1
Regina fragte sich an diesem Winternachmittag, wie lange sie den Weg zum einsam gelegenen Forsthaus nicht mehr gegangen war. Sie sah sich um und freute sich an der herrlichen Natur, die diesen einsam gelegenen Winkel umgab. In der Stadt, in der sie jetzt lebte, zeigte sich der Winter meist von seiner hässlichen Seite. Schmutziger Matsch bestimmte momentan das Straßenbild. Sie fror ständig, während ihr jetzt, da sie so mühsam durch den Schnee stapfte, sehr warm war, obwohl das Thermometer heute Morgen zehn Grad unter null angezeigt hatte.
Die Fußspuren, denen sie zu folgen versuchte, sagten ihr, dass diesen Weg heute schon jemand gegangen war. Obwohl auch sie einen weit ausholenden Schritt besaß, konnte sie den Spuren, die vermutlich von einem Mann stammten, doch nicht ganz folgen, trat oft daneben und versank immer wieder im Schnee. Doch dieses mühsame Stapfen machte ihr Spaß, und sie musste immer wieder lächeln, ohne einen wirklichen Grund dazu zu haben. Sie fühlte sich einfach glücklich in dieser winterlichen Stimmung, die so viele, vergessen geglaubte, schöne Erinnerungen in ihr wachrief.
Die Sonne, die an diesem kalten Januartag nur schwach durch den hauchdünnen Nebel drang, tauchte die tief verschneiten Wiesen und Felder in ein rosa Licht. Die entlaubten Bäume, die von Zeit zu Zeit ihren Weg säumten und den Schnee nicht zu halten vermochten, hoben sich schwarz gegen die weiße Landschaft ab und streckten ihre kahlen Äste in den dunstigen Himmel. Hinter dem Forsthaus erhob sich der Bergwald, auf den die tief stehende Sonne einen goldenen Schein warf. Hinter dem Wald, der bald steil aufstieg, waren die schroffen Felsformationen der Loferer Steinberge durch den rosigen Schleier schemenhaft zu erkennen.
Nachdem Regina Stadler die Schönheit ihrer Heimat nach langer Abwesenheit wieder einmal mit allen Sinnen in sich aufgenommen hatte, verloren sich ihre Gedanken immer mehr in der Vergangenheit. Erinnerungen und Gefühle, ja sogar Gerüche, die jahrelang tief in ihr geschlummert hatten, erwachten immer intensiver.
Schon als ganz kleines Mädchen war sie diesen Weg entlanggegangen – oder gelaufen. Sie erinnerte sich, dass sie meistens gerannt war, als ob sie etwas versäumt hätte, wenn sie ruhig gegangen wäre. Dabei war sie ansonsten ein eher stilles Kind gewesen. Ganz anders als Vroni. Trotzdem hatten sie sich gut vertragen. Ihre beste Freundin Vroni, die in dem alten Forsthaus geboren und aufgewachsen war, war viel lebhafter als sie gewesen. Und sie hatte sich auch nicht verändert.
Regina hingegen war mit den Jahren noch besonnener geworden. Natürlich war auch sie kein Kind von Traurigkeit, doch sie nahm das Leben – im Gegensatz zu Vroni – ernst. An Vroni prallte alles ab – zumindest tat sie so –, während ihr selbst immer gleich alles zu Herzen ging.
Das Forsthaus tauchte auf, und der Weg wurde ihr immer vertrauter, je näher sie kam. Das große, stattliche und im oberen Teil mit Holz ummantelte Haus, das mit den Jahren ganz dunkel geworden war, schmückte unterhalb des Giebels ein großes Hirschgeweih. Seit hundert Jahren hing das Geweih nun dort und war somit so alt wie das Forsthaus.
»Regina!« Eine helle Frauenstimme riss die junge Frau aus ihren Erinnerungen und Träumen.
»Vroni! Ich hab dich gar nicht gesehen.«
Die Freundin lief auf sie zu. Sie war gerade aus dem Holzschuppen gekommen und hatte den großen Korb mit den Scheiten einfach auf den Boden fallen lassen, als sie Regina erblickte.
»Schön, dass du gekommen bist. Ich habe schon befürchtet, du traust dich wegen der Kälte und dem Schnee nicht zu uns heraus. Aber warum bist du denn über die Wiese gegangen?«
»War nur so eine Idee«, erwiderte Regina lachend. »Es war schön.«
»Da musst du ja bis zu den Knien im Schnee versunken sein?«
»Da waren schon Spuren. Allerdings muss dieser Mensch ein Riese gewesen sein«, antwortete Regina schmunzelnd.
»Vielleicht war es der Oberöder-Bartl. Der ist sehr groß und stapft gern querfeldein«, überlegte Vroni. Sie umarmte nun die Freundin. »Schön, dass du da bist.«
»Ich habe es doch versprochen.«
»Du bist ja ganz in Gedanken versunken gewesen«, schmunzelte Vroni und schüttelte dabei amüsiert den Kopf mit dem dunkelbraunen, halblangen Haar.
»Ist das ein Wunder? Ich überlege gerade, wie viele Jahre ich nicht mehr bei euch im Forsthaus gewesen bin.« Regina klopfte sich den Schnee von den Stiefeln.
Vroni waren einige Holzscheite aus dem Korb gefallen, als sie ihn einfach so auf den Boden hatte fallen lassen. Sie sammelte sie auf und legte sie wieder sorgfältig hinein. »Fünf Jahre bestimmt nicht mehr«, vermutete sie und stemmte den schweren Korb hoch. »Aber jetzt komm ins Haus! Es ist kalt hier draußen, und ich habe nur eine Strickjacke an.«
»Ich glaube, das ist länger her«, meinte Regina. Sie folgte ihrer Freundin ins Haus.
