Auf Cape Refuge herrscht Wahlkampf, als Lisa, die Frau eines der drei Bürgermeisterkandidaten, plötzlich verschwindet. Die ganze Insel beteiligt sich an der Suchaktion, doch erst durch den Hinweis eines Wahrsagers findet die Polizei die Vermisste – ermordet und im Fluss versenkt. Während Lisas Freundin Morgan und ihr Mann Jonathan dem verzweifelten Ehemann in christlicher Nächstenliebe beistehen, begeben sich Polizeichef Cade und Zeitungsinhaberin Blair auf Spurensuche. Wie konnte der Wahrsager wissen, wo Lisas Leiche ist? Ist er selbst in das Verbrechen verwickelt? Oder hat der Mord an Lisa etwas mit der Bürgermeisterwahl zu tun? Oder mit einer angeblichen Affäre ihres Mannes? Oder mit ihrer erfolglosen Kinderwunschbehandlung?
Die amerikanische Autorin Terri Blackstock fand bereits im Alter von 14 Jahren zum Glauben an Jesus Christus. Doch zunächst schrieb sie erfolgreich unter zwei Pseudonymen, ohne dass sich ihr Glaube in ihren Büchern widerspiegelte. Auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs erlebte sie dann aber eine „geistliche Erweckung“, wie sie es selbst bezeichnet. Seitdem nutzt sie ihre Fähigkeiten für Gott und schreibt nur noch Bücher, die auf Jesus Christus hinweisen. In ihren Romanen verbindet sie nun auf unnachahmliche Weise spannende Unterhaltung mit tiefgründigen Fragen zum christlichen Glauben. Weltweit wurden bereits mehr als sechs Millionen Exemplare ihrer Bücher verkauft und ihre Romane standen mehrfach auf den Bestseller-Listen der New York Times.
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Aus dem Englischen von Johanna Utsch
Die Bibelzitate sind der überarbeiteten Elberfelder-Übersetzung (Edition CSV-Hückeswagen) entnommen.
Die deutsche Ausgabe erscheint aufgrund einer Vereinbarung mit dem Originalverlag The Zondervan Corporation L.L.C. in der Verlagsgruppe HarperCollins Christian Publishing, Inc.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: River’s Edge
Copyright © 2004 by Terri Blackstock
Titelfotos:
© istockphoto.com / LukaTDB (Tatort)
© Fotolia / sixdays (junge Frau)
Umschlaggestaltung und Satz: DTP-MEDIEN GmbH, Haiger
eBook Erstellung: ceBooks.de, Eduard Klassen
Paperback:
ISBN 978-3-942258-03-6
Art.-Nr. 176.803
eBook (ePub):
ISBN 978-3-942258-53-1
Art.-Nr. 176.853
Copyright © der deutschen Ausgabe 2015
by BOAS media e. V., Burbach
Alle Rechte vorbehalten
www.boas-media.de
Dieses Buch entstand aus Liebe zu dem Nazarener,
Jesus von Nazareth.
Cape Refuge ist eine frei erfundene Insel, die ich östlich von Savannah, Georgia, an der Atlantikküste platziert habe. Zur Recherche war ich für einige Zeit auf Tybee Island, einer reizvollen, kleinen, am Strand gelegenen Ortschaft in der Nähe von Savannah. Viele meiner Ideen über das Leben in Cape Refuge habe ich dort gesammelt.
Direkt südlich von Tybee gibt es eine weitere Insel, die Little Tybee Island genannt wird, ein unbewohntes, sumpfiges Naturschutzgebiet. Für diesen Roman verwandelte ich Little Tybee Island mit ein paar Veränderungen des Geländes und der Küstenlinie in Cape Refuge. Ich hoffe, dass mir die liebenswürdigen Küstenbewohner von Georgia das verzeihen werden.
Großen Dank schulde ich J. R. Roseberry, dem Redakteur und Herausgeber der Tybee News, für seine Hilfe bei meinen Recherchen.
Jedes Buch, das ich schreibe, erfordert einen großen Rechercheaufwand. Diese Recherche macht es oft erforderlich, dass ich Kontakt mit Spezialisten bestimmter Fachgebiete aufnehme. Ohne ihre Hilfe könnte ich meine Romane nicht schreiben. Dieses Mal danke ich in besonderer Weise Dr. Steve Bigler und Dr. Tree James, dass sie mir jede meiner Fragen beantwortet und mit mir verschiedene Szenarien für die Handlung durchgesprochen haben. Ein großes Dankeschön auch an Cissie Posey, die mir von ihren Nöten wegen ihrer Kinderlosigkeit erzählt hat.
Außerdem danke ich zwei Personengruppen, die dazu beigetragen haben, dass meine Bücher immer mehr Leser finden – den Buchhändlern und Bibliothekaren. Meine Bücher sollen ein Dienst für andere sein, und ich sehe in Ihnen meine Mitarbeiter in diesem Dienst. Danke für alles, was Sie tun.
Morgens um halb vier wurde Morgan von Krämpfen aus dem Schlaf gerissen. Sie hatte von einem kleinen Mädchen geträumt, das auf einer Schaukel saß und dessen braunes Haar im Wind hin- und herwehte. Sie wusste ohne jeden Zweifel, dass dieses Mädchen ihr ungeborenes Baby war.
Die Krämpfe waren wie eine heftige Vorwarnung, als ob sich ihre Unruhe in einen stumpfen Gegenstand verwandelt hätte, der auf ihre Hoffnung einschlug.
Sie setzte sich auf, presste die Hand auf ihren flachen Bauch und sah Jonathan an, der friedlich schlafend neben ihr lag. Sollte sie ihn wecken, um ihm zu sagen, dass sie Krämpfe hatte, oder einfach ruhig sein und warten, bis es vorbei war?
Gestern Morgen hatte sie zu Hause einen Schwangerschaftstest gemacht und dann am Nachmittag bei ihrem Arzt auch noch eine Blutuntersuchung durchführen lassen. Jonathan hatte mit ihr im Behandlungszimmer gesessen, herumgehampelt und mit ihr geplaudert, damit die Zeit schneller verging. Als die Arzthelferin mit dem Ergebnis zurückkam, sprang er auf, alle Muskeln angespannt wie ein Tiger, der eine Gazelle wittert.
„Bevor ich Ihnen das Ergebnis mitteile, möchte ich wissen, ob ich Ihnen gute oder schlechte Nachrichten bringe.“
Jonathan blickte Morgan an, und sie wusste, dass er kurz davor stand, die Frau als Klugschwätzerin zu bezeichnen und sie zu warnen, keine Spielchen mit ihnen zu spielen. „Geben Sie sich einen Ruck und sagen Sie es uns einfach.“
„Aber wollen Sie überhaupt ein Kind? Freuen Sie sich eher über ein Ja oder ein Nein?“
Bevor er die Arzthelferin an den Schultern packen und die Antwort aus ihr herausschütteln konnte, sprudelte es aus Morgan hervor: „Ja! Mehr als alles in der Welt!“
„Bekommen wir jetzt ein Baby oder nicht?“, fragte Jonathan.
„Herzlichen Glückwunsch!“, stieß die Arzthelferin endlich hervor. Morgan sprang vom Untersuchungstisch und flog ihm in die Arme, und sie schrien wie Kinder, als er sie herumwirbelte.
