Über dieses Buch:
Was passiert, wenn man sein Leben mit einem anderen tauscht?
Alles hinter sich lassen, nie wieder zurückkehren, ein neues Leben aufbauen – das ist sein Ziel. Auf dem Flughafen begegnet der Aussteiger einem Mann namens Hendrik, der ebenfalls sein altes Leben zurücklassen will. Spontan tauschen sie die Pässe und ihre Identitäten. Nun ist er Hendrik, und fliegt statt nach Australien in die Südstaaten der USA. Dort reist er quer durch das Land und versucht zu vergessen. Aber bald erkennt der neue Hendrik, dass ihn sein altes Leben nicht so einfach loslässt und dass er sich in einem neuen Netz aus Abhängigkeiten befindet …
»Was und wie dieser Autor schreibt, das ist selten in der deutschsprachigen Literatur.« Hamburger Abendblatt
»Gunter Gerlach ist ein Autor, der auf intelligente Art zu unterhalten versteht.« Frankfurter Rundschau
Über den Autor:
Gunter Gerlach, Jahrgang 1941, studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Er schreibt Hörspiele, Rundfunkserien, Kurzprosa und außergewöhnliche Krimis, für die er u. a. 1995 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Gunter Gerlach zählt zu den am häufigsten mit dem renommierten Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichneten Autoren, lebt in Hamburg.
Bei dotbooks erschienen bereits Gunter Gerlachs Romane »Herzensach«, »Das Jahr, in dem ich beschloss, meinen Großvater umzubringen«, »Der Haifischmann«, außerdem die Krimi-Reihe »Kortison«, »Katzenhaar und Blütenstaub«, »Neurodermitis« und »Melodie der Bronchien« sowie die Literatur-Quickies »Gold im Gebirge« und »Vorlieben«.
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eBook-Neuausgabe März 2015
Dieses Buch erschien bereits 2005 unter dem Titel »Ich bin nicht« bei yedermann Verlag, München
Copyright © der Originalausgabe 2005 yedermann Verlag, München
Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Maria Seidel, Weichs, unter Verwendung von Bildmotiven von Thinkstockphoto/Ryan McVay
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-094-0
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Gunter Gerlach
Ich bin der andere
Roman
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In diesem Moment, als wir die Fotos in unseren Pässen vergleichen, erscheint es mir wie die Lösung aller meiner Probleme. Es ist eine Art, sich unsichtbar zu machen. Ich verschwinde, und wer mich dennoch findet, dem kann ich sagen, ich sei ein anderer. Ich brauche nur mein Haar zurückzukämmen, um dem Foto meines Gegenübers noch mehr zu gleichen. Vor Jahren hatte ich eine ähnliche Frisur.
Wir schieben unsere Pässe in die Mitte des Tisches, dann zieht jeder den Pass des anderen zu sich heran und steckt ihn ein. Ich sehe mich um, ob uns in dem Flughafencafé jemand beobachtet hat. Der Kellner steht am Tresen, dreht sich gerade herum, verkennt meinen Blick und kommt heran.
»Noch einen Kaffee«, sage ich, obwohl es der dritte oder vierte ist, dann kehre ich mit den Augen zu jenem Mann zurück, der jetzt ich ist. Er lächelt, lehnt sich zurück, und ich finde, er ist mir nicht ähnlich. Er ist drei Jahre älter, größer, breiter, muskulöser. Aber das Gesicht in seinem Pass könnte ebenso meines sein.
»Ich hoffe, du bist kein Verbrecher«, sagt der Mann, der jetzt ich ist.
»Ich bin eher eine Art Opfer.«
Er nickt, verschränkt die Arme und richtet sich in mir ein. Ich habe ihm die ganze Geschichte von D. erzählt, deren Namen ich nicht mehr nennen mag, und die mich fast umgebracht hätte. Ich musste jemandem alles erzählen, um mich zu rechtfertigen. Der Mann, der jetzt ich ist, hat mir Recht gegeben. Mehr noch. Aus einer Laune heraus und aus Überdruss, seine eigene Aufgabe wahrzunehmen, hat er mir angeboten, unsere gebuchten Flüge zu tauschen. Mehr noch. Jeder soll für die Dauer der Reise der andere sein. Was für ihn, den gelangweilten reichen Erben, ein Abenteuer ist, erkenne ich als Chance, mich restlos von D. zu trennen. Ich bin sie los, befreit von ihr. Mehr noch. Es ist jetzt seine Geschichte, so lange bis wir uns wieder treffen und erneut unsere Pässe tauschen. Aber wer weiß, was dann ist.
Für einen Moment denke ich, wir brauchen unsere Reise nicht mehr anzutreten. Wir können beide zurückkehren in unsere Wohnungen. Er geht zu D., sagt ihr, was ich nie konnte. Er weiß sicher, wie man eine Frau behandelt, die ab und zu von einem weißen Kaninchen in ein Monster mutiert, die plötzlich mit einem Messer in der Hand vor einem steht, einem die Haut ritzen will und das als Liebe ausgibt. Er ist der Typ, der ihr das Messer einfach aus der Hand windet, der weiß, wie man so etwas macht, ohne sich selbst zu verletzen. Da hätte er sein Abenteuer, wenn das noch möglich wäre.
Er kann auch meinen Job haben, die Hälfte einer Firma, als Lohn. Er kann im Grunde alles haben, was mir gehört, meine Ängstlichkeit, meine Phobien. Er wird in meinem Leben besser zurechtkommen als ich. Und ich gehe in seine Wohnung, schlafe in seinem Bett, und nach ein paar Tagen erwache ich mit all seinen Eigenschaften, jenem Übermut, jener Risikobereitschaft, jenem Lachen, mit dem er mir seinen Pass gab. Natürlich war auch ihm die Erleichterung anzusehen, nicht nach New Orleans fliegen zu müssen.