»Ich weiß es auch nicht mehr genau.« Vroni zuckte mit den Schultern. »Die Mutter freut sich zumindest, dich wieder einmal zu sehen. Auch der Markus!« Sie warf ihr einen verschmitzten Blick zu.
Die frische Röte auf Reginas Wangen, bedingt durch die kalte Winterluft, vertiefte sich um eine Nuance.
»Ist der Markus noch nicht verheiratet?«, fragte sie schnell, um ihre leichte Verlegenheit zu verbergen.
»Das hätte ich dir doch erzählt.« Vroni öffnete die Haustür und stellte den Korb im Flur ab. Der riesige Kachelofen in der Stube wurde vom Gang aus geheizt, sodass es auch dort mollig warm war. Vroni öffnete das Ofentürchen, griff nach dem schmiedeeisernen Schürhaken und fuhr durch die Glut, damit sie wieder aufloderte, dann legte sie ein paar Scheite nach.
Regina schlüpfte inzwischen aus ihrem Anorak und hängte ihn an die Flurgarderobe, die immer noch dieselbe war wie früher. Ein altmodisches schmiedeeisernes, verschnörkeltes Gestell.
»Bei euch hat sich wirklich nichts verändert«, meinte sie gerade, als Vronis Mutter aus der Küche kam.
»Mein Gott, Regina! Wie lange bis du denn nicht mehr bei uns gewesen?« rief Frau Reiter aus. Sie umarmte das junge Mädchen herzlich.
»Die Vroni und ich haben selbst gerade gerätselt, wie lange das her ist«, erwiderte Regina lachend.
»Ist ja auch egal. Hauptsache, du hast wieder einmal zu uns einsamen Leuten herausgefunden. Aber jetzt kommt in die Stube! Ich habe schon Kaffee gekocht.«
Als Regina die gemütliche Bauernstube betrat, stellte sie schnell fest, dass auch hier alles so wie früher war. Die dunklen, schweren Möbel standen noch behäbig in dem hellen Raum. Die Schwarzwälder Kuckucksuhr hing noch immer an der Wand zwischen den beiden Südfenstern, und über der Eckbank befand sich noch das kunstvoll geschnitzte Kruzifix aus dem achtzehnten Jahrhundert, auf das schon der eine oder andere Kunsthändler oder Geistliche ein Auge geworfen hatte. Aber die Familie hatte es nie hergegeben.
Neben dem Kreuz hingen einige Schwarz-Weiß-Fotografien mit Trauerflor. Es waren Vronis Großeltern väterlicherseits, die hier verewigt waren, und ein Bruder des Großvaters, der in Russland gefallen war. Auch dem Forstrat Georg Reiter, Vronis Vater, wurde hier ein ehrendes Andenken bewahrt. Der große, stattliche Mann wurde vor drei Jahren durch einen Herzinfarkt mitten aus dem Leben gerissen. Man fand ihn erst viele Stunden später, oben in der Forsthütte, wo er sich seit seiner Pensionierung gerne aufgehalten hatte. Er lag tot auf dem Boden.
Regina kannte die Fotografien, bis auf letztere natürlich. Sie betrachtete das Porträt des Forstrates und versuchte sich dabei zu erinnern, wie er früher ausgesehen hatte. Das mochte ihr jedoch nicht ganz gelingen. Sie sagte sich, dass er kaum zu Hause gewesen war, wenn sie als Kind die Freundin besucht hatte.
»Ich warne dich vor Mamas Weihnachtsplätzchen«, bemerkte Vroni, während sie sich schon das erste Vanillekipferl in den Mund schob. »Gerade ihre Nugatkipferl sind wahre Kalorienbomben.«
»Aber gut«, schmunzelte Heidemarie und schenkte gleich den Kaffee ein.
»Und jetzt erzähl mal, Regina! Wie gefällt es dir denn in München?«
Noch bevor Regina antworten konnte, fügte sie mit einem vielsagenden Blick zu ihrer Tochter hinzu: »Vermutlich auch so gut wie der Vroni, sodass du nur alle heiligen Zeiten einmal wieder nach St. Valentin kommst.«
»Mama!«, rief Vroni mit gespielter Entrüstung. »Ich komm so oft, wie es geht.«
»Mir gefällt es ganz gut in München«, antwortete Regina, »aber für immer möchte ich nicht dort leben.«
»Besuchst du deine Eltern auch so selten?«, fragte Heidemarie die junge Frau mit einem vorwurfsvollen Seitenblick auf ihre Tochter.
Regina nippte an ihrem Kaffee, bevor sie antwortete. »Ich versuch sie einmal im Monat zu besuchen. Aber das klappt auch nicht immer.«
»Ja, ihr beide seid richtige Städterinnen geworden.« Heidemarie griff nun nach dem üppigen Stollen.
»Eigentlich möchte ich gerne wieder nach St. Valentin zurückkommen«, bemerkte Regina, »und mir hier beruflich etwas aufbauen.«
»Als Physiotherapeutin!« rief Vroni überrascht aus. »Das hast du mir noch gar nicht erzählt.«
»So lange spiele ich ja auch noch nicht mit dem Gedanken. Aber mir schwebt eine eigene Praxis hier im Dorf vor«, erzählte Regina.
»Was mach ich denn dann in München ohne dich?«, rief Vroni enttäuscht aus.
»Also Vroni, bei deinem riesigen Bekanntenkreis!« Regina strich sich eine locker gewordene Strähne ihres honigblonden Haares aus der Stirn, das sie zu einem langen Pferdeschwanz zurückgekämmt trug, sodass ihre hohe, runde und klare Stirn voll zum Ausdruck kam. Auch ihre braunen, mit kleinen goldenen Fünkchen gesprenkelten Augen waren von einer bestechenden Klarheit.
