Charles Story trug am rechten Handgelenk zwei Armbänder; das eine, aus Kupfer, sollte ihn vor Arthritis schützen, das andere, aus Silber und aus dem Senegal, ein Hochzeitsgeschenk seiner französischen Frau (die in ihrer Jugend — ihrer jeunesse — mal in Dakar an einem Tennisturnier teilgenommen hatte, mit dem man den Eingeborenen ein bisschen Kultur hatte beibiegen wollen), war ein reines Schmuckstück. Die Armbänder klimperten, wenn Story den Arm bewegte, schrieb, irgendeine Bemerkung mit einer Geste unterstrich, sein dünnes, widerspenstiges Haar aus der Stirn strich — eine Geste, mit der er unter dem Einfluss von John F. Kennedy als Jugendlicher angefangen hatte und die dann irgendwann zur festen Gewohnheit geworden war; sie machten ein angenehmes, unaufdringliches Geräusch wie ein dezentes Glockenspiel. Bei seiner Ernennung zum Police Commissioner hatte Story sich Sorgen gemacht, dass die Officers, deren Vorgesetzter er sein würde, die Armbänder vielleicht als unmännlich oder weibisch ansehen könnten, aber die Männer trugen ja selbst jede Menge Goldkettchen und Armbänder, wenn sie in Zivil rumliefen, so dass Story scherzte, dass er selbst vielleicht noch nicht genug Schmuck trug.
Vielleicht, weil der Scherz runter bis zum kleinsten Beamten durchgesickert war, vielleicht, weil Storys rechter Arm halb über seiner Brust lag und das Kupfer und Silber auf dem marineblauen Lacoste–Polo besonders auffiel, vielleicht bemerkte Patrolman Lester Glatter, der erste Cop aus dem ersten Streifenwagen, der auf den Notruf aus Storys Stadthaus an der Seventieth zwischen Park und Lex reagiert hatte, deshalb die Armbänder (vielleicht auch, weil er ein Grünschnabel war und seinen eigenen Modegeschmack erst noch entwickeln musste) lange bevor er registrierte, dass ihr Besitzer, sprich sein Chef, der Länge nach ausgestreckt auf einem weinroten Orientteppich in der Bibliothek liegend, genau an der Stelle ein Loch in der Brust hatte, an der sich vorher das überaus dekorative Krokodil des Polos befunden hatte und bevor er registrierte, dass der Mittelfinger der rechten Hand seines Chefs abgetrennt und ihm in den Mund gestopft worden war.
Wieso ausgerechnet ich?, fragte sich Glatter, denn er war smart und ehrgeizig und konnte gerade keinen Nutzen für seine weitere Karriere darin erkennen, ausgerechnet seinen Namen auf jedem einzelnen Blatt Papier wiederzufinden, von denen es nach einem solchen beispiellosen Pech wie diesem hier todsicher jede Menge geben würde. Bist du nicht die arme Sau, würde er für die nächsten paar Jahre, ja vielleicht sogar sein ganzes Leben lang, zu hören bekommen, der den Einsatzbefehl erwischt hat, als unser PC erledigt wurde? Bei allem, was er tat, bei jedem Schritt, den er machte, würden ihn Leute, die hinterher immer alles besser wussten, scharf im Auge behalten und beobachten.
Die Reaktion des jungen Cops stimmte völlig mit der von Bürgermeister Sidney Lyons überein, als dieser die Nachricht vom Mord an Story erhielt, nachdem er zwischen den verschiedenen Spätausgaben der Nachrichtensendungen hin und her gezappt und sich vergewissert hatte — die Hauptbeiträge kreisten ausschließlich um den Regen, der das ganze Independence Day–Wochenende versaut hatte —, dass es alles in allem ein Tag ohne Krisen und größere Probleme gewesen war. Brücken zerbröselten, hiesige Sportteams gerieten ins Stolpern, Epidemien suchten die Stadt heim, der Preis für eine Kinokarte näherte sich immer mehr dem für Schwertfisch, das Theater war immer noch tot, die Straßen waren Zuhause für ungefähr so viele Menschen, wie eine Kleinstadt Einwohner hat, während noch mehr Leute (bedauerlicherweise Leute von der Sorte, wie man sie sich als Nachbarn wünschen würde) in die Vororte flüchteten, wo alles viel viel schöner und besser war, rivalisierende Unternehmer in der Drogenbranche exekutierten sich gegenseitig im Freien (was ja durchaus zweckmäßig hätte sein können, würden dabei nicht auch unschuldige Zuschauer ins Gras beißen), sämtliche Rassen, Religionen, Geschlechter und Generationen spielten ein permanentes, feindseliges Pingpong an Beleidigungen und Beschimpfungen, gewählte und ernannte Beamte hinterzogen Steuern, machten illegale Geschäfte und leisteten Meineide, das absolute und endgültige Verkehrschaos lauerte jederzeit direkt hinter der nächsten Ecke — und für all das gaben ihm zu allem Überfluss seine Bürger die Schuld, die einen Koloss von einer Stadt nicht erkannten, solange sie selbst darin lebten. Aber wenigstens für das Wetter konnten sie ihn nicht auch noch verantwortlich machen.