Der Kellner kommt, schiebt die Kaffeetasse über den Tisch vor mich hin. Es ist wohl nichts Besonderes, wenn jemand auf einem Flugplatz so viel Kaffee trinkt. Er wartet, sieht den Mann an, der jetzt ich ist.
»Danke«, sagt er. »Ich möchte nichts.«
Auch etwas, dass ich nicht fertig bringe, in einem Café mit leerem Glas zu sitzen und den Kellner wieder wegzuschicken. Es wundert mich, dass er mir erlaubt, er zu sein. Wenn wir mit unseren Papieren auch unsere Persönlichkeit tauschen könnten, würde ich damit wie mit einem Lastwagen, den ich nicht bedienen kann, gegen die Wand fahren. Für mich ist es besser, ich nehme nur seine bürokratische Hülle und löse mich darunter auf. Bin weder er noch ich. Denn während er mein Leben in der letzten Stunde begierig und amüsiert aufgesogen hat, so dass er es übernehmen könnte, hat mich seines nicht so sehr interessiert.
»Jetzt noch die Flugscheine«, sagt der Mann, der jetzt ich ist.
»Die Flugscheine. Ja.«
Er lächelt, beugt sich vor, zieht die Schultern hoch. »Nur dann macht es doch Sinn.« Er legt den Umschlag mit den Tickets auf den Tisch. »Angst?«
Ich streichle meinen beim Last-Minute-Schalter erworbenen Flugschein. Ich habe dem Mann, der jetzt ich ist, nicht erzählt, dass ich in Australien nach einer Möglichkeit suchen wollte, nicht zurückzukehren. Der ferne Kontinent erschien mir als ein Ziel, das es noch zulässt in der Landschaft zu verschwinden, sich ohne Aufsehen umzubringen, in die Wüste zu laufen, zu verdursten, als unbekanntes Gerippe am Wegesrand zu liegen. Vielleicht auch zum Eingeborenen werden, im Protest auf der Schaufel des Baggers vordringender Zivilisation zu sterben. Möglich wäre auch, ein Floß zu bauen und damit in die Südsee aufzubrechen, um auf einer kleinen Insel anzukommen. Tot oder als Robinson Crusoe. Waldmensch zu werden wäre auch nicht schlecht. Einer, der vor Frauen Angst hat, wird zu einem, vor dem die Frauen Angst haben. Die Idee ist aus einem Horrorfilm. Aber nun ist durch eine Zufallsbekanntschaft alles anders geworden. Keine Notwendigkeit mehr, sich in ein Monster zu verwandeln.
»Meine Autoreservierung am Flughafen lässt du am besten verfallen«, sagt der Mann, der jetzt ich ist. »Ein Jeep – ist sowieso zu groß für dich. Nimm einen kleineren Wagen. Aber das Hotel ist billig und liegt günstig.«
Er zieht einen Prospekt aus der Flugscheintasche, hält mir das Foto eines rot gestrichenen Gebäudes mit weißen Fensterläden hin. »Ich habe nicht gebucht. Man bekommt immer ein Zimmer.« Eine kleine Landkarte fällt aus dem Prospekt. »Oh, meine Reiseroute.« Er zögert, will sie zusammenknüllen, dann lacht er, schiebt sie zurück. »Ich denke, es ist eine interessante Tour – für jeden anderen. Kennst du den Canyon de Chelly?«
Ich schüttle den Kopf. Ich mache seine Reise, aber ich übernehme nicht seine Aufgabe. Er wollte von New Orleans aus ins Indianergebiet fahren. Ein Versprechen seiner Mutter gegenüber. Ich habe ihm nicht genau zugehört und weiß schon nicht einmal mehr, ob seine Mutter noch lebt. Oder hatte er von seiner Großmutter gesprochen? Wie auch immer, sie wünschte sich, er sollte nach Spuren seines Bruders suchen, der vor vielen Jahren nach einem Streit mit ihm ausgewandert ist. Er hasste seinen Bruder, hatte ihn für tot erklären lassen. Jetzt, wo ich versuche, mich an seine Erzählung zu erinnern, kommt es mir vor, als hätte er von einem seiner Ahnen aus der Familie seiner Mutter gesprochen. Eine lange zurückliegende Geschichte.
»Es wird dir gefallen«, sagt der Mann, der jetzt ich ist.
Er legt den Kopf schräg, lässt mich nicht aus den Augen. Ich weiß, er sucht Zweifel in meinem Gesicht. Wenn ich jetzt die Stirn runzle, macht er vielleicht alles rückgängig. Alles war nur ein Spaß. Dann bin ich wieder auf der Flucht. Dann fahre ich durch Australien und denke doch nur daran, wie ich sein müsste, um mit Frauen wie D. zurechtzukommen. Dann fahre ich durch die Wüste, um ihr zu entkommen oder zu sterben. Es ist wahr, New Orleans ist die Lösung aller meiner Probleme. Niemand weiß, dass ich dort sein werde. Ich werde da sein und zugleich nicht da sein. Ein Zustand, der mir vollkommen entspricht. Die Subsumierung meines bisherigen Lebens. Eine Art Leben nach dem Tod. Eine Auferstehung.
Ich gebe ihm meine Tickets.