Heidemarie fiel das wieder einmal ganz deutlich auf, als sie Regina betrachtete, und sie sagte sich dabei, dass dieses Mädchen von all den Freundinnen, die ihre Vroni ins Haus geschleppt hatte, die liebste und angenehmste gewesen war. Und sie war ja auch die beste und langjährigste Freundin ihrer Tochter. Nie war sie falsch und verstockt gewesen, immer ehrlich und geradeheraus. Das hatte ihr gefallen.
»Aber du bist meine beste Freundin. Du bist durch nichts und niemanden zu ersetzen. Ich kann das gar nicht verstehen.« Vroni schien wirklich betroffen und enttäuscht zu sein. Vor allem, weil Regina bisher nie etwas davon gesagt hatte.
»Jetzt übertreib nicht so!«, meinte Regina lachend. »Zwischen München und St. Valentin liegen hundert Kilometer. Was ist das schon? Das wird unsere Freundschaft doch aushalten.«
»Du könntest ja auch wieder heimkommen«, meinte die Mutter, und ihr Gesicht überschattete sich dabei ein wenig. »Als Gärtnerin bekommst du bei uns im Dorf auch eine Stelle. Ich fühle mich oft einsam, seit der Vater tot ist«, setzte sie leise hinzu.
»Aber Mama! Du hast doch den Markus und die Monika. Außerdem noch alle deine Ämter!«
»Es tut mir übrigens sehr leid, dass Ihr Mann so schnell und überraschend gestorben ist«, meinte Regina mit einem mitfühlenden Blick zur Witwe hin.
»Ja«, seufzte Heidemarie, »das war schon ein Schock für mich. So unverhofft!« Sie bekam feuchte Augen und blickte zu dem mit einem Trauerflor versehenen Bild an der Wand, das ihren geliebten Mann zeigte.
»Sind Sie immer noch Vorsitzende vom Frauenbund?«, fragte Regina, nachdem sie alle drei eine Weile geschwiegen hatten. Sie wollte den Todesfall nicht weiter vertiefen, vielmehr Heidemarie wieder fröhlich sehen. Zum Nachdenken und Trauern hatte sie so viel Zeit, wenn sie alleine war.
»Ja, aber dieses Amt wird mir allmählich zu stressig, ich gebe es heuer ab«, erwiderte diese.
Die drei Frauen sprachen noch eine Zeit lang über das Dorfgeschehen, über das Heidemarie natürlich am besten informiert war, als sie draußen ein Auto hörten. Es war inzwischen leicht dämmrig in der Stube geworden, und Frau Reiter schaltete die Stehlampe an, die ein gedämpftes, dezentes Licht verbreitete.
»Da kommt der Markus!« Heidemarie blickte auf die alte Schwarzwälder Kuckucksuhr. Das Türchen öffnete sich gerade, und der Kuckuck steckte seinen Kopf heraus, um fünf Mal zu rufen.
»Heute ist er ja ausnahmsweise einmal früher dran. Sonst wird es immer sechs, manchmal halb sieben, bis er heimkommt.«
Vroni lief zum Fenster und blickte hinaus. »Ja, er ist es«, bestätigte sie und warf ihrer Freundin dabei einen übermütigen Blick zu.
Kurz darauf betrat Markus die Stube. Sein Blick fiel sofort erstaunt und auch ein wenig verwirrt auf Regina, die mit leicht geröteten Wangen am Tisch saß. In diesem Augenblick sah sie besonders hübsch aus.
Er schien die Freundin seiner Schwester Vroni nicht gleich zu erkennen.
»Sag bloß, du kennst die Stadler-Regina nicht mehr?«, rief Vroni beinahe empört aus.
Markus schlug sich mit der Hand an die Stirn.
»Jetzt dämmert’s mir. Die Regina!« Er ging zu ihr hin und gab ihr mit einem festen, herzlichen Druck die Hand. »Ich hätte dich auf den ersten Blick jetzt wirklich nicht erkannt.«
»Wir haben uns ja auch ewig nicht mehr gesehen«, erwiderte sie lächelnd.
»Das stimmt«, meinte er leise, und betrachtete sie dabei etwas zu lange. Dann riss er sich von ihrem bezaubernden Anblick jedoch schnell los. Es war ihm plötzlich peinlich, dass er sie so selbstvergessen gemustert hatte.
Es trat nun eine kurze, peinliche Stille ein, die selbst Vroni nicht durchbrechen konnte oder wollte.
»Willst du noch Kaffee? Oder ist es dir zu spät dafür?« Heidemarie sah ihren Sohn fragend an, und rettete damit schmunzelnd die Situation.
»Warum nicht.« Markus hatte sich schnell gefangen und setzte sich zu den Frauen an den Tisch. »Noch eine Münchnerin«, bemerkte er schmunzelnd zu Regina gewandt. Wie die Mutter zuvor schon fragte er sie dann auch, wie es ihr in der Stadt gefiele, wo sie arbeitete und vieles mehr.
Sie beantwortete ihm lächelnd alles, was er wissen wollte.
Später kam die Mutter mit einer Flasche Wein aus der Küche.
»Ein Gläschen trinkst du doch noch mit uns, Regina, oder?«
»Meine Eltern werden auf mich warten«, meinte sie zögernd.
»Komm, Regina! Du bist so lange nicht mehr hier gewesen. Der Markus will auch, dass du noch ein bisschen bleibst.« Vroni warf ihrem Bruder einen schelmischen Blick zu.
