Warum ich?

Warum ich?

Ein Joe Cullen-Roman #1

Jerome Oster

Deutsch von Jürgen Bürger

Inhalt

Impressum

Widmung

Danksagung und Hinweis

1. Die alte Statue unten im Hafen

2. Top Dog

3. Rauch und Nebel

4. Menetekel

5. Das Fenster zum Hof

6. Die Dean-Sache

7. Heckenschütze

8. K–mart

9. Spekulationen

10. Ba ruppa duppa duppa dup

11. Scheißleben

12. The Wild One

13. Ein langer Tag

14. Viel Wasser …

15. Nacht für Nacht

16. Überstunden

17. Mabel, Mabel …

18. Die Quittung kriegst du immer

19. World

20. Unter dem Strich

21. Damals

22. Joe!

23. Jules und Jim

24. Tap-tap-tap

25. Einfach zu viel

26. Wieso ausgerechnet ich?

27. Fangschaltung

28. Ganz weit oben

29. … nie nach oben

30. Puh

31. Dreckskerl

32. Auf ins Paradies

33. Wieso eigentlich nicht?

34. Alles richtig machen

Über Jerome Oster

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UND JETZT?

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

für Tenny Chonin

Vielen Dank allen vom Writers Room für ihre Ruhe und Energie.

Die in diesem Buch dargestellten Personen, Ereignisse und Institutionen sind frei erfunden. Jede scheinbare Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, tatsächlichen Ereignissen und real existierenden Institutionen ist rein zufällig.

1

Die alte Statue unten im Hafen

Gimme fire.

Irgendwann damals, bevor er sich das Hirn komplett verbrutzelt hatte — wie der Typ im Fernseher so schön sagt: Diese Bratpfanne hier, das sind die Drogen, dieses Ei hier, das ist dein Gehirn, wenn du also Drogen nimmst, dann … Noch irgendwelche Fragen, Arschloch? — irgendwann damals hatte Monroe Riggs (auf der Straße auch kurz World genannt — wieso und warum, daran konnte sich sein verbrutzeltes Hirn nicht mehr erinnern) dieses Gedicht gelesen, wo’s darum geht, dass entweder alles in die Luft fliegen könnte — so Vulkane, Erdbeben, das volle Scheißprogramm eben — oder aber alles und jeder zu massivem Eis erstarrt.

Und wie der Dichter sich die Frage stellte: Was wäre mir lieber?, frag dich das mal selbst: Was wäre dir lieber? Das hat Miz Powell gesagt — Miz Powell mit ihrer knackig frischen Tina–Turner–Stimme, den Blick auf den Gedichtband gesenkt, aus dem sie gerade vorlas, dann zur Klasse aufsah, um sich zu vergewissern, dass auch ja alle aufpassten, oder ob sie nur blöd rumhingen und Scheiß machten, die Mädels anbaggerten, mit ihren Messerchen rumfummelten, ihrem Stoff, ihren Bestecken. Ice is nice, sagte Miz Powell, hätte der Dichter sich entschieden, als er sich fragte, was ihm lieber wäre, but gimme fire. Und wie sie das mit ihrer knackig scharfen Stimme sagte, und wie sie alle auf ihre knackig scharfe Art fixierte, da war doch jedem sofort klar, dass sie eigentlich fucking meinte, wenn sie fire sagte.

Bei seinem verbrutzelten Hirn und allem verplemperte World nicht besonders viel Zeit damit, groß über so Gedichte nachzudenken. Aber genau an dieses eine Gedicht dachte er jetzt gerade, weil nämlich genau in diesem Augenblick die armen Arschlöcher in dem Apartmenthaus drüben auf der anderen Straßenseite, das Raleigh wird’s genannt, nach irgend so welchen alten Musketieren oder so Scheiße, in Feuer und Rauch und Flammen und dem ganzen Scheiß sterben, und die sehen jetzt total nicht so aus, als würden sie ficken.

Entweder sterben die nämlich gerade in Feuer und Rauch und Flammen und dem ganzen Scheiß, der — wie’s aussieht — so ungefähr aus sämtlichen Fenstern von dem alten Kasten quillt, oder aber sie geben den Löffel ab, weil sie aus den Fenstern und von den Simsen und dem ganzen Scheiß einfach runterjumpen und anschließend unten auf die Straße klatschen.

Und da kommt schon wieder einer! Diesmal ne alte Lady … Fuck!

Und jetzt ein Kerl … Scheiße, Alter! Treffer, ey! Dir ist ja voll die Birne aufgeplatzt, Mann, wie ne reife Melone.

Und jetzt gleich zwei auf einmal — ein Kerl und ne Alte, und Händchen halten tun die, als würd das einen Furz was ändern … Ooooh, Mann, ey! Ob die wohl ans Ficken gedacht haben? Nee, die haben nicht an ficken gedacht, never ever, Alter!

Yo, Mann, he, zieh dir das jetzt rein! Der Typ da, der bildet sich doch Tatsache ein, wenn er son Bettlaken an den Ecken festhält, als wär’s ein Fallschirm oder so, dann würde er schön langsam runter schweben, statt dass ihm die alte Nuss aufplatzt wie ne Melone und dabei dann die ganze Straße einsaut … Siehste, Alter? Voll der Irrtum.

On account of I had a taste of desire, gimme fire. So ging’s, das Gedicht, daran erinnerte sich sein verbrutzeltes Hirn genau. Ice is nice, but on account of I had a taste of desire, gimme fire. Oder irgend so Scheiße, was bedeuten soll, ich hab n paar Tussen gevögelt, also, okay, Scheiße Mann, ja, lieber würd ich doch brennen, als mir gottverdammt den Arsch abfrieren, Alter.

Yo, Mann, also, sag das mal der Kleinen da oben aufm Fensterbrett, Mister superschlauer Dichter, ich mein die Alte da, der ihre Haare und die ganzen Klamotten gerade am brennen sind, und …

Heilige Scheiße!

Das ist Joy!

Joy Griffith.

Joy Griffith, die Sozialarbeiterin, ey, was für ne abgefuckte Zeitverschwendung, die jämmerlichen Arschlöcher drüben im Raleigh sozial bearbeiten zu wollen, Alter, die sollte besser mal besser ihn sozial beackern, Alter, weil nämlich, die Tusse, die ist schon voll in Ordnung. Die Maus ist abgefahren, ey, voll cool.

Jetzt allerdings nicht mehr. Scheiße.

