Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2015
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Der Text ist 1988 erstmals im Wolf Jobst Siedler Verlag, Berlin, erschienen; das Nachwort wurde von Wolfgang Büscher eigens für die 2004 erschienene Neuausgabe verfasst
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ISBN Printausgabe 978-3-499-62295-3 (2. Auflage 2012)
ISBN E-Book 978-3-644-03871-4
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-03871-4
Für Nicolaus
Die Aufzeichnungen für dieses Buch entstanden im Verlauf mehrerer Jahre, in denen der Verfasser etappenweise den Süden Italiens bereiste. Den Beginn machte Sizilien, es folgten die Küsten des ionischen Meeres, dann Kalabrien, Neapel und schließlich Rom.
Diese Route, gleichsam vom Ende her, widerspricht dem herkömmlichen Weg. Aber manche Kenner des Landes geben ihr gerade deshalb den Vorzug. Denn sie vermeidet das unmerkliche Hinübergleiten in die Muster der Italienischen Reise, wie wir sie aus Dutzenden von Büchern und Berichten kennen. Eher als anderswo, schrieb Karl Philipp Moritz bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts, gewöhne man sich in Italien daran, «die Sachen bloß anzusehen und sie zum Zeitvertreib vor sich vorübergehn zu lassen, ohne Reflexionen darüber anzustellen».
Diesem Erlebnisschema, das nur noch ausgefahrene Spuren kennt, kann die Reise vom «afrikanischen Süden» her entgegenwirken. Auf zahllosen Notizzetteln haben sich während der zurückliegenden Jahre Eindrücke aller Art angesammelt, Gesehenes, Gehörtes und das Gedachte, das sich dazu einstellte. Zunächst war nur der Wunsch bestimmend, es festzuhalten. Dann trat die Absicht hinzu, ihm Ordnung und Zusammenhang zu geben. Vielleicht ist es wirklich so, daß nur das Aufgeschriebene uns gehört. Jedenfalls reist man neugieriger, sieht kritischer und vergewissert sich umfassender unter dem Druck zu schriftlicher Rechenschaft. Das Schreiben steigert das Erleben.
Der Entschluß zu diesen Aufzeichnungen hat aber noch einen weiteren Grund. Wie alle Länder, zumindest des europäischen Kontinents, ist Italien in einem Wandel begriffen, der seine Traditionen, die gewachsenen Lebensformen und auch das äußere Bild des Landes erfaßt. Die schon im 19. Jahrhundert umgehende Besorgnis, daß kommende Generationen den vertrauten Zustand der Welt nicht mehr vorfinden würden, beginnt wahr zu werden. Sizilien beispielsweise hat sich in wenigen Jahren von Grund auf verändert. Zum ersten Mal seit Generationen sind nicht nur die sozialen Verhältnisse sowie die lähmende Mischung aus Stolz, Armut und Fatalismus auf der Insel in Bewegung gekommen. Vielmehr hat sie auch den einstigen Charakter der tragischen Landschaft, der die Beschreibungen bei Verga und auch noch bei Lampedusa beherrscht, streckenweise zumindest, verloren.
Unbestreitbar ist dieser Wandel mit zivilisatorischem Gewinn verbunden. Aber die Einbußen sind auch unübersehbar. Eines der Motive dieses Tagebuchs ist es, das noch Bestehende festzuhalten, ehe es für immer aus unserem Blick verschwindet. Denn die Vielgestaltigkeit, das an jedem Ort andersartige Bild der Welt samt dem unverwechselbaren Profil der Menschen, waren lange einer der Beweggründe, fremde Länder aufzusuchen. Das Reisen, heißt es in einer Eintragung, verändere angesichts der stürmischen Prozesse überall in der Welt seinen Charakter. Es beziehe seinen Reiz weniger, wie eigentlich immer bisher, aus der Entdeckung neuer Räume. Vielmehr habe es nun seine Fluchtpunkte in der Zeit und suche Bilder in der Erinnerung zu verankern, die einmal waren, irgendwo vielleicht noch sind und jetzt von der alles einebnenden Weltzivilisation weggeräumt werden.
Diese Verluste, die der kaum vermeidbare Preis der Gegenwart sind, wiegen überall schwer. Stärker als anderswo werden sie aber in Italien spürbar. Solange man zurückdenken kann, hat das Land eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausgeübt, und spätestens seit den Zeiten der Kavalierstour und den Bildungsreisen hat die Europäer, woher sie auch kamen, ein tiefes Herkunftsgefühl mit Italien verbunden: das Bewußtsein, die prägenden Bilder und Begriffe, die Kategorien der Wissenschaft, der Kunst und des geregelten Zusammenlebens von dort zu haben.
