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In Beit Daras, einem malerischen Dorf in Palästina, wachsen die Geschwister der Familie Baraka auf. Doch an einem Tag im Jahr 1948 geht ihre unbeschwerte Kindheit jäh zu Ende. Israelische Soldaten stecken das Dorf in Brand, und alle Bewohner müssen fliehen. Ein neues Leben beginnt, das Nazmiyya, Mamduh und Mariam voneinander trennt. Erst sechzig Jahre später, als Mamduhs Enkelin Nur aus Amerika nach Gaza kommt, findet die Familie langsam wieder zusammen. Die Erinnerung an das einstige Glück in Beit Daras lebt auf – und damit die Hoffnung auf Frieden und Versöhnung.

»Dieser Roman ist brillant, mutig, überwältigend.«     Teju Cole

Zur Autorin

Geboren als Kind palästinensischer Flüchtlinge wuchs Susan Abulhawa in Kuwait, Jordanien und Jerusalem auf. Als Jugendliche ging sie in die USA, wo sie heute gemeinsam mit ihrer Tochter lebt. Die Autorin engagiert sich aktiv für die Menschenrechte und die Lebensumstände von palästinensischen Kindern in besetzten Gebieten. Ihr Debüt Während die Welt schlief ist ein internationaler Bestseller und wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

SUSAN

ABULHAWA

Als die Sonne

im Meer

verschwand

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Stefanie Fahrner

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Die Originalausgabe erschien
2015 unter dem Titel

The Blue Between Sky and Water

bei Bloomsbury Publishing Plc, London/New York

Copyright © 2015 by Susan Abulhawa

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion  |  Anja Freckmann

Glossar  |  Dr. Yvonne El Saman

Umschlaggestaltung  |  t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv  |Lee Avison/Trevillion;

djgis; mg1408;HiSunnySky; IhorZigor; Anna Poguliaeva Shutterstock; Mauritius Images

Autorenfoto  |  © Chase Burkett

Satz  |  Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-12657-5
V004

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Für Natalie:

meine Tochter, meine Freundin, meine Lehrerin

KHALED

Die Idee lautet, die Palästinenser auf Diät zu setzen.

Dov Weisglass

Von allem, was in Gaza verschwand, fehlten mir die Über raschungseier am meisten. Während der Druck auf Gaza wuchs und die Unterhaltungen der Erwachsenen hitziger und trauriger wurden, konnte ich den Ernst der Lage daran ablesen, dass die köstlichen Schokoladeneier in den Ladenregalen immer weniger wurden. Sie waren in bunte Alufolie eingewickelt und bargen im Inneren ein aufregendes Spielzeug. Als sie schließlich ganz verschwanden und bloß noch die nackten, rostigen Regale zu sehen waren, wurde mir klar, dass die Überraschungseier Farbe ins Leben gebracht hatten. Ohne sie verwandelte sich unser Dasein in ein metallisches Sepia, das allmählich zu Schwarz und Weiß verblasste, so wie in alten ägyptischen Spielfilmen aus der Zeit, als meine Teta Nazmiyya das hübscheste Mädchen von Beit Daras gewesen war.

Auch nachdem man von Gaza aus Tunnel unter der Grenze hindurch nach Ägypten gegraben hatte, um Dinge des täglichen Bedarfs hinüberzuschmuggeln, bekamen wir nur selten Überraschungseier. An die Tunnel erinnere ich mich noch gut. Sie waren ein Netzwerk aus unterirdischen Arterien und Venen mit einem System aus Seilen, Hebeln und Flaschenzügen; mit ihrer Hilfe transportierte man Lebensmittel, Windeln, Benzin, Batterien, Musikkassetten, Mamas Menstruationsbinden, Rhet Shels Wachsstifte und alle möglichen anderen Sachen – alles, was wir von den Ägyptern kaufen konnten, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche.

Die Tunnel durchkreuzten Israels Plan, uns auf Diät zu setzen. Also bombardierten sie die Tunnel, und viele Menschen wurden getötet. Wir gruben andere Tunnel: größere, tiefere, längere. Wieder bombardierten sie uns, und noch mehr Menschen wurden getötet. Aber die Tunnel blieben bestehen, wie Blutbahnen unter der Erde.

Einmal überzeugte Israel die Vereinigten Staaten und Ägypten davon, eine unüberwindliche unterirdische Stahlmauer entlang der Grenze von Rafah zu errichten und dadurch die Tunnel abzuschneiden. Mit dem Fernglas beobachteten unsere Leute den Bau von den Sanddünen aus und lachten einen ganzen Monat lang, während das United States Army Corps of Engineers angestrengt arbeitete. Obwohl die Amerikaner uns die ganze Zeit über sehen konnten, gaben sie sich äußerlich unbeeindruckt, aber wir waren uns sicher, dass unser Gelächter sie nervös gemacht hatte. Nachdem sie verschwunden waren, stiegen unsere Jungs mit Schweißbrennern in die Tunnel hinab und trennten gewaltige Metallplatten heraus, die uns von der Versorgung hatten abschneiden sollen. Letztlich waren sie ein Geschenk für uns, weil sie aus hochwertigem Stahl bestanden, den wir zu anderen Dingen recyceln konnten.

Wir waren daran gewöhnt, die Verlierer zu sein. Aber dieses eine Mal gewannen wir. Wir waren schlauer gewesen als Israel, Ägypten und die großen Vereinigten Staaten von Amerika. Für kurze Zeit war Gaza eine einzige große Party. Unsere Zeitungen veröffentlichten Karikaturen von Mubarak, Bush und Netanjahu, die sich ratlos an Kopf und Hintern kratzten, während wir auf den Sandhügeln von Rafah standen und lachend präsentierten, was wir aus dem schönen Stahl gemacht hatten: Autoteile, Spielplatzgeräte, Gebäudeträger und Raketen.

»Allah sei uns gnädig und schütze uns«, sagte meine Teta Nazmiyya dazu. »Freude und Gelächter in Gaza werden zu Blut und Qualen führen. Wo Licht ist, ist immer auch Schatten.« Sie musste an Mariam gedacht haben. Nicht lange danach betrat ich das stille Blau, diesen zeitlosen Ort, an dem ich die Säfte des Lebens aufsaugen und wie einen Fluss durch meine Adern rauschen lassen konnte.