Doch der junge, selbstbewusste Förster ließ sich nicht mehr in Verlegenheit bringen. »Freilich will ich das«, erwiderte er grinsend. »Ich kann dich ja dann auch heimfahren, wenn du den Weg im Dunklen nicht mehr zurück ins Dorf gehen willst.«
»Das besorge ich schon«, wandte Vroni übermütig ein, »sonst kommst du noch auf dumme Gedanken. Außerdem brauchst du deinen Führerschein mit Sicherheit sehr viel dringender als ich.«
Wie schön es wieder einmal im Forsthaus war, dachte Regina, als sie zwei Stunden später den einsamen Weg alleine zurück ins Dorf ging. Sie hatte es abgelehnt, dass irgendwer von der Familie Reiter sie nach Hause fuhr. Gleich gar nicht Vroni, die mehr als Heidemarie, Markus und sie zusammen von dem süffigen Wein getrunken hatte.
Markus hätte sie nur zu gerne begleitet. Sie hatte es ihm deutlich angesehen und sich darüber gefreut. Ja, ihr Herz hatte schneller zu schlagen begonnen, als er es ihr anbot. Doch sie war eisern geblieben.
Sie wählte nun aber die schmale Teerstraße und ging nicht mehr über die Wiesen. Sie fühlte sich, während sie so langsam dahinschritt, so glücklich wie schon lange nicht mehr. Sie hatte keine Angst in der Dunkelheit und Einsamkeit. Vor wem auch? Der Mond zeigte ihr den Weg, und wo es einsam war, herrschte noch am ehesten Frieden.
Hatte sie bisher noch Zweifel daran gehabt, wieder nach St. Valentin zurückzukommen, so waren diese nun endgültig ausgeräumt. Sie gehörte nicht in die Stadt, sondern hierher. Sie schmunzelte, als sie sich Markus’ gut geschnittenes, markantes Gesicht in Erinnerung rief. Sie sah ihn im Türrahmen stehen, während Vroni und ihre Mutter schon wieder ins Haus hineingegangen waren. Sah den Blick, den er ihr zuwarf, als sie sich langsam umdrehte und entfernte. Es hatte etwas Fragendes, ja Bittendes in seinen hellgrauen Augen gelegen und auch eine leise Zärtlichkeit. Sie fragte sich, ob er sie ebenso wenig vergessen hatte wie sie ihn. Aber damals sind wir doch noch halbe Kinder gewesen, versuchte sie sich selber zur Vernunft zu bringen. Doch es half nichts! Sie musste sich eingestehen, dass sie ihn niemals vergessen hatte, so jung sie damals auch gewesen war. Sie hatte diese Gefühle nur verdrängt und zwar so erfolgreich, dass sie zwei Jahre ihres Lebens einem anderen Mann geschenkt hatte. Diese Beziehung war inzwischen vorbei. Schon ein Jahr lang hatte sie nichts mehr von Thomas gehört. Sie vermisste ihn nicht.
2
Die nächsten drei Tage, die Regina noch bei ihren Eltern verbrachte, bevor sie nach München zurückkehrte, musste sie oft an Markus denken, obwohl sie sich dabei immer wieder zur Vernunft ermahnte. Es war nicht mehr die euphorische, überschwängliche Schwärmerei, die sie nun für ihn empfand. Inzwischen war sie fünfundzwanzig Jahre alt, sie war gereift und hatte das Leben kennengelernt. Es lag nun etwas Ruhiges, Besonnenes und Zurückhaltendes in ihren Empfindungen. Doch vielleicht waren gerade diese Eigenschaften mehr wert als dieser jugendliche Übermut.
Trotzdem wird es wieder vergehen, redete sie sich ein. Wenn ich erst wieder in München bin, werden meine Gefühle für ihn abermals in diesen tiefen, hinteren Winkel meines Herzens wandern, in dem sie all die Jahre vorher verharrt haben, fuhr sie in Gedanken fort, während sie ihren Koffer packte. Regina klappte den Koffer zu und begab sich dann die steile Treppe hinunter zu den Eltern in die Küche, die schon mit dem Abendbrot auf sie warteten.
»Du hast uns noch gar nicht erzählt, wie es im Forsthaus gewesen ist«, bemerkte die Mutter. »Wie geht es denn der Heidemarie?«
»Sie ist wohlauf und war genauso freundlich wie früher. Sie hat sich sehr gefreut, mich wieder einmal zu sehen«, erwiderte Regina etwas steif und dachte dabei an Markus, nicht an Heidemarie. In München werde ich ihn wieder vergessen, redete sie sich erneut ein. Sie dachte aber auch daran, dass sie vorhatte, nach St. Valentin heimzukehren. Ihr Herz schlug bei diesem Gedanken etwas schneller. Dann werde ich ihn wieder öfter sehen. Es war ihr nicht wohl bei diesem Gedanken, denn sie wollte sich jetzt nicht verlieben, sondern sich beruflich verwirklichen. Dazu musste sie den Kopf frei haben. Außerdem, sagte sie sich weiter, was weiß ich denn über ihn? Weiß ich denn, ob ich ihm gefalle? Vielleicht hat er nur so getan oder es nicht ernst genommen.
»Und mit deinem Thomas ist es wirklich aus?«, fragte der Vater und hantierte dabei an seiner Beinprothese, was mittlerweile eine nicht mehr auszumerzende Angewohnheit von ihm war.
»Schon über ein Jahr«, entgegnete Regina, »deshalb ist er auch nicht mehr mein Thomas«, fügte sie spöttisch hinzu.
»Er war doch ein ganz netter Kerl?« Josef Stadler wandte sich wieder von seiner Prothese ab, als sein Blick auf den vorwurfsvollen seiner Frau traf. Sie mochte es nicht, wenn er immer an seiner Prothese herumhantierte. Er nahm sich ein Brot und bestrich es mit ruhiger Hand.
