Inhalt
Vorwort
Meine Kindheit und Jugend im Spessart
Fritz
Unstete Jahre
Peter
Das Leben geht weiter
Willi
Fürther Jahre
Der Nürnberger Hauptmarkt
Ich bin Marktfrau
Rosen-Mary und die Flowerpower
Lieber. Lust und Leidenschaft
Die Blumenflüsterin
Die Eremitage
Abschied von Partenstein
Nachwort
Vorwort
»Nämbärch« – so wird Nürnberg, die schöne und an Geschichte reiche, kreisfreie Großstadt Mittelfrankens im typisch fränggischen Dialekt genannt.
Für manchen Nürnberger ist sie die »gefühlte« Hauptstadt Frankens.
Wenn man von der Kaiserburg, die mächtig und trutzig über Nürnberg thront, über den Albrecht-Dürer-Platz und weiter, unterhalb der Sebalduskirche, in die Winklerstraße einbiegt, steht linker Hand, wo das Schulgässchen abzweigt, ein denkmalgeschütztes Gebäude aus dem 14./15. Jahrhundert: das »Haus zum Savoyischen Kreuz«.
Es ist in typisch fränkischer Bauweise aus Sandstein errichtet, an der Westseite kann man noch das Wappen von Savoyen mit der Jahreszahl 1690 erkennen.
Wie man in alten, historischen Ansichten sehen kann, war es früher einmal ein imposantes vierstöckiges Bürgerhaus mit Läden und Werkstätten im Erdgeschoss, im Laufe der Jahrhunderte erfuhr das Haus eine wechselvolle Geschichte.
Mal war eine Uhrmacherei dort beheimatet, dann, um 1830 herum, die »Felseckersche Buchhandlung«. Später zog ein Seilermeister ein, und vor dem Zweiten Weltkrieg gehörte das Haus der Wäschereibesitzerin König. 1945, während der schweren Bombenangriffe auf Nürnberg, wurde das Haus größtenteils zerstört, erhalten blieben nur noch das Keller- und Erdgeschoss sowie Teile des ersten und zweiten Obergeschosses.
Bereits 1946, also kurz nach dem Krieg, erfolgte der Wiederaufbau, allerdings nur bis zum zweiten Obergeschoss. Darüber wurde ein Notdach errichtet, und so steht das Haus heute noch.
Jetzt beherbergt das Haus eine besondere Nürnberger Lokalität:
Lieber. Lust und Leidenschaft
steht auf der linken Eingangstür des Erdgeschosses, hinter der sich ein außergewöhnlicher Blumenladen verbirgt. Dass es sich nicht um ein herkömmliches Floristikgeschäft handelt, wird schon an der äußeren Dekoration deutlich – und erst recht, wenn man das Geschäft betritt: Der kleine Laden scheint eher eine florale Werkstatt zu sein.
In der Vorweihnachtszeit, als ich ihn entdeckte, war die Luft erfüllt vom herben und kräftigen Duft von Kiefern, Tannen und anderen grünen Gewächsen, dazwischen bunte Farbtupfer von Blumen und wenige, aber edle Accessoires.
Im hinteren Teil des Ladens werden mit flinker und kundiger Hand Dekorationen, Bouquets und Kränze nach den Wünschen der Kunden gebunden. Der rechte Eingang des Hauses führt in
»Marias Eremitage«
eine kleine, aber feine Vinothek mit ausgesuchten Weinen und einem Bistro, in dem täglich, an Tischen aus alten Weinfässern, ein ausgewähltes Mittagsgericht aus biologischen Zutaten der Region zu einem moderaten Preis angeboten wird.
Am Nachmittag ist das Lokal Einkehr und Treffpunkt auf ein oder zwei Gläschen Wein oder zu einer Tasse Kaffee, Cappuccino oder Espresso.
Hier, in der Eremitage schwingt Marias Lebensgefährte Willi Kuhl, von Gästen liebevoll der »Zaubermann« genannt, das Zepter.
Herrin dieses gesamten kleinen Reiches ist Maria Lieber. Die stämmige Frau ist ständig unterwegs, eilt geschäftig zwischen Blumenladen und Eremitage hin und her, um überall nach dem Rechten zu sehen.
Hier habe ich Maria Lieber kennengelernt: eine starke, vitale Frau mit einem großen Herzen.
