Liselotte Welskopf-Henrich
Der Bergführer
Erzählung
Palisander
eBook-Ausgabe
© 2015 by Palisander Verlag, Chemnitz
Erstmals erschienen 1954 im Mitteldeutschen Verlag, Leipzig
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Covergestaltung: Anja Elstner, unter Verwendung des Bildes »Dolomiten klettern« von Gustav Jahn
Lektorat: Palisander Verlag
Redaktion & Layout: Palisander Verlag
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
ISBN 978-3-957840-16-5 (e-pub)
www.palisander-verlag.de
Liselotte Welskopf-Henrich (1901 - 1979) war eine deutsche Schriftstellerin und Wissenschaftlerin. In den Jahren der Naziherrschaft war sie am antifaschistischen Widerstandskampf beteiligt. Ihre Erfahrungen aus der Weimarer Republik und dem »tausendjährigen Reich« verarbeitete sie in ihren Romanen »Zwei Freunde« und »Jan und Jutta«. 1951 erschien die Urfassung ihres Indianerromans »Die Söhne der Großen Bärin«, den sie später zu einem sechsteiligen Werk erweiterte. 1966 erschien »Nacht über der Prärie«, der weltweit erste Gesellschaftsroman über die Reservationsindianer im 20. Jahrhundert. In den folgenden Jahren, bis zu ihrem Tod, entwickelte sie diese Thematik in vier weiteren Bänden weiter. Darüber hinaus war sie seit 1960 Professorin für Alte Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität und seit 1962 Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Sowohl als Wissenschaftlerin als auch als Schriftstellerin fand sie internationale Anerkennung. Die Stammesgruppe der Oglala verlieh ihr für ihre tatkräftige Unterstützung des Freiheitskampfes der nordamerikanischen Indianer den Ehren-Stammesnamen Lakota-Tashina, »Schutzdecke der Lakota«.
Cover
Titel
Impressum
Über die Autorin
Vorbemerkung
Der Bergführer
Weitere Bücher
»Der Bergführer« wurde erstmals 1954 im Mitteldeutschen Verlag Leipzig veröffentlicht. Liselotte Welskopf-Henrich hatte die Handlung im Jahre 1939 angesiedelt, noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Die Protagonisten der Handlung, die aus Berlin und aus Südtirol stammen, lebten somit in der Zeit des deutschen und italienischen Faschismus, und entsprechend waren ihre Lebensumstände dargestellt.
Für die damalige Veröffentlichung wurde die Handlung jedoch ins Jahr 1950 verlegt, offenkundig aus politischen Gründen, und teilweise abgewandelt. Ob mit oder ohne Einverständnis der Autorin, ist nicht überliefert. Die Absicht hinter der Veränderung ist leicht zu erkennen: Westberlin, die Frontstadt im noch jungen Kalten Krieg, sollte in einem möglichst negativen Licht dargestellt werden. Hier konnte der ehemalige Nazi Ordemann seine Vorkriegskarriere unbehindert fortsetzen, hier war das Arbeitermädchen Lotte ohne jede Perspektive.
Die Verlagerung der Handlung in eine andere Epoche führte zu verschiedenen Unstimmigkeiten der Geschichte. Die Leserschaft honorierte dies nicht: »Der Bergführer« erlebte als einziges Werk der Autorin bis heute keinerlei Neuauflagen.
Die vorliegende Fassung des Werkes beruht auf dem Originalmanuskript Liselotte Welskopf-Henrichs, so daß diese fesselnde Erzählung aus der Zeit des »Tausendjährigen Reiches« der Öffentlichkeit erstmals in ihrer ursprünglichen Gestalt zugänglich gemacht werden kann.
Frank Elstner, Januar 2015
»Föhn …«, sagten die Menschen. »Das ist der Fallwind.«
Der Sturm kam aus Süden. An den Hängen der Alpen fiel seine Glut ins Tal. Die lichten Lärchenwälder im südlichen Tirol dürsteten. Die Wiesen verdorrten, wurden braun. Weißgrau lagerten die vom Wasser abgeschliffenen Steinblöcke in den Betten der Bergbäche. Schwächliche Rinnsale tickerten und klickerten zwischen dem Geröll zu Tal. Das Vieh schlug nach den Mücken. In den Menschen pulste das Blut unruhig. Sie arbeiteten ohne Lust und waren müde, ohne Schlaf zu finden. Lange verdeckte Feindschaften platzten auf wie die rissige Erde. Die Richter fällten mildere Urteile über Untaten, wenn sie in den Föhn-Nächten geschehen waren.