Sie waren sich einig, dass sie diese Neuigkeit heute noch nicht verkünden wollten, damit sie das unbeschreibliche Glücksgefühl diese erste Nacht für sich allein genießen und das Geheimnis miteinander teilen konnten.
Sie warteten, bis Caleb, ihr 18 Monate alter Pflegesohn, fest eingeschlafen war, dann gingen sie über die Straße zu dem privaten Strandabschnitt des Hanover Houses hinüber. Sie kicherten und tanzten im Mondlicht der klaren Mainacht zur Musik der Wellen, die rauschend gegen die Küste schlugen. Als sie schließlich zu Bett gegangen waren, hatten sie bis kurz vor Mitternacht wachgelegen und überlegt, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde und wann sie ihr Kind auf dem Ultraschall sehen könnten. Jonathan hielt Morgan im Arm und redete flüsternd über Fußballspiele und Ballett, Klavierstunden und den Lehrer-Eltern-Ausschuss.
Dann waren sie beide endlich eingeschlafen, und nun wollte sie ihn nicht wecken. Es war wahrscheinlich nichts Dramatisches. Nur etwas, was sie gestern Abend gegessen hatte. Sie würde in Zukunft vorsichtiger sein müssen.
Aber als die Krämpfe schlimmer wurden, konnte sie es nicht mehr ignorieren. Sie faltete die Hände über ihrem Bauch und schob die Füße aus dem Bett. Als sie sich aufsetzte, erkannte sie, dass es schlimmer war, als sie gedacht hatte. Auf ihrem Bett war Blut.
„Oh nein.“ Die Worte kamen unbeabsichtigt laut heraus. Jonathan drehte sich um und sah sie im Dunkeln an.
„Schatz, was ist los?“
Sie schaltete das Licht ein. „Oh, Jonathan ...“
Er sah zu ihr auf. In seinem Blick lagen schreckliche Angst und große Sorge, obwohl er noch nicht wusste, worum es ging. Langsam setzte er sich auf. „Was?“
Sie fing an zu schluchzen und zeigte auf die Matratze.
Für einen Moment starrten sie beide auf den Blutfleck ihres sterbenden Traums.
Ihr gerade entstehendes, noch kaum reales, geheimes Baby starb.
Endlich erwachte Jonathan aus seiner fassungslosen Benommenheit und sprang aus dem Bett. „Hast du Schmerzen?“
„Ich werde es verlieren.“ Die Worte sprudelten aus ihr heraus. „Jonathan, ich verliere das Baby.“
„Wir fahren ins Krankenhaus. Vielleicht ist es ja gar nicht das, was du denkst. Vielleicht können sie es aufhalten.“ Er zog die Jeans an, die auf einem Stuhl neben dem Bett hing.
Vielleicht hatte er recht. Vielleicht war das Baby noch da, in seine kleine Fruchtblase eingehüllt, gut geschützt vor dem, was auch immer in ihr passiert war. Oder falls nicht, könnten die Ärzte vielleicht die größte Gefahr abwenden, das drohende Unheil verhüten und ihr eine Wundertablette geben, die dem Baby helfen würde durchzuhalten.
Sie zog sich schnell an, während Jonathan Sadie – ihre 17-jährige Pflegetochter und Calebs Schwester – weckte, um ihr die Notlage mitzuteilen und sie zu bitten, sich um ihren Bruder zu kümmern, falls sie nicht zurück wären, bevor er aufwachte.
Dann führte Jonathan sie nach draußen zum Auto, als ob sie eine schwerkranke Frau wäre, die nicht mehr selbst gehen könnte. Sie versuchte, keine abrupten Bewegungen zu machen, nicht zu fest aufzutreten und sich nicht so stark zu verkrampfen.
Aber alles schien außer Kontrolle zu sein.
„Wir schaffen das, Liebling“, sagte Jonathan, während er in halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Insel fuhr. „Bald sind wir in Savannah.“
War es bereits zu spät? Die Fahrt von Cape Refuge bis zum nächsten Krankenhaus war viel zu weit. Leise weinend starrte sie durch die Windschutzscheibe und betete, dass Gott helfend eingreifen möge.
„Gott wird sie bewahren“, murmelte Jonathan vor sich hin. „Er muss es einfach.“
Morgan verzog das Gesicht. „Sie ... du hast sie gesagt.“ Sie schaute zu ihm hinüber und sah die Tränen auf seinem Gesicht. „Denkst du, dass es ein Mädchen ist?“
Er antwortete nicht. „Gott, bitte ...“
Sie schluchzte und presste die Hand auf ihren Bauch, während er durch die Nacht raste. Was bin ich nur für eine Mutter? Konnte ich das Baby noch nicht einmal einen Tag in meinem Bauch beschützen? Wegen der kühlen Luft aus der Klimaanlage fühlten sich die Tränen auf ihrem Gesicht kalt an.
Jonathans Lippen bewegten sich in einer Art tonlosem Monolog. War es das verzweifelte Gebet eines Predigers des Glaubens und der Hoffnung? Oder das wütende Wettern eines Seemanns, der eine Gefahr kommen sah und glaubte, sie mit genügend Drohungen vertreiben zu können? Seine Hände umklammerten das Lenkrad und von Zeit zu Zeit griff er nach ihrer Hand, um sie zu beruhigen.
Endlich kamen sie beim St. Joseph-Krankenhaus an und Jonathan fuhr direkt vor den Eingang der Notaufnahme. Er stieg aus und rannte um den Wagen herum auf Morgans Seite, um ihr herauszuhelfen. Hinten war ihre Kleidung voller Blut und sogar der Sitz war etwas feucht geworden.
„Ich brauche Hilfe!“ Jonathan führte sie durch die Glasschiebetür. „Bitte, helfen Sie uns doch!“
Aber Morgan wusste, dass es keine Hilfe mehr für ihr Baby gab. Es war bereits zu spät.
Zwei Stunden später fuhren sie schweigend nach Hause. Beide waren sie niedergeschlagen, und jeder grübelte vor sich hin. Wie sie es schon geahnt hatte, hatte der Arzt ihre Befürchtungen bestätigt. Sie hatte ihr Baby verloren.
Sie wurde von Schuldgefühlen und Kummer geplagt.
Könnte Jonathan ihr jemals verzeihen?
Sie weinten beide leise, während die Sonne über dem Atlantik aufging und einen Tag verhieß, den andere wunderschön und angenehm finden würden. Aber sie würde alles dafür tun, wenn sie die Uhr auf gestern zurückdrehen könnte.
Jonathan fuhr in den Schatten der Rotzedern am Ende der Schottereinfahrt. Ihr Haus strahlte in der Morgensonne, der gelbe Anstrich leuchtete wie die Sonne, die viktorianische Verkleidung rein und weiß. Gus – einer der Hausbewohner – hatte einige Dinge am Haus repariert und es vor ein paar Wochen neu gestrichen. Prächtige Farne in sattem Grün wucherten über ihre Blumenkübel hinaus. Fleißige Lieschen in gelb, rot und lila flankierten die Vorderseite des Hauses. Sie wurden von den anderen Hausbewohnern gepflegt. Es war eine der Aufgaben, die ihnen dabei halfen, sich nach einem Leben auf der Straße oder einem Gefängnisaufenthalt wieder ins alltägliche Leben zu integrieren. Wichtige Lektionen über harte Arbeit, das Übernehmen von Verantwortung, Weiterentwicklung und Förderung sowie das Erzielen von guten Ergebnissen. Ein sichtbares Resultat der guten Arbeit.