Der Mann, der jetzt ich ist, bleibt sitzen. Er muss noch eine Stunde auf seinen Flug warten. Der Mann, der ich jetzt bin, verabschiedet sich, vergewissert sich noch einmal, dass die Pässe wieder getauscht werden können. Kreditkarten, Führerschein und andere Ausweise behält sowieso jeder bei sich.
»Wenn alles schief geht«, lacht der Mann, der jetzt ich ist, »gehst du einfach zur Behörde und sagst, du hättest deinen Pass verloren.«
Er hat Recht, so einfach ist es. Er kommt hoch, legt mir seinen Arm um die Schulter. Er rüttelt mich, und dann sagt er: »Wenn die Stewardess fragt, was möchten Sie trinken, wirst du wieder aufwachen.«
»Klar«, sage ich. »Die Frage wird sein, in welchem Flugzeug ich dann sitze.«
»Und wer du bist!«
Weil wir beide aufgestanden sind, blickt der Kellner zu uns herüber. Der Mann, der jetzt ich ist, hält mich immer noch umschlungen. Er ist größer als ich. Plötzlich küsst er mich auf die Stirn. »Machs gut«, sagt er. Dann gibt er mich frei. Es muss aussehen, als wären wir alte Freunde, dabei kennen wir uns erst, seit wir uns am Last-Minute-Schalter begegnet sind. Er schiebt meinen Koffer unter dem Tisch hervor, gibt mir noch einmal die Hand.
»Benimm dich anständig, du bist schließlich ich.«
»Du auch«, sage ich. Dieser lange Abschied gefällt mir nicht. Ich versuche, seine Hand loszuwerden und entdecke einen blutigen Strich am Rand seiner Manschetten. »Was ist das?«
»Eine Verletzung vom Hanteltraining. Nur ein Kratzer.« Er zieht den Ärmel etwas höher. Es ist eine lange blutrote Linie. Mein Schrecken runzelt seine Stirn. »Was hast du?«
»Es ist genauso eine Linie wie D. sie mir einmal auf beiden Armen beibrachte. Ich schlief, und ihr Messer war so scharf, dass ich es nicht spürte.«
Er greift wieder nach meiner Schulter. »Vergiss es, du bist jetzt ich.« Er gibt mir meinen Koffer in die Hand und schiebt mich ein Stück in Richtung der Rolltreppen.
Ich gehe, drehe mich nach ihm um. Er hebt die Hand und blinzelt mir zu, dann winkt er dem Kellner. Auf der Rolltreppe denke ich, dass es mich jetzt doppelt gibt. Es gefällt mir. Ich kann doch ein anderer sein. Ich bin ein anderer. Beim Gang durch die Abflughalle stelle ich mir vor, wie ich mir an jede Stelle meines Körpers einen Zettel mit seinem Namen klebe. Je nachdem, wo ich ihn gerade brauche. Und dann denke ich, dass wir vielleicht hätten versuchen sollen, die Schuhe zu tauschen. Ich würde gern in anderen Schuhen laufen.
Hinter dem Schalter sitzt ein dicker Mann. Er gefällt mir nicht, aber ich finde es richtig, dass Luftfahrtgesellschaften auch solche Menschen beschäftigen und nicht nur dünne Frauen. Er schlägt den fremden Pass auf bis zur Seite mit dem Foto, dann blickt er mir ins Gesicht.
»Raucher oder Nichtraucher, Herr Sieben?«
Die erste Prüfung habe ich bestanden. »Nichtraucher«, sage ich ohne Überzeugung, denn ich glaube, der Mann der Hendrik Sieben war, hatte am Anfang unserer Begegnung, vor dem Last-Minute-Schalter, eine Zigarette geraucht. Später allerdings nicht mehr. Dem Dicken hinter dem Schalter scheint es ein weiterer Beweis meiner Identität. Er lacht. »Es gibt keine Raucherabteile mehr. Schon lange nicht.« Es war eine Fangfrage.
Er gibt mir den Pass zurück. Mit meinem Ticket beschäftigt er sich länger. Als er auf die Gepäckwaage schaut, runzelt er die Stirn, beugt sich zu meinem Koffer herab und etikettiert ihn. An seinen Stirnfalten kann ich ablesen, dass etwas nicht stimmt. Sie haben die Form eines Kreuzes.
»Noch Handgepäck, Herr Sieben?«
»Nein.« Es gefällt mir nicht, wie er mich ansieht. Der Koffer scheint ihm für eine solche Reise zu klein.
»Und das ist wirklich Ihr Koffer, Herr Sieben?«
Jetzt begreife ich: Der Name auf dem Anhänger ist mein richtiger Name. »Ich habe ihn mir von einem Freund geliehen.«
»Es ist besser, Sie machen den Anhänger ab.«
Ich ziehe den Koffer zurück. Er wird mir von einem Sicherheitsbeamten aus der Hand genommen. »Würden Sie bitte mitkommen?«
Ich laufe hinter meinem Koffer her. Jetzt ist es aus.
»Nur eine Routineüberprüfung«, sagt der Mann, der ihn trägt. Und ich denke daran, wie ich erklären soll, dass ich mit einem fremden Pass reise. Eine Verwechslung. Man sieht einem Pass nicht an, wem er gehört. Und dann denke ich daran, wie ich alles andere erklären soll, wenn sie wissen, wer ich wirklich bin, wenn sie alles über mich herausgefunden haben.
In einem kleinen fensterlosen Raum wartet schon ein zweiter Sicherheitsbeamter. Er sieht aus wie der erste. Vielleicht sind es Brüder. Mein Koffer wird auf einen Tisch gelegt. Er ist nicht abgeschlossen. Was innen oben drauf liegt, soll ich sagen.
