Über die Autorin
Nasrin Siege, geboren in Teheran/Iran, ist Autorin zahlreicher Jugendbücher und Sammlerin afrikanischer Märchen. Im Alter von neun Jahren zog sie mit ihren Eltern nach Deutschland, wo sie später Psychologie studierte und als Psychotherapeutin in einer Suchtklinik arbeitete. Mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern lebte sie viele Jahre in Sambia, Tansania. Von 2005 bis 2007 lebte sie mit ihrem Mann in Madagaskar und seit 2008 in Äthiopien. Neben dem Schreiben engagiert sich Nasrin Siege als Entwicklungshelferin in Kinderhilfsprojekten, die sie mit dem von ihr gegründeten Verein HILFE FÜR AFRIKA e.V. finanziell und mit Beratung unterstützt. Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihr bereits mehrere Kinderbücher u.a. Sombo, das Mädchen vom Fluss und Wie der Fluss in meinem Dorf (ausgezeichnet mit dem Preis der Ausländerbeauftragten des Berliner Senats). 2006 erhielt Nasrin Siege den Two Wings Award (Österreich) für ihre Arbeit in Kinderhilfsprojekten in Afrika.
Mehr zur Autorin: www.nasrin-siege.com
Mehr zum Verein „Hilfe für Afrika e.V.“: www.hilfefuerafrika.de
Impressum
Ebenfalls lieferbar: »Juma. Ein Straßenkind aus Tansania« im Unterricht
in der Reihe Lesen – Verstehen – Lernen
ISBN 978-3-407-62685-1
Beltz Medien-Service, Postfach 10 05 65, 69445 Weinheim
Kostenloser Download: www.beltz.de/lehrer
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-78301-1)
www.beltz.de
© 1998 Beltz & Gelberg
© 2015 Gulliver
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Susanne Härtel
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Max Bartholl
unter Verwendung eines Fotos aus dem Archiv der Autorin,
das einen Schüler aus Dar es Salaam zeigt
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74575-0
Für meinen Vater
1
Ich schaue auf meine nackten Füße und muss an Mutter denken und was sie damals zu mir gesagt hat: »Wenn ich die Tomaten geerntet habe, verkaufe ich sie auf dem Markt, und von dem Geld besorge ich dir dann neue Schuhe.«
»Mir auch!«, hat Abdallah da gerufen, und Mutter hob ihn vom Boden auf und drückte ihn an sich.
»Du bekommst auch etwas Schönes«, hat sie ihm versprochen.
Abdallah ist häufig krank. Einmal musste Mutter mit ihm ganz lange im Hospital bleiben. Da habe ich bei Großmutter gewohnt, und sie hat für mich gesorgt. »Abdallah hat eine schwache Lunge«, hat der Doktor damals zu Mutter gesagt. »Er braucht gutes Essen und viel Ruhe.«
»Gutes Essen kostet Geld«, hat Mutter geantwortet, und dann hat sie bei einigen Wazungu-Familien um Arbeit gefragt, aber niemand von den reichen Weißen wollte sie haben.
Schließlich pflanzte Mutter Mais an auf einem länglichen Feld am Rande der Straße, die zu unserem Haus führt.
Das war im letzten Jahr, und alle haben gestaunt, als unsere Ernte zwei große Säcke füllte.
So hatten wir etwas Maismehl für uns, und einen Teil davon verkaufte Mutter auf dem Markt. Von dem Erlös gab es Fleisch für uns und zwei Hühner, Seife und Tomatensämlinge, die Mutter weiter unten auf dem Feld anpflanzte.
Ich weiß auch noch, dass Vater sich mit Mutter gestritten hat. Er wollte ihr Geld haben. Doch Mutter hat es ihm nicht gegeben. Am Abend nach dem Streit war Vater betrunken nach Hause gekommen und hat Mutter geschlagen, mehr als je zuvor. Abdallah hat geschrien, und auch ich hatte Angst. Seitdem mag ich Vater nicht mehr. Ich weiß gar nicht, ob ich ihn je gemocht habe. Vielleicht ganz früher, als er noch nicht getrunken hat. Damals hat er mit mir gespielt, wenn er von der Arbeit kam. Aber das ist schon viele Jahre her.