Morgan hatte ihnen diese Lektionen schon so oft vermittelt und sie daran erinnert, dass Gehorsam gegenüber Gott, Selbstdisziplin und Liebe zu unzählbaren Segnungen führen.
Und nun stand sie hier, der lebende Beweis dafür, dass das Gegenteil davon wahr war.
Die Haustür des großen gelben Hauses war immer noch geschlossen. Vermutlich bedeutete das, dass noch keiner aufgestanden war. Wenn schon jemand aufgestanden wäre, hätte die Tür offen gestanden und das Licht und das Meeresrauschen, das von der anderen Straßenseite herüberschallte, hineingelassen.
Morgan hoffte, dass niemand mitbekommen hatte, wo sie gewesen waren. Sie wollte es keinem der Hausbewohner erzählen, außer Sadie.
Jonathan half ihr aus dem Auto und führte sie die Verandatreppe hinauf.
Sadie machte ihnen die Tür auf. Ihre Augen waren rot gerändert und sie blickte sie besorgt an. „Ich bin so froh, dich zu sehen, Morgan!“ Sie schlang die Arme um ihren Hals. „Ich hatte Angst, du würdest sterben.“
„Es tut mir leid, dass wir dir Sorgen bereitet haben, Liebes.“ Morgan hielt sie fest in ihren Armen und versuchte, sie zu beruhigen.
„Jonathan hat nicht gesagt, was los war. Ich habe das Blut auf deinem Bett gesehen ...“
„Mir geht es gut, wirklich.“
„Aber was ist los? Was ist passiert?“
Morgans Gesicht verzog sich, so sehr musste sie sich zusammennehmen, um nicht zu weinen. „Liebling, ich habe gestern erfahren, dass ich schwanger bin. Und heute Morgen ... hatte ich eine Fehlgeburt.“
Mit ihren siebzehn Jahren hatte Sadie auch schon die dunkle Seite des Lebens kennengelernt und wusste, was es bedeutete, zu trauern. In ihrem Gesicht konnte man das Mitempfinden für Morgans Situation sehen und sie umarmte sie noch einmal. „Oh, Morgan, es tut mir so leid.“
Morgan wollte nicht, dass das Mädchen mit ihr litt, deshalb versuchte sie, sich zusammenzureißen. „Ich möchte, dass du es für dich behältst. Ich habe es bisher noch nicht einmal Blair erzählt. Und es braucht kein anderer zu wissen, okay?“
Sadie wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. „Okay.“
Jonathan strich Morgan übers Haar. „Warum ziehst du dich nicht um und legst dich hin? Ich mache das Auto sauber.“
Sie nickte und ging in Richtung Treppe.
„Ich habe das Bett neu bezogen“, sagte Sadie. „Es ist sauber.“
„Danke, Schatz.“
Morgan ging weiter, stieg die Treppe hinauf und duschte sich schnell. Dann zog sie sich an. Ihr langes, braunes, lockiges Haar war noch nass, als sie leise in Calebs Zimmer trat. Er lag, tief und fest schlafend, mit dem Daumen im Mund in seinem Kinderbett. Innerhalb der nächsten Stunde würde er aufwachen und nach ihr rufen. Aber sie wünschte sich, nicht darauf warten zu müssen.
Sie wollte ihn aufheben und im Arm halten, ihn fest an sich drücken und ihre Muttergefühle, die die Ereignisse der Nacht noch nicht verarbeitet hatten, befriedigen.
Sie glaubte nicht, dass sie ihn mehr lieben würde, wenn er ihr eigener Sohn wäre. Aber er war es nicht.
Caleb Seth Carusos Mutter saß eine Gefängnisstrafe wegen Drogenbesitzes ab. Morgan war nur eine vorübergehende Pflegemutter, bis die leibliche Mutter aus der Haft entlassen wurde. Sie fing wieder an zu weinen und verließ das Zimmer, damit sie ihn nicht aufweckte. Er hatte es nicht verdient, sie so zu sehen.
Sie ging zurück ins Schlafzimmer. Jonathan saß auf dem Bett. Sein Gesicht war blass und ausdruckslos. „Ich möchte, dass du dich hinlegst“, sagte er. „Wenn Caleb wach wird, kümmere ich mich um ihn.“
„Okay.“
„Ist bei dir alles in Ordnung? Ich meine, körperlich?“
„Ja, die Krämpfe werden schwächer.“ Sie hasste, was das bedeutete.
Er saß da und schaute die Wand an, und sie wusste, dass ihn der Verlust genauso tief getroffen hatte wie sie. „Wir werden eines Tages Eltern sein, Liebling“, sagte er. „Ich weiß, dass es momentan nicht so aussieht, aber irgendwann wird es soweit sein.“
Sie nickte. Sie hatten es seit über einem Jahr versucht. So gesehen vermutete sie, dass es nicht so schlimm war wie bei anderen Paaren, die es seit sieben, neun oder gar zwölf Jahren versuchten. Sie dachte an Ben Jackson – Jonathans Gegner bei der Bürgermeisterwahl – und seine Frau Lisa. Sie hatten es 13 Jahre lang versucht.
„Möchtest du Blair anrufen?“ Jonathans Worte unterbrachen ihre Überlegungen.
Morgan spielte mit dem Gedanken, ihre Schwester aufzuwecken, um ihr zu erzählen, was passiert war. Aber es erschien ihr nicht angemessen. Denn seit Blair den kleinen Zeitungsverlag der Insel gekauft hatte, kam sie kaum noch zur Ruhe. „Ich erzähle es ihr später.“
Sie legte sich ins Bett, und Jonathan deckte sie sorgfältig zu. Er beugte sich über sie und küsste sie auf die Wange.
Als er sie allein gelassen hatte, war es mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei und sie weinte in ihr Kissen.
Später an diesem Morgen hörten die Krämpfe ganz auf und Morgan zwang sich dazu, aufzustehen. Sie ging nach unten und stellte fest, dass die Küche in einem tadellosen Zustand war. Gus und Felitia waren auf der Arbeit und Sadie in der Schule. Sie sah Karen auf der hinteren Veranda sitzen und ihr Baby stillen. Von Jonathan und Caleb war nichts zu sehen. Vielleicht hatte Jonathan ihn zu einer seiner Wahlkampfaktivitäten mitgenommen.
Die große Podiumsdiskussion mit seinen beiden Gegnern bei der Bürgermeisterwahl – Sam Sullivan und Ben Jackson – fand morgen statt. Jonathan – der Fischfang-Touren anbot und als Pastor ihrer kleinen Kirche sowie als Leiter des Hanover Houses arbeitete – hatte sich erst vor einem Monat als Kandidat aufstellen lassen. Deshalb lag er in den Umfragen weit zurück. Die Wahl sollte bereits in drei Wochen stattfinden, also durfte er keine Zeit verlieren. Und sollte er gewinnen, würde er das Amt innerhalb kürzester Zeit antreten, da die Stadt keinen Bürgermeister mehr hatte, seit der letzte wegen eines Skandals abgesetzt worden war.