(Oder vielleicht doch?Gerade eben erst hatte Lyons einen Bericht von seinem Chef–Meteorologen erhalten — wer wusste überhaupt, dass es so was wie einen Chef–Meteorologen gab? —, in dem davor gewarnt wurde, dass der Sommer, der viel zu früh mit dem wärmsten März seit Beginn der Wetteraufzeichnungen begonnen und dann mit dem grausamsten April, dem heißesten Mai und Juni weitergemacht hatte, möglicherweise bis in den Oktober hinein andauern könnte. Der Regen, immerhin ganze sieben Zentimeter, hatte bestimmt gar nichts abgekühlt, und das war dann jetzt auch wieder allein seine Schuld, richtig?)
Sylvia Lyons ging an das Telefon, welches den heißen Draht direkt zur Nachtbesetzung in seinem Büro im Rathaus darstellte, und setzte sich damit über die an sich unmissverständliche Anweisung ihres Mannes hinweg, dass sie ihre gottverdammten Scheißpfoten von diesem Apparat lassen sollte, denn es kam einfach nicht gut, wenn die Krieger erst der Squaw erklären mussten, wieso sie den Häuptling sprechen wollten. In Gedanken noch in Shirley MacLains letztes Buch versunken, sagte Sylvia einfach nur »Darling «, womit sie nicht ihn, sondern seinen Pressesprecher George Darling meinte, als sie Lyons ansonsten stumm den Hörer weiterreichte, um sich sofort wieder in ihre Lektüre zu vertiefen.
»Was gibt’s, George? … George?«
Darling weinte, und während er offenbar mit einem intensiven Ringen um Contenance beschäftigt war, spukten durch Lyons’ Kopf finstere Katastrophenszenarien: Die Brooklyn Bridge war eingestürzt, der Queens–Midtown–Tunnel plötzlich undicht geworden, die Mets wanderten aus nach Secaucus und Woody Allen entschwand nach L.A. Eine seiner fünf Töchter (fünf! Töchter … Wieso ausgerechnet er? Die Tatsache, dass er eine Familie hatte, war maßgeblich gewesen für den erdrutschartigen Erfolg bei seiner Wahl, mit der er einen Mann ablöste, der, worauf im Wahlkampf immer wieder hingewiesen worden war, nur Junggeselle war und ganz allein in einem großen Haus lebte, aber … wieso ausgerechnet er?) war Mädchen des Monats im Hustler.