»Backt die Heidemarie immer noch so gute Weihnachtsplätzchen?«, kam Emmi wieder auf die verwitwete Förstersfrau zu sprechen, denn sie kannte sie gut und hatte die stattliche, rührige Frau stets heimlich bewundert. Sie war ja auch die Frau des Forstdirektors gewesen. Emmi hatte schon immer Respekt vor Amt und Rang gezeigt.
Bevor Regina antworten konnte, meinte Josef mit einem unwilligen Blick. »Die kocht auch nur mit Wasser.«
»Aber sie ist doch immer eine sehr nette Frau gewesen, und der Forstdirektor war dir doch ein guter Chef. Du hast dich wirklich nicht über ihn beschweren können. Die Leute waren nie eingebildet, und die Vroni war immer Reginas beste Freundin«, erwiderte Emmi eifrig.
Josef konnte seiner Frau dabei nichts entgegensetzen, trotzdem runzelte er die Stirn. Er mochte keine Untertänigkeit. Er war eben ein richtiger Sozialist und schimpfte immer auf die »Kapitalisten«. Dabei sagte er sich jetzt, dass das wirklich nichts mit den Förstersleuten zu tun hatte, denn sie waren immer bescheidene Leute gewesen und auch nicht reich.
»Wie waren also die Plätzchen?« Emmi ließ nicht locker.
»Sehr gut«, erwiderte Regina schmunzelnd, »aber sehr üppig. Besonders die Nugatkipferl.«
»Und dabei ist sie immer noch so schlank, die Heidemarie«, meinte Emmi bewundernd.
»Du hältst wohl sehr viel von ihr?« Regina warf ihrer Mutter einen nachsichtigen Blick zu.
»Sie ist aber auch eine nette Frau.« Emmi warf ihrem Mann einen trotzigen Blick zu.
»Du mit deiner Hochachtung vor den sogenannten besseren Leuten«, brummte Josef. »Hättest halt einen Förster und keinen Jäger geheiratet.«
»Um das geht es doch gar nicht«, erwiderte Emmi aufgebracht.
»Jetzt streitet euch doch nicht wegen so etwas.«
Regina schüttelte den Kopf. Doch sie wurde nun stiller und nachdenklicher. Nie hatte sie daran gedacht, dass ihr Vater nur ein einfacher Jäger und Vronis Vater der Forstdirektor gewesen war, weil niemand sie dies jemals hatte spüren lassen, am allerwenigsten die Förstersfamilie selbst. Doch die Eltern hatten es nun mit ihrer Diskussion geschafft, dass sie sich zum ersten Mal darüber Gedanken machte. Sie dachte nun auch daran, dass ihr Vater mit knapp fünfzig Jahren in Rente gehen musste, weil ihn vor nun bald fünf Jahren ein Wilderer angeschossen hatte und er daraufhin seinen Unterschenkel verlor. Der Forstdirektor hatte ihn für berufsunfähig erklären müssen. Das war für den Vater ein harter Schlag gewesen. Manchmal, wenn Josef einen besonders schlechten Tag hatte, bezeichnete er sich sogar als Krüppel und sein Leben als verpfuscht. Zum Glück war er aber doch psychisch so stabil, dass diese Tage die Ausnahme waren, er sich immer wieder aufrappelte und dann auch wieder Freude am Leben zeigte. Dabei ging es ihm im Sommer immer am besten, weil er sich dann mit seinem geliebten Garten beschäftigten konnte.
Doch gerade im Winter, wenn er durch seine Behinderung das Haus kaum verlassen konnte, fiel er oft in ein tiefes Loch. Regina wusste dies und machte sich dann Sorgen. Aber sie konnte den Eltern nicht helfen.
Gegen acht Uhr abends läutete es an der Tür. Es war längst stockfinster draußen, und Emmi sah erst einmal zum Fenster hinaus, bevor sie zur Haustür ging. Sie sah nur, dass ein Auto am Straßenrand geparkt hatte.
»Wer ist das denn noch so spät?«, fragte sich Josef und blickte auf die Uhr. »Es ist gleich acht.« Sie bekamen selten Besuch, schon gar nicht abends.
»Um diese Zeit kommt doch sonst niemand.« Emmi blickte ein wenig ängstlich drein. Gerade hatte sie in der Zeitung von Einbrüchen in der Gegend gelesen. Aber die klingeln nicht, dachte sie, und ging in den Flur hinaus. Sie kam gleich wieder zurück.
»Der Reiter-Markus steht draußen«, sagte sie. »Du hast anscheinend deinen Schal vergessen. Aber er ist sich nicht sicher, ob es auch deiner ist.«
Reginas Gesicht hellte sich auf. Sie schmunzelte und eilte hinaus. Das ist ein Vorwand, fuhr es ihr durch den Kopf.
Grinsend stand Markus vor der Haustür. Draußen schneite es. Die Flocken wirbelten um ihn herum, fingen sich in seinen dunklen Wimpern, den Brauen und in seinem glatten, braunen Haar. Er hielt ihr einen bunt gestreiften Schal entgegen, den Regina noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. »Hast du den vergessen?«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich habe gar keinen Schal dabei gehabt.«
»Dann muss er jemand anderem gehören.« Das Grinsen war aus seinem markanten Gesicht verschwunden. Sein Blick war nun ernst und ein wenig verlegen. »Ich wollte dich noch einmal sehen, bevor du nach München zurückfährst«, gestand er ihr, und als sie ihn nur fragend ansah und keine Antwort gab, fügte er schnell hinzu: »Gehen wir noch ein wenig spazieren?«
»So spät noch?« Regina versuchte, gelassen zu bleiben, doch das Leuchten in ihren Augen war eindeutig.