Reiseführer und Landkarte, die ich im Flughafenshop gekauft habe.
»Sie fliegen nach New Orleans?«
»Ja.« Ich versuche gar nicht erst zu erklären, warum ich einen Reiseführer und eine Landkarte von Australien dabei habe. Ich tue so, als sei das ganz normal. Mein Pass wird mir abgenommen und nach nebenan gebracht. Meine anderen Papiere interessieren nicht. Wenn ich Glück habe, bemerkt niemand die Diskrepanz.
Ein dritter Sicherheitsbeamter erscheint. Er trägt eine tropfenförmige Sonnenbrille. Ich muss ihm in einen Nebenraum folgen. Wieder kein Fenster. Ich muss meine Kleider ablegen.
»Alle?«
»Alle.«
Ich ziehe mich langsam aus. Er nimmt jedes Stück, streift mit beiden Händen daran entlang, befühlt die Taschen und Nähte. Als ich nackt vor ihm stehe, will er mir in die Mundhöhle schauen. Dann soll ich mich über einen Tisch beugen, und er zieht sich einen Gummihandschuh an.
»Muss das sein?«, frage ich.
»Sie wissen doch … Es ist zu Ihrer Sicherheit als Flugpassagier. Wir müssen solche Stichproben machen.«
Er lächelt nicht. Er ist sich der Komik dessen, was er gesagt hat, nicht bewusst. Ich beuge mich nach vorn. Ich verstehe nicht, warum er eine so große Sonnenbrille trägt, eine Nasenklammer wäre besser. Ich berühre mit der nackten Brust die kalte Tischplatte. Ich erwarte einen Schmerz. Aber er hat seinen Finger dick eingecremt. Er fährt mir in den Darm. Ich weiß nicht, was er sucht. Aber es gibt wohl Waffen, die man darin verstecken kann. Er macht es sehr geschickt und ich denke darüber nach, ob ich ein bisschen stöhnen soll.
Als er fertig ist, und ich mich wieder ankleiden darf, versuche ich die Augen unter seiner Sonnenbrille zu erkennen. Aber es gibt kein Zeichen dafür, ob er seine Arbeit gern tut. Er wirft den Handschuh in einen Abfallbehälter und wäscht sich die Hände. Dann schickt er mich zurück in den ersten Raum. Das Zimmer ist leer, auch mein Koffer liegt nicht mehr auf dem Tisch. Eine junge Frau kommt mit dem Pass, der nicht mir gehört, herein. Sie nennt mich Herr Sieben, überreicht mir lächelnd das Dokument und entschuldigt sich für die Ungelegenheiten. Sie bedankt sich für meine Zusammenarbeit. Und mein Koffer wäre schon in der Maschine. Ich frage mich, was sie über den Menschen weiß, der ich jetzt bin. Was hat der Computer hergegeben? Es kann nichts Schlechtes sein, denn sie hört nicht auf zu lächeln, als möchte sie meine Sympathie gewinnen. Ihr Gesicht hat einen asiatischen Schnitt. Warum bin ich nie solchen Frauen begegnet, die sich um nichts anderes als um mein Wohlergehen bemühen wollen? Sie fragt, ob sie mich zum Flugzeug begleiten darf. Ich wünschte mir, sie würde mich auf der gesamten Reise begleiten und sage es. Ihre Antwort ist eine Körperdrehung, ein zurückgeworfener Kopf, ein Lachen, als sehe sie in mir einen potentiellen Liebhaber. Sie bringt mich zum Flugzeug. Ich weiß, dass es eine Sicherheitsmaßnahme ist. Sie erzählt von den USA, dass sie selbst in Arizona geboren wurde. Sie lässt Pausen, sieht mir in die Augen, damit ich eine Bemerkung einfügen kann oder ebenfalls etwas erzählen kann. Ich weiß, sie will mich ablenken.
»Wie kommen Sie hierher?«
»Die Familie. New Orleans wird Ihnen gefallen.«
»Was soll ich mir ansehen?«
»Die Sümpfe.«
»Die Sümpfe?«
Ich bekomme keine Antwort mehr. Das Flugzeug hat nur noch auf mich gewartet. Eine Stewardess nimmt mich am Arm. Eine zweite schließt sofort die Tür hinter mir. Kein Winken, kein Abschied. Ich werde den Gang entlang geschoben, in den Sitz gedrückt und angeschnallt. Schon rollt die Maschine an die Startposition. Ich habe nicht einmal Zeit, meine Startängste zu entwickeln. Als die Flughöhe erreicht ist, öffnet sich die Pilotenkanzel. Ich sehe den Dicken von der Abfertigung. Er scheint der Pilot zu sein.
»Was möchten Sie trinken?« Die Stewardess hat sich weit herabgebeugt, verstellt mir den Blick auf den Piloten. Ich spüre immer noch den Finger. Mein Schließmuskel zuckt.
Es ist erstaunlich, dass sich im Flugzeug meine Höhenangst nicht einstellt. Dafür versetzt mich der lange Flug in einen Zustand eingeschränkt funktionierender Sinne. Eine Art Trance. Ich erwache, ohne geschlafen zu haben. Das Personal hat gewechselt. Wie schaffen es die Fluggesellschaften, über dem Atlantik die Stewardessen auszutauschen? Vielleicht habe ich eine Zwischenlandung verpasst. Ich bestelle einen starken Kaffee, doch das Gefühl, im falschen Flugzeug zu sitzen, bleibt. Ich weiß nicht mehr, wann ich abgeflogen und ob ich vielleicht schon umgestiegen bin. Aber ich traue mich nicht zu fragen.