Früher hat es nicht so viel Streit bei uns gegeben. Doch wann hat das Früher aufgehört? Ich glaube, lange bevor das Jetzt angefangen hat.
Die Tomaten in Mutters Feld sind reif, doch sie wird sie nicht ernten. Mutter lebt nicht mehr. Nie wieder wird sie mich an sich drücken, mir übers Haar streichen, mich anlächeln und mit mir schimpfen.
Immer wieder stelle ich mir vor, dass ich das alles nur träume und Mutter plötzlich vor mir steht. Aber dann denke ich an gestern und wie ich aufgewacht bin.
Die Sonne war längst aufgegangen, und ein Sonnenstrahl fiel durch die Ritze in der Wand direkt auf mein Auge. Mutter hatte mich nicht geweckt, und ich ärgerte mich über sie. Nun komme ich zu spät in die Schule, dachte ich, und der Lehrer wird mich bestrafen.
Ich ging zu Mutters Lager hinüber, schubste sie leicht an und rief: »Wach endlich auf!« Sie hatte die Augen geschlossen und bewegte sich nicht.
»Ich hab Hunger«, quengelte Abdallah. »Ich will Tee!«
Irgendetwas in Mutters Gesicht war seltsam. Sie sah so ganz anders aus. Als ob sie ganz weit weg wäre in einem wunderschönen Traum. Ich berührte ihre Wange, und plötzlich wusste ich, dass sie tot ist.
»Ich hab Hunger«, weinte mein kleiner Bruder. »Warum steht Mutter nicht auf?«
»Weil sie nicht mehr lebt«, flüsterte ich und legte den Arm um seine schmalen Schultern.
Die Nachbarinnen kamen herbeigelaufen, und bald war unsere kleine Hütte voll von Menschen. Irgendjemand schickte nach Vater in der Düngemittelfabrik, die nicht weit von unserem Haus entfernt ist. Manchmal, wenn der Wind in unsere Richtung weht, trägt er den Gestank aus der Fabrik zu uns herüber. Als ich klein war, wurde mir davon immer schlecht.
»Sie war doch noch so jung«, schluchzte Großmutter. »Wieso musste sie sterben?«
Während die Frauen Mutter wuschen, musste ich draußen warten. Später durfte ich sie noch einmal ansehen. Die Frauen hatten Mutter ihr bestes Kleid angezogen, das mit den kleinen blauen Blumen, und sie sah aus, als schliefe sie.
Ich hörte, wie eine Nachbarin sagte, Mutter habe sich bei ihr schon lange einmal über Herzschmerzen beklagt.
»Aber daran muss man doch nicht sterben«, meinte Mama Fatuma. »Sie ist doch noch so jung und kräftig gewesen, und sie hat gearbeitet wie zwei von uns zusammen! Ich glaube, der böse Zauber eines Mchawi hat sie getötet.«
»Und wer ist dieser Mchawi?«, fragte Großmutter.
»Er ist so stark, dass wir ihn nicht erkennen können«, antwortete Mama Fatuma. »Jemand, der sich vielleicht unter uns befindet.«
Daraufhin schaute ich mir alle Gesichter an und versuchte in ihnen zu lesen, ob sie wirklich trauerten oder ob sich vielleicht eine Hexe unter ihnen befand, die schuld an Mutters Tod war.
»Hört auf mit dem Blödsinn!«, sagte die alte Mama Maharage ganz laut und legte dabei ihre Hand auf meinen Kopf. »Gott hat sie zu sich geholt. Sie hat jetzt ihren Frieden gefunden.«
Aber warum sollte Gott sie bei sich haben wollen? Abdallah ist doch noch so klein, und auch ich weiß nicht, was ich ohne Mutter machen soll. Konnte Gott nicht jemanden zu sich rufen, der schon alt war? Warum ausgerechnet unsere Mutter?
Ich habe dann noch lange neben Mutter gesessen und sie angeschaut. Sie sah so hübsch aus wie lange nicht mehr und irgendwie noch ganz lebendig. Manchmal habe ich gedacht, dass sie gleich die Augen aufmacht und mich anlächelt.
Als der Imam dann in unsere Hütte kam, schoben die Frauen mich zur Seite. Der Geistliche las aus dem Koran vor und betete.
Da begriff ich endlich, dass Mutter wirklich tot ist, und dann kamen die Tränen.