»Warum nicht? So spät ist es doch auch noch nicht. Ich konnte nicht eher kommen. Wir hatten Besuch daheim. Eine Tante, die ewig nicht mehr hier gewesen ist. Sie ist meine Taufpatin. Da konnte ich unmöglich weg. Aber du bist mir den ganzen Nachmittag nicht aus dem Kopf gegangen. Es hat mich schon einige Überwindung gekostet, bei euch zu läuten. Ich wusste ja nicht, wie du es aufnimmst.«
»Wie soll ich es denn aufnehmen?«
»Du bist gut!« Er grinste, immer noch ein wenig verlegen, was sonst gar nicht seine Art war. Er war ansonsten ein recht selbstbewusster Mann. Er dachte sich jedoch, dass er sie nun doch ein wenig überrumpelt hatte.
Doch es hatte kein zurückhaltendes Erstaunen in ihren Augen gelegen, als er so unverhofft vor der Tür stand, sondern ein freudiges, das hatte er gleich gemerkt und sich schnell beruhigt.
Regina nickte. »Gut, ich komme mit. Ich sage gerade den Eltern Bescheid. Und dann muss ich mir auch noch was anziehen. Komm doch schnell herein!«
»Ich warte lieber draußen.« Markus war glücklich, dass sie ihm keinen Korb gegeben hatte. Die Erleichterung darüber war ihm deutlich anzusehen. Er wäre sich ansonsten ziemlich dumm vorgekommen, von seiner Enttäuschung ganz abgesehen.
Sie steuerten nicht auf das Dorf zu, sondern bogen in eine Seitenstraße ein, die zu einem Fischweiher führte. Die nächtliche Wolkendecke hatte aufgerissen, und am Himmel zeigten sich nun ein paar Sterne. Trotzdem war es noch sehr dunkel, doch die beiden besaßen gute Augen, die sich der Finsternis schnell anpassten.
»Ich habe drei Tage lang an dich denken müssen«, gestand er ihr und ergriff dabei ihre Hand, die in einem dicken Fäustling steckte, sodass er sie kaum umfassen, geschweige denn spüren konnte.
»Ich auch«, bekannte sie leise und zog ihren Handschuh aus. »Es ist ja gar nicht so kalt«, meinte sie verschmitzt.
»Und wenn, dann wärme ich dich.« Er blieb stehen und sah sie an.
Es war zu dunkel, um den Ausdruck ihres Gesichts klar zu erkennen.
»So etwas ist mir schon lange nicht mehr passiert, dass ich eine gar nicht mehr aus dem Kopf bekomme«, raunte er ihr zu. »Seit ich dich wiedergesehen habe, muss ich an dich denken. Das grenzt an Folter.« Er runzelte die Stirn.
Regina schwieg. Sie dachte wieder daran, dass sie sich momentan nicht verlieben wollte. Aber das war leicht gesagt, wenn die Gefühle stärker waren als der Verstand.
»Ich bin froh, dass du schweigst und mir jetzt keine schnippische oder abweisende Antwort gibst. Mehr erwarte ich gar nicht, denn ich denke mir, dass ich dich jetzt schon ein wenig überrumpelt habe.« Trotzdem küsste er sie ganz leicht auf die Wange.
Sie hatte sich nicht von ihm abgewandt. Aber sie schwieg immer noch. In ihrem Blick lag jedoch ein etwas ratloser Ausdruck.
»Sehr gesprächig bist du allerdings nicht«, meinte er und runzelte wieder die Stirn.
»Ich rede nie viel.«
»Am Freitag, als du bei uns warst, hast du schon viel geredet«, widersprach er scherzend. »Da hast du beinahe die Vroni übertroffen.«
»Das ist schwer möglich«, erwiderte sie lachend.
Er wurde wieder ernst. »Ich hätte dich gerne heimbegleitet, aber du wolltest nicht. Warum denn?«
»Weil ich erst nachdenken musste.«
»Über mich?« Er zog sie an sich.
»Ich hatte drei Gläser von eurem guten Wein getrunken. Da wird man unvorsichtig. Das wollte ich verhindern.«
Markus schmunzelte. »Aber jetzt bist du nüchtern.«
»Gott sei Dank.« Sie befreite sich aus seinen Armen.
»Die Vroni hatte am meisten getrunken«, sagte er, während sie langsam weitergingen.
»Wann kommst du denn wieder?«, fragte er, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten. Er griff wieder nach ihrer Hand. Umschloss sie ganz fest.
»Erst in vier Wochen, wenn meine Mutter Geburtstag hat.«
»Geht es nicht früher?« Er blieb wieder stehen, sah ihr in die Augen.
»Vielleicht komm ich schon in vierzehn Tagen. Mal sehen, ob es sich einrichten lässt«, meinte sie etwas zögerlich. Sie fühlte sich tatsächlich überrumpelt. Sie war einerseits glücklich darüber, andererseits beunruhigte sie diese unverhoffte Situation aber auch.
»Obwohl«, sprach sie langsam weiter, »es wäre doch besser, wenn wir beide uns ein wenig Zeit zum Nachdenken ließen. Das geht doch ein bisschen zu schnell.«
»Aber ich habe mich in dich verliebt, Regina. Als ich dich bei uns daheim am Tisch sitzen sah, war es um mich geschehen. Dabei hatte ich dich zuerst gar nicht wiedererkannt.«
Regina senkte den Kopf. »Ich hatte dich nie vergessen«, wollte sie ihm sagen, doch sie presste die Lippen fest aufeinander.
Er griff wieder nach ihrer Hand.
Es tut so gut, die Wärme dieser kräftigen, ein wenig rauen und warmen Hand zu spüren, dachte Regina.
»Dabei kenne ich dich doch schon ewig«, flüsterte er ihr nach einer Weile mit zärtlicher Stimme ins Ohr.
»Und hast mich doch nicht mehr erkannt«, erwiderte sie ein wenig beleidigt.