Hier kommt noch so n Fallschirm–Wichser. Der hier hat nichts außer einem Scheißhandtuch … Voll das Arschloch, Alter.

Wo ist Joy hin? Sie ist nicht mehr da. Ist sie schon runtergejumpt? …

Neee … Vielleicht wieder rein? Scheiße, ey. Schick die Alte doch noch mal kurz rein, Kellner. Die hat noch nicht genug sozial gearbeitet!

Ice is nice, but on account of I had a taste of desire, gimme fire. Yo, Mann, also, Mister superschlauer Dichter, sag das jetzt mal dieser Joy Griffith, Mister motherfucker Arschloch–Dichter.

Nach einer ganzen Weile, nach mehr als genug von dem Scheiß hier, kommt World von seinem Supertrip runter, packt seine Glaspfeife aus und zieht sich einen Jumbo rein, ein mordsmäßiges Piece Crack, zerbrutzelt sein Hirn noch ein bisschen weiter, die Fenster immer schön geschlossen und die Klimaanlage auf volle Power, weil’s nämlich auch ohne den Brand da drüben schon heißer ist als in der Hölle, und mit dem Feuer ist’s glatt anderthalbmal so heiß wie in der Hölle, anschließend zieht er sich ein bisschen Glotze rein, Sally–Jessy–Raffy (»Frau Von Ihrem Therapeuten Angeblich Sexuell Missbraucht«), muss sich so wenigstens nicht die Sirenen und die Funksprüche und die Cops und die Feuerwehrspacken anhören, die mit ihren Flüstertüten den armen Wichsern da oben Sachen zubrüllen: Nicht springen, Leute! Rettung naht! Hört stattdessen an, wie die Sally–Jessy–Raffy–Mäuschen erzählen, wie ihre Shrinks bei ihnen Dr. Fühlmal gespielt haben.

Und als Sally–Jessy–Raffy fertig ist, wirft World noch mal kurz einen Blick aus dem Fenster, und siehe da, jetzt jumpen keine armen Arschlöcher mehr aus irgendwelchen Fenstern oder von Simsen und so Scheiß, aber höchstwahrscheinlich verbrennen immer noch ein paar von den bescheuerten Vollpfosten in der Bude, weil nämlich aus ner ganzen Menge von den Fenstern da drüben immer noch Rauch und Flammen und Scheiß schlägt, aber jetzt sind’s schon nicht mehr ganz so viele wie vorhin. Die meisten von den Typen und Tussen, die sich den Brand von der Straße aus reingezogen haben, die sind jetzt längst wieder zu Hause — scheinlich, um sich auch vor die Kiste zu hocken, scheinlich wegen Der Preis ist heiß oder Glücksrad oder Ein Duke kommt selten allein.

Und in den Nachrichten, die jetzt als Sondersendung dazwischen geschoben werden, also, so direkt nach Sally–Jessy–Raffy, da sagen sie jetzt schon, beim Brand im Raleigh, da sind sechzehn arme Wichser draufgegangen, und sie sagen, das Feuer hätte angefangen, weil irgendwer unvorsichtig mit einem Kerosin–Ofen rumgemacht oder bei einem kleinen Feuerchen in einem Papierkorb nicht richtig aufgepasst hätte oder son Scheiß, weil’s nämlich im Raleigh keinen Strom gegeben hätte und gar nichts, weil der Kasten nämlich seit einem Jahr oder scheinlich sogar noch viel länger eigentlich leer stand, also, die armen Wichser, die haben da nämlich unrechtmäßig gewohnt, die haben das Haus besetzt.

Aber World, verbrutzeltes Gehirn und alles, wundert sich.

World wundert sich, weil nämlich einer von den Typen und Tussen, die jetzt immer noch da unten auf der Straße rumlungern und glotzen und gaffen, der war nämlich schon da und hat geglotzt, als die ersten Feuerwehrautos und Bullenkutschen angerollt gekommen sind, das war mitten in Geraldo (»Unterdrückte Männer«), und der hat sich kaum gerührt, bis auf einmal, als er runter zur Bodega unten an der Ecke ist und kurz darauf mit ner Sprite und nem Donut wieder rausgekommen ist, und das ist nämlich Bobby Liberty, Alter, Bobby Liberty, den man immer dann ruft, das erzählt man sich wenigstens, wenn man irgendwas abgefackelt haben muss, denn genau wie die alte Statue unten im Hafen, von der hat er nämlich auch seinen Namen, genau wie die hat Bobby immer ne Fackel dabei.

2

Top Dog

Charles Story trug am rechten Handgelenk zwei Armbänder; das eine, aus Kupfer, sollte ihn vor Arthritis schützen, das andere, aus Silber und aus dem Senegal, ein Hochzeitsgeschenk seiner französischen Frau (die in ihrer Jugend — ihrer jeunesse — mal in Dakar an einem Tennisturnier teilgenommen hatte, mit dem man den Eingeborenen ein bisschen Kultur hatte beibiegen wollen), war ein reines Schmuckstück. Die Armbänder klimperten, wenn Story den Arm bewegte, schrieb, irgendeine Bemerkung mit einer Geste unterstrich, sein dünnes, widerspenstiges Haar aus der Stirn strich — eine Geste, mit der er unter dem Einfluss von John F. Kennedy als Jugendlicher angefangen hatte und die dann irgendwann zur festen Gewohnheit geworden war; sie machten ein angenehmes, unaufdringliches Geräusch wie ein dezentes Glockenspiel. Bei seiner Ernennung zum Police Commissioner hatte Story sich Sorgen gemacht, dass die Officers, deren Vorgesetzter er sein würde, die Armbänder vielleicht als unmännlich oder weibisch ansehen könnten, aber die Männer trugen ja selbst jede Menge Goldkettchen und Armbänder, wenn sie in Zivil rumliefen, so dass Story scherzte, dass er selbst vielleicht noch nicht genug Schmuck trug.

Vielleicht, weil der Scherz runter bis zum kleinsten Beamten durchgesickert war, vielleicht, weil Storys rechter Arm halb über seiner Brust lag und das Kupfer und Silber auf dem marineblauen Lacoste–Polo besonders auffiel, vielleicht bemerkte Patrolman Lester Glatter, der erste Cop aus dem ersten Streifenwagen, der auf den Notruf aus Storys Stadthaus an der Seventieth zwischen Park und Lex reagiert hatte, deshalb die Armbänder (vielleicht auch, weil er ein Grünschnabel war und seinen eigenen Modegeschmack erst noch entwickeln musste) lange bevor er registrierte, dass ihr Besitzer, sprich sein Chef, der Länge nach ausgestreckt auf einem weinroten Orientteppich in der Bibliothek liegend, genau an der Stelle ein Loch in der Brust hatte, an der sich vorher das überaus dekorative Krokodil des Polos befunden hatte und bevor er registrierte, dass der Mittelfinger der rechten Hand seines Chefs abgetrennt und ihm in den Mund gestopft worden war.