Sie ging durch die Küche in das kleine Büro, wo sie und Jonathan die geschäftlichen Dinge des Hanover Houses abwickelten. Sie setzte sich an den Schreibtisch und schob einen Stapel mit Spendenschecks beiseite. Die Pension, ein vorübergehendes Zuhause für Menschen, die versuchten, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, wurde durch monatliche Zuwendungen unterstützt. Sie war noch nicht dazu gekommen, die Spenden dieses Monats zu verbuchen, weil so viel passiert war.
Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer ihrer Schwester. Als sie nicht abnahm, schaute Morgan auf die Uhr. Es war zehn Uhr. Natürlich war Blair nicht zu Hause. Also rief sie in der Zeitungsredaktion an, aber dort ging nur der Anrufbeantworter dran. Wahrscheinlich war sie unterwegs, arbeitete an einer neuen Story und versuchte, den alltäglichen Ereignissen des Lebens auf der Insel etwas Interessantes abzugewinnen.
Entmutigt legte sie auf. Sie würde Blair später noch einmal anrufen. Aber würde ihre Schwester überhaupt verstehen, dass sie um ein Baby trauerte, von dem sie erst seit einem Tag wusste? Wie könnte sie denn? Keiner, der so etwas noch nicht erlebt hatte, würde es verstehen können.
Dann erinnerte sie sich. Eine hatte es schon erlebt.
Sie dachte an die Frau von Jonathans ärgstem Konkurrenten im Wahlkampf. Lisa Jackson hatte viermal dasselbe erlebt wie Morgan heute.
Normalerweise hätte nie jemand etwas von Lisas Kampf gegen ihre Kinderlosigkeit erfahren. Es war ein streng gehütetes Geheimnis. Morgan hätte es auch nicht erfahren, wenn sie es nicht an Lisas Gesichtsausdruck gesehen hätte, als sie sich bei der Babyparty einer gemeinsamen Freundin im Badezimmer getroffen hatten.
Sie hatte Lisas Tränen gesehen, und Lisa hatte ihre gesehen. Ohne ein Wort zu sagen, hatten sich die beiden Frauen, deren Ehemänner auf politischer Ebene erbitterte Gegner waren, umarmt. Sie hatten sich hinausgeschlichen und gemeinsam einen Kaffee getrunken, um sich gegenseitig zu trösten, und einander ihr Herz wegen ihrer Unfruchtbarkeit und ihres unerfüllten Kinderwunsches auszuschütten.
Vielleicht würde es ihr helfen, mit Lisa zu sprechen.
Ruf mich an, wenn du jemanden zum Reden brauchst, Liebes. Bei Tag und Nacht, es macht mir nichts aus. Und wenn es für dich in Ordnung ist, mache ich dasselbe. Unsere Männer werden sich daran gewöhnen.
Morgan wusste, dass sie es ernst gemeint hatte.
Sie wusste, dass Lisa wahrscheinlich nicht zu Hause war, weil ihr Maklerbüro sie immer auf Trab hielt. Aber sie rief trotzdem an und hinterließ eine Nachricht auf Lisas Anrufbeantworter, dann versuchte sie es bei ihr im Büro. Als sich erneut nur eine Automatenstimme meldete, hinterließ Morgan ihr auch dort eine Nachricht.
„Hallo, Lisa“, sagte sie mit leiser Stimme. „Hier spricht Morgan. Könntest du mich bitte anrufen, wenn du Zeit hast? Ich muss unbedingt mit dir über etwas sprechen.“ Sie machte eine Pause und versuchte ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen, denn ihre Stimme zitterte. „Es ist heute Morgen etwas passiert. Du bist die Einzige, die ich kenne, die es verstehen kann.“ Sie legte auf und starrte auf das Telefon hinab. Sie hoffte, dass Lisa bald zurückrufen würde.
Doch Stunden später hatten weder Lisa noch Blair zurückgerufen. Irgendwann kam Jonathan mit Caleb nach Hause. Er hatte ihn nur auf einen Strandspaziergang mitgenommen. Sie beschäftigte sich damit, Caleb zu versorgen und die Hausarbeit zu erledigen.
Sie sehnte die Nacht und den Schlaf herbei, der ihren Schmerz überdecken würde, aber als es endlich so weit war, lag sie wach und dachte über den Traum von dem Mädchen auf der Schaukel nach, den sie letzte Nacht gehabt hatte.
Sie betete, dass Gott ihr diesen Traum noch einmal schenken würde.
Polizeichef Matthew Cade, der von allen Bekannten nur Cade genannt wurde, kam früh am nächsten Morgen ins Hanover House. An seinem Gesichtsausdruck konnte Morgan erkennen, dass er nicht vorbeigekommen war, um mit ihnen zu frühstücken. Er war Jonathans bester Freund und die große Liebe ihrer Schwester und kam daher öfters vorbei – aber gewöhnlich nicht in Polizeiuniform.
Er brachte schlechte Nachrichten. Sie kannte diesen Blick. Es war derselbe ernste Gesichtsausdruck, den er gehabt hatte, als er letzten Sommer in die Stadtratssitzung hineingeplatzt war, um ihr mitzuteilen, dass ihre Eltern ermordet worden waren.