»Aber das war doch nur auf den ersten Blick. Ich war ja auch so überrascht. Ich hatte mit gar keinem Besuch gerechnet.«
Sie waren nun bei den Fischteichen angelangt. Inzwischen zeigte sich auch der Mond am Himmel und warf eine silberne Bahn über das stille, schwarze Gewässer.
Eine Weile standen sie schweigend am Ufer.
»Lass uns wieder zurückgehen«, bat Regina, »ich muss morgen früh schon um sechs Uhr los.«
Markus nickte verständnisvoll. »Ich bin so froh, dass ich dich noch einmal gesehen habe, bevor du abreist, und dass ich dir gestanden habe, wie es um mich steht.«
»Ich auch«, erwiderte sie mit warmer Stimme. Er hatte jetzt beide Arme um ihre Hüften gelegt, und sie schmiegte ihren Kopf an seine Schulter.
Er fühlte sich glücklich. Lange hatte er keine solche Wärme und Zusammengehörigkeit mehr verspürt.
»Es könnte klappen mit uns beiden«, meinte er. Sie standen immer noch eng beieinander. Konnten sich noch nicht voneinander lösen.
»Sag nicht solche Sachen. Dazu ist es viel zu früh.« Doch sie schmiegte sich bei seinen Worten nur noch enger an ihn. »Es ist ganz gut, wenn wir uns vier Wochen nicht sehen. Dann zeigt es sich, ob …«
Er verschloss ihr mit einem Kuss den Mund, so dass sie nicht weitersprechen konnte.
»Es hat sich schon gezeigt«, raunte er ihr zu, nachdem er sich von ihren weichen Lippen gelöst hatte. »Ich halte es keine vier Wochen ohne dich aus. Du kannst doch schon nächste Woche kommen. Du hast mir diese Sache eingebrockt.«
»Ah, jetzt bin ich also schuld daran«, neckte sie ihn.
»Weil du so schön und so lieb bist«, murmelte er und fuhr fort: »Kannst du nicht schon nächste Woche wiederkommen?«
»Ganz ausgeschlossen.« Regina löste sich aus seinen Armen. »Vielleicht in zwei Wochen. Früher geht es auf keinen Fall.«
»Also gut«, erwiderte er seufzend, »dann muss ich so lange leiden.«
»Du hast es so lange ohne mich ausgehalten«, meinte sie leise, als sie langsam zurück ins Dorf gingen.
Er schien sie erst gar nicht zu verstehen. »Du meinst früher. Aber da waren wir doch noch Kinder.« Er lachte.
»Ich war jedenfalls schon mit fünfzehn Jahren in dich verliebt. Aber du scheinst mich nicht ernst genommen zu haben.«
Er blieb wieder stehen, zog sie an sich. »Dafür meine ich es dieses Mal umso ernster. Sehr ernst«, fügte er zur Betonung hinzu, und auf seiner Stirn bildete sich dabei eine steile Falte. »Das ist für mich kein Spiel und kein Spaß mehr. Vergiss das nicht, Regina.«
Regina verspürte ein heftiges Glücksgefühl in sich emporsteigen. Um ihre Füße wieder auf den Boden zu bekommen, wandte sie sich von ihm ab und blickte auf die Uhr. Doch es war zu dunkel, um die Ziffern zu erkennen.
»Du zerstörst den Zauber dieser Stunde, wenn du jetzt auf die Uhr siehst«, meinte er enttäuscht.
»Vielleicht ist das meine Absicht. Vielleicht erinnere ich mich einmal mit Wehmut an diese Stunde, und dann habe ich wenigstens auf die Uhr gesehen und mir damit unsere Vergänglichkeit vor Augen gehalten.«
»Solche Momente sind doch etwas so Schönes, dass man sich wünscht, die Zeit würde stillstehen«, raunte er ihr zu.
»Das ist eben die Illusion«, antwortete sie nachdenklich. »Die Zeit steht nicht still. Alles dreht sich weiter. Das merkt man dann oft viel zu schnell.«
»Aber es werden noch viele solche schöne Stunden für uns kommen«, widersprach er ihr.
»Vielleicht«, erwiderte sie leise, »vielleicht aber auch nicht.«
»Entweder du bist die geborene Pessimistin, oder du magst mich gar nicht«, antwortete er beleidigt.
Sie gingen langsam weiter.
»Ich bin keine Pessimistin, und ich mag dich sehr«, entgegnete sie leise, ohne ihn jedoch dabei anzusehen. »Aber ich bin mittlerweile kein Kind mehr und lass mich vom Glück nicht mehr so überrumpeln. Das muss wachsen und gedeihen.«
Markus wusste darauf nichts zu erwidern. Er dachte an seine Studienzeit. Die Mädchen, mit denen er es damals zu tun hatte, waren ganz anders gewesen als Regina. Sie hatten immer die Gunst der Stunde genutzt. Was danach kam, war ihnen oft egal. Vielleicht nicht allen. Vielleicht hatte er damals, als er sich beinahe jeden Monat in ein anders Mädel verschaut hatte, auch die eine oder andere unglücklich gemacht. Zumindest für einige Zeit. Dann dachte er daran, dass er nun seit Jahren völlig kontrovers lebte. Seit drei Jahren hatte ihn keine Frau mehr interessiert. Doch nun hatte ihn die Liebe wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen.
»Wollen Sie nicht noch auf einen Sprung hereinkommen?«, fragte Emmi den Förster anstandshalber, als sie wieder vor Reginas Elternhaus standen.
»Nein, es ist schon so spät«, antwortete Markus. »Ein anderes Mal gerne.«
»Wenn du wieder im Dorf bist, könnten wir ja einmal eine Skitour zusammen machen. Du kannst doch noch Ski fahren, oder hast du es zwischenzeitlich verlernt?«, foppte er Regina, als diese schon im Türrahmen stand. Seine Stimme und sein Gesichtsausdruck waren nun etwas zurückhaltender, so als wäre zwischen ihnen nichts vorgefallen.
