Zum Buch
Vielen nur durch seine blauen Pferde, gelben Kühe oder roten Rehe bekannt, ist Franz Marc weit mehr als der Maler bunter Tiere – er ist ein Künstlerprophet der Moderne. Was heute gespenstisch erscheine, werde morgen natürlich sein, sagt er über die neue Kunst der »Wilden«, zu denen er sich selber zählt. Neben Wassily Kandinsky ist er Mitbegründer des »Blauen Reiters«, jener Künstlerinitiative, für die Kunst den Aufbruch in die Moderne bedeutete. In Marcs Bildern drückt sich eine künstlerische Epochenwende aus, in der Großes, Altes stirbt und Neues, Ungeahntes an seine Stelle tritt.
Im Zuge der Mobilmachung vor dem Ersten Weltkrieg meldete er sich freiwillig und fiel 1916 vor Verdun. Dieses Buch schildert Leben und Werk des herausragenden Expressionisten.
Zu den Autoren
Stefan Fröhling,
geboren 1957, Dipl.-Theologe, ist Autor verschiedener Kulturführer, Biografien, Romane; auch schreibt er Beiträge für Hörfunk und TV.
Markus Huck,
Dr. theol., geboren 1961, wirkte als evangelischer Pfarrer in Franken und Odessa (Ukraine). Er lebt heute in Bamberg.
Biografien machen Vergangenheit lebendig: Keine andere literarische Gattung verbindet so anschaulich den Menschen mit seiner Zeit, das Besondere mit dem Allgemeinen, das Bedingte mit dem Bedingenden. So ist Lesen Lernen und Vergnügen zugleich.
Dafür sind gut 100 Seiten genug – also ein Wochenende, eine längere Bahnfahrt, zwei Nachmittage im Café. Wobei klein nicht leichtgewichtig heißt: Die Autoren sind Fachleute, die wissenschaftlich Fundiertes auch für den verständlich machen, der zwar allgemein interessiert, aber nicht speziell vorgebildet ist.
Bayern ist von nahezu einzigartiger Vielfalt: Seinen großen Geschichtslandschaften Altbayern, Franken und Schwaben eignen unverwechselbares Profil und historische Tiefenschärfe. Sie prägten ihre Menschen – und wurden geprägt durch die Männer und Frauen, um die es hier geht: Herrscher und Gelehrte, Politiker und Künstler, Geistliche und Unternehmer – und andere mehr.
Das wollen die KLEINEN BAYERISCHEN BIOGRAFIEN: Bekannte Personen neu beleuchten, die unbekannten (wieder) entdecken – und alle zur Diskussion um eine zeitgemäße regionale Identität im Jahrhundert fortschreitender Globalisierung stellen. Eine Aufgabe mit Zukunft.
Dr. Thomas Götz, Herausgeber der Buchreihe, geboren 1965, studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie. Er lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Regensburg und legte mehrere Veröffentlichungen, vor allem zu Stadt und Bürgertum in Bayern und Tirol im 18., 19. und 20. Jahrhundert, vor. Darüber hinaus arbeitet er im Museums- und Ausstellungsbereich.
STEFAN FRÖHLING / MARKUS HUCK
Franz Marc
Prophet der Moderne
Verlag Friedrich Pustet
Regensburg
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
eISBN 978-3-7917-6048-3 (epub)
© 2015 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg
Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg
Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich:
ISBN 978-3-7917-2647-2
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Informationen und Bestellungen unter verlag@pustet.de
Er durfte sie nicht erleben, die Zeit der neuen Kunst, um die er so engagiert gerungen hat. Der Maler Franz Marc ist wie so manch anderer namhafter Künstler nicht mehr aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt, in den er allzu begeistert und im fälschlichen Glauben an einen kulturellen Neubeginn gezogen war. Er sah sich als Künstler in eine fruchtbare und heilige Epoche hineingestellt, in der er, wie er es ausdrückte, den Zeitgenossen mit seinen Bildern und Grafiken oder in seinen Essays die Ideen zeigen wollte, die er für nichts weniger als den Gärstoff der neuen Zeit hielt.