Wieso ausgerechnet ich?, fragte sich Glatter, denn er war smart und ehrgeizig und konnte gerade keinen Nutzen für seine weitere Karriere darin erkennen, ausgerechnet seinen Namen auf jedem einzelnen Blatt Papier wiederzufinden, von denen es nach einem solchen beispiellosen Pech wie diesem hier todsicher jede Menge geben würde. Bist du nicht die arme Sau, würde er für die nächsten paar Jahre, ja vielleicht sogar sein ganzes Leben lang, zu hören bekommen, der den Einsatzbefehl erwischt hat, als unser PC erledigt wurde? Bei allem, was er tat, bei jedem Schritt, den er machte, würden ihn Leute, die hinterher immer alles besser wussten, scharf im Auge behalten und beobachten.

Die Reaktion des jungen Cops stimmte völlig mit der von Bürgermeister Sidney Lyons überein, als dieser die Nachricht vom Mord an Story erhielt, nachdem er zwischen den verschiedenen Spätausgaben der Nachrichtensendungen hin und her gezappt und sich vergewissert hatte — die Hauptbeiträge kreisten ausschließlich um den Regen, der das ganze Independence Day–Wochenende versaut hatte —, dass es alles in allem ein Tag ohne Krisen und größere Probleme gewesen war. Brücken zerbröselten, hiesige Sportteams gerieten ins Stolpern, Epidemien suchten die Stadt heim, der Preis für eine Kinokarte näherte sich immer mehr dem für Schwertfisch, das Theater war immer noch tot, die Straßen waren Zuhause für ungefähr so viele Menschen, wie eine Kleinstadt Einwohner hat, während noch mehr Leute (bedauerlicherweise Leute von der Sorte, wie man sie sich als Nachbarn wünschen würde) in die Vororte flüchteten, wo alles viel viel schöner und besser war, rivalisierende Unternehmer in der Drogenbranche exekutierten sich gegenseitig im Freien (was ja durchaus zweckmäßig hätte sein können, würden dabei nicht auch unschuldige Zuschauer ins Gras beißen), sämtliche Rassen, Religionen, Geschlechter und Generationen spielten ein permanentes, feindseliges Pingpong an Beleidigungen und Beschimpfungen, gewählte und ernannte Beamte hinterzogen Steuern, machten illegale Geschäfte und leisteten Meineide, das absolute und endgültige Verkehrschaos lauerte jederzeit direkt hinter der nächsten Ecke — und für all das gaben ihm zu allem Überfluss seine Bürger die Schuld, die einen Koloss von einer Stadt nicht erkannten, solange sie selbst darin lebten. Aber wenigstens für das Wetter konnten sie ihn nicht auch noch verantwortlich machen.

(Oder vielleicht doch?Gerade eben erst hatte Lyons einen Bericht von seinem Chef–Meteorologen erhalten — wer wusste überhaupt, dass es so was wie einen Chef–Meteorologen gab? —, in dem davor gewarnt wurde, dass der Sommer, der viel zu früh mit dem wärmsten März seit Beginn der Wetteraufzeichnungen begonnen und dann mit dem grausamsten April, dem heißesten Mai und Juni weitergemacht hatte, möglicherweise bis in den Oktober hinein andauern könnte. Der Regen, immerhin ganze sieben Zentimeter, hatte bestimmt gar nichts abgekühlt, und das war dann jetzt auch wieder allein seine Schuld, richtig?)

Sylvia Lyons ging an das Telefon, welches den heißen Draht direkt zur Nachtbesetzung in seinem Büro im Rathaus darstellte, und setzte sich damit über die an sich unmissverständliche Anweisung ihres Mannes hinweg, dass sie ihre gottverdammten Scheißpfoten von diesem Apparat lassen sollte, denn es kam einfach nicht gut, wenn die Krieger erst der Squaw erklären mussten, wieso sie den Häuptling sprechen wollten. In Gedanken noch in Shirley MacLains letztes Buch versunken, sagte Sylvia einfach nur »Darling «, womit sie nicht ihn, sondern seinen Pressesprecher George Darling meinte, als sie Lyons ansonsten stumm den Hörer weiterreichte, um sich sofort wieder in ihre Lektüre zu vertiefen.

»Was gibt’s, George? … George?«

Darling weinte, und während er offenbar mit einem intensiven Ringen um Contenance beschäftigt war, spukten durch Lyons’ Kopf finstere Katastrophenszenarien: Die Brooklyn Bridge war eingestürzt, der Queens–Midtown–Tunnel plötzlich undicht geworden, die Mets wanderten aus nach Secaucus und Woody Allen entschwand nach L.A. Eine seiner fünf Töchter (fünf! Töchter … Wieso ausgerechnet er? Die Tatsache, dass er eine Familie hatte, war maßgeblich gewesen für den erdrutschartigen Erfolg bei seiner Wahl, mit der er einen Mann ablöste, der, worauf im Wahlkampf immer wieder hingewiesen worden war, nur Junggeselle war und ganz allein in einem großen Haus lebte, aber … wieso ausgerechnet er?) war Mädchen des Monats im Hustler.