„Ich wollte euch heute Morgen nicht stören“, sagte er. „Ich weiß, dass ihr euch alle auf die große Podiumsdiskussion vorbereitet.“
Am liebsten wäre sie an der Wand zusammengesunken und hätte die Arme gehoben, um den Schlag abzuwehren. „Es ist etwas passiert, nicht wahr, Cade? Was ist es?“
„Ich bin dienstlich hier. Ich muss dir ein paar Fragen stellen.“
Sie fing an zu zittern und ging in Gedanken alle Möglichkeiten durch. Sie hatte ihre Schwester immer noch nicht erreicht. War ihr etwas zugestoßen? „Geht es um Blair?“
Er stutzte. „Nein, warum? Was ist mit Blair?“
„Nichts. Ich warte nur auf ihren Rückruf. Ich habe gestern versucht, sie anzurufen, habe sie aber nicht erreicht.“
Sein Gesichtsausdruck entspannte sich. „Ich habe gestern Abend mit ihr gesprochen. Sie hat bis in die Nacht hinein gearbeitet und Artikel über ein Baseballspiel und eine Preisverleihung geschrieben. Es geht ihr gut. – Nein, es geht um Lisa Jackson.“
„Lisa? Was ist mit ihr?“
„Morgan, Ben hat sie gestern Nacht als vermisst gemeldet.“
„Vermisst? Was meinst du mit vermisst?“
„Sie ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen, und tagsüber hat sie einige Termine versäumt. Und offenbar waren es wichtige Termine. Sie scheint irgendwann gestern Morgen verschwunden zu sein. Wir sprechen mit jedem, der sie gestern gesehen haben könnte. Auf ihren Anrufbeantwortern zu Hause und im Büro waren Nachrichten von dir. Ich würde gern wissen, ob sie sich bei dir gemeldet hat.“
Morgan starrte ihn für einen Moment einfach nur an. „Nein. Sie hat mich nicht zurückgerufen.“
„Wann hast du das letzte Mal mit ihr gesprochen?“
Sie schob sich ihre langen Locken aus dem Gesicht. „Ähm ... vor ein paar Tagen.“
„Hat sie dir gegenüber irgendeine Andeutung gemacht, dass sie wegen irgendetwas aufgebracht war? Oder ärgerlich über Ben?“
„Nein, überhaupt nicht. Cade, glaubst du, dass ihr etwas passiert ist?“
Er schien darüber nachzudenken, ob er darauf antworten sollte oder nicht. „Vielleicht nicht. Ich hoffe, dass sie noch heute wieder auftaucht. Vielleicht hat sie die Stadt ja nur für eine Nacht verlassen oder so.“
„Und was vermutet Ben?“
„Er scheint zu glauben, dass sie in Schwierigkeiten steckt. Er ist ziemlich verstört. Er behauptet, dass sie keinen Streit gehabt hätten. Aber vielleicht war sie wegen des Stresses aufgrund des Bürgermeisterwahlkampfs und der bald stattfindenden Podiumsdiskussion mit den Nerven am Ende, ohne dass er es gemerkt hat.“
Morgan wusste, dass das stimmte. Aber es war mehr als das. Der Stress, den die Jacksons wegen ihrer Kinderwunschbehandlungen gehabt hatten, war noch viel größer als der wegen des Wahlkampfs. Aber sie wollte diese Tatsache nicht erwähnen. „Es tut mir leid, aber ich kann dir nicht helfen, Cade. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass Lisa nicht der Typ ist, der einfach wegläuft.“
„Das glaube ich auch nicht.“
Sie begleitete ihn zur Tür und sah ihm in die Augen. Er sah müde aus, als ob er die ganze Nacht aufgeblieben wäre. Sein schwarzes Haar war ein wenig zerzaust, und sein Hinken erinnerte sie daran, dass erst vor Kurzem sein eigenes Leben in Gefahr gewesen war. „Geht es dir gut, Cade? Passt du gut auf dich auf?“
„Ja, mir geht es gut. Der Stock hilft.“
Morgan wusste, dass der Wechsel von den Krücken zum Stock ein Zeichen für den Heilungsfortschritt war. Vor einem Monat war er wegen eines vielfachen Bruchs im Bein operiert worden. Die Knochen waren mit Stahlstäben fixiert worden, aber er war noch nicht vollständig genesen. Sie reckte sich und umarmte ihn. „Wenn du meine Schwester siehst, sag ihr, dass sie mich anrufen soll.“
Er lächelte sie an. „Mach ich.“
Sie sah ihm nach, als er zu seinem Streifenwagen humpelte und einstieg. Sie war sich sicher, dass Blair sie bald anrufen würde.
Aber was sollte sie sagen, wenn sie anrief? Hallo, Blair. Was hast du in letzter Zeit so gemacht? Ich? Och, ich habe festgestellt, dass ich schwanger bin und keinen Tag später hatte ich eine Fehlgeburt. Die meisten Frauen sind neun Monate schwanger und kriegen dann einen kleinen Wonneproppen. Ich nicht. Nein, Schwester, ich nicht. Mein Leib ist wie ein Grab, das Leben ablehnt und Tod in sich birgt. Mein Leib ist ein Grab ... mein Leib ist ein Grab.
Wieder kamen ihr Tränen, und sie ermahnte sich selbst, dass das aufhören musste. So war sie nicht. Sie hegte keine bitteren, zynischen Gedanken. Andererseits hatte sie offensichtlich ein verzerrtes Selbstbild. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass sie selbst Mutter sein und eine ganze Schar von Kindern großziehen würde – eine große Familie voller Lachen und Liebe ...
Doch ihr Körper hatte allem Anschein nach verborgene Fehlfunktionen, als ob er völlig andere Absichten hätte.
War diese Wut normal? Hatte auch Lisa sich selbst gehasst und solche rasenden Gedanken gehabt, als sie ihr Kind verloren hatte?
Morgan hoffte, dass es Lisa gut ging. Vielleicht war sie von denselben Selbstanklagen geplagt gewesen und hatte deshalb das Bedürfnis gehabt, allem zu entfliehen und alleine irgendwohin zu gehen, um ihre Verzweiflung hinauszuschreien und über die Welt, ihren Körper und all diese vielbeschäftigten, gestressten Mütter zu schimpfen, die niemals diese unerfüllte Sehnsucht verstehen würden ...
Vielleicht brauchte Lisa sie, wo auch immer sie war.
Morgan putzte sich die Nase und wischte die Tränen weg, dann ging sie zum Telefon. Sie rief bei den Jacksons an. Ben meldete sich sofort beim ersten Klingeln. „Hallo?“
„Ben, hier ist Morgan Cleary. Ich habe gerade gehört, dass Lisa vermisst wird.“
„Wer hat es dir erzählt?“
„Cade ist vorbeigekommen, um zu fragen, ob ich sie gesehen oder etwas von ihr gehört habe, weil ich ihr gestern ein paar Nachrichten hinterlassen habe.“
„Und? Hast du?“
„Nein, sie hat nicht zurückgerufen.“
Seine Stimme brach. „Ich habe sie seit gestern Morgen nicht mehr gesehen. Sie ist einfach verschwunden. Sie ist nicht ans Handy gegangen, aber das ist ja nichts Ungewöhnliches, da es auf dieser gottverlassenen Insel ja keinen Empfang gibt. Sie hat gestern einige Termine versäumt. Sie hat sogar einen wichtigen Ultraschall-Termin verpasst. Das würde sie nie tun. Nie.“
Morgan wusste, dass er recht hatte. Lisa hätte niemals einen Ultraschall-Termin versäumt, jetzt, da sie und ihr Mann sich dazu entschlossen hatten, es erneut mit einer In-vitro-Fertilisation zu versuchen. Den richtigen Zeitpunkt zur Entnahme der Eizelle zu bestimmen, war entscheidend. „Ben, ist bei dir alles in Ordnung?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Hör zu, wenn du die Podiumsdiskussion heute Vormittag absagen willst, bin ich sicher ...“
„Die verdammte Podiumsdiskussion interessiert mich nicht! Sollen sie doch von mir aus Jonathan zum Gewinner erklären. Meine Frau ist verschwunden!“
Es gab einen Knall, dann war die Leitung unterbrochen. Sie kam sich oberflächlich und albern vor, dass sie so etwas vorgeschlagen hatte, als ob er überhaupt hätte in Betracht ziehen können, dort aufzutauchen.
„Habe ich da eben Cade gehört?“ Jonathan stand in der Tür und hielt Caleb im Arm.