Dann kam Nur, den Mund voll mit arabischen Worten, die abgesägt und an den Ecken mit dem krausen Akzent einer Ausländerin abgeschliffen waren. Sie kam mit ihrer amerikanischen Gutmenschen-Begeisterung und dachte, sie könnte kaputte Menschen wie mich in Ordnung bringen und verwundete Orte wie Gaza heilen. Aber sie war innerlich noch zerbrochener als wir alle.

Jeden Abend, wenn Nur meine Schwester Rhet Shel ins Bett brachte, zog Teta Nazmiyya den Himmel zurecht, und Mama stickte die Sterne und den Mond darauf. Und am Morgen, wenn Rhet Shel erwachte, hängte sie die Sonne auf. So war es, als Nur zurückkam.

Das waren die Frauen in meinem Leben, die Lieder meiner Seele. Die Männer, die sie liebten, waren alle auf die eine oder andere Art verloren, bis auf mich. Ich blieb, so lange ich konnte.

TEIL I

Als unsere Geschichte auf den Hügeln ruhte

und sich träge auf die Tage des Waldes legte,

rauschte der Fluss Suqreir durch Beit Daras

1

Meine Groß-Khaltu Mariam sammelte Farben und sortierte sie. Zwei Generationen später wurde ich nach ihrem Fantasiefreund benannt. Aber vielleicht war es überhaupt keine Fantasie. Vielleicht war ich es wirklich. Wir treffen uns nämlich ab und zu am Fluss, und ich bringe ihr das Lesen und Schreiben bei.

Beit Daras war eins von mehreren kleinen Dörfern, die von Plantagen und Olivenhainen umgeben waren und im Norden an einen See grenzten. Im dreizehnten Jahrhundert lag es auf der Poststrecke von Kairo nach Damaskus. Beit Daras hatte sogar eine Karawanserei, also eine Herberge an der Straße, für all die vielen Reisenden, die die Handelsrouten Asiens, Nordafrikas und Südosteuropas benutzten. Die Mamelucken hatten die Herberge im Jahr 1325 gegründet, als sie ganz Palästina beherrschten, und sie blieb jahrhundertelang bestehen und war als El-Khan bekannt. Auf einer Anhöhe bei Beit Daras befanden sich die Überreste einer Burg, die von den Kreuzfahrern gegen 1100 erbaut worden war – auf den Grundmauern einer Zitadelle, die Alexander der Große mehr als tausend Jahre zuvor errichtet hatte. Die Burg, die früher den Mächtigen als Wohnsitz gedient hatte, verfiel im Lauf der Zeit zu einer Ruine, und was von ihr übrig geblieben war, hütete die Zeit, während daneben Kinder spielten und Liebespaare vor neugierigen Augen flüchteten.

Ein Fluss, übervoll von Gottes Fischen und Pflanzen, floss durch Beit Daras, brachte Segen für das Dorf, trug Müll, Träume, Klatsch und Geschichten fort und schwemmte alles ins Mittelmeer nördlich von Gaza. Das Wasser, das über die Steine dahinfloss, sang von den Geheimnissen der Erde und der Zeit und mäanderte im Rhythmus des krabbelnden, hüpfenden, summenden und fliegenden Lebens.

Als Mariam fünf Jahre alt war, stibitzte sie den Kajalstift ihrer Schwester Nazmiyya und schrieb damit ein Gebet auf ein Blatt, das sie in den Fluss von Beit Daras legte. Sie betete für einen echten Bleistift und dafür, Zugang zu jenem Gebäude zu erhalten, in dem man einen solchen Bleistift benutzte. Sie brachte natürlich nur Gekritzel zustande, obwohl es sehr wohl eine Grundschule mit zwei Räumen und vier Lehrern gab, die von den Dorfbewohnern bezahlt wurden. Aber sie musste zusehen, wie ihr Bruder und die anderen uniformierten Schuljungen, jeder einen Bleistift – wahre Statussymbole – und eine Büchertasche in der Hand, den Hügel hinaufmarschierten, hin zu jenem magischen Ort mit zwei Zimmern, vier Lehrern und jeder Menge Bleistiften.

Wie sich herausstellte, brauchte Mariam kein Schulhaus, um etwas zu lernen, lediglich Papier und Bleistift. Sie erfand einen Fantasiefreund namens Khaled, der jeden Tag am Fluss auf sie wartete, um ihr Lesen und Schreiben beizubringen.

Die Farbe des Flusses war Mariam ein Rätsel. Sie saß am Ufer und blickte in das scheinbar farblose Wasser, das sich die Schattierungen aller Dinge in der Umgebung ausborgte. An schönen Tagen war das Wasser hellblau wie der Himmel. Im Frühling, wenn die Welt grün war, war auch das Wasser grün. Manchmal war es klar, manchmal wolkig oder schlammig. Wie konnte der Fluss so viele Farben haben, während das Meer immer blau war und nur nachts in reinem Schwarz schlief?

Nach einiger Überlegung war Mariam klar, dass nur manche Dinge die Farben wechseln konnten. Sie begriff auch schon sehr früh, dass sie einen außergewöhnlich scharfen Blick hatte. Die Menschen wechselten je nach Stimmung die Farbe, aber ihre Schwester Nazmiyya behauptete, Mariam sei die Einzige, die das sehen könne. Wenn die Menschen beteten, waren sie meistens von einem Blauton erfüllt. Ihre Mienen entsprachen nicht immer ihren Farben. Weiße Auren hatten etwas Bösartiges – manche Leute besaßen sie sogar, wenn sie lächelten. Gelb und Blau bedeuteten Aufrichtigkeit und Zufriedenheit. Schwarz war die reinste Farbe von allen, die Aura der Babys, und stand für außergewöhnliche Freundlichkeit und große Kraft.

Blumen und Früchte durchliefen alle Farben im Wechsel der Jahreszeiten. Genau wie die Bäume. Und wie die Haut an Mariams Armen, die von Braun bis sehr Braun im Sommer variierte. Aber ihr Haar war immer schwarz, und ihre Augen blieben, wie sie waren: eins grün, das andere braun mit haselnussfarbenen Einsprengseln. Das grüne Auge – es war das linke – war ihr lieber, weil alle es fasziniert betrachteten. Nazmiyya dagegen hatte Angst, dass ihre kleine Schwester sich durch diese Neugier den hassad-Fluch zuziehen würde: den bösen Blick, der einen befällt, weil jemand anderes eifersüchtig auf einen ist.