Damals war der niederländische Maler Vincent van Gogh (1853–90) bei der künstlerischen Avantgarde, zu der Franz Marc gehörte, so angesagt, wie er bei den Befürwortern der traditionellen akademischen Malerei verschrien war. Doch mit van Gogh verband Marc noch weit mehr: nämlich die religiöse Tiefe und die Suche nach der eigenen Berufung. Der Holländer hatte sich in vier Professionen versucht, bevor er zur Malerei und damit zu seiner »Bestimmung« fand; und wie dieser zuerst hatte Pfarrer werden wollen, so dachte auch Marc in jungen Jahren daran, Theologie zu studieren. Als Künstler behielt er dann eine durchaus missionarische, ja prophetische Art bei.
Er begnügte sich also nicht mit der Darstellung der sichtbaren Welt, sondern unterlegte seinen Bilder stets eine mystische Bedeutung. Zu dieser Herangehensweise war er stark von dem russischen Maler Wassily Kandinsky (1866–1944) angeregt, zumindest darin gefördert worden. Mit ihm verband Franz Marc eine von gegenseitiger Hochachtung geprägte Freundschaft. Beider Namen sind untrennbar mit dem »Blauen Reiter« verbunden, jenem von ihnen entwickelten künstlerischen Unternehmen, das von der konservativen Kritik als interessantes Objekt für eine psychiatrische Studie geschmäht wurde. Doch längst zählen die dabei entstandenen Werke zu den bedeutendsten Beiträgen in der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts.
Mit seinem Tode knickt eine der schönsten und kühnsten Kurven unsrer deutschen künstlerischen Entwicklung jäh ab; keiner von uns ist imstande, sie fortzuführen. Jeder zieht seine eigene Bahn; und wo wir uns begegnen werden, wird er immer fehlen. Diese Zeilen gelten einem anderen. Franz Marc hat sie für einen Nachruf auf den gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs gefallenen Malerfreund August Macke (1887–1914) verfasst. Mit Fug und Recht freilich hätten sie auch in einem Nachruf auf ihn selbst, Franz Marc, stehen können. Schließlich hatte er, wie er in einem Feldpostbrief an seine Mutter schrieb, die Sorge, dass er sein Werk nicht würde vollenden können.
Dennoch wird die unbeantwortbare Frage bleiben: Wie vollendet waren Marcs Werk und Denken tatsächlich? Das biografische Wissen um seinen frühen Tod, der ihn aus der Mitte des Lebens gerissen hat, mag dazu verführen, in seinem künstlerischen Werk vor dem Ersten Weltkrieg sowie in seinen Schriften und Briefen aus dem Feld schon einen vorläufigen Abschluss zu vermuten, als wären seine avantgardistischen Tier- und Landschaftsbilder womöglich nicht nur eine begrenzte Phase in seiner gestalterischen Entwicklung gewesen; und als wäre seine metaphysische Durchdringung der Welt hin zu einer geistigen und reinen Daseinsform gerade durch die aufs Äußerste verstörenden Erfahrungen im Krieg zu einem vorweggenommenen Ende gezwungen worden. Denn des eigenen Todes musste er an der Front permanent gewärtig sein, selbst wenn er ihn gar nicht so arg gefürchtet hat. Denkt er doch im Herbst des Jahres 1914 in seiner Schrift »Im Fegefeuer des Krieges« darüber nach, welche Bedeutung die Kunst bei dessen Beendigung haben wird: Ich glaube nicht, dass viel von dem, was wir neuen Maler in Deutschland vor dem Kriege geschaffen haben, Wurzel fassen konnte. Wir werden von vorn anfangen müssen zu arbeiten. Allein auf blaue, rote oder gelbe Pferde lässt sich der Maler Franz Marc keinesfalls reduzieren.
Abb. 1: Franz Marc mit seiner geliebten Pelzmütze, mit der ihn auch August Macke malte. – Fotografie, um 1907.
