglichkeit, dass wir es mit einer besonders ausgedehnten Phase verfallender Werte und laxer Erziehung zu tun haben, die bis zu den Kindern der Achtundsechziger zurückreicht, welche bekanntlich machen konnten, was sie wollten, und nun ihre Kinder genauso erziehen. Wurde alles von den erdrutschartigen Veränderungen Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre verursacht? Haben die Menschen ihre Kinder verantwortungsvoll erzogen, bevor alles den Bach runterging? War es möglicherweise in den Fünfzigerjahren besser? Marguerite und Willard Beecher, die Autoren von Parents on the Run (Eltern in Eile) schrieben 1955:

Es gab einmal eine Zeit, da übten die Eltern in der Kindererziehung Autorität aus. Damals sollte man Kinder »sehen, aber nicht hören«. Eltern- und Gottesfurcht wurde ihnen eingeflößt. Es gab keinen Widerspruch und keinen Unfug. Der Haushalt drehte sich damals um die Erwachsenen. Heute steht in der Familie das Kind im Mittelpunkt. Da gibt es wenig Ruhe und Frieden und vor allem nicht viel Respekt oder gar Furcht vor Autorität. Das heutige tragikomische Heim hat einen fest installierten autokratischen Kommandanten, und zwar das Kind. Die Eltern werden gerade noch toleriert. Heute sind es die Eltern, die man »sehen, aber nicht hören« soll.2

Geht man noch weiter zurück, so kann man einen englischen Reisenden finden, der 1832 das »völlige Fehlen von Disziplin und Unterordnung, die ich bei Kindern aller Altersstufen beobachten musste«, beklagt.3 Ein Schriftsteller empörte sich um 1640 über Kinder, die die Frechheit gegen ihre Eltern »stolz, hochmütig und verächtlich« zur Schau tragen. Es wird sogar von Menschen berichtet, die schon vor Jahrtausenden Ähnliches geäußert haben. Die folgende Anklage wird dem griechischen Dichter Hesiod zugeschrieben, der im achten vorchristlichen Jahrhundert lebte: »Ich habe keine Hoffnung für die Zukunft unseres Volkes, wenn sie von der sittenlosen heutigen Jugend abhängt, denn gewiss ist die Jugend leichtsinniger, als Worte es ausdrücken können. Als ich jung war, lehrte man uns, Älteren taktvoll und ehrfürchtig zu begegnen, doch die heutige Jugend ist überaus [respektlos] und lässt sich nicht zügeln.« Und Sokrates soll angeblich gesagt haben: »Die Kinder lieben heute den Luxus zu sehr. Sie haben abscheuliche Manieren, spotten über Autorität und haben vor Älteren keinen Respekt. Was für grässliche Kreaturen sollen sie werden, wenn sie heranwachsen?«4

Natürlich schließen die zahlreichen historischen Vorläufer nicht zwingend aus, dass die Eltern tatsächlich zu nachgiebig sind. Vielleicht sind sie es immer und überall gewesen. Aber der Grundtenor der Argumente, die man gemeinhin hört – in Büchern und Artikeln, in Seminaren und auf Partys – lautet, die Kindererziehung sei heute in größerem Maße permissiv als früher. Damals haben die Eltern Grenzen gesetzt, und die Kinder haben gehorcht (was unkritisch als erstrebenswert dargestellt wird). Damals waren die Maßstäbe hoch und die Schüler motiviert und diszipliniert. Wenn es sich aber herausstellt, dass die Menschen damals genau dasselbe gesagt haben, dann sind wir unserem Ziel, die Luft aus diesem argumentativen Heißluftballon herauszulassen, einen Schritt näher gekommen.

Permissive Eltern

In der Behauptung, die Kinder seien heutzutage verwöhnt, weil die Eltern ihnen keine Grenzen setzen, stecken eigentlich drei Aussagen:

  1. Die Eltern setzen keine Grenzen.
  2. Die Kinder verhalten sich auf eine Weise, die man als »verwöhnt« bezeichnen muss.
  3. Das erstere Problem verursacht das zweite.