2

Meine Teta Nazmiyya erzählte, dass sie früher das hübscheste Mädchen von Beit Daras gewesen sei, und ich habe oft versucht, mir meine Großmutter in der Blüte ihrer Jugend vorzustellen.

Es war Nazmiyya wichtig, Mariam vor den Übeln des hassad zu beschützen. Manche Leute hatten eben gierige, glühende Augen, die den Fluch ohne Weiteres und sogar ungewollt auslösen konnten. Darum bestand Nazmiyya darauf, dass Mariam ein blaues Amulett trug, das den Neid der Leute auf Mariams einzigartige Augen abwehrte, und Nazmiyya sprach regelmäßig Koransuren, die ihrer Schwester noch mehr Schutz verschaffen sollten.

Einmal unterhielten sich Nazmiyyas Freundinnen über Mariams Augen, als sie Wäsche im Fluss wuschen. Die meisten waren frisch verheiratet oder erwarteten gerade das erste Kind, aber manche waren – wie Nazmiyya – noch nicht verheiratet. »Wie kann es sein, dass sie nur ein grünes Auge hat?«, fragte eine.

Nazmiyya löste ihren Schleier und schüttelte das medusenartige Haupt glänzender, hennagefärbter Locken. Sie ließ das weiße Hemd ihres Bruders in den Waschzuber fallen. »Was weiß ich?«, rief sie. »Vielleicht hat irgendein römischer Hengst vor ein paar Hundert Jahren seinen Schwanz in unsere Ahnenreihe gesteckt, und jetzt kommt er im Auge meiner armen Schwester wieder raus.«

Die Waschtage am Fluss eröffneten den Frauen ihren ganz persönlichen weiblichen Freiraum. Sie standen beieinander, die Arme bis zu den Ellenbogen in den Waschzubern, und lachten über Nazmiyyas frivoles Gerede. Eine andere junge Frau entgegnete: »Zu schade, dass es keine zweiköpfige Schlange war, sonst hätte sie jetzt zwei grüne Augen.«

Wieder eine andere sagte: »Wohl eher schade für eure Vorfahrin, Nazmiyya, denn eine doppelköpfige hätte ihr sicher gefallen!« Alle waren ausgelassen und fühlten sich beflügelt von den vulgären Frechheiten, die sie sich erlaubten. Das war Nazmiyyas Gabe: Sie überschritt die Grenzen des Anstands in einer Weise, die es den anderen erlaubte, alles zum Ausdruck zu bringen, was sie ungeordnet in ihren Herzen bargen. Sie war direkt auf eine Art, die ihre Freundinnen gleichzeitig faszinierte und unangenehm berührte. Nur wenige wagten es, sie zurechtzuweisen, denn ihre Zunge konnte zwar bezaubern, aber auch schmerzhafte oder peinliche Wirkung haben. Die Leute liebten und hassten sie dafür.

Nazmiyya glaubte, die ungewöhnlichen Augenfarben ihrer Schwester seien das äußere Kennzeichen für ihre Fähigkeit, das Unsichtbare zu sehen. Mariam war keine Hellseherin, aber sie konnte das Leuchten der Menschen erkennen. »Was meinst du damit, du kannst das Leuchten sehen?«, hatte Nazmiyya einmal von ihr wissen wollen.

»Na, das Leuchten!« Mariam tastete mit den Händen in dem Bereich um Nazmiyyas Kopf herum. »Genau hier«, sagte sie. Da verstand Nazmiyya, dass die innere Welt eines jeden Menschen einen farbigen Schein bildete, den nur ihre kleine Schwester Mariam sehen konnte. Daraufhin stellte die Familie Mariam tagelang auf die Probe. »Okay, sag mir, wie ich mich jetzt fühle«, verlangte ihr Bruder Mamduh, der gerade von einer Prügelei mit den Nachbarsjungen gekommen war. »Du bist rot und grün«, erwiderte Mariam und wandte sich wieder ihrer Beschäftigung zu. Nazmiyya rief übermütig: »Rot und grün zusammen heißt, du hast Angst und bist spitz.«

»Mariam weiß doch gar nicht, was spitz bedeutet«, schrie Mamduh. »Also lügst du, du furchtbares, ungezogenes Mädchen!« Mit diesen Worten schlug er Nazmiyya gegen den Hinterkopf und rannte los, um sich zu verstecken.

»Mach, dass du wegkommst, Junge!«

»Mir tut der arme Esel, der dich mal heiratet, jetzt schon leid«, gab Mamduh zurück und verschanzte sich hinter der Tür.

Nazmiyya lachte, was Mamduh nur noch mehr verwirrte.

Auch wenn Mariams besondere Fähigkeit mit der Zeit nachließ, blieb sie eins von zwei Familiengeheimnissen. Und Nazmiyya nutzte sie zu ihrem Vorteil. Als die Mutter und die Schwestern eines Heiratsbewerbers zu ihnen ins Haus kamen, um Nazmiyya in Augenschein zu nehmen, behandelte sie die beiden arrogant und bissig, weil Mariam zuvor gespürt hatte, dass sie Nazmiyya für nicht gut genug für ihren Sohn hielten. Und auf dem Markt beschämte sie so manchen Händler, der vorgehabt hatte, sie übers Ohr zu hauen. Mariams Gabe war Nazmiyyas Geheimwaffe, und sie verbot allen, außerhalb des Hauses darüber zu reden, genau so wie sie allen verbot, über Sulayman zu reden.

3

Meine Groß-Teta Umm Mamduh lebte vor meiner Zeit. Man nannte sie die verrückte Alte, dabei war sie voller Liebe. Liebe der stillen, undurchdringlichen Art. Sie sah Dinge, die andere nicht sehen konnten, aber anders als Mariam.