»George, was zum Teufel?«

Darling holte tief Luft und stieß hervor: »Story ist tot, Sir, ermordet, Schuss ins Herz, gegen sieben Uhr, meint der Gerichtsmediziner. Ein Dienstbote, ein Hausdiener, kehrte gegen zehn Uhr in die 119 zurück, nachdem er den Tag über frei gehabt hatte, und fand sodann die Leiche. Mrs. Story und ihre Töchter sind momentan draußen in den Hamptons. Story ist gestern in die Stadt zurückgekommen, weil er heute Morgen an einer Talkshow teilnehmen wollte. Ein Flugzeug der Polizei ist bereits unterwegs, um sie zu holen.«

Lyons entschied sich, laut zu lachen. Das war doch nur ein Scherz, oder? Am ersten April hatte Darling Lyons während seines Mittagsschläfchens mit einem Filzschreiber ein Smiley–Gesicht auf die Stirn gemalt. Dazu war ganz schön Mumm nötig gewesen, aber das hier war jetzt aber mal echter Kinderkram. »George, ich habe gerade eben die Nachrichten gesehen.«

»Walsh und Amato sind erst nach zehn zur 119 gekommen«, sagte Darling. »Der Polizeichef des zuständigen Reviers hat es bis dahin vor der Presse geheim gehalten, weswegen es auch nicht in den Spätausgaben der Nachrichtensendungen gebracht worden ist. Aber in der nächsten halben Stunde werden alle Kanäle live von der 119 berichten. Seven meint, sie würden wahrscheinlich die ganze Nacht live auf Sendung bleiben und dann fließend zu GMA übergehen. Ich denke, Sir, Sie sollten besser direkt zur 119 rausfahren, statt im Mansion oder aus dem Rathaus eine Presseerklärung abzugeben. Hriniak ist ebenfalls bereits auf dem Weg. Ich habe der Presse gegenüber natürlich nichts dazu gesagt, aber ich gehe mal davon aus, dass er den Posten des PC geschäftsführend übernehmen wird.«

Darling legte eine Pause ein, um tief Luft zu holen und auf Bestätigung seiner Annahme zu warten, aber Lyons dachte nach — über GMA und die 119 und Walt Shinamato. Er wusste, dass GMA für Good Morning America stand, und er vermutete, dass es wohl eingängig war, die Sendung GMA zu nennen statt Good Morning America, aber er verstand überhaupt nicht, wie aus 119 East Seventieth Street, der Adresse von Charles Storys Stadthaus, eine Metonymie geworden war wie, nun, so wie beispielsweise Rathaus. Okay, er verstand schon, dass dies zum Teil solchen Trendverkündern wie dieser Journalistin Ann Jones zu verdanken war, der Autorin des Aufmachers in der dieswöchigen Ausgabe des City Magazine mit dem Titel »Von der 119 zur 1 Police Plaza: Charles Story macht seine Premiere mit der Privatisierung von Downtown«, was jedoch mitnichten bedeutete, dass es ihm gefiel.

Und wer zum Teufel war überhaupt Walt Shinamato, was hatte die Tatsache, dass er nicht weiß der Kuckuck wohin kam, damit zu tun, dass irgendwas nicht in den Spätausgaben der Nachrichtensendungen gebracht wurde? Wahrscheinlich einer von diesen Schlitzaugen–Coronern, genau nach so einem hörte sich dieser Shinamato an.

Und dann kam er drauf: Nicht Walt Shinamato. Walsh und Amato, der Chief of Department und der Chief of Detectives, der höchste zivile Cop. (Cops sagten nicht Kriminalbeamte, hatte Lyons erfahren, indem er aufmerksam Cops zugehört hatte, sie sagten einfach Zivile. Man konnte ihm vorwerfen, was man wollte, aber solange jemand etwas sagte, das er hören wollte, war er ein sehr guter Zuhörer.)

Oder war vielleicht Hriniak, der First Deputy Commissioner, ein vom Rang her höherer Beamter als Amato? Hriniak trug auch Zivil — allerdings nicht einfach nur Zivil, nein, vielmehr ausgesprochen teure Anzüge. (Sylvia kaufte Lyons’ Anzüge von der Stange bei Syms, und er erkannte einen teuren Anzug, wenn er einen sah.) Also, vielleicht stand Hriniak weiter oben als Walsh. Musste wohl so sein, wenn Darling davon ausging, dass Lyons Hriniak zum kommissarischen PC ernannte.

Wer auch immer hier der Ranghöchste war, noch bevor Storys Leiche viel kälter wurde, würden alle drei jede Menge Rädchen in Bewegung setzen, um sich auf Dauer die Nachfolge Storys zu sichern — sie würden krallen, kratzen, nicken, sich schlängeln, einschleimen und Arschtritte verteilen, Gegenleistungen für alte Gefälligkeiten einfordern, Deals einfädeln, Versprechungen machen und Drohungen ausstoßen. Wunderbar. Ein Ire, ein Spaghetti und ein — ja was? — wahrscheinlich ein Polacke. Irische Pfeifen, der alte Sinatra und eine Polka verschmolzen in Lyons’ Ohren zu einer scheußlichen Kakophonie, und alle trällerten Why Me?

Wieso ausgerechnet er? Storys Ernennung war von den ewigen Besserwissern scharf kritisiert worden — von Cops, die einwandten, er wäre ein Zivilist, über Populisten, die protestierten, er wäre Millionär, bis zu den Spinnern, die empört darüber waren, dass er auf der Liste der bestgekleideten Männer stand (oder dass er eine ehemalige Tennisspielerin geheiratet hatte — eine ausländische ehemalige Tennisspielerin, eine geschiedene ausländische ehemalige Tennisspielerin, oder dass seine Stieftochter ebenfalls an Tennisturnieren teilnahm und nebenbei noch ein begehrtes Model war oder dass er in einem Stadthaus wohnte, alte Motorräder sammelte und seine Kleidung (ganz und gar keine einfache Kleidung) in England anfertigen ließ, oder dass er Bücher las und sogar selbst welche schrieb — Bücher darüber, dass die Spitzenjobs in den kommunalen Verwaltungen vorzugsweise mit Leuten aus der freien Wirtschaft zu besetzen seien, statt mit Karrierebeamten oder Berufspolitikern, Bücher voller Worte wie Vertrauen und hervorragende Leistung und Verantwortung und Qualität, Bücher, die Bestseller waren). Aber es — Storys Ernennung nämlich — war eine brillante Lösung für ein überaus drängendes Problem gewesen: Storys gottverdammte Allgegenwart. Schlief dieser Mistkerl denn eigentlich nie?

Wenn Storys Bild mal gerade nicht auf irgendeiner Titelseite auftauchte (Grundstücksmakler bietet Bau von Öffentlichem Freibad an), dann mit Sicherheit auf der Immobilienseite (Story schlägt Wohnungen für Bezieher niedriger Einkommen in Luxus–Hochhäusern vor) oder auf der Gesellschaftsseite (Gala zugunsten von Epidemieopfern in Storys privatem Wohnsitz) oder auf der Halbseite vor dem Sportteil (Grundstücksmakler plant Major League Baseballstadion auf ehemaliger Manhattaner Mülldeponie) oder im Editorial, in einem Cartoon, der Storys gutes Filmschauspieler–Aussehen herausstrich (ganz anders als die derben Karikaturen von Lyons, in denen er immer wie einer von Dr. Seuss’ Humanoiden daherkommt) und eine geistreiche Kolumne illustrierte (nicht wie diese verrückten, zeternden Kolumnen, die Lyons für den gestiegenen Teepreis in China verantwortlich machten), in der man sich laut fragte, ob Story wohl das Amt des Bürgermeisters oder eines Senators oder Präsidenten oder des Baseball Commissioners anstrebte. War er ein Mann, der König sein würde, oder hatte er sein Auge bereits auf Gott geworfen?