Ich sehe meinen Sitznachbarn an. Es ist der Sicherheitsbeamte aus der Abflughalle. Das ist mir vorher nicht aufgefallen. Jedenfalls sieht er ihm täuschend ähnlich. Er schläft. Vielleicht werde ich von ihm begleitet. Ausgeflogen, ausgewiesen, abgeschoben. Ich betrachte die anderen Passagiere. Ich entdecke niemanden mit offenen Augen. Vielleicht ist dies ein Transport von Toten? Ich lehne mich zurück, versuche wieder zu schlafen, um dann noch einmal zu erwachen, noch einmal von vorn zu beginnen, aber meine Augen lassen sich nicht schließen. Als die Stewardess vorbeikommt, bitte ich sie, mir die Augen zuzudrücken. Im letzten lichten Augenblick sehe ich, dass ihre Hände keine Finger haben, aber da ist es schon zu spät. Ich kann nichts mehr sehen. Ich beruhige mich damit, dass ich träume. Zweimal wache ich in meinem Traum auf und bekomme etwas zu essen und zu trinken. Es wird nie richtig dunkel. Dann höre ich um mich herum Gesprächsfetzen, die in der Lautstärke schwanken. Die Passagiere sind alle in Bewegung, verändern ihren Standort. Der Kapitän meldet sich über Lautsprecher, kündigt den Landeanflug auf New York an. Ich kann wieder sehen. Aus dem Mann neben mir ist eine ältere Frau geworden. Sie erhebt sich zweimal, um den Rock unter sich glatt zu streichen. Dann erzählt sie mir, wie sehr sie sich freut, ihre Enkel zu sehen. Sie kenne sie nur vom Foto. Sie holt ein kleines Lederetui hervor, um mir die Bilder zu zeigen. Ich erinnere mich, die runden Kindergesichter schon gesehen zu haben. Ich beschreibe ihre Enkel: »Der Junge trägt ein grünes T-Shirt, das Mädchen einen roten Pullover.«
Sie sieht mich an, zieht die Brauen herab. Dann öffnet sie die Fotos. Es sind zwei kleine Jungen in blauen Hemden mit Krawatten.
»Niedlich«, sage ich.
Die Maschine senkt sich, und mir verschließen sich die Ohren. Ich versuche einen Druckausgleich in meinem Kopf herzustellen, indem ich mir die Nase zuhalte und die Wangen aufblase. Es geht nicht. Der Druck wird immer stärker. Er sticht mir in die Ohren. Ich stecke die Finger hinein. Meine Nachbarin bietet mir ein Kaugummi an. Ich kaue. Es nützt nichts. Mir wird übel vor Schmerz.
Aus weiter Ferne höre ich das Lachen und die Stimmen der Passagiere. Selbst nach der Landung bleibe ich zur Hälfte taub. Ich muss mit einem transparenten Klebstoff überzogen sein, denn auch meine Bewegungen verlangsamen sich und vieles, was ich genau betrachten will, verliert seine Konturen, verschwindet teilweise. Dann entdecke ich meinen Koffer. Er fährt ganz allein auf einem Transportband. Ich nehme ihn und folge einer Gruppe Frauen. Ich stelle mich hinter sie ans Ende einer Schlange. Obwohl ich nicht verstehe, was mich der Mann in der Uniform hinter dem Schalter fragt, bewährt sich mein Pass als Eintrittskarte in die USA. Man winkt mich weiter. Ich stehe jemandem im Weg. Ich folge einfach einem Mann in Uniform. Er kehrt plötzlich um. Eine Gruppe Touristen in bunten Kleidern, kurzen Hosen läuft an mir vorbei. Dann bin ich für einen Moment allein in einem langen Gang. Ich gehe um eine Ecke, ein weiterer Gang. Ich beginne zu zweifeln, ob ich auf dem Flughafen in New York bin. Ich versuche, eine große Halle zu finden. Es gibt nur Gänge. Ich weiß nicht wohin, und es gelingt mir nicht, die Bildschirme zu lesen.
Erschöpft lasse ich mich auf eine Doppelreihe schwarzer Sessel fallen. Eine Glaswand gibt den Blick auf das Flugfeld frei. Flugzeuge, flach wie aus Pappe ausgeschnitten, werden vorbeigeschoben. Dekorationen einer Theateraufführung. Eine Stadt ist nicht zu sehen. Mein Koffer steht ein Stück von mir entfernt. Ich wünsche mir, jemand stiehlt ihn, damit ich wieder Kraft bekomme, um Hilfe zu schreien. Auf der anderen Seite der Sesselreihe erscheint der Kopf eines Mannes mit wirrem blonden Haar. Er muss dort gelegen und geschlafen haben. Er fährt sich mit den Fingern durchs Haar, erhebt sich. Auf seinem Jackett ist das Abzeichen einer Fluggesellschaft.
»Helfen Sie mir«, sage ich. »Ich muss nach Chicago.«
Er versteht mich nicht und will meinen Flugschein sehen.
Er blättert darin. »Chicago? Hier steht New Orleans.«
»Ja, New Orleans. Richtig, es war New Orleans.«
»Warten Sie hier.« Er holt ein Mobiltelefon aus der Tasche, geht ein Stück zur Seite und telefoniert mit jemandem.
Dann kommt er zurück. »Warten Sie hier. Es kommt jemand.«
Er geht. Ich denke, er hat die Polizei alarmiert. Ich bin viel zu schwach für eine Flucht.