In Beit Daras gab es fünf größere Familienclans, und jeder hatte sein eigenes Wohnviertel. Die Familien Barud, Maqadamah und Abu al-Shamalah waren am höchsten geachtet. Ihnen gehörten die meisten Bauernhöfe, Obstplantagen, Bienenstöcke und Viehweiden. Der Familienname von Nazmiyya, Mamduh und Mariam war Baraka, kein Name, mit dem man angeben konnte. Sie wohnten im Masriyyin-Viertel, dem ärmsten Viertel des Dorfes, wo sich Palästinenser ohne Stammbaum niedergelassen hatten. Vor fünf Jahrhunderten waren sie aus Ägypten gekommen und hatten ihren Nachnamen abgelegt, vielleicht, weil sie einer Stammesfehde entkommen wollten oder ihre Familien entehrt hatten. Aber so richtig Bescheid wusste niemand.

Nazmiyya, Mamduh und Mariam waren im Ort als die Kinder von Umm Mamduh, der Verrückten, bekannt. Obwohl sie keinen Vater hatten, traute sich niemand, in ihrer Gegenwart abfällig über ihre Mutter zu reden, weil sie wussten, dass Nazmiyya ihnen die Hölle heißmachen würde. Die Kinder waren traurig über den Zustand ihrer Mutter und versuchten mit aller Kraft, sie vor den bösen Worten der anderen zu schützen, aber sie konnten nicht alles von ihr abwehren. Umm Mamduh starrte oft mit leerem Blick in die Ferne und unterhielt sich in einer seltsamen Sprache mit dem Nichts, während der Wind sie umwehte. Manchmal lachte sie auch unvermittelt.

Einmal beobachteten die Leute Umm Mamduh dabei, wie sie ihre Thoba hochzog und ihre Notdurft im Fluss verrichtete. Mamduh, der damals erst elf war, verprügelte einen viel stärkeren Jungen, weil der gewagt hatte, den Vorfall zu erwähnen. Oft mussten die drei Kinder ihre Mutter mit Engelszungen überreden, sich nicht zum Schlafen auf die Weide zu den Ziegen zu legen.

Es hieß, ihr Vater habe sie so früh verlassen, dass keins der Kinder sich an ihn erinnern könne – außer Nazmiyya, der Ältesten. »Einmal ist unser Vater zurückgekommen, und wir haben zusammen ghada gegessen«, erzählte Nazmiyya ihren Geschwistern. Mamduh konnte sich nicht daran erinnern, aber er glaubte Nazmiyya, weil sie es auf den Koran schwor. Außerdem musste es ganz einfach wahr sein. Wie hätte Mariam denn sonst gezeugt werden sollen? Trotzdem wünschte er sich oft, er hätte eigene Erinnerungen an seinen Vater.

4

Ich möchte der Geschichte nicht vorgreifen, indem ich jetzt schon von Nur erzähle. Sie war noch zwei Generationen entfernt, als mein Groß-Khalu Mamduh anfing, für den Imker zu arbeiten. Aber wenn Sie so wie ich daran glauben, dass Menschen zu einem Teil aus Liebe, zu einem anderen Teil aus Fleisch und Blut und zu einem weiteren Teil aus allem anderen bestehen, dann ist es sinnvoll, wenn ich ihren Namen jetzt erwähne, denn jetzt geht es um die Quelle ihrer Liebe.

Als Mamduh heranwuchs, wurde sein Körper zu dem eines Mannes, und seine tiefe Stimme verlieh ihm Autorität. Er bekam eine feste Stellung bei einem Imker, dessen Honig im ganzen Land verkauft wurde – und sogar bis nach Ägypten, in die Türkei, nach Mali und in den Senegal. Der alte Imker begriff schon im ersten Monat, dass er einen Jungen gefunden hatte, dem er eines Tages das über Generationen vererbte Geschäft übertragen konnte. Er hatte drei Ehefrauen, von denen zwei ihm fünf Töchter und einen Sohn geboren hatten, doch der Sohn war kurz nach der Geburt gestorben. Nur seine jüngste Tochter Yasmin hatte das Zeug zur Imkerin. Aber damals wusste er noch nicht, dass in weniger als drei Jahren alles verschwunden sein würde, all die Jahrhunderte der Bienen und Bienenhäuser, des Wachses, der Bienenstöcke und Waben und Imker – sein ganzes Leben. Alles würde verschwunden sein, als wäre es nie da gewesen, geschichtslos. Alles, was bliebe, wäre seine Liebe zu den Bienen, die Yasmin, sein Lieblingskind, im Herzen tragen und in die Erde eines anderen Kontinents pflanzen würde. Aber damals konnte das keiner wissen. Die Zukunft der Menschen von Beit Daras war so weit weg von ihrem Schicksal, dass sie es nicht einmal geglaubt hätten, wenn ein Hellseher es ihnen prophezeit hätte.

Darum begann der Imker, Mamduh alles beizubringen, was er über die Kunst der Bienenzucht wusste. Sein Lächeln war beinahe zahnlos, denn er hatte Rachitis, und er benutzte niemals Schutzhandschuhe, weil er nicht von seinen Bienen getrennt sein wollte. Den Imkerhut trug er allerdings immer, und er hatte auch stets einen Rauchapparat griffbereit, falls sich ein Schwarm bildete. Er bestand darauf, dass Mamduh Handschuhe trug, bis er die Verbindung zu den Bienen im ganzen Körper spüren konnte; zuerst im Herzen und dann in den anderen Organen und schließlich auch unter der Haut. »Erst dann darfst du die Handschuhe ablegen«, sagte er und klopfte Mamduh väterlich auf die Schulter.

In Wahrheit hatte Mamduh gar nicht die Möglichkeit, eine solche körperliche Verbindung zu den Bienen aufzubauen, wie sein Mentor es erwartete. Zugegeben, er kam jeden Tag früh zur Arbeit und blieb bis spät in den Abend, um dem Imker stundenlang aufmerksam zuzuhören. Aber Mamduhs Begeisterung und Aufmerksamkeit entsprangen der Wunde seiner Vaterlosigkeit und einem Verlangen tief in seinen Lenden. Er nahm nicht viel von den Geschichten des Imkers auf, sondern überließ sich ganz der Wärme des Ortes, während er mit den Augen jeden Winkel erforschte, um einen Blick auf die jüngste Tochter des Imkers, Yasmin, zu erhaschen. Das Gedächtnis unterwirft sich manchmal der Sehnsucht, und so erfand Mamduh Erinnerungen an einen Vater, der aussah wie sein Mentor und sprach wie ein Imker, der nach dem Essen einen Tee trinkt und über Honig philosophiert, während er selbst das Zimmer nach einem Liebeshauch absuchte.