Jede dieser Behauptungen muss bewiesen werden. Anekdoten, selbst solche, bei denen wir verständnisvoll den Kopf schütteln, sind da nicht genug. Wir brauchen Gründe, die uns überzeugen, dass die Geschichten, die wir hören, und die Verhaltensweisen, die wir beobachten, für die Gesamtbevölkerung repräsentativ sind. Und dafür müssen wir präziser definieren, worüber wir reden. »Eltern lassen ihren Kindern einfach alles durchgehen« oder »Alle Kinder schlagen über die Stränge« sind keine beweisbaren Behauptungen – nicht nur, weil sie vage sind, sondern weil sie die Werte des Redners spiegeln, der eigentlich sagen möchte: »Eltern dulden Verhalten, das sie meiner Meinung nach verbieten sollten«, oder: »Mir missfällt das Benehmen gewisser Kinder«. Wenn wir die Behauptung aufstellen wollen, dass sich heutzutage mehr Leute in einer bestimmten Weise verhalten als in früheren Generationen, dann müssen wir präzise beschreiben, wonach wir suchen, damit wir Daten verschiedener Zeitalter vergleichen können.

Wie also wollen wir eine Aussage wie die folgende bewerten: »Wir leben in einer kindzentrierten Gesellschaft, wo den Wünschen und Bedürfnissen von Kindern zunehmend Priorität eingeräumt wird«?5 Zunächst müsste man vielleicht fragen, inwieweit diese Behauptung zu hochbedenklichen sozialen Tatsachen wie der wachsenden Zahl von Kindern, die unter der Armutsgrenze leben, passt. Es lässt sich kaum leugnen, dass das Verhältnis zu Kindern in unserer Kultur bestenfalls ambivalent ist. Eltern lieben ihre eigenen Kinder, haben aber häufig wenig übrig für die Sprösslinge anderer Leute. Manchmal finden wir Kinder entzückend, aber häufiger gehen sie uns auf die Nerven. Ein »liebes« Kind sitzt still und hält den Mund. Umfragen stellen ein frappierendes Maß an Feindschaft nicht nur gegenüber Halbwüchsigen, sondern auch gegen kleinere Kinder fest. Eine große Zahl unserer Mitbürger lehnt Kinder jeder Altersstufe ab und bezeichnet sie als unhöflich, faul, verantwortungslos und bar jeglicher Grundwerte.6

In den 1930er-Jahren bemerkte ein Forscher namens Harold Anderson: »Ich glaube, unsere Kultur hat noch nicht gelernt, Kinder wirklich zu mögen.« Der Nachweis, dass sich seither nicht allzu viel geändert hat, dürfte leicht zu erbringen sein. Im Jahr 2012 widmete Elisabeth Young-Brühl dem »breiten Spektrum immer noch stattfindender kinderfeindlicher Verhaltensweisen und sozialpolitischer Maßnahmen« ein ganzes Buch.7 Kindzentriert? Es ist vielmehr fraglich, ob unsere Gesellschaft auch nur als kinderfreundlich bezeichnet werden kann.

Andererseits hat sich die allgemeine Einstellung im Laufe eines langen Zeitraums tatsächlich dahingehend verschoben, dass Kinder als Individuen von eigenständigem Wert begriffen werden, als Menschen, die menschlich behandelt werden müssen. Kinder in der industrialisierten Welt werden nicht so leicht zum Arbeiten gezwungen oder als ökonomische Aktivposten angesehen wie noch im 19. Jahrhundert.8 Man betrachtet sie auch nicht mehr als schuldbeladene Kreaturen, deren Willen gebrochen werden muss, wie noch vor wenigen Hundert Jahren. Unter den Puritanern wurden Kinder öffentlich ausgepeitscht. Spiel galt als unannehmbar leichtfertig, selbst bei Kleinkindern. Babys beschrieb man als »schmutzige, sündige, hassenswerte, widerwärtige« Wesen und behandelte sie entsprechend.9 Kindsmord kam in der Menschheitsgeschichte häufig vor, und Kinder wurden regelmäßig ausgesetzt, gequält und sexuell missbraucht. »Es ist mir nicht gelungen, aus vormoderner Zeit den Nachweis für nur einen Elternteil zu erbringen, der heute nicht wegen Kindesmissbrauchs oder Vernachlässigung ins Gefängnis käme«, schreibt der Historiker Lloyd deMause.10