So ungewöhnlich wie sie selbst ist ihre Lebensgeschichte. Nach allem, was sie erlebt hat, trotz der Schicksalsschläge und Turbulenzen, hat sie nie ihren Optimismus, die unglaubliche Lebensfreude und ihre nahezu unerschöpfliche Energie verloren.
Dieses Buch erzählt ihre Geschichte – ganz so, wie Maria sie mir in vielen Gesprächsstunden zugetragen hat.
Viktoria Schwenger
Meine Kindheit und Jugend im Spessart
»Maria! Maria! Kumm, helf mal mit! Der Zement ist da!«
Mein Vater rief es in die Werkstatt, die im Anbau meines Elternhauses untergebracht war.
Ich ließ sofort alles stehen und liegen und lief nach draußen. Den Vater durfte man nicht lange warten lassen, schnell wurde er ungeduldig und begann zu schimpfen.
Er war Steinmetz und arbeitete überwiegend auf dem Bau; fertigte Böden, Treppen, Fensterbänke und Einfassungen an – tat eben alles, was ein Steinmetz zu verrichten hat. Gelegentlich wurde auch ein Grabstein in Auftrag gegeben, doch das war eher die Ausnahme.
Draußen stand der VW-Transporter, voll beladen mit Säcken mit Terrazzokörnung. Wie ein Mann hievte ich mir einen der schweren Säcke auf den Rücken und schleppte ihn in die Werkstatt, dann ging ich nach draußen und holte, zusammen mit dem Vater, noch einen und noch einen, bis der Transporter entladen war.
Endlich war es geschafft, ich aber auch, mein Rücken schmerzte.
»War’s dir zu schwer?«, fragte mich mein Vater und sah mich prüfend an, als ich mir, schwer atmend, den Schweiß von der Stirn wischte und mich aufrichtete.
»Naa, naa, des geht scho«, gab ich zurück.
»Nedd dass ich wieder auf’d G’meinde muss, wegen der Kinderarbeit, weißt schon.«
Ich schüttelte den Kopf. »Naa, naa, des basst scho!« Ich packte wieder einen Sack und schleppte ihn in eine Ecke.
Ich war gerade zwölf Jahre alt.
Mein Vater, Amandus Lieber, der von allen kurz »Amand« genannt wurde, war vor Kurzem, auf eine Anzeige hin, auf die Gemeinde bestellt worden.
»Du, Amand, da hat dich jemand anzeigt wegen Kinderarbeit. Die Maria, weißt schon. Das Maadla arbeitet vielleicht doch zu schwer bei dir, des hab’ ich mir auch schon amal denkt.«
Ich hatte meinen Vater auf die Gemeinde begleitet und beteuerte sogleich: »Naa, naa, des basst scho. Die Arbeit macht mir nix aus.«
Der Bürgermeister wiegte bedenklich den Kopf.
»Kann scho sein, aber a Kind ist’s doch noch die Maria, Amand. Was sagt denn dei Frau, die Helga, dazu?«
»Ach was, die sagt nix, und ich pass scho auf’die Maria auf«, versicherte mein Vater und legte seine schwere Hand auf meine Schulter. Damit war die Sach erledigt.
Ich hatte schon mit zehn Jahren begonnen, in der Werkstatt des Vaters zu helfen. Meist machte ich die Arbeit gern, selbst wenn ich dadurch nicht so viel Zeit zum Spielen hatte wie andere Kinder.
Meine Familie lebte schon seit Generationen in dem kleinen Ort Partenstein im Spessart, der mit seinen grünen Hügeln, Bäumen und Wäldern und den romantischen Fachwerkdörfchen für mich eine der schönsten Gegenden Deutschlands ist.
Partenstein ist eine hübsche, etwas verschlafene Gemeinde im mittleren Spessart mit damals ungefähr 2.500 Einwohnern; einer evangelischen wie auch einer katholischen Kirche und Geschäften für den täglichen Bedarf.
Über dem Ort, auf einem felsigen Bergsporn, thront die Burgruine Bartenstein. Sie war 1180 von den Grafen von Rieneck errichtet und nach einer wechselvollen Geschichte im Dreißigjährigen Krieg zerstört worden. Das Burgareal war einst für uns Kinder aus Partenstein ein abenteuerlicher, wenn auch nicht ganz ungefährlicher Spielplatz.