Bevor Mamduh der Lehrling des Imkers wurde, hatte die Familie von seinen Gelegenheitsjobs und von den Almosen der Moschee gelebt. Aber das Geld reichte nie, besonders, wenn seine Mutter wieder seltsame Gelüste entwickelte. Einmal, als Mamduh noch nicht einmal zwölf war, hatten sie zu Eid ein halbes Lamm von der Moschee bekommen. Umm Mamduh bekam einen furchterregenden Appetit, der einfach nicht zu stillen war. Mamduh musste ihr einen Schlag verpassen, bevor sie auch noch die letzte Portion Fleisch verschlang. Im Koran heißt es, der Himmel liegt neben den Füßen der Mütter, und alle wissen, dass jemand, der seine Mutter schlägt, direkt in die Hölle kommt. Aber Allah würde ihm sicher vergeben, weil er nicht handelte wie ein Sohn, sondern wie der Mann des Hauses, der dafür Sorge tragen musste, dass alle etwas zu essen bekamen. Damals begannen Mamduh und seine Schwestern auch, sich gegen Sulayman – das andere Familiengeheimnis – zu stellen, denn die Kinder wussten, dass der Appetit ihrer Mutter seine Schuld war. Sie wussten, dass er in der Nähe war, wenn ihre Mutter Heißhunger bekam, die Augen absonderlich verdrehte, und wenn im Haus der Geruch nach Rauch zu spüren war, der Sulayman stets umgab.

5

Die Leute, die meine Groß-Teta Umm Mamduh kannten, erfuh ren bald von Sulayman. Oder sie erfuhren von ihr, als sie von Sulayman hörten. Damals dachten sie alle an einen Vers aus dem heiligen Koran (Al Hijra 15:26–27): »Wir haben doch den Menschen aus trockenem, tönendem Lehm, aus schwarzem, zu Gestalt gebildetem Schlamm geschaffen. Und die Geister haben wir schon vorher aus dem Feuer der sengenden Glut geschaffen.«

An einem dunklen, wolkigen Dezemberabend im Jahr 1945 lief Umm Mamduh auf der Suche nach dem Mond herum, bis sie ihn fand. Es war eine dünne Sichel, die im Netz der Sterne über Beit Daras hing. Sulayman war bei ihr, so wie immer in letzter Zeit. Während sie in den Nachthimmel blickte, hörte sie Gestöhne und Gelächter hinter den Ruinen eines römischen Badehauses. Sie folgte den Geräuschen und sah die Umrisse von vier jungen Burschen, die dort im Mondlicht glänzten. Sie hatten sich ihre galabiyas hochgezogen und rieben sich die Schwänze. Sie zitterten vor Kälte und keuchten, aber nicht vor Vergnügen, sondern vor Anstrengung, denn sie lagen im Wettstreit miteinander. Umm Mamduh verfluchte sie und schickte sie zur Hölle, weil sie sich versündigt hatten. Die Jungen bekamen einen Riesenschreck und ordneten hastig ihre Gewänder – dann erkannte einer Umm Mamduh.

»Das ist ja die verrückte Umm Mamduh«, rief er, und alle atmeten erleichtert auf. Dann lachten sie hämisch.

»Geh zurück ins Masriyyin-Viertel«, schrie einer der Jungen. »Spinner sind hier nicht erlaubt«, sagte ein anderer. »Ziehst du wieder deine Thoba hoch und scheißt in den Fluss?«

Umm Mamduh wich zurück, verzweifelt die Hände ringend. »Hört auf! Sulayman wird wütend. Er wird sonst niemals wütend. Hört auf! Ihr müsst damit aufhören!«

Das Gelächter schwoll an. »Wer ist denn Sulayman? Ist das der Spitzname deines feigen Sohnes? Scheißt er auch in den Fluss?«

Und plötzlich, noch bevor sie ihn aufhalten konnte, erschien Sulayman durch Umm Mamduhs Gesicht. Winzige Sternenflecken eines schwarzen Himmels glitzerten an den Rändern ihres Kopfes, während seine Präsenz langsam zunahm. Sie dehnte sich aus und wurde zu einer dunklen Unermesslichkeit mit zornigen Augen aus rotem Feuer. Dann spie sie Unverständliches in einer Stimme, die von überall her zu dröhnen schien, und ein beißender Geruch erfüllte die Luft.

Die Jungen waren wie vom Donner gerührt. Ihre Schwänze fielen in sich zusammen, genau wie ihre Häme. Zwei von ihnen nässten sich ein, der dritte hatte seinen Stuhlgang nicht mehr unter Kontrolle, und der vierte – Atiyah, der Älteste –, der besonders gemein zu Umm Mamduh gewesen war, konnte tagelang kein Wort mehr sprechen.

Von da an und bis zum Rest ihres Lebens redeten die vier Jungen immer wieder über das schreckliche Erlebnis, und sie waren sich darin einig, dass sie niemals etwas Schlimmeres erlebt hatten; nicht die jüdischen Banden und nicht das israelische Militär, das zuerst mit Gewehren und Macheten kam, später dann mit furchtbaren Todesmaschinen. Sie hatten Sulayman in einem seltenen Moment des Zorns erlebt. Einen echten Dschinn.

6

Im Koran heißt es, dass Allah die Dschinn aus rauchlosem Feuer geschaffen hat. Das wusste jeder. Manche ehrten die Dschinn, andere fürchteten sie, aber alle respektierten sie und zitterten vor ihrer Macht. Und diejenigen, die mit ihnen kommunizierten, wurden von manchen geschnitten, von manchen verehrt und von den meisten gefürchtet.

Am nächsten Tag trafen sich die Eltern und die Stammesältesten der Jungen und statteten Umm Mamduh einen Besuch ab. Im Haus der Familie Baraka wurden sie willkommen geheißen. Die Frauen wurden hereingebeten, wo sie sich auf den Teppich setzten, während die Männer sich in den Hof begaben. Dort servierte Mamduh ihnen Tee und Datteln und bot ihnen arghilahs an, die schon mit Tabak und Rosenwasser und Zitrone befüllt waren. Die Familie hatte die Gäste bereits erwartet. Sulayman hatte sich gezeigt, um ihre Mutter zu beschützen, und da das Familiengeheimnis nun bekannt war, ging Mamduh davon aus, dass das ganze Dorf kommen würde. Darum hatte er sich einige arghilahs von seinem Mentor, dem Imker, ausgeliehen, der dieser Bitte gerne nachgekommen war – er nahm an, die Pfeifen seien für Nazmiyyas Heiratsbewerber.