Die Antwort auf unsere Frage hängt also von der Zeitspanne ab, die wir betrachten wollen, und von der Definition, die wir benutzen. Ja, wir beobachten »in der westlichen Welt in den vergangenen Jahrhunderten eine Zunahme an liebevollem Verhalten gegenüber Kindern und ein größeres Interesse an ihrer Entwicklung«.11 Aber das heißt noch längst nicht, dass unsere Gesellschaft »kindzentriert« ist in der spezifischen, abwertenden Bedeutung, die diesem Ausdruck oft gegeben wird, als seien die Bedürfnisse und Wünsche von Erwachsenen denen der Kinder untergeordnet.

Aber was ist mit der Frage, ob heutige Eltern »permissiver« sind? Auch hier müssen wir sorgfältig vorgehen. Bezieht sich dieses Wort darauf, dass wir Kinder human behandeln, ihnen ein Mitspracherecht einräumen bei Dingen, die sie betreffen, ihnen erlauben, sowohl gehört als auch gesehen zu werden, ihre Vorlieben akzeptieren, statt sie unserem Willen zu unterwerfen? Bedeutet es, dass wir reagieren, wenn Kleinkinder hungrig oder müde sind, anstatt sie zu füttern oder schlafen zu legen, wenn es uns in den Kram passt? Dass wir Kindern erlauben, zu toben und manchmal Spaß zu haben, und dass wir sie trösten, wenn sie weinen?

In der Tat waren es anscheinend genau diese Veränderungen der Geisteshaltung, für die das Wort permissiv zuerst benutzt wurde. Damals ging der Trend tatsächlich in eine solche Richtung. Ein Autor bezieht sich auf die »Ideologie permissiver Kindererziehung«, die die Elternratgeber der 1930er-Jahre charakterisierte12 – ein Jahrzehnt, dem ein Buch mit dem entlarvenden Titel Babies Are Human Beings (Babys sind Menschen) entstammt. Eine andere Autorin weist darauf hin, dass die Ideen, die damals als »neue Permissivität« bezeichnet wurden, »heute dem gesunden Menschenverstand entsprechen«.13 Man begann, sich über die Bedürfnisse von Kindern Gedanken zu machen, und erkannte, dass ihre Entwicklung Stadien durchläuft, sodass sie unter Umständen gar nicht fähig sind, eine bestimmte Verantwortung zu übernehmen oder eine Fertigkeit zu erlernen, bloß weil wir es von ihnen verlangen. Allerdings ging dieser Fortschritt nicht linear vonstatten. Die Strenge, die der Permissivität wich, war ihrerseits eine Umkehrung von Erziehungsmethoden des 19. Jahrhunderts, die sich um die Bedürfnisse der Kinder mehr gekümmert hatten.14 Die Lage hatte sich verschlimmert, ehe sie wieder besser wurde. Und diese Umkehrung wurde später noch einmal umgekehrt. Die 1950er-Jahre brachten erneut Einschränkungen, und selbst einige dieser grundlegenden Prinzipien wurden wieder mit Argwohn betrachtet.15

Heute hat das Wort Permissivität eine andere Bedeutung. Es geht nicht mehr um humane Behandlung oder die Bereitschaft, ein Kind zu stillen, wenn es hungrig ist. Es geht darum, Kinder in einer Weise zu verzärteln, die per definitionem ungesund ist. Permissive Erziehung wird heute allgemein und auch von Entwicklungspsychologen als eine Erziehung verstanden, in deren Rahmen Kinder höchst selten mit Anforderungen und Grenzen konfrontiert werden und mehr oder weniger tun und lassen können, was sie wollen.16