»George, was zum Teufel?«
Darling holte tief Luft und stieß hervor: »Story ist tot, Sir, ermordet, Schuss ins Herz, gegen sieben Uhr, meint der Gerichtsmediziner. Ein Dienstbote, ein Hausdiener, kehrte gegen zehn Uhr in die 119 zurück, nachdem er den Tag über frei gehabt hatte, und fand sodann die Leiche. Mrs. Story und ihre Töchter sind momentan draußen in den Hamptons. Story ist gestern in die Stadt zurückgekommen, weil er heute Morgen an einer Talkshow teilnehmen wollte. Ein Flugzeug der Polizei ist bereits unterwegs, um sie zu holen.«
Lyons entschied sich, laut zu lachen. Das war doch nur ein Scherz, oder? Am ersten April hatte Darling Lyons während seines Mittagsschläfchens mit einem Filzschreiber ein Smiley–Gesicht auf die Stirn gemalt. Dazu war ganz schön Mumm nötig gewesen, aber das hier war jetzt aber mal echter Kinderkram. »George, ich habe gerade eben die Nachrichten gesehen.«
»Walsh und Amato sind erst nach zehn zur 119 gekommen«, sagte Darling. »Der Polizeichef des zuständigen Reviers hat es bis dahin vor der Presse geheim gehalten, weswegen es auch nicht in den Spätausgaben der Nachrichtensendungen gebracht worden ist. Aber in der nächsten halben Stunde werden alle Kanäle live von der 119 berichten. Seven meint, sie würden wahrscheinlich die ganze Nacht live auf Sendung bleiben und dann fließend zu GMA übergehen. Ich denke, Sir, Sie sollten besser direkt zur 119 rausfahren, statt im Mansion oder aus dem Rathaus eine Presseerklärung abzugeben. Hriniak ist ebenfalls bereits auf dem Weg. Ich habe der Presse gegenüber natürlich nichts dazu gesagt, aber ich gehe mal davon aus, dass er den Posten des PC geschäftsführend übernehmen wird.«
Darling legte eine Pause ein, um tief Luft zu holen und auf Bestätigung seiner Annahme zu warten, aber Lyons dachte nach — über GMA und die 119 und Walt Shinamato. Er wusste, dass GMA für Good Morning America stand, und er vermutete, dass es wohl eingängig war, die Sendung GMA zu nennen statt Good Morning America, aber er verstand überhaupt nicht, wie aus 119 East Seventieth Street, der Adresse von Charles Storys Stadthaus, eine Metonymie geworden war wie, nun, so wie beispielsweise Rathaus. Okay, er verstand schon, dass dies zum Teil solchen Trendverkündern wie dieser Journalistin Ann Jones zu verdanken war, der Autorin des Aufmachers in der dieswöchigen Ausgabe des City Magazine mit dem Titel »Von der 119 zur 1 Police Plaza: Charles Story macht seine Premiere mit der Privatisierung von Downtown«, was jedoch mitnichten bedeutete, dass es ihm gefiel.
Und wer zum Teufel war überhaupt Walt Shinamato, was hatte die Tatsache, dass er nicht weiß der Kuckuck wohin kam, damit zu tun, dass irgendwas nicht in den Spätausgaben der Nachrichtensendungen gebracht wurde? Wahrscheinlich einer von diesen Schlitzaugen–Coronern, genau nach so einem hörte sich dieser Shinamato an.
Und dann kam er drauf: Nicht Walt Shinamato. Walsh und Amato, der Chief of Department und der Chief of Detectives, der höchste zivile Cop. (Cops sagten nicht Kriminalbeamte, hatte Lyons erfahren, indem er aufmerksam Cops zugehört hatte, sie sagten einfach Zivile. Man konnte ihm vorwerfen, was man wollte, aber solange jemand etwas sagte, das er hören wollte, war er ein sehr guter Zuhörer.)
Oder war vielleicht Hriniak, der First Deputy Commissioner, ein vom Rang her höherer Beamter als Amato? Hriniak trug auch Zivil — allerdings nicht einfach nur Zivil, nein, vielmehr ausgesprochen teure Anzüge. (Sylvia kaufte Lyons’ Anzüge von der Stange bei Syms, und er erkannte einen teuren Anzug, wenn er einen sah.) Also, vielleicht stand Hriniak weiter oben als Walsh. Musste wohl so sein, wenn Darling davon ausging, dass Lyons Hriniak zum kommissarischen PC ernannte.
Wer auch immer hier der Ranghöchste war, noch bevor Storys Leiche viel kälter wurde, würden alle drei jede Menge Rädchen in Bewegung setzen, um sich auf Dauer die Nachfolge Storys zu sichern — sie würden krallen, kratzen, nicken, sich schlängeln, einschleimen und Arschtritte verteilen, Gegenleistungen für alte Gefälligkeiten einfordern, Deals einfädeln, Versprechungen machen und Drohungen ausstoßen. Wunderbar. Ein Ire, ein Spaghetti und ein — ja was? — wahrscheinlich ein Polacke. Irische Pfeifen, der alte Sinatra und eine Polka verschmolzen in Lyons’ Ohren zu einer scheußlichen Kakophonie, und alle trällerten Why Me?