Alle meine Vorfahren waren Bauern gewesen; so hatte sich im Laufe der Zeit durch Zukäufe, Heiraten und Erbschaften ein beträchtlicher Grundbesitz angehäuft.
Nach dem Tod meiner Großeltern wurde der Besitz zwischen den noch lebenden Kindern, meinem Vater und seinen drei Schwestern, durch Los aufgeteilt. Das war anders als früher, als meist der älteste Sohn Alleinerbe war, um den Gesamtbesitz zu erhalten, und dann allenfalls seine Geschwister auszahlen musste. Meine Großeltern hatten dagegen verfügt, dass der Besitz zwischen allen Kindern aufgeteilt würde, vielleicht, weil mein Vater kein Bauer, sondern Steinmetz geworden war.
Die Grundstücke wurden notiert, die Zettel kamen in einen versilberten Kübel, daran erinnere ich mich noch.
Nacheinander zogen die Geschwister dann die Lose heraus und bekamen so die Grundstücke zugeteilt.
Auch ich durfte Lose ziehen: Zwei der drei Söhne meiner Großeltern waren im Krieg geblieben; einer der beiden hatte während eines Heimaturlaubs geheiratet – eine echte Blitzhochzeit.
Aus dieser Ehe war eine Tochter hervorgegangen, die gerechterweise auch mit mehreren Grundstücken bedacht wurde und deren Lose ich ziehen durfte.
Später, in den Sechzigerjahren, als in Partenstein ein Bauboom ausbrach und die Schwestern Geld zum Hausbau brauchten, verkauften diese nach und nach Grundstücke an ihren Bruder, meinen Vater, sodass sich am Ende der Besitz wieder fest in Lieber’scher Hand befand. So sollte es nach der Meinung meines Vaters sein. Er erbte das Elternhaus, das meine Familie in Partenstein besaß, und richtete in den früheren landwirtschaftlichen Nebengebäuden eine Werkstatt ein.
Wie gesagt, arbeitete er überwiegend für den Bau; besonders die Bodenbeläge aus Terrazzo waren in den Fünfziger- und Sechzigerjahren beliebt.
Terrazzo besteht aus gebranntem Kalk und Zement mit Zuschlägen aus Gesteins- oder Ziegelsplitt, die individuelle Farbmuster entstehen lassen. Wenn die Mischung aufgebracht war, musste der Terrazzo geschliffen und dann poliert werden. Ich erinnere mich gut an diese anstrengende Arbeit, die viel Staub erzeugte, den wir einatmeten. Das war auch der Grund für die spätere Erkrankung meines Vaters. Wie viele Steinmetze litt er an einer sogenannten Staublunge, denn damals wurde noch nicht wie heute mit entsprechendem Mund- und Atemschutz gearbeitet.
Mein Vater war ein vitaler, lebenslustiger und gut aussehender Mann, der gern den Frauen nachsah.
Er war streng, und es setzte oft Schläge, wenn ich nicht so »funktionierte«, wie er es sich vorgestellt hatte.
Als die Oma noch lebte, verbrachte ich viel Zeit bei ihr, denn auch meine Mutter half in der Firma mit.
Meine Großmutter lebte im linken Teil unseres Hauses; ich hatte ein sehr inniges, liebevolles Verhältnis zu ihr.
Der Vater erwartete damals, dass sie mir kleinem Mädchen das Kochen und Putzen beibrachte. Später, wenn etwas nicht so gelang, wie er es erwartete, gab es schnell die eine oder andere Ohrfeige.
»Hast denn bei der Oma gar nix g’lernt?«, hieß es dann vorwurfsvoll.
An meine ganz frühe Kindheit kann ich mich naturgemäß nicht erinnern, manches weiß ich nur aus Erzählungen meiner Mutter, so auch die folgende Episode.
Meine Mutter stillte mich – selbst zu dieser Zeit war das eine Besonderheit –, bis ich vier Jahre alt war.
Mein Vater spielte bei einer Laienspielgruppe mit, und eines Abends sollte die Premierenvorstellung sein. Meine Mutter wäre gern mit hingefahren, doch das ging nicht, weil sie mich ja versorgen musste. In der Öffentlichkeit zu stillen, so wie das heute gang und gäbe ist, war damals undenkbar!
Das ärgerte meinen Vater so gewaltig, dass er ein Glas mit scharfem Senf holte, wütend die Brustwarzen meiner Mutter damit einrieb, mich packte und an die Brust legte.