Hat nun also je ein Forscher zu quantifizieren versucht, wie viele Eltern mit Fug und Recht in diesem Sinne als permissiv klassifiziert werden können? Die meisten Leute, die eine Epidemie der permissiven Erziehung konstatieren, gehen einfach davon aus, dass dies zutrifft – da es jeder weiß, ist es unnötig, diese Behauptung durch Belege zu erhärten. Meine Bemühungen, Daten zu finden, sind ergebnislos geblieben, obwohl ich sowohl wissenschaftliche als auch populärwissenschaftliche Datenbanken durchkämmt und überdies noch führende Experten befragt habe. Daraus muss ich schließen, dass niemand die geringste Ahnung hat, wie viele Eltern man als permissiv klassifizieren kann, wie viele mit Strafen erziehen und wie viele auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen, ohne permissiv oder punitiv (strafend) zu sein. (Die Neigung, die letztere Möglichkeit zu übersehen, ist ein besorgniserregender Trend.) Kurz und gut, es gibt absolut keine Beweise für die Behauptung, dass Permissivität der dominierende Erziehungsstil in unserer Kultur oder auch nur weit verbreitet ist.

Dennoch schreiben zahlreiche Autoren, Journalisten und sonstige Kommentatoren nicht nur, dass viele Eltern es versäumen, Grenzen zu setzen. Sie behaupten schlichtweg, dies sei heute in größerem Maße der Fall als in vergangenen Zeiten. Übermäßige Nachgiebigkeit sei ein spezifisches Problem unserer Zeit, weil die elterliche Autorität erodiert sei. Wenn es aber keine repräsentativen Untersuchungen über gegenwärtige Erziehungsmethoden gibt, können wir nicht nachweisen, ob sich diese Methoden im Lauf der Jahre verändert haben, und wenn ja, in welche Richtung.

Vor einigen Jahrzehnten besuchte John Goodlad über tausend Klassenzimmer in ganz Amerika, um herauszufinden, welche Art schulischer Erziehung die meisten amerikanischen Kinder genießen. Er erkannte, dass der Unterricht in der großen Mehrheit absolut traditionell ablief, faktenbasiert, lehrer- und nicht schülerzentriert – trotz der allgemeinen Behauptung, in den Schulen wüte ein pädagogischer Fortschrittswahn.17 7 Es wäre eine immense Herausforderung, eine so umfassende Studie über elterliche Erziehungspraktiken durchzuführen. Sie müsste eine lange Liste methodischer Probleme lösen, angefangen damit, wie Permissivität zu definieren sei und wie man elterliches Verhalten überhaupt beschreibe. (Wenn man Eltern und Kinder befragt, erhält man meist unterschiedliche Antworten, und interessanterweise stellt sich oft heraus, dass die Antwort des Kindes korrekter und relevanter ist.18) Aber soweit ich das überblicke, hat noch niemand eine solche Studie auch nur vorgeschlagen.

Auch zu dieser Erkenntnis bin ich erst nach ausführlichen Recherchen gelangt. Und dabei bin ich auf einige verführerische falsche Fährten gelockt worden. Nachdem ich einen Aufsatz publiziert hatte, in dem ich den Mangel an Forschungsstudien zu diesem Thema erwähnte, schrieb mir die Psychologin Jean Twenge, ich hätte unrecht. Sie machte mich auf zwei wissenschaftliche Zeitschriftenartikel eines Soziologen namens Duane Alwin aufmerksam, die ich mir sofort besorgte, nur um herauszufinden, dass der Begriff Permissivität oder auch nur eine Diskussion des Problems in beiden nicht vorkommt.19 Beide Artikel schwiegen sich zu dem Thema heutiger Kindererziehung vollkommen aus. Sie beschäftigten sich vor allem mit der Frage, welche Eigenschaften Eltern verschiedener Generationen sich für ihre Kinder wünschten. Alwin gelangt zu dem Schluss, dass Eltern heute ihre Kinder nicht so sehr zu gehorsamen Menschen erziehen wollen, sondern lieber zu Menschen, die selbstständig denken lernen. Es gibt keinen Anlass, zu glauben, dass diese Eltern ihre Kinder permissiver erziehen oder dass eine permissive Erziehung logischerweise zu einem solchen Ziel führen würde.