„Ja.“ Sie legte auf. „Er hat gesagt, dass Lisa Jackson vermisst wird. Ich habe gerade mit Ben telefoniert. Er ist total verzweifelt.“
„Vermisst?“
„Die Polizei hat die ganze Nacht nach ihr gesucht.“
Jonathan starrte sie einen Moment lang an, als könnte er es nicht glauben. „Du glaubst nicht, dass das ein Werbegag ist, oder? Um mehr Stimmen zu bekommen?“
Sie ächzte. „Jonathan, ich habe seine Stimme gehört. Er ist wirklich verzweifelt. Die Podiumsdiskussion interessiert ihn überhaupt nicht mehr. Ich glaube, wir sollten zu ihm fahren.“
Er stellte Caleb auf den Boden und der Knirps tappte zu seinem Spielzeugkorb und nahm einen Plastikzug heraus. „Morgan, ich glaube, dass ich von allen der Letzte bin, den er jetzt bei sich haben will.“
„Dann fahre ich ohne dich hin. Er ist allein zu Hause, Jonathan. Er braucht jemanden, der mit ihm wartet. Und ich mache mir Sorgen um Lisa. Sie ist meine Freundin.“
Er seufzte, als ob er nicht glauben könnte, dass sie das von ihm verlangte. „In Ordnung, ich denke, wir können kurz zu ihm fahren.“
Sie wusste, dass seine Gedanken um die Podiumsdiskussion kreisten, die für elf Uhr angesetzt war. Sie hatten nur noch drei Stunden Zeit.
Jonathan hatte diesen sachlich besorgten Gesichtsausdruck, als er ihr Kinn berührte. „Geht es dir gut? Bist du sicher, dass du das schaffst?“
„Mir geht es gut“, log sie. „Wirklich.“
Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als ihr zu glauben.
Ben Jacksons Haus war eines der eleganteren auf der Insel. Es lag in der Nähe der nordöstlichen Spitze der Insel und vom Garten aus konnte man den Atlantik sehen. Ein Strandgrundstück war etwas Besonderes auf Cape Refuge, aber es war überall bekannt, dass die Jacksons Geld hatten. Das war auch der Grund, warum er im Bürgermeisterwahlkampf an der Spitze lag.
Er hatte mehr Geld in den Wahlkampf investiert als die beiden anderen Kandidaten. Seine Werbespots liefen seit einem Monat auf den Fernsehsendern von Savannah und große Plakate direkt hinter der Brücke nach Tybee Island und neben der Inselschnellstraße nach Savannah warben für ihn. Außerdem hatte er ganzseitige Werbeanzeigen in der Savannah Morning News und im Cape Refuge Journal geschaltet. Auch Blair hatte ihm Platz für seine Anzeigen verkaufen müssen, die ihm dabei halfen, sein Image als „der Mann des Volkes“ aufzubauen.
Das Verandalicht an seinem Haus war an, obwohl die Sonne heiß und grell vom Himmel schien. Wahrscheinlich hatte Ben es die ganze Nacht über angelassen.
Morgan klopfte. Jonathan stand hinter ihr, die Hände in den Hosentaschen. „Ich kann nicht glauben, dass ich hier bin.“
„Jonathan, vergiss mal einen Moment, dass ihr im Bürgermeisterwahlkampf Rivalen seid, und verhalte dich wie ein Pastor. Wir sind als Christen hier, die sich um ihn kümmern wollen, und nicht als Konkurrenten.“
Jonathan schluckte. „Du hast recht.“
Ben öffnete die Tür. Sein Gesicht war blass und seine Augen gerötet mit dunklen Ringen darunter. Er war unrasiert und sein Haar war zerzaust und fettig. „Was macht ihr hier?“
„Ich wollte dir Gesellschaft leisten“, sagte Morgan. „Du musst das hier nicht allein durchstehen.“
Er trat von der Tür zurück und ging wieder nach drinnen, und Morgan fragte sich, ob er sie damit einlud, ebenfalls hereinzukommen. Sie stieß Jonathan an, und sie gingen hinein und machten die Tür hinter sich zu.
Sie folgten ihm durch ein großes Zimmer mit teuren Seidenvorhängen und protzig verzierten Wänden in die angrenzende Küche, die eine metallisch glänzende Decke hatte und mit blitzblanken Edelstahlgeräten ausgestattet war. Ben stützte sich schwer auf die bernsteinfarbene Granittheke. „Was wollt ihr?“ Er sah Jonathan an. „Bist du hergekommen, um dich daran zu weiden, dass es mich jetzt getroffen hat?“
Mit einem raschen Blick bat Morgan ihren Mann, freundlich zu antworten.
„Das würde ich nie tun. Ich bin gekommen, weil Morgan meinte, dass du verzweifelt und einsam wärst. Ich dachte, dass es vielleicht etwas gibt, was wir für dich tun können.“
„Ihr könntet rausgehen und nach ihr suchen!“ Seine Hand zitterte, als er sich damit durchs Haar fuhr. „Ihr könntet mir sagen, wo sie ist. Das könntet ihr tun.“
„Ben, bist du dir sicher, dass sie nicht einfach für eine Nacht die Stadt verlassen hat?“, fragte Morgan. „Vielleicht hat sie bei all dem Stress ...“
„Auf keinen Fall. Wir waren gerade dabei, eine In-vitro-Fertilisation durchführen zu lassen. Das erfordert Tag für Tag große Disziplin. Ich muss ihr jeden Tag um dieselbe Zeit eine Spritze geben und ihren Körper mit Hormonen und Medikamenten vollpumpen. Es wäre alles umsonst, was sie bisher durchgestanden hat. Das würde sie niemals tun.“
Jonathan setzte sich und rieb mit den Händen über seine Knie. „Diese Hormone, rufen sie keine Gemütsschwankungen hervor oder vielleicht sogar irrationales Verhalten? Vielleicht ist ihr der Druck zu viel geworden ...“
„Sie kommt mit dem Stress zurecht“, unterbrach Ben ihn. „Sie hat es bisher immer geschafft. Wir haben es schon dreimal versucht und sie kam klar damit. Das ist unser Leben. Schon seit 13 Jahren. Ja, die Hormone machen sie launisch. Sie weint öfter. Sie ist reizbar und unleidlich, und manchmal ist sie zornig. Jede Frau wäre das, wenn sie vier Fehlgeburten gehabt hätte und nichts zu funktionieren scheint. Aber sie ist nicht verärgert über mich und sie wäre nicht einfach so abgehauen, solange wir noch Hoffnung haben.“
Er ging zu dem großen Fenster mit Meerblick und starrte hinaus, als ob er erwartete, dass sie gleich durch die Wellen geschwommen käme und tropfnass über den Strand liefe.
„Gestern Morgen war sie gut gelaunt.“ Seine Stimme wurde leiser. „Sie hat mir Frühstück gemacht, und ich habe mir den Tag freigenommen, um angeln zu gehen. Ich dachte, ein Tag Entspannung würde mir dabei helfen, vor der Podiumsdiskussion meine Gedanken zu sortieren. Ich kam am Spätnachmittag zurück, habe geduscht und bin dann zur Arztpraxis gefahren, um mich dort mit ihr für den Ultraschalltermin zu treffen, den wir vereinbart hatten. Sie sollte gestern oder heute ihren Eisprung haben. Es war wichtig, dass wir genau wussten, wann sie ihn hatte. Aber sie ist nicht aufgetaucht. Und erst dann habe ich gemerkt, dass ihr etwas zugestoßen sein muss.“
„Sie hat doch eine Geschäftspartnerin, oder?“, fragte Jonathan.