Ich muss fürchterlich gespuckt und geschrien haben, als ich den höllisch scharfen Senf statt der gewohnten süßen Muttermilch schmeckte. Das Stillen hatte sich damit erledigt, nie mehr wollte ich an die Mutterbrust.
Senf kann ich bis heute nicht essen, da muss ich geradezu würgen.
Zu Weihnachten bekam ich einmal eine Puppe von ihm geschenkt, eine »Negerpuppe«, wie man damals noch ungeniert sagte. Die hatte ein »Zipfala«, war also ein Bub!
Das galt im Dorf bei den anderen Mädchen als Sensation, denn bis dahin waren Puppen stets geschlechtslos! Ich war mächtig stolz und zeigte das »Zipfala« überall herum.
Da haben sich die Leute mal wieder über den Amand ’s Maul zerrissen, der seiner Tochter »so was« schenkt!
Meine Patin Lisbeth schickte mir immer besonders hübsche Kleider, die sie aus Amerika bekam: solche mit vielen Rüschen. Die trug ich voll Stolz und führte sie in Partenstein vor. Damals zeigte sich schon, dass ich anders als die anderen sein wollte und an schönen Dingen große Freude hatte.
Einmal hat mir mein Vater Schuhe gekauft, himmelblaue Ballerinas mit Schleifchen vorne drauf. Die Schuhe waren mir etwas zu groß, vermutlich waren sie auf Zuwachs gekauft worden. Meine Mutter stopfte sie einfach mit Papier aus. Ich war so was von stolz, fühlte mich wie eine Prinzessin!
Zur großen Fronleichnamsprozession in Partenstein durfte ich die Ballerinas zum ersten Mal anziehen.
Ich ging vor der Kindergruppe und trug das Bild der Muttergottes in der Hand, eine besondere Ehre.
Mitten während der Prozession verlor ich einen Schuh, traute mich aber nicht, anzuhalten und nach ihm zu suchen. Ich trug doch das Marienbild von Altar zu Altar! Mit nur einem Schuh humpelte ich weiter bis zum vierten Altar.
Dort stand mein Vater. Als er mich sah, an einem Fuß strumpfsockig, trat er vor mich hin, nahm mir das Marienbild aus der Hand, stellte es auf den Altar und verabreichte mir vor allen Leuten eine Tracht Prügel, die sich gewaschen hatte, weil ich nicht auf meine Schuhe aufgepasst hatte!
Ich erinnere mich, ich war schon etwas älter, dass im Haus nebenan eine Frau wohnte, die ich bewunderte und von unserem Garten aus heimlich beobachtete. Sie war nicht aus dem Dorf, sondern mit ihrer Familie zugezogen. Sie war blond, schlank und hatte die Haare hochtoupiert, wie das in den Sechzigern Mode war.
Immer war sie sonnengebräunt, vermutlich hatte sie eine Höhensonne daheim. Je braungebrannter man sich zeigte, umso schöner war man, das galt damals als absolut »in«. Zu der Zeit machte man sich noch keine Gedanken wegen der UV-Strahlung, während man heute, nach Meinung der Hautärzte, möglichst gar nicht mehr ohne Sonnenschutz aus dem Haus gehen soll.
Ich stand oft am Zaun und bestaunte diese Nachbarin. So wie sie wollte ich auch einmal werden!
Meist lag sie im Badeanzug oder Bikini im Garten in einer Hollywoodschaukel. Das war sensationell, so etwas hatte ich noch nie gesehen! So etwas wollte ich auch haben!
Schon damals muss ich recht kreativ, einfallsreich und aktiv gewesen sein. So holte ich mir aus der Werkstatt Leisten, Hammer und Nägel und baute ein Gestell im Garten.
Recht wacklig war es, aber das tat meiner Freude und meinem Tatendrang keinen Abbruch. Jetzt fehlte nur noch der Baldachin.
Ich eilte ins Haus, stieg auf einen Stuhl und riss die Vorhänge herunter. Die schienen mir gerade schön genug für meine Schaukel. Als ich alles drapiert hatte, kam mir eine neue Idee.
Anita, meine kleine Schwester, die damals noch ein Baby war, sollte auch bei der Einweihung der Schaukel dabei sein. Ich hob sie aus dem Kinderwagen, schleppte sie zur Schaukel und legte sie dort ab. Noch schaute sie mich lieb an.