(Und wir reden hier nicht mal über die Lifestyle–Artikel: Die GQ–Coverstory darüber, was smarte junge Milliardäre üblicherweise so tragen; der große Aufmacher der Vanity Fair über das Bauernhaus auf Long Island, das Storys Architekten, Designer und Innenausstatter zu einem Palast umgebaut haben; die parallel erschienenen Titelgeschichten in City, Manhattan, Inc. und Sports Illustrated (wer hat da gesagt, so etwas wie Medienverschwörung gäbe es nicht?) über seine Yacht, ausgestattet mit elektronischer Navigation und Echolot und doppelten Detroit–Dieselmotoren und zwölf VHF–Funktelefonen und Sauna und Poolbar und Kraftraum und Disco und Hubschrauberlandeplatz und Börsenticker und wahrscheinlich auch noch mit Lenkflugkörpern, die Story einem Saudi–Prinzen mit Cashflow–Problemen abgekauft hatte. Und auch ganz zu schweigen von der Titelstory im Lear’s, wie Lise Story mit ihren diversen Rollen als Gründerin und Chefin einer Kette von Fitnesscentern für weibliche Topmanager, Philanthropin, Ehefrau und Mutter jonglierte, oder die Titelgeschichten in Model, World Tennis und Sassy über Claire Langois’ Wechsel vom Nachwuchstennisstar von Weltformat zum erstklassigen und hoch bezahlten Fotomodell für exklusive Designermode. Und natürlich das Fernsehspecial Lifestyles der Reichen und Schönen, ausgestrahlt zur besten Sendezeit parallel zur Cosby Show — während der Einschaltquotenerhebung im Februar —, bei dem Robin Leach vor lauter apoplektischer Begeisterung geradezu abhob, und die ganze Sendung fast ausschließlich über die Storys.)

Sidney Lyons war machtlos gewesen, Charles Storys ausuferndem Ehrgeiz einen Dämpfer aufzusetzen, aber ganz sicher konnte er, wenigstens vorübergehend, eine Kandidatur um das Amt des Bürgermeisters verhindern, indem er aus der Not, einen Nachfolger für den scheidenden Police Commissioner Howard Nagle finden zu müssen, eine Tugend machte und Story die Ernennung auf dem Silbertablett servierte. Außerdem konnte er Story vielleicht zwingen, seine Karten offen auf den Tisch zu legen, indem er ihn anwies, als erste Aufgabe eine Studie über die Durchführbarkeit eines privatwirtschaftlich geleiteten Police Departments zu erstellen, über die er so wortgewandt wie häufig sein Maul aufriss. Er konnte, und er hatte auch (»Ich kann Ihnen in die Augen sehen, meine lieben New Yorker Mitbürger und Mitbürgerinnen, und ohne zu zögern sagen, dass die heutige Ernennung den Beginn einer neuen Ära in der Geschichte des Police Departments dieses Kolosses unter den Städten markiert«), und selbst seine Gegner zogen ihren Hut vor so viel Gerissenheit.

Also, wie kam dieser Story dazu, sich einfach umbringen zu lassen, nachdem Lyons es gerade geschafft hatte, dass der Kerl ihm nicht länger auf die Nerven ging?

»Mister Bürgermeister?«

»Ja, George, ich habe Sie gehört. Hriniak.«

»Ja, Sir. Aber da ist noch etwas, Sir … Der einzige Anhaltspunkt ist bislang der, äh, Finger des Opfers.«

Lyons drehte sich der Magen um, und er schluckte und schluckte und versuchte dieses unangenehme Gefühl zu unterdrücken. Er vermutete, das bedeutete dann wohl, dass er die Sache so langsam in den Griff bekam, denn als er das erste Mal zum Tatort des Mordes an einem Sicherheitsbeamten in einem Obdachlosenasyl in den East Twenties gerufen worden war und die blutigen Fetzen sah, wo sich zuvor der Mittelfinger des Mannes befunden hatte, dann eben diesen blutverschmierten Finger in den Mund des Mannes gestopft sah (Was ist das? Eine Zigarre? Ein Stück Hundescheiße? Was ist das?), da hatte er Chief Walsh auf die Schuhe gekotzt.

Seit damals vor — wie vielen? — acht Wochen, zehn Wochen, hatte es vier weitere Morde gegeben, vier weitere Verstümmelungen und Demütigungen, und das alles nur, weil so ein paar Unzufriedene, die in Abwasserkanälen und U–Bahntunneln und unter Brücken lebten und auch nicht den geringsten Schimmer hätten, was sie mit einem Haus oder einem Job oder einem Platz in der Gesellschaft eines solchen Kolosses unter den Städten anfangen sollten, selbst wenn sie eines oder einen besäßen, was dann wiederum auch der Grund war, warum sie keines oder keinen hatten — das alles nur, weil sie glaubten, Leuten die Finger abzuhacken und ihnen diese dann in ihre Mäuler zu stopfen wäre eine wunderbare, ja geradezu hämische Art und Weise, dem ganzen System Leck mich doch am Arsch! zu sagen, ja ihm ganz persönlich — sehen wir der Sache doch mal ruhig und gelassen ins Gesicht, denn Lyons war ein Mann mit der festen Überzeugung, dass auf jeder Schlinge und auf jedem Pfeil sein Name stand — genau das zu sagen.

Die Hoffnungslosen, so nannten sie sich, und die gottverdammten Medien stürzten sich förmlich darauf, wobei das City, natürlich!, wieder mal den Vorreiter spielte, gerade so als würden sie schon allein deshalb zu Robin Hoods oder etwas in der Richtung, nur weil sie einen Namen hatten, zu modernen Butch Cassidys und Sundance Kids, statt einfach das blieben, was sie nämlich tatsächlich waren: Penner!