Dieser Gedanke hat seine Wirkungen früh entfaltet und nie verloren. Als das beherrschende Motiv so vieler Aufbrüche in den Süden standen am Anfang Glanz und fortdauernde Legitimität des untergegangenen Römischen Reiches, dann die Heilsversprechen der Kirche. Während diese Beweggründe weiter wirkten, entwickelte Italien sich, in der Renaissance, zum reichsten, kultiviertesten und respektlosesten Land Europas, später zum Maßstab der Bildung, des Geschmacks und der urbanen Umgangsformen, und immer zog es mit alledem die Menschen an. Schließlich wurde es, in einer Zeit von Ohnmacht und Niedergang, zu einer poetischen Fiktion, jenem europäischen Mythos eines Landes von Marmor, Zitronen und südlicher Unschuld, der noch immer in vielen Köpfen nachwirkt. Wenn die Epochen, wie Walter Benjamin bemerkt hat, eine dem Träumen zugewandte Seite haben, dann war es im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert Italien, das die Phantasie der Träumenden mehr als jede andere Weltgegend gefangennahm.
Mitunter drängt sich aber der Eindruck auf, die wechselnden Begründungen der Italiensehnsucht seien nur vorgeschoben und verdeckten ein elementareres Verlangen, das mit der freieren mediterranen Lebensform mehr als mit anderem zu tun hat. So, als seien die vielbeschworenen Beglückungen Italiens vor allem im leichteren Dasein gesucht und gefunden worden. Nicht wenige verbinden mit dem Land bis heute solche Erwartungen.
Die Sache ist wohl die, daß der Individualismus der Italiener, ihr Wirklichkeitssinn, ihr Beharren auf dem Eigenen dazu geführt haben, daß man in diesem Teil Europas auch jetzt noch weniger von dem antrifft, was überall ist. Weniger Reglementierung, weniger Disziplin und weniger Langeweile. Dafür mehr Häßlichkeit und Unordnung. Wenn die Reisenden aus früherer Zeit, neben den naturgegebenen Vorzügen und dem Bilderpalast, der Italien für sie war, nicht selten halb mit Bewunderung, halb mit Entsetzen auf die Verkommenheit des Landes deuteten, auf Verwahrlosung und moralische Korruption, sehen die Reisenden von heute, mit ähnlich fassungslosem Befremden, auf die Rückständigkeiten und tausend Anarchismen Italiens, seine oft chaotischen, für einen modernen Industriestaat schwer begreiflichen Zustände. Und ebenso macht es ihnen Mühe, die Erfolge des Landes auf so vielen Gebieten mit seiner unzureichenden Organisation zusammenzureimen, seinem Mangel an Effizienz sowie seiner Kunst der Krisenbewältigung, die oft nicht viel mehr als Illusionstheater ist.
Dennoch fahren jedes Jahr mehr und mehr Menschen nach Italien. Dafür gibt es die vielen touristischen Gründe. Aber nicht wenige reisen nach wie vor in dem oft uneingestandenen Verlangen dorthin, gerade jener perfektionistisch geordneten Welt ihres Zuhauses zu entkommen, all dem, was man früher die «fatigues du nord» nannte, also der Schwere und Farblosigkeit des Lebens im Norden, und was inzwischen als die «fatigues» einer ganzen Epoche zu erkennen ist. Nach außen scheint Italien von den Verheerungen der Gegenwart vielfach schwerer betroffen als andere Länder. Aber wie durch ein Wunder, vielleicht auch durch Verdienst, hat es sich im Wesen erfolgreicher dagegen behauptet.
Womöglich zeigt sich darin, unter veränderten Umständen, etwas von jener Beispielhaftigkeit, die das Land lange besaß. Im ganzen befindet es sich in den gleichen Entwicklungsbrüchen wie seine Nachbarn auch. Aber es begegnet ihnen mit größerer Gelassenheit, weil es durch Geschichte und Erfahrung gelernt hat, damit zurechtzukommen. Nach wie vor ist die Suggestion, die von ihm ausgeht, stark genug, um unsere Denkgewohnheiten und Vorurteile, aber auch die Beunruhigungen zu relativieren, denen wir im Blick auf Gegenwart und Zukunft soviel leichter erliegen.
Mehr als anderswo jedenfalls, schien mir häufig, kann der Reisende in Italien, neben den Belehrungen über das gemeinsame Herkommen, die Kunst und vieles andere, Einsichten über sich selber gewinnen. Daher ist in diesem Buch oft von Dingen die Rede, die weniger mit Italien als mit den heimischen Verhältnissen zu tun haben und die vom Blick auf das Fremde nur hervorgerufen wurden. Denn man nimmt sich überall hin mit, das Andere treibt das Eigene hervor. Man unternehme solche Reisen nicht zuletzt, schrieb Goethe aus Italien, um sich selber an den Gegenständen kennen zu lernen.
Neben so vielen, ins Allgemeine reichenden Gründen gibt es für solche Aufzeichnungen immer auch persönliche Motive. Zuerst und zuletzt habe ich sie mir und einigen Freunden zum Vergnügen geschrieben sowie allen denen zur Erinnerung, mit denen mich dieses Vorhaben zusammenführte und denen es das meiste verdankt.