Danach machten sich die Männer auf den Weg zum Friedhof, und ich durfte mit. Großmutter musste in der Hütte bleiben, denn Frauen dürfen bei der Beerdigung nicht dabei sein.
Mutters Holzsarg wurde in ein weißes Tuch gewickelt, und vier Männer trugen ihn auf den Schultern. Unterwegs habe ich mit den Männern gesungen. Als wir zurückkamen, hatten die Frauen Maisbrei mit Bohnen gekocht.
Nun liegt Mutter in der Erde, und ich werde sie nie wieder sehen!
Wie es für sie wohl ist, dass sie jetzt tot ist? Ist sie eigentlich ganz weg, oder bleibt noch etwas von ihr da?
Großmutter meint, dass ihre Seele unsichtbar ist und uns Kinder begleitet. Ich glaube, ich spüre ihre Seele, und ich spreche in Gedanken mit ihr.
Großmutter und die Nachbarinnen sitzen auf einem Bastteppich vor unserer Hütte. Die Frauen schweigen, und wenn sie sich unterhalten, dann flüstern sie. Plötzlich fängt Großmutter an zu weinen, und mit lauter, klagender Stimme beschreibt sie, wie jung und schön Mutter ausgesehen hat, und ruft sie bei ihrem Namen.
Ich sitze etwas abseits bei den Männern und sehe, dass auch Vater weint. Abdallah drückt sich ängstlich an mich. Er ist noch klein und dürfte daher auch bei den Frauen sitzen, doch obwohl Großmutter ihn immer wieder zu sich winkt, bleibt er bei mir. Er fängt sofort an zu weinen, wenn ich nur kurz mal Weggehen will. Mein kleiner Bruder begreift nicht, was passiert ist. Immer wieder fragt er nach Mutter. Als ich ihm erklären will, was Totsein bedeutet und warum sie nicht mehr da ist, muss ich weinen.
Obwohl ich traurig bin, bin ich auch irgendwie stolz, dass ich zu den Männern gehöre. So wie sie trage ich ein Kanzu, das lange weiße Gewand der Moslems, und auf dem Kopf einen Fez. Ich bin ja auch schon zehn und gehe in die dritte Klasse. Mein kleiner Bruder ist erst drei Jahre alt.
Die Begräbnisfeierlichkeiten ziehen sich eine ganze Woche lang hin. Während dieser Zeit bleibe ich zu Hause, versäume die Schule, und auch Vater geht nicht in die Fabrik.
Ein Nachbar bringt uns einen halben Sack Maismehl, und Vater schlachtet am dritten Tag nach der Beerdigung unsere einzige Ziege. Denn dann kommt noch einmal der Imam und liest uns aus dem Koran vor, und danach gibt es etwas Besonderes zu essen.
Immer wieder reden die Leute über Mutter und fragen sich, woran sie wohl gestorben ist. Ich begreife nicht alles, was sie sagen, verstehe nur, dass sie vielleicht an einer neuen Krankheit gestorben ist, die böse Kräfte verursacht haben. Also doch ein Mchawi!
Vater weint und sagt, dass er nicht weiß, was er mit uns machen soll. »Ich kann mich nicht um die Kinder kümmern. Ich muss doch jeden Tag zur Arbeit und manchmal auch nachts!«
»Sie können bei mir wohnen«, meint Großmutter. »Ich bin zwar alt und schwach, und zu essen habe ich auch nicht viel. Aber ich nehme sie bei mir auf!«
Vater nickt. Ich glaube, er ist froh. Nun kann er beruhigt in die Fabrik gehen, und er braucht sich nicht um uns zu sorgen.
Wegen mir brauchst du dir keine Gedanken zu machen, will ich ihm am liebsten sagen. Ich komme schon allein zurecht. Aber ich halte lieber den Mund, weil Vater das von mir bestimmt gar nicht hören will. Vielleicht wird er sogar böse und schlägt mich. Wie neulich nachts, als Mutter noch lebte und er betrunken nach Hause kam.
»Ich hab Hunger«, hat er gelallt und ist zu Mutters Schlaflager gewankt.
»Ich hab nichts mehr«, hat sie geantwortet. »Warum kommst du auch so spät?«
Da hat er sie geschlagen und danach auch mich, weil ich dazwischengegangen bin.