Dann kommt das Mädchen mit den asiatischen Gesichtszügen von der Sicherheitskontrolle aus Deutschland. Sie lächelt.
»Sie sind in Arizona geboren, nicht wahr.«
»New Orleans?«, fragt sie.
»Ja.«
»Kommen Sie.«
»Haben Sie eine Schwester auf einem anderen Flughafen?« Ich habe meinen Abflughafen vergessen. Sie antwortet nicht, lächelt mir voran. Aber wahrscheinlich hat sie mich gar nicht verstanden. Sie geht immer einen halben Schritt vor mir, und ich spreche eine Sprache, die ich selbst nicht mehr verstehe. Der Klebstoff ist inzwischen in meine Mundhöhle eingedrungen.
Ich werde weitergereicht und in einer anderen Sesselreihe abgesetzt. Mein Koffer fährt auf einem Transportband davon. Er wackelt, als wäre ein Tier darin eingeschlossen.
Jetzt weiß ich, was ich will. Ich will sterben. Mir gegenüber sehe ich einen kleinen Trinkwasserbrunnen. Ich taumle hinüber, beuge mich herab, trinke, werde mich ertränken.
Ich höre nicht auf, das Wasser in mich hineinzupumpen, bis mich jemand sanft von der Quelle wegzieht. Ich erkenne keine Gesichter mehr. Dann sitze ich wieder in einem Flugzeug. Beim Start knackt es in meinem Kopf. Alles um mich herum stürzt mit solcher Klarheit auf mich ein, dass ich fürchte, es schneidet mir die Haut auf. Überall Kanten, giftige Kunststoffe, dornige Sitzbezüge. Hastig kremple ich meine Ärmel hoch, nichts, nur die alten Narben. Um mich herum öffnen Menschen mit faulender Haut ihre Reißzahn bewaffneten Münder. Ich lege die Hände aufs Gesicht. Knoblauch und Parfümwolken bedrängen mich, nehmen mir die Luft. Ein Kinderschrei zerreißt mir das Trommelfell. Ich nehme die Hände herab. Blut. Blut läuft mir aus der Nase. Eine mechanische Stewardess hilft mir hoch, legt mich auf eine leere Sitzreihe und presst mir ein raues Papiertuch in die Hand.
Ich spüre dem Geschmack des Blutes in meiner Kehle nach. Flüssiges Aluminium. Es füllt mich aus, macht mich leicht. Als wir landen, bin ich ganz aus Metall. Ich bewege mich durch den Flughafen, wechsle Geld und besteige ein Taxi. Ich zeige dem Fahrer den Hotelprospekt. Er nickt. Wir fahren an einem Sportstadion vorbei, dann kommen Hochhäuser. Sie strahlen Hitze aus. New Orleans habe ich mir anders vorgestellt. Dann geht es eine Straße mit Palmen in der Mitte entlang. Die Häuser werden kleiner. Wir sind da. Die Farbe des Hotels ist ein wenig abgeblättert, aber sonst sieht das Gebäude aus wie auf dem Foto im Prospekt. Das ungewohnte Geld lässt mich zu viel Trinkgeld geben. Der Fahrer trägt mir den Koffer die Stufen zum Eingang des Hotels hinauf. Mein Koffer scheint leichter geworden zu sein. Schaukelnd nehme ich ihn und stelle ihn vor der Rezeption ab. Als ich wieder aufblicke, sehe ich direkt in seine Augen. Er sitzt an der Seite in einem alten Lehnstuhl, lächelt mich an. Er war schneller als ich, ist schon vor mir eingetroffen. Zwar hat er sich verkleidet und einen Vollbart wachsen lassen, aber in meinem Zustand kann ich durch Barthaare hindurchsehen. Ich lasse mich nicht täuschen. Es ist der Mann, mit dem ich meinen Pass getauscht habe. Er erkennt mich nicht.
Als ich erwache, fühle ich mich gefangen. Das Hotel ist eine Falle. Es sieht zwar genau aus wie im Prospekt: eine rote Fassade mit weißen Fensterläden. Doch es gibt keine Fensterläden. Sie sind aus Stuck. Es gibt nicht einmal Fenster. Das Hotel ist wie eine Burg gebaut. Die Zimmertüren sind zugleich die Fenster und öffnen sich zu einem Innenhof. In jedem der drei Stockwerke führt eine hölzerne Balustrade rundherum. Unten im Hof befindet sich ein Swimmingpool mit schwarzem Wasser.
Als ich den Frühstücksraum betrete, verstummen die Gespräche. Es gibt keinen Platz mehr zum Sitzen. Auf einem Tisch an der Seite stehen zwei Kaffeemaschinen mit Glaskannen, Stapel von Plastikbechern, daneben Tabletts mit Donuts. Ich stehe mit meinem heißen Plastikbecher in der einen und dem Schmalzkringel in der anderen Hand mitten im Raum. Zu meinen Füßen ist Zucker ausgestreut. Ich nähere meine Lippen dem Kaffee, puste über seine Oberfläche, schaffe es aber nicht einmal, ein paar Wellen darauf zu erzeugen. Der Becher wird mir zu heiß, ich suche nach einer Möglichkeit, ihn abzustellen.
»Kommen Sie, am Swimmingpool ist noch Platz«.