In der winzigen Behausung betrachtete die kleine Mariam die Gäste misstrauisch. Nazmiyya servierte den Frauen süßen Pfefferminztee. An ihrem Schleier hingen billige Münzen, die unablässig klimperten, wenn sie den Kopf drehte, und unter dem Schleier ringelten sich ganz dreist ihre kupferfarbenen Locken hervor, sodass alle Welt sie sehen konnte. Nazmiyya bewegte sich langsam; sie wusste, dass die Frauen sie beobachteten. Sie trug ihre grüne und orangefarbene dishdasha, unter der sich ihre üppigen Brüste, ihre unverschämt großen Pobacken, ihre Schenkel und ihre schmale Taille abzeichneten. Nazmiyya hatte die Gabe, jeden Raum, den sie betrat, sofort auszufüllen, ganz so, als würde sie alle Luft in sich aufsaugen. »Willkommen in unserem bescheidenen Heim, meine Damen«, sagte sie mit einem Lächeln, das den anderen im Raum endlich erlaubte, frei zu atmen. »Ihr Besuch ist uns eine Ehre.«

»Die Ehre liegt ganz bei uns, schöne junge Dame«, erwiderten sie im Chor.

Nazmiyya war nicht schön, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Aber für alle, die sie sahen und mit ihrem Stolz und ihrer Respektlosigkeit in Berührung kamen, war sie unwiderstehlich. Sie hatte walnussfarbene Haut und nicht das geringste Interesse daran, sie aufzuhellen. Und sie machte keinen Versuch, ihre Locken wenigstens zu bestimmten Anlässen zu glätten, indem sie sie aufrollte, lang zog oder bügelte. Stattdessen ließ sie ihr Haar, wie es war, wild und arrogant. Was immer die Leute von ihr hielten, Nazmiyya war schwer zu übersehen. Und tatsächlich hatten viele in Beit Daras erotische Träume von ihr.

Die Frauen von Beit Daras waren mit Geschenken gekommen: Obst und Gemüse, Olivenöl, Honig und Süßigkeiten. Sie entschuldigten sich im Namen ihrer Kinder und versicherten Umm Mamduh – die sie respektvoll als Haja Umm Mamduh ansprachen –, dass jeder Junge eine Tracht Prügel bekommen habe und sich noch persönlich entschuldigen werde, falls sie es erlaubte.

Haja Umm Mamduh saß still da und redete nur, wenn sie direkt angesprochen wurde. Sie erklärte den Frauen, dass nur Allah vergeben könne und dass sie selbst den Jungen schon lange verziehen habe. Ungesagt blieb, was alle wussten: dass es Sulaymans Vergebung war, um die ersucht und die gewährt wurde.

Erst nach einigen Stunden erzählte eine der Frauen von dem Schicksal des stumm gewordenen Jungen namens Atiyah.

»Bringt Atiyah zu mir«, sagte die Haja. »Ich werde ihm helfen.«

Als Atiyah den Raum betrat, starrte Nazmiyya ihn so empört und hasserfüllt an, dass er einen Moment stehen blieb, in seinen Grundfesten erschüttert. Er war gerade fünfzehn geworden, wirkte aber viel jünger, und Nazmiyya war schon siebzehn und wirkte dabei viel älter. Glühende Scham machte sich in Atiyahs Körper breit und vermischte sich tief in seiner Seele mit dem Bild von Nazmiyyas orangefarbener und grüner dishdasha, die sich an den Brüsten und Hüften über ihren Körper spannte. Seine Rippen pressten sich vor Verlegenheit und – wie ihm schien – vor Verliebtheit gegen sein Herz. Obwohl er wusste, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren, spürte er, wie sein Geschlecht hart wurde. Schnell kniete er sich vor Umm Mamduh hin und küsste ihr die Hand, um seine missliche Lage zu verbergen. Aber er konnte noch immer nicht sprechen. Die Haja nahm seinen Kopf in die Hände, zog ihn zu sich hin und stieß unverständliche Worte aus. Ihre Augen rollten in ihren Höhlen herum, und ihr saurer Atem erfüllte den Raum. Plötzlich hielt sie inne, ihre Augen blickten wieder klar. Der Junge stand auf und wirkte größer als je zuvor, ganz so, als hätte er die endgültige Schwelle zum Mann überschritten. Er warf Nazmiyya einen Blick zu, der ihr Starren zähmte und ihr bedeutete, dass er stärker war als sie. Von den Umstehenden bemerkte keiner diesen Blickkontakt, obwohl er für die beiden eine Ewigkeit zu dauern schien. Dann verließ Atiyah den Raum, als wäre nichts geschehen. Das allein war der Beweis dafür, dass Umm Mamduh, die seltsame Frau aus Masriyyin, die keinen Mann, dafür aber drei Kinder hatte, die ihre Notdurft einmal im Fluss verrichtet hatte und gern auf der Weide schlief, eine gesegnete Asyad war, eine der begnadeten Sterblichen, die mit den Dschinn aus einer anderen Welt kommunizieren konnten.

In Beit Daras und den umliegenden Dörfern verbreiteten sich Neuigkeiten schnell, und bald kamen die Leute in Scharen zu Umm Mamduhs Häuschen. Viele waren neugierig auf die Welt des Unsichtbaren. Gibt es noch andere Dschinn in Beit Daras? Wollen die Dschinn ihnen übel? Sind sie freundlich oder böse? Ist es wahr, dass die Dschinn einen freien Willen haben? Sind sie wie wir? Ist es wahr, dass sie mehr als tausend Jahre alt werden? Die meisten Leute aber wollten eine Auskunft in Sachen Liebe. Liebt er mich tatsächlich? Welcher Bewerber ist am besten für meine Tochter? Hat mein Mann vor, sich eine zweite Ehefrau zu nehmen? Oder eine dritte? Alle brachten bukhur – Räucherstäbchen – mit, weil Haja Umm Mamduh gesagt hatte, dass die Dschinn sie liebten. Einmal schenkte eine Frau Umm Mamduh ein Fläschchen Parfum aus Litauen, und Sulayman zeigte sich so lange nicht, bis sie es wegwarf. Düfte mit Alkohol stießen den alten Dschinn ab, was viele als Beweis dafür nahmen, dass Sulayman genauso gut ein Engel sein konnte.