Wieso ausgerechnet er? Storys Ernennung war von den ewigen Besserwissern scharf kritisiert worden — von Cops, die einwandten, er wäre ein Zivilist, über Populisten, die protestierten, er wäre Millionär, bis zu den Spinnern, die empört darüber waren, dass er auf der Liste der bestgekleideten Männer stand (oder dass er eine ehemalige Tennisspielerin geheiratet hatte — eine ausländische ehemalige Tennisspielerin, eine geschiedene ausländische ehemalige Tennisspielerin, oder dass seine Stieftochter ebenfalls an Tennisturnieren teilnahm und nebenbei noch ein begehrtes Model war oder dass er in einem Stadthaus wohnte, alte Motorräder sammelte und seine Kleidung (ganz und gar keine einfache Kleidung) in England anfertigen ließ, oder dass er Bücher las und sogar selbst welche schrieb — Bücher darüber, dass die Spitzenjobs in den kommunalen Verwaltungen vorzugsweise mit Leuten aus der freien Wirtschaft zu besetzen seien, statt mit Karrierebeamten oder Berufspolitikern, Bücher voller Worte wie Vertrauen und hervorragende Leistung und Verantwortung und Qualität, Bücher, die Bestseller waren). Aber es — Storys Ernennung nämlich — war eine brillante Lösung für ein überaus drängendes Problem gewesen: Storys gottverdammte Allgegenwart. Schlief dieser Mistkerl denn eigentlich nie?
Wenn Storys Bild mal gerade nicht auf irgendeiner Titelseite auftauchte (Grundstücksmakler bietet Bau von Öffentlichem Freibad an), dann mit Sicherheit auf der Immobilienseite (Story schlägt Wohnungen für Bezieher niedriger Einkommen in Luxus–Hochhäusern vor) oder auf der Gesellschaftsseite (Gala zugunsten von Epidemieopfern in Storys privatem Wohnsitz) oder auf der Halbseite vor dem Sportteil (Grundstücksmakler plant Major League Baseballstadion auf ehemaliger Manhattaner Mülldeponie) oder im Editorial, in einem Cartoon, der Storys gutes Filmschauspieler–Aussehen herausstrich (ganz anders als die derben Karikaturen von Lyons, in denen er immer wie einer von Dr. Seuss’ Humanoiden daherkommt) und eine geistreiche Kolumne illustrierte (nicht wie diese verrückten, zeternden Kolumnen, die Lyons für den gestiegenen Teepreis in China verantwortlich machten), in der man sich laut fragte, ob Story wohl das Amt des Bürgermeisters oder eines Senators oder Präsidenten oder des Baseball Commissioners anstrebte. War er ein Mann, der König sein würde, oder hatte er sein Auge bereits auf Gott geworfen?
(Und wir reden hier nicht mal über die Lifestyle–Artikel: Die GQ–Coverstory darüber, was smarte junge Milliardäre üblicherweise so tragen; der große Aufmacher der Vanity Fair über das Bauernhaus auf Long Island, das Storys Architekten, Designer und Innenausstatter zu einem Palast umgebaut haben; die parallel erschienenen Titelgeschichten in City, Manhattan, Inc. und Sports Illustrated (wer hat da gesagt, so etwas wie Medienverschwörung gäbe es nicht?) über seine Yacht, ausgestattet mit elektronischer Navigation und Echolot und doppelten Detroit–Dieselmotoren und zwölf VHF–Funktelefonen und Sauna und Poolbar und Kraftraum und Disco und Hubschrauberlandeplatz und Börsenticker und wahrscheinlich auch noch mit Lenkflugkörpern, die Story einem Saudi–Prinzen mit Cashflow–Problemen abgekauft hatte. Und auch ganz zu schweigen von der Titelstory im Lear’s, wie Lise Story mit ihren diversen Rollen als Gründerin und Chefin einer Kette von Fitnesscentern für weibliche Topmanager, Philanthropin, Ehefrau und Mutter jonglierte, oder die Titelgeschichten in Model, World Tennis und Sassy über Claire Langois’ Wechsel vom Nachwuchstennisstar von Weltformat zum erstklassigen und hoch bezahlten Fotomodell für exklusive Designermode. Und natürlich das Fernsehspecial Lifestyles der Reichen und Schönen, ausgestrahlt zur besten Sendezeit parallel zur Cosby Show — während der Einschaltquotenerhebung im Februar —, bei dem Robin Leach vor lauter apoplektischer Begeisterung geradezu abhob, und die ganze Sendung fast ausschließlich über die Storys.)