Der Hang zur Kunst, zum Religiösen und zu den großen Fragen des Seins war Franz Marc in die Wiege gelegt. Bereits der Großvater Moriz August Marc (1799–1852) verspürte eine unwiderstehliche Neigung zur Zeichenkunst, näherhin zum Handwerk des Radierers, das er neben seiner juristischen Ausbildung erlernt hatte. Als verdienstvoller Beamter hatte er es nach seinem Studium in Würzburg und Erlangen sowie einer Anstellung am Bamberger Landgericht zum Regierungsdirektor in Speyer gebracht, wo ihm im Namen der bayerischen Könige Ludwig I. (reg. 1825–48) und Maximilian II. Joseph (reg. 1848–64) die Finanzverwaltung unterstand, waren die Stadt und Teile der Pfalz doch zwischen 1816 und 1946 bayerisch.
Freilich konnte sich Moriz August Marc in seiner gesicherten Beamtenposition nur außerhalb des Dienstes auf die bildende Kunst verlegen. Für mehr hätten seine erste Frau, Pauline Freiin von Pelkhoven (gest. 1843), und deren Familie wohl kaum Verständnis aufgebracht, trotzdem gepflegte kreative Fertigkeiten in ihrer Welt durchaus erlaubt und erwünscht waren. Das sollte sich freilich bei seinem Sohn Wilhelm, dem fünften von sechs Kindern, nach anfänglichem Zögern drastisch ändern. Zwar musste auch er zunächst ein juristisches Staatsexamen vorweisen, konnte danach jedoch, ab 1863, die Königliche Akademie der Bildenden Künste in München als Student der Malerei besuchen, an der er späterhin sogar als Dozent tätig sein sollte.
Die Großtante und E.T.A. Hoffmann
Als der Schriftsteller Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann (1776–1822), der aus Verehrung für Mozart den Vornamen Amadeus annahm, zusammen mit seiner Ehefrau Mischa (1778–1854) im Jahr 1808 nach Bamberg zog, war er einige Zeit davor als Jurist und preußischer Regierungsrat unter der napoleonischen Verwaltung arbeitslos geworden. Seinen Versuch, sich als Komponist und Zeichner durchzuschlagen, musste er aufgeben, weil dieser nichts einbrachte. Und zum Schriftsteller sollte Hoffmann erst noch reifen. Das Angebot, am neu gegründeten Bamberger Theater als Musikdirektor einzusteigen, kam ihm deshalb sehr gelegen. Doch Zwistigkeiten im Ensemble zwangen ihn, die Stelle bald wieder aufzugeben, sodass er nur mehr als freier Bühnenbildner, Kapellmeister und Komponist arbeiten konnte.
Er benötigte also dringend ein Zubrot. Dazu verhalf ihm die Bekanntschaft mit dem angesehenen Arzt Dr. Adalbert Friedrich Marcus (1753–1816), denn die Nichten des Arztes, Wilhelmine und Julia, sollten Gesangs- und Klavierstunden erhalten. Moriz August Marc war der jüngere Bruder der beiden. Ihr Vater, Philipp Marc (1739–1801), war für etliche Jahre in Amerika gewesen und dort vom Judentum zum Christentum übergetreten. 1792 hatte er seine Nichte Franziska (geb. um 1773) geheiratet und sich 1794 als der für Franken zuständige amerikanische Konsul im damals noch fürstbischöflichen Bamberg niedergelassen.
Die nun seit etlichen Jahren verwitwete Konsulin Franziska Marc erlaubte es E.T.A. Hoffmann, ihre Töchter zu unterrichten, wobei er auch bei anderen gut situierten Familien der Stadt in entsprechender Weise tätig war. Doch insbesondere Julia Marc (1796–1865) – eine Großtante von Franz Marc – war es, der mit einem Mal seine größte Aufmerksamkeit galt. Dabei war sie fast noch ein Kind, wenn auch sehr anmutig. Sie löste in ihm freilich Liebesgefühle aus, die ihn an den Rand des Wahnsinns treiben sollten.