Es ist der Mann, den ich gestern in der Halle sitzen gesehen habe. Ich dachte mir, dass er Deutsch spricht. Wenn es nicht der ist, mit dem ich den Pass getauscht habe, muss es sein Bruder sein. Er sieht aus wie ein Engländer aus der Kolonialzeit: Khaki-Anzug, Jackett mit Gürtel, Hosenträger, Weste. Der kurze dunkle Vollbart. Jedes Härchen liegt korrekt neben dem anderen. Wahrscheinlich stutzt er ihn täglich eine Stunde lang. Der Kontrast macht die Zähne weißer. Seine Haut sieht aus, als käme sie aus dem Sonnenstudio.
Ich bin froh, den heißen Becher endlich auf einem der weißen Plastiktische am Pool absetzen zu können.
»Reisen Sie allein?«
Ich nicke und beiße in das Gebäck. Der Zucker rieselt auf meine Hose. Der Kringel schmeckt nach Pappe. Ich schiebe ihn von mir.
»Ich kenne ein gutes Frühstücksrestaurant in der Nähe.« Ich stehe auf. Er grinst über meine Eile.
Wir überqueren eine vierspurige Straße. Auf der anderen Seite beginnt das French Quarter. Auf dem Grünstreifen in der Mitte müssen wir eine Reihe Autos vorbeilassen. Er legt mir eine Hand auf die Schulter.
»Ich bin Robert Dorn.«
»Haben Sie einen Bruder?«
Er lacht. Ich sage ihm meinen neuen Namen, den seines Bruders. Er wiederholt ihn, wiederholt den Vornamen. Hendrik, also. Er will, dass wir du sagen. Ich nicke. Er gibt mir einen Stoß. Wir laufen zwischen den Autos über die Straße.
Im Restaurant sagt er: »Übrigens, ich bin Taschendieb. Ich beklaue die Touristen und finanziere damit meine Reise. Ich bin auf dem Weg nach Flagstaff in Arizona. Ich will dort heiraten.«
Ich betaste meine Taschen. Es scheint nichts zu fehlen.
Er hat meine Reaktion beobachtet und zeigt lächelnd seine Zähne.
»Ich kenne meine Hemi bisher nur vom Foto. Ich habe sie über das Internet kennen gelernt.«
Es ist ein zusammengefaltetes Foto. Eine ausgeschnittene Figur. Er hält mir nur den Kopf hin. Wahrscheinlich ist sie nackt.
»Hübsch.«
Ich glaube ihm nicht. Seine Geschichte stimmt ebenso wenig wie sein Name. Er sieht aus, als könne er mit Doppeldeckern fliegen oder antike Gräber ausrauben. Computer passen nicht zu ihm.
Er beugt sich vor, erzählt mir, wie man die Leute bestiehlt. Er holt eine Pfeife aus seiner Jackentasche. Zündet sie nicht an, hält sie mir vor die Nase. Ich verstehe, so kann er sich in der Bourbonstreet unter ausländische Touristen mischen und ihnen das Geld klauen. Sie vertrauen ihm. Er spricht, als sei es ein Text aus einem Lehrbuch. Er atmet Pfannkuchen und Ahornsirup aus. Ich weiche vor ihm zurück. Die Kellnerin kommt vorbei, deutet auf die Pfeife und schwenkt den Zeigefinger. Robert hebt beide Hände.
»Natürlich weiß meine Hemi in Flagstaff nichts von meinem Verbrecherdasein«, sagt er. »Wenn wir geheiratet haben, werde ich ein neues Leben beginnen.«
»Was willst du dann machen?«
»Vielleicht werde ich Reiseführer.«
Ich beobachte ein Stück Butter. Es schmilzt auf dem heißen Toast. Vorsichtig beginne ich vom Grund meiner Reise zu erzählen, das Gegenteil seiner bevorstehenden Fahrt, meine Flucht vor einer Frau. Er hebt die Hand. »Warte, warte!«
Er lehnt sich zurück. Er betrachtet die Krümel auf der Tischplatte, tippt sie mit den Fingern an. Dann beugt er sich wieder vor.
»Ich möchte, dass wir eine Vereinbarung treffen.« Es klingt, als hätten wir eine gemeinsame Reise vor uns.
»Warum?«
»Wir werden zusammen reisen.«
»Warum sollten wir das?«
»Und deshalb sollte keiner von uns etwas aus seiner Vergangenheit preisgeben …«
»Was soll das?«
»… es sei denn, er erzählt es als Geschichte in der dritten Person.«
»Was soll das werden?«
»Der Vorteil ist, dass sich in dieser Form einige Dinge gar nicht, andere aber überhaupt erst erzählen lassen. Die Methode ist wie ein Filter, der Langweiliges aussperrt.«
»Das ist der Sinn? Das Belanglose soll nicht vorkommen. Lieber schweigen?«
»Mir geht es nur um die Form. Ich will keine Vergangenheit haben.«
»Und keine Zukunft?«
Er schweigt, nickt mir zu. Er erwartet, dass ich meine Geschichte erzähle – in seiner Form. Ich denke nicht daran. Das Gespräch ist beendet. Ich widme mich meinem Toast und dem Rührei.
Er isst nichts, hat die Arme verschränkt, beobachtet mich. Er denkt wahrscheinlich, ich kann es nicht.
»Schon gut.«
Ich erzähle die Geschichte von einer Frau, die eine Rasierklinge in das Kopfkissen ihres Mannes einnäht. Der Mann erwacht nachts und denkt, es sei Schweiß in seinem Gesicht. Er macht Licht. Das Blut hat das Kissen getränkt. Es tropft von seinen Händen. Aber erst als er an die Schnittwunde in der Wange greift, versteht er, was geschehen ist. Und die Frau steht da, und will mit ihm schlafen. Will ihm unter die Haut.