„Ja, Rani Nixon.“
Morgan dachte an die hübsche Afro-Amerikanerin, die einst ein erfolgreiches Model in New York gewesen war. Nachdem sie mit dem Modeln aufgehört hatte, war sie hierhergezogen, um mit Lisa, mit der sie auf dem College ein Zimmer geteilt hatte, ein Maklerbüro zu eröffnen.
„Ich habe mit ihr gesprochen“, sagte Ben. „Zuerst war sie nicht allzu besorgt. Sie hat gesagt, dass sie wahrscheinlich mit Interessenten Objekte besichtigt, dass sie einige Termine hat und ein paar Geschäftsabschlüsse anstehen. Aber kurz darauf rief sie zurück und hat gesagt, dass Lisa zu keinem dieser Termine erschienen ist. Sie hatte es von einigen verärgerten Kunden erfahren.“
„Und dann hast du die Polizei gerufen?“
„Ja. Chief Cade kam mit ein paar uniformierten Beamten. Nach den Vorschriften kann er erst nach 24 Stunden eine Vermisstenmeldung aufnehmen, aber ich habe trotzdem eine ausgefüllt. Er hat sie vermutlich mit auf die Polizeistation genommen und die ganze Nacht einfach da liegen lassen.“
„Nein, das stimmt nicht“, antwortete Jonathan. „Er hat Morgan erzählt, dass er daran gearbeitet hat.“
Ben rieb sich den Nacken. „Er sollte eigentlich noch krankgeschrieben sein. Er ist erst vor Kurzem aus dem Krankenhaus entlassen worden. Um Himmels willen, er kann kaum laufen und versucht, eine Polizeieinheit zu leiten?“
Morgan merkte, dass Jonathan kurz davor war, aufzubrausen. Notwendige Verbesserungen bei der örtlichen Polizei waren eins der größten Themen im Bürgermeisterwahlkampf. Sie hoffte, dass sie jetzt nicht anfangen würden, darüber zu diskutieren.
„Er ist dazu heute genauso gut in der Lage wie bisher immer“, sagte Jonathan.
Ben wandte sich wieder dem Fenster zu und sah erneut hinaus. „Das ist genau das, was ich immer sage. Er war niemals in der Lage dazu. Unser berühmter ehemaliger Bürgermeister war sein Onkel. Das ist schlicht und einfach Vetternwirtschaft. Die ganze Familie ist korrupt. Er ist nicht für diesen Job qualifiziert und es wird Zeit, dass jemand anderes ihn übernimmt.“
„Wenn er Lisa findet, wirst du deine Meinung ändern“, erwiderte Jonathan. „Bis dahin sage ich die Podiumsdiskussion erst einmal ab.“
Ben zuckte mit den Schultern. „Das ist mir egal.“
Jonathan sah Morgan an, und sie wusste, dass er verstanden hatte, wie ernst die Situation war. Es war kein Werbetrick.
Ben Jackson hatte schreckliche Angst.
Bei ihrem Morgenspaziergang genoss Blair Owens die letzten ruhigen Augenblicke des Tages, bevor sie anfing, neuen Storys für ihre Zeitung, die dreimal wöchentlich erschien, hinterherzujagen. Das Zeitungsgewerbe war noch neu für sie. In den letzten Jahren hatte sie als Bibliothekarin gearbeitet, und sie hatte die Zeitung erst vor einem Monat gekauft. Denn obwohl sie weithin als Recherchegenie bekannt war, das den Fakten nachjagen konnte wie ein Windhund einem Kaninchen, hatte die Arbeit als Bibliothekarin aufgrund ihres Minderwertigkeitskomplexes gut zu ihr gepasst. Wegen der Brandnarben auf ihrer rechten Gesichtshälfte fühlte sie sich in der Öffentlichkeit unsicher, doch seit sie die Zeitung gekauft hatte, war sie gezwungen, ihre eigenen vier Wände zu verlassen. Es hatte einige Zeit gedauert, bis sie sich daran gewöhnt hatte, aber dann merkte sie, dass ihre neue Aufgabe besser zu ihrer Persönlichkeit passte.
Sie stapfte durch den Sand und das Gras am Flussufer der Insel zu Cricket’s hinüber, einem kleinen Schnellimbiss am Kai, in dem sie jeden Morgen frühstückte. Oft wurde sie am Ende ihres Spaziergangs dadurch belohnt, dass sie auf Cade traf, der dort am Tresen saß und an seinem Kaffee nippte, als ob er nur auf sie gewartet hätte.
Sie hoffte, dass er auch heute da war. Es war schon ein Monat vergangen, seit sie sich zum ersten Mal geküsst hatten, und seitdem hatte sie Schmetterlinge im Bauch. Sie fragte sich, ob es ihm genauso viel bedeutet hatte wie ihr. Obwohl er seither viel mehr Zeit mit ihr verbrachte, wollte sie nicht zu viel hineininterpretieren. Es hatte sich bereits das Gerücht verbreitet, dass Cade und sie ein Paar waren, und die Leute auf der Insel fingen an, sie auch so zu behandeln. Aber in Wirklichkeit war sie sich gar nicht sicher, was sie waren. Sie hatten ihre Gefühle nie in Worte gefasst, aber die Veränderung von Cades Verhalten ihr gegenüber ließ darauf schließen, dass es inzwischen mehr als nur eine enge Freundschaft war. Sie hatte nicht viel Erfahrung mit dieser Art von Beziehung. Sie fühlte sich wie ein Teenager, der für jemanden schwärmte, der unerreichbar war.
Sie ging zur Fliegengittertür des kleinen Restaurants und trat ein. Cade saß am Tresen, er trug seine khakifarbene Uniform. Als die Tür aufging, drehte er sich auf seinem Stuhl um und lächelte sie an. Sie konnte sich den wohligen Schauer, der sie durchfuhr, nicht erklären.
„Hallo“, sagte sie mit einer Stimme, die, wie sie hoffte, freundlich und gelassen klang. Sie unterdrückte den Drang, sich zu ihm hinüberzubeugen und ihn zu küssen, seine frisch rasierte Wange zu berühren oder mit dem Finger über sein Ohr zu streichen.
„Ich habe gehofft, dass du kommen würdest, bevor ich gehen muss.“
„Wohin gehst du?“
„Auf die Arbeit.“ Er wandte sich wieder dem Tresen zu, als sie sich setzte. „Colonel, bringen Sie Blair bitte eine Tasse Kaffee?“
Sie betrachtete Cade, während der Colonel ihr eine Tasse brachte. Cade sah aus, als ob er in der letzten Nacht nicht viel Schlaf bekommen hätte. Hatten die Schmerzen in seinem Bein ihn nicht schlafen lassen? Sie hatte den Kampf miterlebt, den er gehabt hatte, als er die Krücken gegen den Stock ausgetauscht und sich dazu gezwungen hatte, das operierte Bein wieder zu belasten, obwohl die Knochen nur von den Stahlstäben zusammengehalten wurden, die die Chirurgen eingesetzt hatten. „Du siehst müde aus.“
„Ja, ich habe letzte Nacht nicht viel geschlafen.“ Er nippte an seinem Kaffee. „Ich habe an dem Fall einer vermissten Person gearbeitet.“
„Wer wird vermisst?“
„Lisa Jackson“, antwortete der Colonel über die Bar hinweg.