Die Konsulin Marc hatte – abgesehen davon, dass Hoffmann wesentlich älter, verheiratet und nahezu mittellos war – längst einen Kaufmannssohn aus Hamburg als Ehemann für ihre Tochter Julia im Auge. Jener Johann Gerhard Graepel (gest. 1821) war offenbar kein geistig sprühender oder galanter Mensch, dafür aber finanziell abgesichert. Schließlich kam es zum Eklat: Bei einem Ausflug mit den Damen im September 1812 beleidigte Hoffmann seinen betrunkenen Widersacher Graepel lauthals, was die Beziehungen zum Hause Marc merklich abkühlte und mit dazu beitrug, dass E.T.A. Hoffmann Bamberg im April 1813 verließ. Die Ehe mit Graepel brachte Julia jedoch kein Glück und wurde nach wenigen Jahren beendet.
Wilhelm Marc (1839–1907), der Vater von Franz, sollte sich zu einem veritablen Genremaler entwickeln. Schon bald konnte er von seinen Bildern leben und zukünftig seine Familie ernähren. Die Genrebilder, also die Darstellung typischer Alltagsszenen aus dem Stadt- und Landleben, die, etwa wie bei Carl Spitzweg (1808–85), ironisch überzeichnet sein können, waren beim bürgerlichen Publikum beliebt. Ihre Tradition reicht bis ins 16./17. Jahrhundert zurück und wurde von niederländischen Meistern initiiert. Gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fanden sich sehr viele kunstbegeisterte Käufer. Die Städte Berlin und München sind hier zu nennen, die eine große Zahl an Malern angezogen hatten. Die Königliche Akademie der Bildenden Künste in München spielte hierbei eine maßgebende Rolle und war weit über Bayern hinaus bekannt. Wilhelm Marc ist der aus ihr hervorgegangenen »Münchner Schule« zuzurechnen.
Die »Münchner Schule«
Dieser Begriff bezeichnet einen Malstil des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Er entstand im Umfeld der Akademie der Bildenden Künste in München und beeinflusste die dort gelehrte Malerei entscheidend, von der sich Fanz Marc in jungen Jahren lossagen wird.
1885, ein Jahr vor dem Tod Ludwigs II. von Bayern (reg. 1864–86), freute sich der Maler und Kunstschriftsteller Friedrich Pecht (1814–1903) darüber, dass München mehr Künstler als Berlin und Wien zusammen aufzuweisen habe. Bereits der kunstsinnige König Ludwig I. (reg. 1825–48) hatte einst versprochen: Ich will aus München eine Stadt machen, die Teutschland zu Ehren gereichen soll, dass keiner Teutschland kennt, wenn er nicht München kennt. Bei seinem Thronverzicht am 20. März 1848 hatte er dieses Versprechen eingelöst. Schon sein Vater, König Maximilian I. Joseph (reg. als König 1806–25), hatte 1808 die Königliche Akademie der Bildenden Künste in München gegründet. 1855 erhielt der Historienmaler Carl Theodor von Piloty (1826–86) eine Professur an der Akademie und übernahm 1874 deren Leitung. Seine Werke beeindrucken durch ihren detailgetreuen, heroisierenden Realismus. Neben Piloty sammelte der Maler Wilhelm von Diez (1839–1907), der 1872 zum Professor an der Akademie ernannt worden war, zahlreiche Schüler um sich. Er verband eine genaue Naturbeobachtung mit der impressionistischen Leuchtkraft der Farbgebung. Damit näherte er sich, ohne die traditionelle akademische Malweise aufzugeben, der Moderne an. Gabriel von Hackl (1843–1926) wurde 1878 Professor und Leiter einer Zeichenklasse. Er selbst blieb dem Historismus, also dem Rückgriff auf ältere Stilrichtungen, verhaftet, förderte aber als hervorragender Lehrer mehrere fortschrittliche Künstler, darunter Franz Marc und den deutschen Impressionisten Max Slevogt (1868–1932).