Die Felsengipfel verschwammen in flimmernder Hitze. Der Mittagsglast schien ihre Schwere aufzulösen. Ihre Konturen verwischten sich, und sie lagerten gleich sonnendurchleuchteten Silberwolken über grünen Tälern.
Die Häuser und Türme, das holprige Pflaster in den Straßen der Bergstadt nahmen Sonnenglut auf und strömten sie doppelt zurück. Im Schatten unter den steinernen Laubengängen stand unbewegt die schwüle Luft. Der Bahnhof lag leer und verlassen. Mißmutig kontrollierte der schwarzuniformierte Stationsvorsteher die Signale und begab sich langsam auf den Bahnsteig. Aus Süden ratterte der erwartete Personenzug heran. Schnaufend und zischend zerrte die alte Lokomotive die wenigen Wagen hinter sich her, pfiff durch die dumpfige Stille und hielt.
Der Zug war fast leer. Nur aus dem vordersten Wagen stiegen drei Personen aus. Eine alte Bäuerin schob einen verschnürten, mit schwerer Last gefüllten Korb auf das Trittbrett; sie stieg aus, bückte sich und nahm ihn auf den Rücken. Die Weidenruten, die als Tragriemen dienten, schnitten tief in ihre knochigen Schultern ein. Mit gesenktem Blick ging sie an dem Stationsvorsteher vorbei und gab ihre Fahrkarte an der Sperre ab. Sie schlug die Richtung zur Altstadt ein. Hinter ihr hallten der Tritt genagelter Schuhe und die leichteren Schritte eines Weinbergbesitzers und Bürgers von Bozen, der schwitzend seiner Schenke zustrebte.
Als die Bäuerin mit ihrer Last in die nächste Gasse einbog, sah sie auf dem Kopfsteinpflaster naturfarbene rindslederne Nagelschuhe neben sich auftauchen. Sie schaute mißtrauisch langsam von den Schuhen aufwärts über die schafwollenen Wadenstrümpfe zu den Knickerbockers und dem abgewetzten Rock aus hellem Cord und endlich zu dem braungebrannten mageren Gesicht unter einem hellen, hohen, schmalrandigen Filzhut.
»Grüaß …«, sagte der Mann.
»Grüaß … naa, der Tierser Karl?!«
»Ei ja.«
Der junge Mann lief weiter und ließ die Alte hinter sich zurück. Er hatte einen raumgreifenden, in den Knien federnden Schritt von gleichmäßiger Schnelligkeit. Die genagelten Sohlen schallten im Schreiten laut in den engen Gassen. Mit ausgestreckten Armen hätte der Mann rechts und links die gedrängt stehenden dunklen Häuserwände berühren können.
Auf einmal tat sich der Blick auf einen freien Platz auf. Karl, der Bergführer, mied diesen großen Platz mit den eleganten Restaurants, mit der großen alten Kirche, mit den Ansichtskarten- und Obstgeschäften. Über abgetretene Stufen ging er in eine dunkle kleine Gaststube, die von Stammgästen, zuweilen auch von Touristen aufgesucht wurde und deren Besitzer hin und wieder Führertouren vermittelten. Das bunte Glasfenster war geschlossen; die Luft im Raum, kühl und dennoch stickig, roch nach Wein. Karl war an diesem Tag der einzige Gast. Der dickbäuchige Wirt brachte ein Viertel Roten und ein Stück geräucherten Speck mit Brot. Das war der gewohnte Imbiß in Südtirol.
Karl aß und trank schweigend.
»Schlechtes Jahr heuer«, sagte der Wirt. Man schrieb 1939.
Der Bergführer nickte.
»Hascht auch keine Partien …?«
»Woll … doch …«
»Ah so?« Der Wirt wurde neugierig.
»Heut in der Fruah hab’ i’ die Guglia g’macht.«
»Was du net sagscht! Die Guglia di Brenta?«
»Ja.« Karl zog den großen ledernen Geldbeutel und zahlte seine kleine Zeche. Er dachte einen Augenblick an die kühn aufragende Felsnadel, das berühmte Ziel der Sportkletterer. Bei Sonnenaufgang hatte er sie mit einem Touristen am Seil bezwungen. Wenn er genau nachrechnete, war er diese Tour zum dreißigsten Male gegangen. Sie gehörte nicht zu seinem »Revier«, und die arbeitslosen ortsansässigen Bergführer von Madonna di Campiglio hatten ihm mit Bitterkeit nachgeschaut. Karl war vierundzwanzig Jahre alt, ein berühmter Kletterführer, der alle bekannten Touren seines Heimatlandes beherrschte und für sie alle zugelassen war. Während er seinen schlapp hängenden Rucksack wieder aufsetzte und das gleichmäßig in Schlingen gelegte Seil über die Schulter nahm, erinnerte er sich noch einmal mit Stirnrunzeln daran, daß er dem Touristen die Tour zu billig gelassen hatte. Für die Hälfte des tarifmäßigen Lohns! Herrgottsakra, es war ein schlechter Sommer. Nur wenige ausländische Touristen kamen, und selbst Karl Unteregger hatte nicht viel zu tun. Es sollte aber das letztemal gewesen sein, daß er seinen Lohn hatte drücken lassen.