Sidney Lyons war machtlos gewesen, Charles Storys ausuferndem Ehrgeiz einen Dämpfer aufzusetzen, aber ganz sicher konnte er, wenigstens vorübergehend, eine Kandidatur um das Amt des Bürgermeisters verhindern, indem er aus der Not, einen Nachfolger für den scheidenden Police Commissioner Howard Nagle finden zu müssen, eine Tugend machte und Story die Ernennung auf dem Silbertablett servierte. Außerdem konnte er Story vielleicht zwingen, seine Karten offen auf den Tisch zu legen, indem er ihn anwies, als erste Aufgabe eine Studie über die Durchführbarkeit eines privatwirtschaftlich geleiteten Police Departments zu erstellen, über die er so wortgewandt wie häufig sein Maul aufriss. Er konnte, und er hatte auch (»Ich kann Ihnen in die Augen sehen, meine lieben New Yorker Mitbürger und Mitbürgerinnen, und ohne zu zögern sagen, dass die heutige Ernennung den Beginn einer neuen Ära in der Geschichte des Police Departments dieses Kolosses unter den Städten markiert«), und selbst seine Gegner zogen ihren Hut vor so viel Gerissenheit.
Also, wie kam dieser Story dazu, sich einfach umbringen zu lassen, nachdem Lyons es gerade geschafft hatte, dass der Kerl ihm nicht länger auf die Nerven ging?
»Mister Bürgermeister?«
»Ja, George, ich habe Sie gehört. Hriniak.«
»Ja, Sir. Aber da ist noch etwas, Sir … Der einzige Anhaltspunkt ist bislang der, äh, Finger des Opfers.«
Lyons drehte sich der Magen um, und er schluckte und schluckte und versuchte dieses unangenehme Gefühl zu unterdrücken. Er vermutete, das bedeutete dann wohl, dass er die Sache so langsam in den Griff bekam, denn als er das erste Mal zum Tatort des Mordes an einem Sicherheitsbeamten in einem Obdachlosenasyl in den East Twenties gerufen worden war und die blutigen Fetzen sah, wo sich zuvor der Mittelfinger des Mannes befunden hatte, dann eben diesen blutverschmierten Finger in den Mund des Mannes gestopft sah (Was ist das? Eine Zigarre? Ein Stück Hundescheiße? Was ist das?), da hatte er Chief Walsh auf die Schuhe gekotzt.
Seit damals vor — wie vielen? — acht Wochen, zehn Wochen, hatte es vier weitere Morde gegeben, vier weitere Verstümmelungen und Demütigungen, und das alles nur, weil so ein paar Unzufriedene, die in Abwasserkanälen und U–Bahntunneln und unter Brücken lebten und auch nicht den geringsten Schimmer hätten, was sie mit einem Haus oder einem Job oder einem Platz in der Gesellschaft eines solchen Kolosses unter den Städten anfangen sollten, selbst wenn sie eines oder einen besäßen, was dann wiederum auch der Grund war, warum sie keines oder keinen hatten — das alles nur, weil sie glaubten, Leuten die Finger abzuhacken und ihnen diese dann in ihre Mäuler zu stopfen wäre eine wunderbare, ja geradezu hämische Art und Weise, dem ganzen System Leck mich doch am Arsch! zu sagen, ja ihm ganz persönlich — sehen wir der Sache doch mal ruhig und gelassen ins Gesicht, denn Lyons war ein Mann mit der festen Überzeugung, dass auf jeder Schlinge und auf jedem Pfeil sein Name stand — genau das zu sagen.
Die Hoffnungslosen, so nannten sie sich, und die gottverdammten Medien stürzten sich förmlich darauf, wobei das City, natürlich!, wieder mal den Vorreiter spielte, gerade so als würden sie schon allein deshalb zu Robin Hoods oder etwas in der Richtung, nur weil sie einen Namen hatten, zu modernen Butch Cassidys und Sundance Kids, statt einfach das blieben, was sie nämlich tatsächlich waren: Penner!
City Hall Park. Nur ein paar lausige Meter entfernt vom Sitz der Regierung dieses Kolosses unter den Städten. Praktisch von seinem Bürofenster aus zu erkennen. Eine Gruppe Penner lebte dort nun schon seit Jahren, so schien es ihm wenigstens, obwohl er doch genau wusste, dass es erst seit letztem Thanksgiving war. Hah — wahrscheinlich fanden sie das auch noch witzig, sich ausgerechnet am Thanksgiving Day mit ihren Schlafsäcken und Pappkartons dort unten einzunisten. Sich in aller Öffentlichkeit den Darm zu entleeren und zu urinieren, für alle und jeden weithin sichtbar, für ihn deutlich sichtbar. Manchmal riefen sie ihm zu, wenn er eine Pressekonferenz auf den Stufen des Rathauses abhielt, um irgendeine neue Leistung oder Errungenschaft bekanntzugeben, brüllten dann Siiid–ney, Siiiid–ney, in diesem Singsang, so wie Baseballfans Darryl Strawberry anbrüllten, wenn ihnen seine Einstellung auf die Nerven ging, brüllten es manchmal auch, wenn er im Rathaus war und versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Was wussten die denn schon von Arbeit? Vets, behaupteten sie gegenüber den gottverdammten Medienfuzzis, Vets wären sie, also, Veteranen des Vietnam–Krieges. Bullshit. Hat das vielleicht mal irgendwer nachgeprüft, hat irgendwer mal in Washington angerufen und sich nach ihren Armeeakten erkundigt? Nein, natürlich nicht. Vets, gottverdammte Affenscheiße war das. Miesmacher, Schädlinge, Nervensägen. Obdachlose. Penner.