Durch seine naturalistischen Abbildungen bäuerlicher Szenen und Landschaften war Wilhelm Marc, der auch von König Ludwig II. Aufträge erhielt, ein über die Stadt München hinaus geschätzter Künstler geworden. Und wie es bereits der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854), erster Generalsekretär der Königlichen Akademie der Bildenden Künste, gefordert hatte, verband er mit seiner Kunst einen moralischen Anspruch, um beispielgebende Lebensweisen und -prinzipien nach außen zu tragen. Denn das Genrebild will, wie dies die Historikerin Katja Förster in ihrer Arbeit über die Weltsicht Franz Marcs beschreibt, das Typische, nicht das Individuelle zeigen. Nicht die persönlichen Eigenheiten der dargestellten Menschen sind von Bedeutung, sondern ihr Beispiel soll auf den Betrachter wirken. Dabei verschließt Wilhelm Marc keineswegs die Augen vor den sozialen Verwerfungen der Gesellschaft, sondern er setzt mit seinen ländlichen Genrebildern einen bewussten Gegenpol zur Umtriebigkeit und Zerrissenheit der anwachsenden Städte und damit zugleich auch zu einer überkommenen romantisch-verklärten Sichtweise.
Fanny, die ältere Schwester Wilhelms, war im russischen St. Petersburg verheiratet. Die bei ihr und ihrem Mann, Eduard Bohnstedt, seit 1866 als Erzieherin angestellte Sophie Maurice (1847–mind. 1916) stammte aus dem Elsass und war in einem schweizerischen Internat calvinistisch aufgewachsen. Wilhelm Marc lernte die junge Gouvernante wohl schon bei einem 1867 erfolgten Besuch in St. Petersburg kennen, doch sie scheint ihm nicht besonders aufgefallen zu sein. Erst etliche Jahre später und nach weiteren Besuchen wurde aus den beiden ein Paar, das sich im Februar 1877 in München vermählte.
Obwohl gemäß den Grundsätzen des Calvinismus – benannt nach dem französischen Reformator Johannes Calvin (1509–64) – das Leben eine sehr strenge religiöse Prägung erfährt und dem Menschen, im Gegensatz zu anderen Konfessionen, auf seinem durch Gott vorherbestimmten Lebensweg recht wenig Entscheidungs- und Gewissensfreiheit zugestanden wird, herrschte im Hause Marc eine sittlich zwar sehr an der gelebten Religion ausgerichtete, aber in Glaubensfragen freie, also undogmatische Lebensweise vor. Der katholisch erzogene und über Jahrzehnte seiner Konfession zugewandte Wilhelm Marc konvertierte 1895 schließlich – und gewiss nicht zuletzt seiner evangelischen Frau Sophie zuliebe – zum Luthertum und durchbrach hiermit die dem Katholizismus verhaftete Tradition der Familie Pelkhoven, vertreten durch Wilhelms Mutter Pauline und nach deren Tod durch ihre jüngere Schwester Mechthilde, mit der Moriz August Marc in zweiter Ehe verheiratet war. Wilhelm Marc ging es um eine echte, tätige Christlichkeit und nicht um vordergründige Bekenntnisse. Christ zu sein war seiner Überzeugung nach eine Werktagspflicht, katholisch oder evangelisch zu sein hingegen ein Sonntagsvergnügen.
Am 8. Februar 1880 kam Franz Marc in München zur Welt und erhielt eingedenk seiner Herkunft zudem die Vornamen Moritz und Wilhelm. Bei der Taufe seines Sohnes Franz soll Wilhelm Marc übrigens vor Schreck ob der Hässlichkeit des Säuglings in Ohnmacht gefallen sein. Franz hatte zu seinem um gut zwei Jahre älteren Bruder Paul (1877−1949) lange Zeit ein sehr enges Verhältnis. Beide Söhne wurden auf Drängen der Großmutter, Mechtilde von Pelkhoven, im katholischen Ritus getauft. Erst nach dem Tod Mechthildes im Jahr 1882 konnte Sophie Marc ihre Kinder protestantisch erziehen, was ihr Ehemann Wilhelm sogar testamentarisch festgelegt hatte. Die Veränderung in der konfessionellen Unterweisung mochte vielleicht für den älteren Sohn Paul in Ansätzen spürbar gewesen sein, für den jüngeren Franz sicher noch nicht.