City Hall Park. Nur ein paar lausige Meter entfernt vom Sitz der Regierung dieses Kolosses unter den Städten. Praktisch von seinem Bürofenster aus zu erkennen. Eine Gruppe Penner lebte dort nun schon seit Jahren, so schien es ihm wenigstens, obwohl er doch genau wusste, dass es erst seit letztem Thanksgiving war. Hah — wahrscheinlich fanden sie das auch noch witzig, sich ausgerechnet am Thanksgiving Day mit ihren Schlafsäcken und Pappkartons dort unten einzunisten. Sich in aller Öffentlichkeit den Darm zu entleeren und zu urinieren, für alle und jeden weithin sichtbar, für ihn deutlich sichtbar. Manchmal riefen sie ihm zu, wenn er eine Pressekonferenz auf den Stufen des Rathauses abhielt, um irgendeine neue Leistung oder Errungenschaft bekanntzugeben, brüllten dann Siiid–ney, Siiiid–ney, in diesem Singsang, so wie Baseballfans Darryl Strawberry anbrüllten, wenn ihnen seine Einstellung auf die Nerven ging, brüllten es manchmal auch, wenn er im Rathaus war und versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Was wussten die denn schon von Arbeit? Vets, behaupteten sie gegenüber den gottverdammten Medienfuzzis, Vets wären sie, also, Veteranen des Vietnam–Krieges. Bullshit. Hat das vielleicht mal irgendwer nachgeprüft, hat irgendwer mal in Washington angerufen und sich nach ihren Armeeakten erkundigt? Nein, natürlich nicht. Vets, gottverdammte Affenscheiße war das. Miesmacher, Schädlinge, Nervensägen. Obdachlose. Penner.

Penner, die sogar aufs Grundstück des Gracie Mansion kackten und pissten, direkt vor dem offiziellen Wohnsitz des Bürgermeisters, vor seinem gottverdammten eigenen Haus. (Lyons war inzwischen aus dem Bett und stand am Fenster, spannte dabei das Telefonkabel so weit es gerade ging, erntete befremdliche Blicke von Sylvia, als er sein Gesicht gegen die Glasscheibe presste und versuchte zu sehen, ob gerade jetzt wieder irgendwer seine Därme entleerte oder frech urinierte. Er sah nichts weiter als sein eigenes Spiegelbild, bekam mit dem zwischen Kinn und Schulter eingeklemmten Hörer das Fenster nicht auf, das fest verschlossen war, um die — glücklicherweise — vollklimatisierte Luft im Haus zu halten.) Sie hatten sich nicht getraut, die Penner, ihre Schlafsäcke und Pappkartons aufs Grundstück des Gracie Mansion zu schleppen, aber eine Gruppe von denen kampierte unmittelbar südlich des Mansion im Carl Schurz Park, und sie hielten es offensichtlich für ganz besonders wunderbar und hämisch, lieber sein Nest als ihr eigenes zu beschmutzen. An manchen Abenden träumte er im Dämmer kurz vor dem Einschlafen, wie er sich aus dem Haus und hinunter in den Park schlich und ein paar von denen mit einem Baseball–Schläger fertigmachte. Während der letzten paar Wochen hatte es mehrere tätliche Übergriffe auf schlafende Obdachlose gegeben; die Cops suchten die Schuldigen (wie hätte es auch anders sein können) bei irgendwelchen Kids, die nichts zu tun und kein anständiges Zuhause hatten, aber Lyons hätte jede Wette gemacht, dass die Verantwortlichen alles zuverlässige und anständige Bürger waren, die von Pennern und Gammlern einfach die Schnauze gestrichen voll hatten. Wer würde denn schon sagen können, dass es nicht einfach nur der Letzte in, wie es die Zeitungen schon sehr bald nennen würden, einer ganzen Serie von Angriffen und Überfällen war, wenn er sich jetzt dort runterschlich und ein paar von denen den Schädel einschlug? Wen würde es interessieren? Vets, Affenscheiße! Penner!

Darling sagte: »Und, äh, Sir?«

»Sagen Sie’s einfach, George. Sagen Sie nicht gottverdammt dauernd Sir.«

»… Ja, Sir. Sir, irgendwer hat Wally auf die Rand geschrieben.«

»Irgendwer hat was gemacht?«

»Äh, entschuldigen Sie, Sir. Lassen Sie es mich noch einmal versuchen. Jemand … hat … Raleigh … auf die Wand geschrieben.«

Rawley? Doch nicht diese kleine Schwarze aus Poughkeepsie? Bitte, lieber Gott, nicht sie und Al Sharkskin und all die anderen. »Noch mal, George. Hat was geschrieben?«

»R–a–l–e–i–g–h. Raleigh. Mit einem roten Filzstift von Storys Schreibtisch. In großen, dicken fetten Blockbuchstaben.«

Lyons konnte sie deutlich sehen — die gleiche kindische Blockschrift, die die ungebildeten Undankbaren dieses Kolosses unter den Städten benutzten, wenn sie ihm ihre krittelnden Beschwerdebriefe auf Papier kritzelten, das sie für gewöhnlich aus den Ringbüchern ihrer Kinder herausgerissen hatten, weil sie so etwas wie anständiges Schreibpapier natürlich nicht im Haus hatten. »George?«

»Ja, Sir?«

»Wieso ausgerechnet ich?«

»… Ja, Sir.«

3

Rauch und Nebel

In der 119, ein paar Sekunden nach 04:11:33 Uhr auf der Digitaluhr, die ihm seine in Computer vernarrte Tochter zum Geburtstag geschenkt hatte (das Ding hatte zwar kein eingebautes Thermometer, aber die Temperatur lag ungefähr bei neunundzwanzig Grad, vier Uhr morgens oder nicht; stattdessen gab’s aber eine Datumsanzeige — 5. Juli), fragte sich Joe Cullen: Wieso ausgerechnet ich?

In der Wohnung wimmelte es vor Cops. Cops im Dienst, die den Einsatzbefehl gehört und selbst aus so weit entfernten Stadtteilen wie Rockaway und Tottenville und Riverdale sofort ihren Arsch zum Tatort in Bewegung gesetzt hatten, Cops auf Urlaub, krank gemeldete Cops, suspendierte Cops, ehemalige Cops, tote Cops und ungeborene Cops, so schien es, liefen überall im Haus herum, drängten sich draußen auf dem Bürgersteig und auf der Straße, strömten in beiden Richtungen den Block hinunter Richtung Park und Lex, diejenigen von ihnen, die nicht in Uniform waren, trugen Jogginganzüge und Turnhosen und T–Shirts und Muscleshirts, waren sich nicht hundertprozentig sicher, viele von ihnen zumindest, uniformiert oder nicht, ob ein ziviler PC (ein Multimillionär von einem zivilen PC) streng genommen überhaupt einer von ihnen war, wurden aber dennoch von einem Todesfall im Department angezogen wie von einem superstarken Magneten.