Penner, die sogar aufs Grundstück des Gracie Mansion kackten und pissten, direkt vor dem offiziellen Wohnsitz des Bürgermeisters, vor seinem gottverdammten eigenen Haus. (Lyons war inzwischen aus dem Bett und stand am Fenster, spannte dabei das Telefonkabel so weit es gerade ging, erntete befremdliche Blicke von Sylvia, als er sein Gesicht gegen die Glasscheibe presste und versuchte zu sehen, ob gerade jetzt wieder irgendwer seine Därme entleerte oder frech urinierte. Er sah nichts weiter als sein eigenes Spiegelbild, bekam mit dem zwischen Kinn und Schulter eingeklemmten Hörer das Fenster nicht auf, das fest verschlossen war, um die — glücklicherweise — vollklimatisierte Luft im Haus zu halten.) Sie hatten sich nicht getraut, die Penner, ihre Schlafsäcke und Pappkartons aufs Grundstück des Gracie Mansion zu schleppen, aber eine Gruppe von denen kampierte unmittelbar südlich des Mansion im Carl Schurz Park, und sie hielten es offensichtlich für ganz besonders wunderbar und hämisch, lieber sein Nest als ihr eigenes zu beschmutzen. An manchen Abenden träumte er im Dämmer kurz vor dem Einschlafen, wie er sich aus dem Haus und hinunter in den Park schlich und ein paar von denen mit einem Baseball–Schläger fertigmachte. Während der letzten paar Wochen hatte es mehrere tätliche Übergriffe auf schlafende Obdachlose gegeben; die Cops suchten die Schuldigen (wie hätte es auch anders sein können) bei irgendwelchen Kids, die nichts zu tun und kein anständiges Zuhause hatten, aber Lyons hätte jede Wette gemacht, dass die Verantwortlichen alles zuverlässige und anständige Bürger waren, die von Pennern und Gammlern einfach die Schnauze gestrichen voll hatten. Wer würde denn schon sagen können, dass es nicht einfach nur der Letzte in, wie es die Zeitungen schon sehr bald nennen würden, einer ganzen Serie von Angriffen und Überfällen war, wenn er sich jetzt dort runterschlich und ein paar von denen den Schädel einschlug? Wen würde es interessieren? Vets, Affenscheiße! Penner!
Darling sagte: »Und, äh, Sir?«
»Sagen Sie’s einfach, George. Sagen Sie nicht gottverdammt dauernd Sir.«
»… Ja, Sir. Sir, irgendwer hat Wally auf die Rand geschrieben.«
»Irgendwer hat was gemacht?«
»Äh, entschuldigen Sie, Sir. Lassen Sie es mich noch einmal versuchen. Jemand … hat … Raleigh … auf die Wand geschrieben.«
Rawley? Doch nicht diese kleine Schwarze aus Poughkeepsie? Bitte, lieber Gott, nicht sie und Al Sharkskin und all die anderen. »Noch mal, George. Hat was geschrieben?«
»R–a–l–e–i–g–h. Raleigh. Mit einem roten Filzstift von Storys Schreibtisch. In großen, dicken fetten Blockbuchstaben.«
Lyons konnte sie deutlich sehen — die gleiche kindische Blockschrift, die die ungebildeten Undankbaren dieses Kolosses unter den Städten benutzten, wenn sie ihm ihre krittelnden Beschwerdebriefe auf Papier kritzelten, das sie für gewöhnlich aus den Ringbüchern ihrer Kinder herausgerissen hatten, weil sie so etwas wie anständiges Schreibpapier natürlich nicht im Haus hatten. »George?«
»Ja, Sir?«
»Wieso ausgerechnet ich?«
»… Ja, Sir.«