Paul und Franz Marc wuchsen in einer Familie auf, in der darauf geachtet wurde, dass alle liebevoll miteinander umgingen. Der gutherzige Vater und die fürsorgliche Mutter sollen niemals Streit gehabt haben. Diese familiäre Harmonie hat sich gewiss auf die Gemälde Wilhelm Marcs und auch seines Sohnes Franz ausgewirkt, der durchaus von den künstlerischen Themen des Vaters beeinflusst war. Was bei Wilhelm Marc, der seine Söhne mehrfach malte, die Sehnsucht nach einem beispielhaften, idyllischen Dasein war, dürfte in den romantisch angehauchten frühen Bildern des Sohnes ein Gleichklang in und mit der Natur gewesen sein.
Ab 1892 entstand auf dem Gebiet der Stadt Pasing vor den Toren Münchens (1938 eingemeindet) unter der Regie des Architekten August Exter (1858–1933) die sogenannte »Villenkolonie Pasing I«, die als Gartenstadt geplant war und so manchen Künstler anzog. In der dortigen Luisenstraße konnte die Familie Marc ein kleineres Haus mit angrenzendem Garten erwerben, und das, obwohl Wilhelm Marc zu diesem Zeitpunkt bereits so stark an Multipler Sklerose litt, dass er kaum mehr malen konnte und sich mit jährlich 750 Mark aus einer Künstlerkasse begnügen musste. Allerdings hatte er mütterlicherseits eine ausreichende Erbschaft gemacht. Das Gehen fiel dem Vater zu dieser Zeit schon recht schwer, was mit ein Grund gewesen war, die Etagenwohnung in München aufzugeben und in die »Gartenstadt« zu ziehen. Sophie Marc kümmerte sich bis zu seinem Tod im Jahr 1907 sicher hingebungsvoll um ihren Ehemann und blieb dennoch ihrem wohltätigen Engagement innerhalb der Kirchengemeinde treu. Der Sohn Franz wohnte bis zu seinem 1904 erfolgten Umzug in den Münchener Stadtteil Schwabing in der Luisenstraße. Den Vater wird er während der Weihnachtstage 1906 in seinem Todeskampf malen. Alles konzentriert sich in dem müden Blick ins Leere. Ich fürchte, Maman wird es etwas grausig vorkommen. Aber dieses müde Warten auf den Tod hat etwas ganz Grausiges. Auch den Kopf des toten Vaters hat er in einer Kreidezeichnung festgehalten.
Abb. 2: Franz Marc als Gymnasiast. – Fotografie von Ludwig Schiessl, München.
Ab 1891 besuchte Franz, wie vorab sein Bruder Paul, nach der Volksschule das erst 1887 gegründete humanistische Luitpold-Gymnasium in München, wo er im Jahr 1899 das Abitur bestand. Anders als Paul war Franz ein in sich gekehrtes, ruhiges Kind, das dennoch einen zunehmend stärker ausgeprägten eigenen Willen besaß. Von irgendwelchen Schulproblemen ist nichts überliefert; im Gegenteil: Er galt als fleißig und aufmerksam, legte – dem christlichen Vorbild der Eltern gemäß – ein lobenswertes Betragen an den Tag und erhielt im Abitur sehr gute Zensuren.