Verschwitzt und müde, mit dem schweren Seil auf der Schulter und von dem Viertel Roten kaum erfrischt, lief der Bergführer weiter durch die alte Stadt. Noch immer saß die Kuppel des pastellblauen Himmels wie eine hitzeschwangere Glucke über dem schmachtenden Land, und der Wind wehte aus Süden. Die Stundenschläge der Turmuhr dröhnten durch die Stille. Karl Unteregger fuhr wieder ein Stück mit der Bahn und gewann dann die Landstraße nach Tiers. Nach der wochenlangen Trockenheit trug sie eine dicke Schicht Kalkstaub. Bei jedem Schritt stäubte er auf und legte sich auf die Schuhe. Der Fußgänger holte ein kleines Fuhrwerk ein, dessen Haflinger Pony langsam dahinzottelte. Der Föhn hatte auch dem Tier die Munterkeit genommen. Der Bergführer wechselte einen kurzen Gruß mit dem Fuhrmann, der zwei Fässer Wein ins Tierser Tal bringen sollte. Die Einheimischen kannten einander.
Karl Unteregger lief schneller als das unlustige Pferd. Der Fuhrmann hatte keine Eile. Karl aber mußte heute noch hinauf zur Kölner Hütte, denn für den kommenden Morgen war er dort bestellt. Überquerung der Vajolettürme … ein hoher Lohn – Tariflohn – … das durfte er sich nicht entgehen lassen. Die Moidl wartete auf den eigenen Hausstand, und Karl wollte das alte Haus mit den paar Wiesen oben am Berghang kaufen. Er wollte kaufen, aber die Lire stand schlecht, und Grund und Boden waren teuer.
Die Straße führte dem Bergwald und dem schluchtartigen Tal zu. Schon leuchteten die Wiesen unter den sinkenden Sonnenstrahlen in tieferem Grün, und Blütenblätter wurden durchsichtig mit ihren Adern und Zellen. Der Duft der Blumen und der Erde, den die Hitze gebannt hatte, strömte befreit durch die Lüfte, und Wald und Wiese mischten ihren Atem. Die harte Trennung von Himmel und Erde, die Grenzen der Farben und Formen lockerten sich unter den ersten Anzeichen der Dämmerung. Vom blaugrünen Wald webte die Luft einen kaum faßbaren flirrenden Schleier bis zu grünlich leuchtender Himmelsferne und den starr und hoch thronenden Felsschrofen.
Der Wald nahm den einsam Wandernden auf. Die Steigung begann, der gut trainierte Körper legte sich ein wenig nach vorn, um die günstigste Gewichtsverteilung herzustellen. Der Bach rauschte leise, die Wipfel neigten sich im warmen Wind. Karl Unteregger lief schnell, sein Herz klopfte. Droben auf der Kölner Hütte durfte ihm kein anderer Bergführer die Tour abjagen! Er mußte zur Stelle sein.
Im Wald fielen lange Schatten. Karl keuchte und lief. Er war jung und besaß Bärenkräfte; als dreijähriger Bub war er schon mit hinaufgegangen zur Berghütte. Aber heute hatte er sich viel vorgenommen: Vor Sonnenaufgang von Madonna di Campiglio den Weg zur Guglia, dann den gefährlichen Turm mit einem wahren Mehlsack von Touristen am Seil und für den halben Lohn, nach der Tour drei Stunden im Trab hinab ins Tal, die Bahnfahrt in der brütenden Hitze, jetzt aufwärts in das Felsgebiet des »Rosengarten«, das machte noch einmal einen Weg von vielen Stunden. Herzfehler hatten die Führer alle, es war eine Berufskrankheit.
