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Im Koran heißt es, dass Allah die Dschinn aus rauchlosem Feuer geschaffen hat. Das wusste jeder. Manche ehrten die Dschinn, andere fürchteten sie, aber alle respektierten sie und zitterten vor ihrer Macht. Und diejenigen, die mit ihnen kommunizierten, wurden von manchen geschnitten, von manchen verehrt und von den meisten gefürchtet.
Am nächsten Tag trafen sich die Eltern und die Stammesältesten der Jungen und statteten Umm Mamduh einen Besuch ab. Im Haus der Familie Baraka wurden sie willkommen geheißen. Die Frauen wurden hereingebeten, wo sie sich auf den Teppich setzten, während die Männer sich in den Hof begaben. Dort servierte Mamduh ihnen Tee und Datteln und bot ihnen arghilahs an, die schon mit Tabak und Rosenwasser und Zitrone befüllt waren. Die Familie hatte die Gäste bereits erwartet. Sulayman hatte sich gezeigt, um ihre Mutter zu beschützen, und da das Familiengeheimnis nun bekannt war, ging Mamduh davon aus, dass das ganze Dorf kommen würde. Darum hatte er sich einige arghilahs von seinem Mentor, dem Imker, ausgeliehen, der dieser Bitte gerne nachgekommen war – er nahm an, die Pfeifen seien für Nazmiyyas Heiratsbewerber.
In der winzigen Behausung betrachtete die kleine Mariam die Gäste misstrauisch. Nazmiyya servierte den Frauen süßen Pfefferminztee. An ihrem Schleier hingen billige Münzen, die unablässig klimperten, wenn sie den Kopf drehte, und unter dem Schleier ringelten sich ganz dreist ihre kupferfarbenen Locken hervor, sodass alle Welt sie sehen konnte. Nazmiyya bewegte sich langsam; sie wusste, dass die Frauen sie beobachteten. Sie trug ihre grüne und orangefarbene dishdasha, unter der sich ihre üppigen Brüste, ihre unverschämt großen Pobacken, ihre Schenkel und ihre schmale Taille abzeichneten. Nazmiyya hatte die Gabe, jeden Raum, den sie betrat, sofort auszufüllen, ganz so, als würde sie alle Luft in sich aufsaugen. »Willkommen in unserem bescheidenen Heim, meine Damen«, sagte sie mit einem Lächeln, das den anderen im Raum endlich erlaubte, frei zu atmen. »Ihr Besuch ist uns eine Ehre.«
»Die Ehre liegt ganz bei uns, schöne junge Dame«, erwiderten sie im Chor.
Nazmiyya war nicht schön, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Aber für alle, die sie sahen und mit ihrem Stolz und ihrer Respektlosigkeit in Berührung kamen, war sie unwiderstehlich. Sie hatte walnussfarbene Haut und nicht das geringste Interesse daran, sie aufzuhellen. Und sie machte keinen Versuch, ihre Locken wenigstens zu bestimmten Anlässen zu glätten, indem sie sie aufrollte, lang zog oder bügelte. Stattdessen ließ sie ihr Haar, wie es war, wild und arrogant. Was immer die Leute von ihr hielten, Nazmiyya war schwer zu übersehen. Und tatsächlich hatten viele in Beit Daras erotische Träume von ihr.
Die Frauen von Beit Daras waren mit Geschenken gekommen: Obst und Gemüse, Olivenöl, Honig und Süßigkeiten. Sie entschuldigten sich im Namen ihrer Kinder und versicherten Umm Mamduh – die sie respektvoll als Haja Umm Mamduh ansprachen –, dass jeder Junge eine Tracht Prügel bekommen habe und sich noch persönlich entschuldigen werde, falls sie es erlaubte.
Haja Umm Mamduh saß still da und redete nur, wenn sie direkt angesprochen wurde. Sie erklärte den Frauen, dass nur Allah vergeben könne und dass sie selbst den Jungen schon lange verziehen habe. Ungesagt blieb, was alle wussten: dass es Sulaymans Vergebung war, um die ersucht und die gewährt wurde.
Erst nach einigen Stunden erzählte eine der Frauen von dem Schicksal des stumm gewordenen Jungen namens Atiyah.
»Bringt Atiyah zu mir«, sagte die Haja. »Ich werde ihm helfen.«
Als Atiyah den Raum betrat, starrte Nazmiyya ihn so empört und hasserfüllt an, dass er einen Moment stehen blieb, in seinen Grundfesten erschüttert. Er war gerade fünfzehn geworden, wirkte aber viel jünger, und Nazmiyya war schon siebzehn und wirkte dabei viel älter. Glühende Scham machte sich in Atiyahs Körper breit und vermischte sich tief in seiner Seele mit dem Bild von Nazmiyyas orangefarbener und grüner dishdasha, die sich an den Brüsten und Hüften über ihren Körper spannte. Seine Rippen pressten sich vor Verlegenheit und – wie ihm schien – vor Verliebtheit gegen sein Herz. Obwohl er wusste, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren, spürte er, wie sein Geschlecht hart wurde. Schnell kniete er sich vor Umm Mamduh hin und küsste ihr die Hand, um seine missliche Lage zu verbergen. Aber er konnte noch immer nicht sprechen. Die Haja nahm seinen Kopf in die Hände, zog ihn zu sich hin und stieß unverständliche Worte aus. Ihre Augen rollten in ihren Höhlen herum, und ihr saurer Atem erfüllte den Raum. Plötzlich hielt sie inne, ihre Augen blickten wieder klar. Der Junge stand auf und wirkte größer als je zuvor, ganz so, als hätte er die endgültige Schwelle zum Mann überschritten. Er warf Nazmiyya einen Blick zu, der ihr Starren zähmte und ihr bedeutete, dass er stärker war als sie. Von den Umstehenden bemerkte keiner diesen Blickkontakt, obwohl er für die beiden eine Ewigkeit zu dauern schien. Dann verließ Atiyah den Raum, als wäre nichts geschehen. Das allein war der Beweis dafür, dass Umm Mamduh, die seltsame Frau aus Masriyyin, die keinen Mann, dafür aber drei Kinder hatte, die ihre Notdurft einmal im Fluss verrichtet hatte und gern auf der Weide schlief, eine gesegnete Asyad war, eine der begnadeten Sterblichen, die mit den Dschinn aus einer anderen Welt kommunizieren konnten.
In Beit Daras und den umliegenden Dörfern verbreiteten sich Neuigkeiten schnell, und bald kamen die Leute in Scharen zu Umm Mamduhs Häuschen. Viele waren neugierig auf die Welt des Unsichtbaren. Gibt es noch andere Dschinn in Beit Daras? Wollen die Dschinn ihnen übel? Sind sie freundlich oder böse? Ist es wahr, dass die Dschinn einen freien Willen haben? Sind sie wie wir? Ist es wahr, dass sie mehr als tausend Jahre alt werden? Die meisten Leute aber wollten eine Auskunft in Sachen Liebe. Liebt er mich tatsächlich? Welcher Bewerber ist am besten für meine Tochter? Hat mein Mann vor, sich eine zweite Ehefrau zu nehmen? Oder eine dritte? Alle brachten bukhur – Räucherstäbchen – mit, weil Haja Umm Mamduh gesagt hatte, dass die Dschinn sie liebten. Einmal schenkte eine Frau Umm Mamduh ein Fläschchen Parfum aus Litauen, und Sulayman zeigte sich so lange nicht, bis sie es wegwarf. Düfte mit Alkohol stießen den alten Dschinn ab, was viele als Beweis dafür nahmen, dass Sulayman genauso gut ein Engel sein konnte.