Albert-Einstein-Gymnasium
In den Jahren 1888–94 – und somit zu einer Zeit, als die Brüder Marc das Münchener Luitpold-Gymnasium (Müllerstraße) besuchten – zählte diese Lehranstalt auch Albert Einstein (1879–1955) zu ihren Schülern. Das Gymnasium war 1887 nach dem damals in Bayern regierenden Prinzregenten Luitpold (reg. 1886–1912) benannt worden. 1918 wurde diese Schule mit dem 1864 eröffneten Neuen Realgymnasium vereint, das anschließend seinen alten Standort aufgab. Weil das Schulgebäude in der Müllerstraße 1944 bei Bombenangriffen zerstört worden war, wurde in den 1950er-Jahren ein Neubau in der Lautererstraße errichtet, der seit 1965 als Albert-Einstein-Gymnasium den Namen des berühmten Physikers trägt. – Das Staatliche Luitpold-Gymnasium in München (Seeaustraße), das von Prinzregent Luitpold im Jahr 1891 als Königliche Luitpold-Kreisrealschule gegründet worden war, hat mit dem früheren Luitpold-Gymnasium nur den Namen gemeinsam. Auch hier war nach Bombenschäden ein Neubau nötig, der allerdings am selben Standort erstellt wurde.
Die Frage nach dem am Ende der Schulzeit anstehenden beruflichen Werdegang machte Franz in der Jugend erheblich zu schaffen, was nicht heißt, dass er ein unsteter Mensch gewesen ist; vielmehr spricht seine Auseinandersetzung mit den sich auftuenden Wegen für einen wachen Geist. Richtig ist freilich, dass er zeitlebens ein leicht zu beeindruckender Mensch war, was in den mannigfaltigen Stileinflüssen, die seine Karriere als Maler bestimmen sollten, erkennbar wird.
Wie es seinem Bruder Paul mit der Entscheidung für einen Beruf erging, ist nicht bekannt. Dieser studierte nach dem Abitur Klassische Philologie in München und verschrieb sich bald der Byzantinistik. Wegen einer im Ersten Weltkrieg erfolgten Verletzung vor Verdun musste ihm ein Bein amputiert werden, was ihn wohl gezwungen hat, die mit diesem Fach verbundenen Studienreisen ganz aufzugeben. Er arbeitete fortan publizistisch und gehörte ab 1923 dem Hamburger Institut für Auswärtige Politik an, das sich mit der Friedensforschung befasste.
Franz Marc erhielt seinen ersten Konfirmandenunterricht im Jahr 1892 bei Pastor Otto Schlier (um 1864−um 1945), der damals mit der Familie Marc schon recht gut bekannt war, hatte er doch vorher schon Paul Marc in der evangelischen Glaubenslehre unterwiesen. Otto Schlier war zu Beginn der 1890er-Jahre Stadtvikar an der Pfarrkirche St. Matthäus, der ersten neu errichteten »Protestantischen Kirche Münchens« (1833 eingeweiht; 1938 abgebrochen), konnte Franz jedoch nicht ganz bis zur Konfirmation im März des Jahres 1894 begleiten. Seit dem Jahr 1893 hatte er nämlich eine Pfarrstelle in dem fränkischen Ort Schney (nahe der Stadt Lichtenfels) inne, die er bis 1902 behielt, um anschließend Stadtpfarrer in Freiburg zu werden.
Trotz der räumlichen Entfernung ist er weiterhin als Mentor und Vorbild des jugendlichen Franz Marc anzusehen, ja, sie blieben freundschaftlich verbunden. Ein reger Briefwechsel setzte ein, dem während der Sommerferien 1897 ein mehrwöchiger Aufenthalt des Gymnasiasten im fränkischen Pfarrhaus folgte. Bereits kurz davor, also im Juli des genannten Jahres, hatte Franz Pfarrer Schlier brieflich von seinem »ersten« Berufswunsch berichtet: Mein alter Vorsatz – von Ihnen mir eingepflanzter Vorsatz – Pfarrer zu werden, hat sich in der Reihe der Jahre nach manchen Zweifeln und Ungewissheiten nun doch immer mehr in mir gefestigt, sodass ich nun fest entschlossen bin, diesen schweren Beruf […] zu wählen, wobei natürlich die Aussicht, Sie inmitten Ihrer Gemeinde zu besuchen, einen erhöhten Reiz für mich gewonnen hat.