»Ich werde dir davonfahren. Wirst es schon sehen«, erwiderte sie scherzend. Sie warf ihm einen unbestimmten Blick zu, dann verschwand sie schnell im Haus.
»Dann bis in vierzehn Tagen. Ich freue mich«, rief er ihr nach.
Die Mutter war wieder hineingegangen, doch Regina blieb noch eine Weile im dämmrigen Flur stehen und blickte durch das kleine Guckfenster in der Haustüre. Markus war inzwischen beim Gartentürchen angekommen, das ein wenig klemmte. Er zog daran und brachte es schließlich auf. Sein Jeep stand am Straßenrand. Sie sah, dass er, bevor er einstieg, noch einmal zu dem kleinen, bescheidenen Häuschen blickte. Dabei kam ihr in den Sinn, was für einfache, kleinbürgerliche Leute ihre Eltern doch waren. Doch sie schämte sich nicht dafür.
Regina Stadler war ein stolzes Mädchen. Sie dachte daran, dass dieser Stolz ihr im Leben schon oft zu schaffen gemacht hatte. Außerdem war sie ehrgeizig. Sie wollte beruflich noch etwas erreichen. Sie dachte nicht daran, so schnell zu heiraten. Selbst jetzt nicht, da sie verliebt war, und zwar in den Mann, den sie von frühester Jugend an immer in ihrem Herzen aufbewahrt hatte.
3
Die Tage vergingen für Regina in München dieses Mal unerträglich langsam. Noch nie war ihr diese Stadt, in die sie vor fünf Jahren so begeistert gezogen war, die sie als so schön und liebenswert empfunden hatte, so trist und grau erschienen. Sie wusste, dass sie der »Weltstadt mit Herz« damit Unrecht tat. Aber momentan konnte sie München einfach nichts abgewinnen.
»Es gefällt mir hier nicht mehr«, sagte Regina zu ihrer Freundin Vroni, als sie in einem der zahlreichen Schwabinger Cafés saßen und einen Cappuccino tranken.
Vroni warf ihr von der Seite her einen forschenden Blick zu. »Auf einmal?«
»Nicht auf einmal. Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich wieder heim möchte.« Regina nippte sinnierend an ihrem Kaffee.
»Ja, stimmt. Hab ich ganz vergessen. Oder ich wollte es einfach nicht glauben. Was mache ich denn ohne dich in München?« Sie verzog das Gesicht.
»Willst du wirklich hier hängen bleiben? Dein ganzes Leben?«, fragte Regina ihre Freundin. »Du bist doch im Grunde derselbe Naturmensch wie ich.«
Vroni zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob ich das wirklich bin. Manchmal weiß ich überhaupt nicht, wer ich bin und was ich will.«
»Ich möchte in St. Valentin eine Praxis eröffnen. Ich möchte mich selbstständig machen. Ich weiß, was ich will«, erwiderte Regina mit fester Stimme.
»Ja, du hast immer ein Ziel vor Augen gehabt. Ich könnte mir wirklich eine Scheibe von dir abschneiden.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. »Aber du kannst dich doch auch in München verwirklichen, und zwar viel besser als in St. Valentin.«
»St. Valentin ist heute auch kein Kaff mehr«, entgegnete Regina, »und vor allem gibt es dort noch keine physiotherapeutische Praxis, während hier die Konkurrenz groß ist.«
»Du hast wohl wieder einmal recht.« Vroni blickte aus dem riesigen Fenster. Draußen ging der Regen langsam in Schnee über. Das wechselte ständig; einmal schneite es, dann regnete es wieder. Der Schnee schmolz sofort auf dem Pflaster, an manchen Stellen bildete sich schmutziger Matsch.
Regina folgte ihrem Blick. »Bei uns daheim schneit es richtig, und der Schnee bleibt auch liegen.«
»Ist das der Grund, warum du wieder heim möchtest?« Vroni sah sie über den Rand ihrer Tasse spöttisch an. Sie schmunzelte plötzlich. »Gibt es da nicht noch andere Gründe? Ich meine, hat sich deine Absicht, zurück nach St. Valentin zu gehen, nicht durch gewisse Begebenheiten, die sich erst kürzlich ereignet haben, verstärkt?« Der gutmütige Spott auf ihrem runden Gesicht und in ihrer Stimme verstärkte sich noch.
»Wie meinst du denn das?« fragte Regina unschuldig. Sie freute sich, dass sie sich so gut im Griff hatte und nicht rot wurde.
»Ich habe da einen sehr attraktiven Bruder, der mir plötzlich wie verwandelt vorkommt. Und ich bin der festen Überzeugung, dass du der Grund dafür bist.«
»Also gut«, gab Regina ohne äußerliche Verlegenheit und Aufregung zu, obwohl ihr Herz nun doch schneller schlug. »Es hat zwischen uns gefunkt. Aber ich will jetzt nichts überstürzen. Ich muss darüber nachdenken, und ich habe doch momentan gar keine Zeit für die Liebe.«
Vroni schien sie unerwarteterweise zu verstehen. Sie nickte ernst. »Ich kenne Markus in Liebesdingen auch zu wenig. Ich weiß nur, dass er seit drei Jahren keine Freundin mehr hatte. Jetzt scheint es ihn aber gewaltig erwischt zu haben. Ich will dir jetzt nicht zu-, aber auch nichts ausreden. Obwohl ich mich wahnsinnig freuen würde, wenn du meine Schwägerin würdest«, fügte sie mehr scherzend hinzu, und der ernste Ausdruck auf ihrem Gesicht, der nie lange anhielt, verschwand dabei wieder.