2
Ich lebe in Tanga, das ist eine Stadt am Indischen Ozean. Mein Lehrer hat uns erzählt, dass wir früher eine deutsche Kolonie waren und unser Land damals den Namen Deutsch-Ostafrika hatte. Als diese Zeit vorbei war, bekamen wir den Namen Tanganyika, und seit der Vereinigung mit Sansibar heißt mein Land Tansania.
Auf dem Weg zur Schule laufe ich immer ein Stück am alten Hafen entlang. Nach der Trauerwoche hat Großmutter uns zu sich in ihr Zimmer genommen, wo sie zur Untermiete wohnt. Es liegt ganz am Ende der Altstadt, etwas weiter weg vom Meer als Vaters Haus. Es ist klein und eng hier, und Abdallah und ich müssen uns eine Schlafmatte teilen.
»Früher habe ich mit eurem Großvater und den Kindern in Lushoto gelebt«, erzählt Großmutter. »Wir hatten dort eine kleine Shamba, ein Feld, auf dem wir unseren Mais und anderes Gemüse anpflanzten. Wir hatten Ziegen und Hühner, und obwohl wir nicht reich waren, hatten wir immer genug zu essen.« Dann ist zuerst Großvater nach Tanga gegangen, und nachdem er Arbeit auf dem Fischmarkt gefunden hatte, ließ er die übrige Familie nachkommen.
»Aber das Leben in der Stadt ist hart«, seufzt Großmutter und erzählt weiter: »Großvater lebt nun schon lange nicht mehr, und unsere Söhne sind im ganzen Land verstreut. Meine einzige Tochter ist gestorben, und jetzt habe ich nur noch euch, meine beiden kleinen Enkelkinder.«
Großmutter arbeitet an manchen Tagen bei einer reichen indischen Familie als Küchenhilfe. Sie ist dann meistens bis spät abends weg, und wenn sie nach Hause kommt, ist sie sehr müde. Manchmal bringt sie uns aber Essen mit, Reste, die »ihre Leute« ihr gegeben haben. Das ist dann immer wie ein Festschmaus für uns, auch wenn manchmal das Essen zu scharf gewürzt ist. An vielen Abenden gehen wir jedoch hungrig und mit knurrendem Magen ins Bett.
In dem Haus, in dem Großmutter ihr Zimmer hat, wohnen noch viele andere Leute, aber sie sind nicht verwandt miteinander. Manchmal streiten sie sich, doch meistens sitzen die Frauen zusammen, frisieren sich gegenseitig und erzählen sich alles Mögliche.
Eine von ihnen ist eine Medizinfrau. Diese Mganga kennt sich gut aus mit Heilkräutern und Sheitani, das sind Dämonen, und oft kommen kranke Menschen zu ihr, denen sie hilft.
Auch sie sagt, dass Mutter von einem bösen Mchawi getötet worden ist.
»Wie kann ein junger und gesunder Mensch denn sonst so plötzlich sterben?«, fragt sie, und alle pflichten ihr bei.
Großmutter hat Vater nie leiden können. Bald nach der Hochzeit ist Mutter nach einem bösen Streit mit Vater zu Großmutter geflüchtet. Vater ist ihr gefolgt, weil er sie zurückhaben wollte. »Sie bleibt bei mir«, hat Großmutter zu ihm gesagt. »Denn du hast sie geschlagen!«
Vater hat Mutter und Großmutter dann um Verzeihung gebeten und versprochen, dass er Mutter von nun an gut behandeln würde.
»Er hat bei dem Propheten Mohammed geschworen, sich zu bessern, und ich habe ihm nachgegeben«, klagt Großmutter. »Das war ein Fehler. Jetzt ist sie tot, und er ist schuld!«
»Aber alle sagen, dass ein Mchawi sie getötet hat«, versuche ich sie zu beruhigen.
»In jedem Menschen steckt ein Mchawi. Er hat sein Versprechen nicht gehalten und sie schlecht behandelt. Er hat sich herumgetrieben, getrunken und sie immer wieder geschlagen. Und ich bin schuld, weil ich es zugelassen habe, dass sie zu ihm zurückkehrt!«
»Bist du dann auch ein Mchawi?«, frage ich.