Blair sah auf und hielt die Luft an. „Ben Jacksons Frau? Sie wird vermisst?“
Cade nippte erneut an seinem Kaffee und nickte. „Ja, inzwischen weiß es fast jeder, weil wir überall auf der Insel Leute befragt haben.“
„Das gleiche hat Ben auch getan“, sagte der Inhaber des Restaurants. „Er hat jeden ausgequetscht, der gestern Abend hier hereingekommen ist. Ich glaube, dass sie wahrscheinlich einen Streit hatten und dass sie abgehauen ist, um eine Nacht Ruhe zu haben. Sie wird heute Morgen bestimmt wieder auftauchen und sie werden alles in Ordnung bringen. Das müssen sie einfach. Denn keiner von beiden will Bens Chancen bei der Bürgermeisterwahl gefährden.“
Blair nahm ihren Kaffee und drehte sich wieder zu Cade um. „Wie lange wird sie schon vermisst?“
„Seit noch nicht ganz 24 Stunden, soweit wir wissen. Aber ich sah keinen Grund dafür, noch zu warten, nachdem Ben uns verständigt hat. Wenn sie heute auftaucht, umso besser.“
Sie dachte darüber nach, während sie einen Schluck trank. „Der Stress wegen der Podiumsdiskussion hat die Stimmung wahrscheinlich aufgeheizt. Im Moment kann es schon sein, dass das Zusammenleben mit Ben nicht ganz einfach ist.“
„Er ist davon überzeugt, dass ihr etwas zugestoßen ist.“
„Na ja, wir wissen beide, dass Ben gewöhnlich Unrecht hat. Trotzdem sorgt der Zwischenfall für eine interessantere Story am Rande der Podiumsdiskussion. Bisher habe ich mir einen großen Artikel auf der Titelseite vorgestellt mit ein paar prägnanten Zitaten von ihrem Wortgefecht heute Morgen, aber jetzt kann ich von vermissten Ehefrauen und dem Stress, den der Wahlkampf in den Familien der Kandidaten hervorruft, berichten. Weiß der Himmel, wie aufreibend es für meine Schwester ist. Morgan war so angespannt, dass man kaum mit ihr reden konnte. Man könnte meinen, dass Jonathan schon seit Jahren in der Politik ist.“
„Schlachte es nicht zu sehr aus, Blair. Bis jetzt gibt es noch keine Story.“
Blair bemühte sich, nicht beleidigt auszusehen. „Ich? Hey, ich berichte nur die Wahrheit. Du weißt, dass ich nichts ausschmücke.“
„Jeder Journalist neigt zum Ausschmücken und deine Fantasie ist gerade auf dem besten Weg dahin.“
„Du weißt, dass ich seriös arbeite.“ Zumindest hoffte sie, dass er es wusste. Früher, als sie nach ihren eigenen Regeln gelebt hatte, hätte sie um der Auflagenzahl willen vielleicht übertrieben. Aber ihr Leben hatte sich verändert. Sie hatte ihr Leben erst vor einigen Wochen Jesus Christus übergeben und seitdem hatte sich alles verändert. Jetzt versuchte sie, auch bei der Arbeit die biblischen Grundsätze der Ehrlichkeit und der Liebe zu verwirklichen. Es war nicht immer einfach – manchmal schaffte sie es noch nicht ‒, aber in Gottes Schule lernte sie Tag für Tag hinzu.
Cade stand auf und griff nach seinem Stock. „Ich muss gehen.“
Sie bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Du hast keine Zeit mehr, etwas zu essen?“
„Ich habe zu Hause eine Schale Müsli gegessen.“ Seine Stimme wurde tiefer, als er sich nahe zu ihrem Ohr hinunterbeugte. „Ich bin nur gekommen, um dich zu sehen.“
Sie lächelte ihn an und wusste, dass ihre Gefühle sich in ihren strahlenden Augen widerspiegelten. Er schmunzelte, während er zur Tür hinaushumpelte und die Fliegengittertür hinter sich zufallen ließ.
Als sie sich wieder umdrehte, sah sie, dass der Colonel sie angrinste. „Was ist?“
Er fing an zu kichern. „Dich hat es genauso erwischt wie ihn.“
Leise lachend brachte sie die Tasse an ihre Lippen und versteckte sich dahinter. Sie hoffte, dass der Colonel Cades Gefühle für sie richtig einschätzte.
Cade und Ben Jackson hatten ein gestörtes Verhältnis zueinander, aber Cade wusste, dass er das ausschalten musste, solange er an diesem Fall arbeitete. Er durfte sich nicht mit Gerüchten oder Übertreibungen, mit Bens unbegründeter Kritik an der Polizeiarbeit und seinem Vorhaben, ihn zu feuern, wenn er zum Bürgermeister gewählt würde, aufhalten. Tatsächlich hatte Cade in Lisas Fall sogar außergewöhnlichen Einsatz gezeigt, um zu beweisen, dass er nichts gegen ihn hatte. Die meisten Polizeieinheiten hätten die Suche erst gestartet, wenn sie seit 24 Stunden vermisst worden wäre. Doch Cade hatte ein besonderes Interesse daran, vermisste Personen zu finden, weil er selbst noch vor Kurzem vermisst wurde. Dabei spielte es für ihn keine Rolle, dass Lisas Mann vorhatte, ihn fertigzumachen.
Cade war sich sicher, dass Ben ihn angerufen hätte, wenn er etwas von Lisa gehört hätte. Trotzdem hatte er entschieden, vom Cricket’s aus bei ihm vorbeizufahren, um ihn über die neuesten Ergebnisse der Suche zu informieren. Er traf dort auf Jonathan und Morgan, und obwohl es ihn wunderte, dass Ben Jonathan hereingelassen hatte, war er froh, dass der Mann nicht allein war. Jeder auf der Insel wusste, dass Morgan eine gute Trösterin war ‒ sie war immer eine der ersten, die nach einer Tragödie einen frisch zubereiteten Auflauf vorbeibrachte und die Trauernden in den Arm nahm.
Obwohl Jonathan viel einfühlsamer geworden war, seit er den Predigerdienst in ihrer kleinen Gemeinde übernommen hatte, würde es ihm zweifellos schwerer fallen, seinen politischen Rivalen zu trösten. Dennoch wusste Cade, dass sein Freund der Aufgabe gewachsen war.
Ben sah noch schlechter aus als gestern Abend. In seinen Augen war schreckliche Angst zu erkennen und seine Hände zitterten, aber er schien dankbar zu sein, als er hörte, wie viel die Polizei bereits unternommen hatte, um Lisa zu finden.
Er rieb sein stoppeliges Kinn und sah Cade mit feuchten Augen an. „Hören Sie mal, was ich während des Wahlkampfs alles über Sie gesagt habe ...“
„Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Ben. Das spielt jetzt alles keine Rolle. Ich bin nur hier, um meinen Job zu machen.“
Ben sah so geknickt aus, wie Cade ihn noch nie gesehen hatte. „Was ich nur sagen will: Hätte ich gewusst, dass ich Sie mal so brauchen würde, wäre ich sicherlich ein bisschen vorsichtiger gewesen, mit dem, was ich gesagt habe.“
Morgan klopfte ihm auf die Schulter. „Cade ist nicht nachtragend. – Du wirst sie doch finden, Cade?“