7

Es gab eine Zeit in Beit Daras, als meine Groß-Khaltu Mariam ihre hölzerne Traumkiste bekam und ich, noch ehe ich zur Welt gekommen war, die Grenzen von Zeit und Tod überschritt und am Fluss auf sie wartete. Dort brachte ich ihr die geschriebene Sprache bei. Sie lehrte mich alles über Farben, und gemeinsam erfanden wir neue Lieder.

Mariam war hocherfreut, dass so viele Besucher zu ihnen nach Hause kamen und ihre Mutter um Rat baten. Sie brachten Geschenke und hatten Geschichten aus Beit Daras und anderen Dörfern dabei. Immer, wenn sie Mariam und ihre außergewöhnlichen Augen sahen, lobten sie Allah. Nazmiyya nahm Mariam dann beiseite und las ihr die mu’auidhat-Verse aus dem Koran vor, um ihre Schwester vor dem hassad-Fluch zu bewahren. Manchmal las Nazmiyya die Verse auch laut in Gegenwart der Frauen, um sie dafür zu beschämen, dass sie jemand anderen als Allah, den Schöpfer der Augen ihrer Schwester, mit Komplimenten überhäuften. Mariam war das alles egal. Sie liebte es, im Mittelpunkt zu stehen, und wollte die Gäste am liebsten für sich allein. Sie stritt sich mit Nazmiyya darum, wer das Tablett zu den Gästen hinaustragen durfte, und drohte sogar damit, das gesamte Familiengeschirr fallen zu lassen, wenn ihre Schwester es ihr nicht erlaubte.

»Na gut, kleine Schwester, ich dachte nur, das Tablett ist zu schwer für dich«, sagte Nazmiyya versöhnlich, und der Zorn in Mariams verschiedenfarbigen Augen verwandelte sich in Lächeln, während sie die Tassen ins Zimmer trug.

Mariams Fähigkeit, Auren zu sehen, hatte mit der Zeit nachgelassen, und jetzt, mit sechs Jahren, erkannte sie bloß noch gelegentliche Ausschläge besonders intensiver Gefühle. Aber ihre eigene Innenwelt war immer noch in Farben geordnet. Nachdem sie sich selbst wochenlang Mut zugesprochen hatte, bat sie die Frauen um einen Bleistift, einen kobaltblauen Bleistift, denn das war die Farbe von ihrem Freund Khaled, der immer am Fluss auf sie wartete.

Am nächsten Tag kamen einige Frauen mit Bleistiften und Schreibblöcken und Radiergummis und Anspitzern, alles in einer hübschen, geschnitzten Holzkiste mit Perlmuttintarsien, die das Wort »Allah« bildeten. Mariam nahm das Geschenk mit stiller, zärtlicher Dankbarkeit entgegen. Es war eine hölzerne Kiste der Träume, die Mariam den Rest ihres Lebens mit sich trug. Sie begann, mehr Zeit am Fluss zu verbringen. Bald hielt sie bei Tageslicht nichts mehr zu Hause, ganz gleich, wie sehr Nazmiyya ihrer kleinen Schwester drohte oder wie oft sie ihr eine Abreibung verpasste. Mariam hatte nun ihre Holzkiste, die sie jeden Tag mit an den Fluss nahm, wo Khaled ihr beibrachte, ihren eigenen Namen und die neunundneunzig Namen Allahs zu schreiben. Von da an dauerte es nicht mehr lange, bis sie die Geheimnisse der Sprache entschlüsselt hatte. Sie hörte auf, die Schuljungen zu beobachten, und ging jeden Tag zum Fluss, nachdem sie ihre häuslichen Aufgaben erledigt hatte.

Einige Male folgte Nazmiyya ihrer Schwester, weil sie neugierig war auf Khaled. Aber sie entdeckte ihn nie. Da reimte sie sich zusammen, dass Mariam ihn erfunden hatte, um erklären zu können, warum sie plötzlich schreiben konnte. So richteten sich alle wieder in ihrem Leben ein. Vielleicht waren das die glücklichsten Tage der Familie Baraka. Umm Mamduh wurde respektiert. Mamduh war glücklich mit seiner Arbeit bei dem Imker. Nazmiyya träumte viel und war hübscher denn je.

Zwei Jahre lang kam Mariam täglich am Spätnachmittag nach Hause und zeigte ihrer Schwester voller Eifer, was sie von Khaled gelernt hatte. Nazmiyya überflog die geschriebenen Seiten und barst fast vor Stolz. Sie war sich sicher, dass ihre Schwester das erste Mädchen in Beit Daras sein würde, das Lesen lernte. Einmal, als Nazmiyya ein Gefühl von beinahe unerträglicher Liebe für Mariam verspürte, begann sie zu weinen. Sie nahm Mariams Gesicht in die Hände und beugte sich zu ihr vor. »Du bist der außergewöhnlichste Mensch, den ich kenne, kleine Schwester«, sagte sie. »Denk immer daran, wie besonders du bist und wie sehr du geliebt wirst. Wir werden immer zusammen sein.«

»Geht’s dir gut?«, fragte Mariam, die jene gefühlvolle Seite ihrer Schwester bis dahin nicht gekannt hatte.

»Ja! Mir geht es mehr als gut. Ich bin verliebt«, flüsterte Nazmiyya. Mariam starrte sie mit großen Augen an.

»Pst, habibti.« Nazmiyya lächelte und legte einen Finger an den Mund. »Ich erzähle dir alles später. Aber das bleibt unser Geheimnis.«

Nazmiyya hatte Mariam gegenüber immer eine mütterliche Rolle eingenommen. Jetzt endlich waren sie auch Schwestern, die sich zusammentun und sich gegenseitig ihre Geheimnisse offenbaren konnten. Mariam, die inzwischen acht Jahre alt war, nahm sich vor, ihrer Schwester zu erklären, wer Khaled wirklich war. Aber noch nicht gleich. Erst mussten sie den vierten salat des Tages beten und das Abendessen zubereiten, denn bald würde Mamduh von seiner Arbeit mit den Bienen nach Hause kommen.