Bitte sehr, ich kann es.
Er nickt, schweigt. Ein Pfannkuchen wird mit Sirup bestrichen. Er kann die Geschichte nicht wortlos hinnehmen. Er muss doch fragen, warum die Frau das getan hat. Wo bleibt die Forderung, mehr von dieser Frau zu erzählen. Ich will diesen Satz loswerden: »Man kann doch nicht mit einer Frau zusammenleben, die ständig Grenzen überschreitet.«
»Sie ist tot, nicht wahr?«
»Wie kommst du darauf?«
Er brummt, geht nicht darauf ein. Stattdessen beginnt er von einem Mann zu berichten, der in der Zukunft lebt. Genau eine Minute hat dieser Mann anderen voraus. Zu wenig, um jedes Unglück zu verhindern.
Ja, ich weiß das doch. Ja, es gibt Menschen, die so lange gelebt haben und diesen Zustand erreichen. Sie haben so viel Erfahrung, die sie vorausleben lässt. Was soll das jetzt? Ich begreife nicht, warum er auf meine Geschichte mit dieser reagiert.
Wir beenden unser Frühstück, und er bezahlt alles. Ich lasse es geschehen. Ich bin satt. Das Geld ist gestohlen.
Wir laufen durch die Stadt. Robert immer einen halben Schritt voraus, den Kopf nach oben gereckt. Ich geduckt hinter ihm, will noch nicht richtig zu ihm gehören. Es liegt an seinem altmodischen Khaki-Anzug, ihm fehlt nur noch ein Tropenhelm. Später gewöhne ich mich an seine Kleidung, gehe neben ihm. Aber was mache ich, wenn er jemanden bestiehlt?
Robert plaudert, kennt alle Sehenswürdigkeiten. Er muss schon häufig in New Orleans gewesen sein. Manchmal erzählt er Anekdoten mit französischem oder italienischem Akzent. Manchmal wird er gegrüßt. Er spricht besser Englisch als ich und auch noch Spanisch. Ich lasse mich führen.
Ich übe mich darin, aus meiner Vergangenheit in der dritten Person zu erzählen, berichte von einem Mann, der früher Lehrer war. Ein Lehrer, der seine Schüler quälte, weil sie ihn quälten. In dieser Form ist es einfach für mich, zu meinen schlechten Eigenschaften, meinen Ängsten, meiner Mutlosigkeit und Lethargie zu stehen. So könnte ich wahrscheinlich sogar Tagebuch führen. In der Ich-Form beginne ich oft, mich vor mir zu ekeln. Ich bin selten mit meinen Gedanken und Gefühlen einverstanden. Jetzt begreife ich, warum Autoren meist auch eine dritte Person erfinden, obwohl sie über sich selbst schreiben.
Auf dem Gemüsemarkt am Hafen habe ich plötzlich das Gefühl, dass Robert jemanden bestohlen hat. Ich habe zwar nichts gesehen, aber er zieht mich schnell in eine Bar.
»Hast du es getan?«
Er nickt.
»Hast du keine Angst?«
»Nein. Ich kann nicht sterben.« Er lacht, prostet mir mit einem Glas Whiskey zu.
Wir wechseln von Lokal zu Lokal, essen und hören einer Jazzband zu. Ich erzähle noch einmal von D., schaffe es nicht immer, die gewünschte Form zu wahren. Robert zieht dann die Luft durch die Zähne, und ich korrigiere mich: Ich nenne sie nur noch die Frau. Die Frau, die mit dem Mann zusammenlebte, der früher Lehrer war. Durch diese Erzählform trennt sich alles von mir ab. Ich werde leichter und leichter. Am Abend bin ich betrunken und würde allein nicht ins Hotel finden. Robert beschließt, dass ich keinen Alkohol mehr trinken darf, bringt mich zurück. Er schließt die Zimmertür für mich auf, drückt mir den Schlüssel in die Hand. Ich lasse mich auf das Bett fallen. Kurz darauf klopft er an die Tür und reicht mir eine Flasche Mineralwasser und eine Kopfschmerztablette. Ich danke ihm, danke ihm für seine Führung. Doch er winkt ab, verspricht, mir am nächsten Tag Dinge zu zeigen, die in keinem Reiseführer stehen.
Sie ist groß. Noch nie habe ich eine so große Kakerlake gesehen. Sie ist lang. Sie streckt ihre Fühler voraus, genauso lang wie der Körper. Sie steht still. Dann zieht sie langsam ein Bein heran. Weiß sie von dem Farbklang ihres braunen Körpers auf der lila Tapete? Wahrscheinlich ist es eine Königin. Ich nähere mich langsam, betrachte die symmetrische Maserung ihres Chitinpanzers. Sie lässt es sich gefallen.
»Du musst gehen«, sage ich zu ihr. Ich kann sie nicht töten, schon gar nicht fangen. Womit? Und dann: wohin damit? Ich müsste sie durch die Eingangstür hinauswerfen. Sie könnte hinunter in den Swimmingpool fallen. Ich weiß es nicht genau, ich habe mich noch nicht über die Balustrade gebeugt. Es ist eine Höhe, bei der meine Schwierigkeiten anfangen. Ich weiß auch nicht, ob Kakerlaken schwimmen können. Jedenfalls ist es nicht die Art einer Königin, zwischen planschenden Kindern zu paddeln und nass und erschöpft aus einem Pool zu klettern.
»Ich gehe jetzt«, sage ich zur ihr. Ich denke, sie weiß, was sie zu tun hat.