Und wieso, fragte Cullen sich, hatte ausgerechnet er diesen Job bekommen, wo doch ganz bestimmt mehr als genug andere Cops da waren? Er ging zu Captain Richie Maslosky hinüber, der gerade etwas auf ein Blatt Papier kritzelte, das er auf einem Klemmbrett befestigt hatte, und schüttelte seinen Arm.

Maslosky sah nicht auf. »Was?«

»Wieso ich?«, fragte Cullen.

Maslosky hob seinen Blick. »Korrigier mich bitte, Joe, wenn ich jetzt daneben liege, aber es gibt wahrscheinlich Burschen, die würden ihre Mutter verscherbeln, nur um bei Vera Evans den Babysitter spielen zu dürfen.« Maslosky schrieb weiter, sah dann kurz auf seine Armbanduhr, eine ganz normale altmodische Timex mit Zifferblatt und Zahlen und Zeigern, eine Uhr, wie Cullen gehofft hatte, sie geschenkt zu bekommen, als er geäußert hatte, dass er sich eine Uhr wünschte, eine Uhr, die einem nicht ständig sagte, wie schnell die Sekunden verstrichen — und mit ihnen das Leben. Trafen Leute, die solche Uhren trugen, ihre Verabredungen wohl in Bruchteilen von Sekunden und Zentimetern — Wir treffen uns dann um 05:18:22 Uhr drei Meter einundachtzig von der Nordostecke Fifty–seventh und Broadway? »Sie soll so gegen sieben auf dem La Guardia landen. Eine Limousine bringt sie her. Du könntest schon mal davon ausgehen, dass deine erste Schicht so um acht beginnt. Sagen wir lieber halb acht.«

Sagen wir 07:29:59 Uhr. »Captain, könnten Sie bitte mit Walsh sprechen?«

Maslosky richtete seinen Finger genau auf Cullens Herz. »Korrigier mich, wenn ich mich irre, aber ist nicht gerade der PC umgelegt worden? Du meinst …«

»Okay, ich werde selbst mit Walsh reden«, sagte Cullen, drehte sich um und stieß mit Walsh zusammen. Und prallte sofort wieder ab, denn auch wenn dieser fünfzehn Zentimeter kleiner war als Cullen und so dünn wie die Zigaretten, die er pausenlos rauchte, wich Walsh keinen Millimeter von der Stelle.

Walsh überprüfte sofort seine Goldtressen, seine Orden, die Bügelfalten seiner Uniform auf irgendwelche Schäden, die sie bei dem Zusammenstoß womöglich davongetragen haben könnten. Er war perfekt, der einzige Mann im ganzen Haus, der eine Jacke trug, der einzige Mann in der ganzen Stadt, der nicht schwitzte. »Um Walsh was zu erklären, Sergeant?«

»Sir, der PC und ich …«

»Alte Kumpel, wie ich höre«, unterbrach Walsh.

»Freunde, ja.«

»Queens?«

»Elmhurst.«

»Elmhurst High?«

»Ja, Sir.«

»Ich war auf der Jamaica High. Vor Ihrer Zeit.«

»Ja, Sir.«

»Auszeichnungen in Basketball und Baseball. Haben Sie für Elmhurst gespielt?«

»Nein, Sir. Ich war ein jugendlicher Straftäter.«

Walsh musterte Cullen von oben bis unten. In seinem verknitterten Anzug sah Cullen definitiv ungepflegt und unordentlich aus; war er womöglich obendrein auch noch sarkastisch und aufsässig? »Dann sind Sie also deswegen heute ein Spitzel? Zum Ausgleich?«

Um aus diesem Wortwechsel schlau werden zu können, muss man wissen, dass dies keine echte Unterhaltung war, sondern ein Schlagabtausch. Cullen arbeitete in der IAU, der Internal Affairs Unit, der Abteilung, die sich um die Überwachung der Polizei kümmert. Walsh, Chief of Department oder nicht, war ein Hardliner, der glaubte — nein: wusste —, dass die IAU — und nichts anderes — die Polizei einengte, behinderte und sie ganz allgemein davon abhielt, die Leute zu überwachen, die einzige Gruppe, die eine Lektion nötig hatte, stets Recht und Ordnung zu achten und einzuhalten. Irgendwann einmal, in einem Zeitungsinterview, hatte ein IAU–Commander seine Männer in der Hoffnung Frettchen genannt, damit plastisch umschreiben zu können, dass sie mit der unerbittlichen Suche nach der Wahrheit beschäftigt waren; jemand — jemand wie Walsh — hatte gewusst, dass ein Frettchen nichts anderes war als ein domestiziertes Wiesel und damit im Volksmund gleichbedeutend mit Einschleicher und Spitzel. Spitzel blieb kleben, während Frettchen nicht haften blieb.

»Was ist mit Story?«, fragte Walsh. »War er auch ein jugendlicher Straftäter?«

Was dachte er eigentlich — dass Story aus Rache für etwas umgelegt worden war, das bei einer Schlägerei vor dreißig Jahren passiert war? »Er hat sechs Tage die Woche jeden Abend sechs Stunden im Süßigkeitenladen seines Dads gearbeitet und hat trotzdem immer noch die Zeit gefunden, auf der Schule ein ausgezeichneter Schüler und ein großer Mann zu sein.«

Walsh warf Cullen einen scharfen Blick zu, suchte nach mehr Sarkasmus, drehte sich dann zu der Gewölbedecke des Flures um, sah sich die moderne Kunst und die goldgerahmten Spiegel und die Lüster an. »Sehen Sie nur, was es ihm eingebracht hat, all die harte Arbeit.«

Cullen dachte daran, Walsh am Ohr zu packen und ihn ins Arbeitszimmer zu schleifen und seine Nase in das immer noch klebrige Blut auf dem Teppich zu stoßen und zu sagen: Sehen Sie nur, was es ihm eingebracht hat, all die harte Arbeit. Statt dessen sagte er: »Bei allem Respekt, Sir, ich bin in dieser Sache zu befangen. Mir fehlt hier die nötige objektive Distanz.«