8

Meine Groß-Teta Umm Mamduh konnte nicht mit den Unsicht baren sprechen, abgesehen von Sulayman, einem alten Dschinn, der von seinem Stamm verstoßen worden war, weil er sich in eine Sterbliche verliebt hatte. Mit den Jahren erfuhren die Dorfbewohner davon, was ihren Respekt für Umm Mamduhs Macht nicht minderte. Die Besuche ließen mit der Zeit nach, dauerten aber fort, bis die Geschichte über die Hügel kam und Beit Daras mit dem Wind fortgetragen wurde.

Im Februar 1948 kamen fünf Männer in die Behausung der Familie Baraka. Sie waren Stammesälteste und ausgewählte Mukhtar der wichtigsten Familien von Beit Daras. Normalerweise besuchten diese frommen Männer eine Frau wie Umm Mamduh, die ohne Mann, dafür mit dem Unsichtbaren lebte, nicht. Ihre Gesichter waren streng und nüchtern, gezeichnet vom Alter und der Stammestradition. Sie begrüßten den ältesten Sohn der Haja, Mamduh, mit festem Händedruck und einem Kuss auf jede Wange. Das war ein Zeichen des Respekts für den Mann des Hauses, der damals allerdings erst siebzehn Jahre alt war. Sie erwiesen Umm Mamduh ihre Ehre, indem sie den Blick von ihr abwandten und die rechte Hand auf das Herz legten.

»Willkommen in unserem Haus«, sagte Mamduh und bedeutete den Männern, einzutreten und sich auf die Kissen neben seine Mutter zu setzen.

»Möge Allah dir ein langes Leben schenken, Haja. Wir sind gekommen, um dich und Sulayman um Hilfe zu bitten«, sagte Abu Nidal, der ehrwürdige Mukhtar der Familie Barud. Bevor er noch mehr sagen konnte, schloss Umm Mamduh die Augen und begab sich in eine andere Welt. Sie nahm die Schwere, die die Gäste umgab, in sich auf und murmelte Unverständliches, bis ihr Körper sich mit Echos anfüllte und ihre Haut den Geruch von Ruß absonderte. Dann öffnete sie die Augen.

»Seid ihr gekommen, um zu hören, was die Juden vorhaben?«, fragte sie. Alle nickten, darum fuhr sie fort. »Unsere friedlichen Nachbarn aus dem Kibbuz sind nicht unsere Freunde. Sie schmieden heimtückische Pläne gegen Beit Daras.«

»Bist du dir sicher, Haja? Seit Jahren leben wir in guter Nachbarschaft. Wir haben ihnen Samen gegeben und ihnen beigebracht, das Land zu bestellen. Ihr Arzt hat unsere Leute behandelt und sie wieder gesund gemacht, insha’allah

»Ich sage euch nur, was Sulayman mir erzählt. Er lügt mich nicht an.«

»Erzähl uns mehr«, baten sie.

»Nur Allah kennt das Unbekannte, und nur sein Wille wird geschehen. Unsere Nachbarn werden sich mit anderen zusammentun, und sie werden das Blut der Bedrawasis von Beit Daras vergießen.« Die Familie Bedrawasi war bekannt für ihren Mut und ihre Kampfeskünste. »Beit Daras wird siegreich sein. Ihr alle werdet kämpfen und überleben, aber einige eurer Brüder und Söhne werden fallen, und das wird nicht das Ende sein. Mehr Juden werden kommen, und der Himmel wird den Tod auf Beit Daras regnen lassen. Die dickköpfigen Bedrawasis von Beit Daras werden sich nicht ergeben. Sie werden siegen. Immer wieder werden sie dem Feind die Stirn bieten, doch der Zorn des Feindes ist groß. Das Blut der Einheimischen wird von diesen Hügeln aus in den Fluss rinnen, und der Krieg wird verloren gehen.«

Nazmiyya, die inzwischen zwanzig Jahre alt war, erkannte den Ernst dieser Heimsuchung und blieb wie angewurzelt in der Nische zwischen der Küche und dem großen Zimmer stehen und lauschte. Mariam, die neben Nazmiyya kauerte und lauschte, verstand die förmlichen Worte ihrer Mutter nicht ganz, spürte aber die Unruhe, die sie bei den Gästen auslösten. Als sie ihnen den Kaffee servierte, sah Mariam, dass die Männer kerzengerade dasaßen, die Hände im Schoß verschränkt. Winzige, nervöse Zuckungen und das Zittern der Adamsäpfel waren die einzigen Bewegungen im Raum. Sie sahen sich nicht in die Augen, ganz so, als würden sie damit die Verzweiflung eingestehen, die sie zu verbergen versuchten. Nazmiyya zog ihre Schwester zu sich heran und verharrte so mit ihr, während sie der erschütternden Stille lauschten, die vom Boden aus an den Wänden emporstieg. Schließlich tranken die Männer vom Kaffee, und Umm Mamduh sprach wieder. »Nur Allah kennt das Unbekannte, aber wenn Beit Daras sich nicht ergibt, wird dieses Land wiedererstehen, selbst wenn der Krieg verloren geht.«

Keiner verstand die Bedeutung ihrer Worte, und keiner wagte, nach einer Erklärung zu fragen. Es reichte ihnen zu wissen, dass »dieses Land wiedererstehen wird«. Sie klammerten sich an die Worte der Hoffnung und behielten sie bei sich bis zu ihren letzten Tagen, die für einige schon kurz darauf im Krieg kamen, für andere erst viel später im Flüchtlingslager.

»Möge Allah dir ein langes Leben schenken, Haja«, sagte Abu Nidal und legte ein Bündel palästinensischer Geldscheine vor sie hin. »Bitte nimm dies als Entschädigung für deine Mühe.« Aber sie lehnte ab. »Leg dein Schicksal in die Hände Allahs. Vertrau auf Allah und kämpfe für uns, Abu Nidal. Ich nehme kein Geld an. Allah ist mein Ernährer und mein Beschützer. Mein Sohn wird mit euch kämpfen. Ich werde bleiben, also wird auch Sulayman bleiben und uns helfen, aber du sollst wissen, dass der Feind afarit des Iblis mit sich führen wird, Dämonen aus der Tiefe des Dunkels. Möge Allah dir ein langes Leben schenken, und möge er Beit Daras und seine Einwohner schützen.«