In Otto Schlier wie in seinem Vater Wilhelm und seiner Mutter Sophie sah Franz Marc Menschen, denen es gelang, ihr christliches Gerufensein in einem geistigen wie gläubig tätigen Sinne zu leben. Sein Vater etwa ertrug die schwere Erkrankung mit viel Geduld. Die sich in jungen Jahren entwickelnde Vorstellung von einem Einssein mit Gott weicht im späteren Leben Franz Marcs allerdings der idealisierten Vorstellung von einem Einssein mit dem Kosmos. Es ist erstaunlich, wie viel er von früher Jugend an gelesen und wie tief bewegt und sinnsuchend er sich dabei mit literarischen, philosophischen, religiösen und sozialen Themen sowie bald auch mit den Fragen der Kunst und des Künstlertums auseinandergesetzt hat. Besonders die Beschäftigung mit den Werken des radikal-aufklärerischen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844–1900) scheint einen Wandel bewirkt zu haben, denn bald muss Franz sich eingestehen, dass er doch kein Pfarrer werden will, obwohl diese Berufswahl der Mutter gefallen hätte. Er bekennt Mitte 1898, dass er alle Lektüre zugunsten Nietzsches zurückgelegt hat. Zarathustra ist ein Werk poetischer und gedanklicher Pracht, fast ohnegleichen in seiner Fülle. ›Jenseits von Gut und Böse‹ und ›Zur Genealogie der Moral‹ haben mich sehr erschüttert. […] Ich wurde mir über vieles klar, was ich nur in Andeutungen, Ahnungen und Instinkten selbst gefühlt und gedacht habe. Und ich bin in meinem ganzen Christentum und mit Nietzsche eins geworden.
Vor allem die von Nietzsche in den Mittelpunkt gerückte willentliche Selbstbestimmung des Individuums wird es Franz Marc angetan haben. Er schreibt nämlich bereits am 25. März 1898 an Otto Schlier: In erster Linie: Ich bin Künstler. Was ich betrachte, gilt mir notwendig gut oder bös nach der Betrachtung eines Künstlers. […] Jeder Künstler ist in irgendeinem Sinne Selbstschöpfer, weil er seine Persönlichkeit herausarbeitet, in einen besonderen harmonischen Klang bringt mit der ihn umgebenden Welt.
Das mag für einen 18-jährigen Gymnasiasten etwas hochtrabend formuliert sein, aber es lässt seine hier noch nicht getroffene berufliche Entscheidung, Maler zu werden, erstmals aufleuchten. Auch das während der Jahre 1884 bis 1893 fast regelmäßig aufgesuchte Sommerdomizil der Familie Marc in Kochel am See (Franz Marc Museum, südlich von München, hat Franz die Natur, genauer, die Landschaft und die Tiere dort nähergebracht, die ihm in seiner Malerei so wichtig werden sollten. Zudem hat er am Beispiel des Vaters erlebt, wie ein Künstler diese stimmige Welt in sich aufnahm. Nahezu vorausschauend hat Wilhelm Marc seinen Sohn Franz in einem Ölbild aus der Zeit um 1895 wiedergegeben, ganz in eine auf dem Tisch liegende Holzarbeit vertieft.
Franz Marc wollte nach dem Abitur seinem Bruder Paul folgen und ebenfalls Altphilologie an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität studieren, an der sich ab 1903 auch Frauen immatrikulieren konnten. Die Universität war 1802 nach dem Bayernherzog Ludwig dem Reichen (reg. 1450–79) und dem bayerischen Kurfürst Maximilian IV. Joseph, dem nachmaligen ersten bayerischen König, benannt worden. Ihre Gründung im Jahr 1472 (allerdings zu Ingolstadt) geht auf Ludwig den Reichen zurück.
Das Militärjahr kam genau zur rechten Zeit, als mein früheres Leben notwendig eines Interregnums bedurfte, um sich unvermerkt in etwas ganz Neues umzuwandeln.