»Wir werden Sie im Auge behalten, Sergeant«, sagte Walsh. »Wir wollen hier keine Vendetta.« Bevor Cullen erklären konnte, dass es hier überhaupt nicht um irgendeine Vendetta ging, fügte Walsh schnell hinzu: »Wann schließen Sie übrigens endlich die Dean–Sache ab?«

»Alles schon bei den Anwälten.«

Walsh nickte. »Anwälte …« Er gab einem uniformierten Lakaien in seinem Kielwasser ein Zeichen, und der Lakai zückte daraufhin blitzschnell einen Messingaschenbecher, ausgeliehen aus Storys Arbeitszimmer (ohne Erlaubnis vom Tatort entfernt, wenn man den Fachausdruck verwenden wollte). Walsh drückte seine Kippe darin aus, als wäre es das Auge irgendeines Anwaltes, und wischte sich dann die Fingerspitzen ab. »Und da Sie ja nicht bis über beide Ohren in Arbeit stecken, Sergeant, tun Sie, was ich bereits Captain Maslosky gebeten habe, Ihnen zu sagen: Kümmern Sie sich um Vera Evans, sorgen Sie dafür, dass sie nicht von Presse und Autogrammjägern belästigt wird, sorgen Sie dafür, dass nicht irgendwelche Nachahmer versuchen, sie auch noch umzulegen. Wahrscheinlich werden Sie sie ja wohl auch gekannt haben, stimmt’s, wo sie doch Storys kleine Schwester ist?«

»Stimmt … Sir.«

»Fein, dann wird es für Sie ja ganz wie früher sein.« Und Walsh schaute auf seine Uhr mit einem richtigen Zifferblatt und Zahlen und Zeigern, hergestellt, wie nicht anders zu erwarten, aus Stahl, und ging.

Also versuchte Cullen, um 04:33:46 Uhr sein Glück bei Amato, denn wie spät auch immer es war, es konnte doch nie mehr so sein wie früher.

»Es tut mir wirklich aufrichtig leid, Sergeant. Wie ich hörte, war der PC ja wohl ein alter Freund von Ihnen. Mein aufrichtiges Beileid. «

Außerdem hatte Amato seinen Arm um Cullens Schultern gelegt. Manche Leute ließen sich durch Amatos ständig irgendwo rumfummelnde Hände verunsichern (er war schließlich auf die Notre Dame gegangen und jesuitischer Postulant gewesen, um Himmels willen; sein Spitzname — er war kugelrund und hatte eine Glatze — lautete Bruder Tuck), aber Cullen, ein ausgesprochener Frauenliebling, erkannte einen homosexuellen Mann, wenn er einen sah. »Ich möchte Ihnen nichts vormachen, Chief. Ich habe bereits mit Captain Maslosky und Chief Walsh gesprochen, und man hat mir gesagt, dass ich mich an meine Anweisungen halten sollte.«

»Dann sollten Sie sie auch tatsächlich befolgen, Sergeant.« Amato ließ Cullen los und faltete seine Hände wie ein Abt.

»… aber ich meine, ich könnte mich auf sinnvollere Weise einbringen.« Einbringen? Cullen sagte nie einbringen. Sein Partner, Neil Zimmerman, einer diesen neuen New Age–Cops, zu lange gebraten in den Backöfen der modernen Kriminologie, überschüttet mit doppeldeutigem soziologischem und Hightech–Gelaber, der sagte immer einbringen. Einbringen und einwirken und übertreffen und ankoppeln und grünes Licht geben — ausnahmslos Verben, genau wie Cullens persönliches Lieblingswort kilometrisieren (»Es ist eine Sechstelmeile kürzer, wenn man über den Queens Boulevard nach Hause fährt. Ich hab’s kilometrisiert.«),

»Ich verstehe schon, Sergeant, dass sie erschüttert sind. Sie wollen überall gleichzeitig sein und alles machen, und am Ende haben Sie das Gefühl, überhaupt nirgendwo zu sein und gar nichts zu machen.« Amatos Hand lag nun auf Cullens Ellbogen, und er führte ihn wie einen Gast, der viel zu lange geblieben war, zur Eingangstür. »Ein Polizistenmord ist immer eine heikle Sache, und wenn es um den PC geht, nun … Für Chief Walsh ist es der gewaltsame Tod eines Officers in Ausübung seiner Pflicht, und als Chief of Department ist er natürlich der Ansicht, dies falle daher in seinen Zuständigkeitsbereich. Für mich — und das heißt nicht, dass es für mich in persönlicher wie kameradschaftlicher Hinsicht kein Verlust wäre — für mich ist es schlicht und einfach eine Sache für das Detective Bureau. Ruth und Maslosky, beide wollen ein Stück vom Kuchen für sich.« Powell Ruth war der Chef des Homicide Bureau, der Mordkommission, Maslosky gehörte zur IAU; Amato war Ruths Gönner, Maslosky war Walshs Protegé — es war alles schrecklich kompliziert.

»Ein Mann wie Sie, Sergeant« — Amato sagte nicht, musste es auch nicht sagen, was Walsh ebenfalls nicht gesagt hatte, auch nicht hatte sagen müssen, dass nämlich Hriniak, der erste Stellvertreter, der Mann, der höchstwahrscheinlich Storys Nachfolger werden würde, dass Hriniak — zumindest für den Augenblick — Cullens Gönner war — »ein Mann wie Sie, nun, er muss sich einfügen, wo er hineinpasst, er muss sich mit dem Strom bewegen, so dass am Ende …« Amato hatte es im Department zu etwas gebracht, indem er Sätze unvollendet im Raum stehen ließ. Es war einfach unmöglich, ihn auf irgendetwas festzunageln, und wenn der Schwarze Peter wieder bei ihm angekommen war, dann war er längst ganz woanders. (»Gegen Amato etwas in die Hand zu bekommen«, hatte Hriniak einmal in Yorkville gesagt, »ist genau so als würde man versuchen, einer Schlange Handschellen anzulegen.«)

»Ach, übrigens, Sergeant — sind Sie einer Aufklärung in der Dean–Sache schon näher gekommen?«

»Nein, Sir. Die Anwälte beschäftigen sich zur Zeit damit.«

»Ah, ja. Nun …«

»Äh …«

»Ja, Sergeant?«

Aber Cullen wusste nicht mehr, was er gerade hatte sagen wollen. Diese Wirkung hatte Amato auf einen: er lullte einen ein, bis man schließlich selbst zu treiben begann, durch Rauch und Nebel.

»Tja, dann …«

»… Ja, Sir.«