»Er ist schuld und ich bin schuld!«, sagt Großmutter und weint.
Ich bin traurig und zornig. Meine Mutter ist tot, und alle sagen, dass Vater schuld an ihrem Tod ist. Ich muss immer daran denken, wie er sie geschlagen hat. Ich möchte Vater nie wieder sehen!
Während der ersten Zeit hier bei Großmutter gehe ich weiter in meine alte Schule. Lehrer Shabani hat gesagt, dass ihm das mit Mutter Leid tut, und er hat mir über den Kopf gestreichelt.
Tagsüber ist Abdallah meistens allein, weil Großmutter ja arbeiten geht. Eine Nachbarin passt auf ihn auf, und manchmal gibt sie ihm auch etwas zu essen. Eigentlich müsste er zufrieden sein und mich ohne Geschrei zur Schule gehen lassen. Aber das tut er nicht. Jeden Morgen muss ich mich heimlich davonstehlen, denn sobald er mitbekommt, dass ich ohne ihn fortgehe, fängt er an zu weinen.
Meine Schuhe fallen bald auseinander, und meine einzige Schuluniformhose hat hinten ein großes Loch, das nicht mehr zu flicken ist. Als Husseini mich deswegen aufzieht, prügele ich mich mit ihm. Dabei reißt die Hose noch mehr auf, und alle Kinder lachen mich aus.
Großmutter sagt, dass sie kein Geld für eine neue Hose und Schuhe hat, also gehe ich nicht mehr in die Schule. Das Gute daran ist, dass Abdallah sich nun jeden Tag freut, wenn ich ihn an die Hand nehme und mit ihm zum Markt laufe. Dort suchen wir uns Obst und Gemüse zusammen, das schon alt ist und nicht mehr verkauft wird. Ich kenne alle Standbesitzer und Verkäufer.
Hier lerne ich Akbar kennen. Er ist etwa so alt wie ich und geht auch nicht in die Schule. Akbar hat keine Eltern. »Ich bin schon lange von zu Hause weg!«, prahlt er. »Meinen Vater kenne ich nicht, und meine Mutter ist bald nach meiner Geburt gestorben.«
Nach und nach erzählt er mir seine Geschichte: »Zuerst hat sich meine Großmutter um mich gekümmert. Sie war noch jung und hatte gerade selbst ein Baby bekommen, und mit ihm habe ich mir ihre Milch geteilt. Aber dann ist sie gestorben und auch ihr Baby. Weil ich aber noch gelebt habe, musste ich ja irgendwohin. Da haben sie mich der kleinen Schwester meiner Mutter gegeben, meiner Mama Ndogo. Aber der war ich nur lästig, und bei ihr habe ich immer Hunger gehabt. Weißt du eigentlich, wie das ist, wenn man richtig satt ist? Ich war das nur einmal, aber das hat nicht lange gedauert, weil ich bald wieder Hunger hatte.«
»Als meine Mutter noch lebte, da war ich oft satt.«
»Ich brauche niemanden, auch keine Mutter! Ich habe mich! Ich sorge für mich selbst!«
Akbar lebt auf dem Markt. In der Nacht schläft er auf seinem geheimen Schlafplatz, den niemand kennt und den er auch mir nicht verraten will.
Oft treffe ich auf dem Markt den alten Hamisi, der am Stand von seinem Freund Ali sitzt. Mzee Ffamisi ist bestimmt schon hundert Jahre alt. Er sagt, dass er früher bei der deutschen Eisenbahn gearbeitet hat. »Ich habe sogar die Sprache der Deutschen sprechen gelernt, weil ich die deutsche Schule besuchen durfte!«, erzählte er mir einmal. Mzee Hamisi winkt mich immer zu sich her und steckt mir manchmal etwas Obst und Gemüse zu. »Das ist schlecht, dass du nicht mehr zur Schule gehst«, sagt er dann.
Einmal entdecke ich meinen Lehrer, der gerade Fisch kauft. Ich verstecke mich hinter einem Kartoffelstand. Er soll mich nicht sehen.
Großmutter freut sich jedes Mal über die mitgebrachten Lebensmittel. »Früher«, sagt sie oft und seufzt, »da ging es uns nicht so schlecht. Warum ist das Leben heute nur so hart?«
3