Karl Unteregger kam durch sein stilles Heimatdorf. In den Gastwirtschaften an der Straße waren die Räume schon erleuchtet. Aus den Bauernhäusern klang das eintönige gemeinsam gemurmelte Abendgebet. Auf einer Bank an weißgekalkter Wand saß ein alter Mann und dengelte seine Sense. Die einzelnen Häuser lagen weit über die steilen Wiesenhänge verstreut. Das Bergheu duftete würzig. In den Ställen rührte sich das Vieh, Kuhglocken schlugen leise einen dunklen Ton. Ein Dorfköter kläffte, die Katzen begannen umherzuschleichen auf Mäusefang. Aus den roh gemauerten kleinen Schornsteinen quälte sich der Rauch heraus und schloß sich dann zögernd dem Luftzug des Föhnwinds an. Von den Viehweiden hoch am Berg war wiederum ein Stück abgebrochen. Der Unteregger sah es im Gehen. Oben bei der vom Felsgrund abgerutschten Wiese stand das baufällige kleine Haus, das er kaufen wollte. Die Kinder des Besitzers waren abgewandert; Bauer und Bäuerin lagen auf dem Kirchhof. Der Weinbergbesitzer, mit dem Karl von Trient nach Bozen im Personenzug gefahren war, hatte als entfernter Verwandter geerbt. Dieser dicke Mann verlangte einen Wucherpreis, aber anderes Land stand im Tierser Tal nicht zum Verkauf, und Karl wollte den Heimatort nicht verlassen, der zugleich sein Standplatz als Bergführer war. Weitere Wiesen bei dem alten Haus oben drohten abzubrechen. Das war ein unaufhaltsamer Prozeß in diesem Tal. Vor abertausenden von Jahren war das ganze Land bis in die höchsten Höhen voll grüner Auen und ein wahrer Blumengarten gewesen. Die alten Bergnamen wie »Ochsenweide«, »Rosengarten«, »Mühlenpaß« zeugten noch davon. Aber Hitze, Wasser, Kälte hatten ihre Zerstörungsarbeit getan, und wo einst das Rindvieh gebrüllt und Mühlen geklappert hatten, ragten heute nur noch unfruchtbare, bröckelnde, sterbende Felsen zum Himmel. Immer weiter brach die fruchtbare Erde ab, und das nackte Gerippe der Korallenbauten aus warmen Meeren der Urzeit kam wieder zutage. Vielleicht zahlte Karl Unteregger eines Tages und mußte erleben, daß er nicht ein Haus sondern einen Erdrutsch gekauft hatte.
Der Bergführer war in das Hochtal gelangt. Auf bewachsenem Boden und den in die Graswurzeln eingewachsenen Steinen waren selbst die Genagelten nicht mehr zu hören. Die Vögel waren schon verstummt. Nur der Bach murmelte ruhelos vor sich hin. Das Alpenglühen, letztes Wunder des Tages, lieh den verwitterten Felsen am Talschluß seinen Zauber. Eine das Auge überwältigende Hochzeit von Sonne und Stein feierte sich hoch über Hängen und Tal. Der Erde abgewandt, glühten die Berge und vermählten sich dem Scheine des Himmels, der in tausend Farbwundern spielte. Die Felsen-Rosen in »Zwergenkönig Laurins Rosengarten« erblühten vor der sinkenden Sonne in blutigem satten Rot. Das war ein böses Zeichen. Der Föhnwind brachte Sturm und Unwetter. Wenn das Wetter nur morgen noch hielt, nur morgen …
Den gehetzten Wanderer fröstelte, als der erste Schatten die schimmernden Gipfel erreichte. Unmerklich schlich das Dunkel höher, und die Herrlichkeit des Himmels und der Erde sank in seinen grauen Schleier. Ein Fels nach dem anderen nahm Abschied aus der Glut und wurde matt und grau wie Asche. Noch ein letztes Leben der Sonne, ein letzter, ein allerletzter Strahl über die höchsten Gipfel, dann war erloschen, was geglüht hatte.
Unversehens braute sich schon leichtes Gewölk zusammen, und einzelne Tropfen fielen wie Tränen über die Wunden der Berge, die von Winterkälte und Sommerglut zerfressen waren. Quellen sammelten den brechenden Stein und trugen ihn geduldig als kleine Kiesel abwärts, um ihn unter Gras und Blumen zu begraben und zwischen den Wurzeln schattiger Tannen. Oben aber sangen die erkaltenden Felsen im Abendwind ihre geheimnisvolle Melodie.
Karl machte einen kurzen Halt. Er ging in die Talkapelle, die immer offen stand, kniete sich auf die Betbank aus wurmstichigem Holz und murmelte ein Vaterunser. Vielleicht brauchte er am kommenden Tag einen Fürbitter. Einst, als Kind, hatte Karl sich vor dieser Kapelle gefürchtet, um die noch die vertriebenen heidnischen Geister spuken sollten. Wenn er den Weg machen mußte, war er immer wie ein Verfolgter gerannt. Jetzt hatte er keine Angst mehr vor Geistern, und heute konnte auch kein Tourist ungeduldig werden und spotten, wenn Karl um Schutz vor den unvorhersehbaren Zufällen am Berg betete.