Gerade da fuhr mein Vater mit seinem Lastwagen auf den Hof und begann, Material abzuladen. Waren es diese Erschütterungen oder die baufällige Bauweise meines Werkes, jedenfalls krachte mein ganzes Gebilde zusammen und auf Anita, die mörderisch zu schreien begann.
Mein Vater rannte herbei, schaute auf den Haufen Leisten, die Wohnzimmervorhänge und entdeckte darunter sein brüllendes Kind. Erst packte er Anita und legte sie in den Kinderwagen zurück, dann packte er mich.
Er versetzte mir solch eine Tracht Prügel, dass ich Pipi in die Hose gemacht hab’. Das machte ihn noch wütender, und er schlug noch heftiger zu, bis endlich meine Mutter als Retterin nahte.
Später einmal, mein Vater hatte auf der Rüttelplatte Betonfassungssteine für die Gärten gemacht und hintereinander zum Trocknen aufgestellt, spielte ich mit einer Freundin Fußball im Hof.
Wie es der Teufel wollte, knallte mein Ball auf den ersten der Steine, der kippte und riss, wie bei einem Dominospiel, alle Steine nacheinander mit sich um.
Da hat es wieder einmal eine ordentliche Tracht Prügel gesetzt. Einmal, so entsinne ich mich, musste ich Gummileisten erhitzen, die mit dem Rüttler an der Vorderseite der Treppenstufen als Rutschsperre eingelegt werden sollten.
Als ein paar Schulfreundinnen vorbeikamen, spielten wir, und ich vergaß die im heißen Wasser eingelegten Streifen. Als der Vater die verdorbenen, aneinandergeklebten und nicht mehr verwendbaren Stücke sah, wurde er wieder einmal wütend. Unsanft packte er mich und bugsierte mich in eine Ecke der Werkstatt.
»Da bleibst jetzt stehen, bis’d schwarz wirst und bis’d dir merkst, dass man von der Arbeit nedd wegrennt.«
Erst ein Kunde und Freund von ihm sah mich, unglücklich und niedergeschlagen, in der Ecke stehen und erlöste mich. Ich glaub’, der Vater hätte mich sonst bis zum Jüngsten Tag dort gelassen.
Wenn ich heute an diese Geschichten denke, wundere ich mich doch ein bisschen, dass ich später mit so einer großen Liebe an meinem Vater hing.
Doch so streng und manchmal fast böse er auch sein konnte, muss ich zu seiner Entschuldigung sagen, dass es wirklich eine andere Zeit damals gewesen ist. Schläge für Kinder waren an der Tagesordnung und galten als probate Erziehungsmaßnahme. Heute dagegen wird das als Kindesmisshandlung angesehen und kann sogar strafrechtlich verfolgt werden.
Trotz allem versuchte ich immer, ihm zu gefallen, und wenn er mich lobte, so war das für mich wie ein Stück des Himmels und entschädigte mich für manches Vorangegangene.
Meine Mutter war eine stille, ruhige Frau. Ich kann mich kaum daran erinnern, sie einmal lachen gehört zu haben. Sie versorgte den Haushalt und die Kinder, arbeitete aber auch im Betrieb mit – vielleicht auch, um meinen lebenslustigen, temperamentvollen Vater wenigstens ein bisschen unter Kontrolle zu haben.
Als ich sechs Jahre alt war, wurde sie wieder schwanger, und als es so weit war und sie in den Wehen lag, wurde zur Hausgeburt eine Hebamme geholt. Wieder war es, zur herben Enttäuschung meines Vaters ein Mädchen, das Anita genannt wurde. Er hatte sich so sehr einen Buben gewünscht wie schon bei meiner Geburt. Dennoch wurde mit der Hebamme und einem Freund meines Vaters, der Schnapsbrenner war, mit dessen Zwetschgenschnaps auf die glückliche Geburt des Kindes angestoßen.
»Maria, bring die Flasch’ in den Keller runter!« Mein Vater gab mir die halb leere Flasche.
Auf dem Weg zum Keller setzte ich mich auf die Kellertreppe und probierte neugierig das Getränk, das dem Vater so geschmeckt hatte. Erst als ich nicht mehr nach oben kam und die Mutter ängstlich nach mir fragte, sah er nach mir.
Ich lag sturzbetrunken auf der Treppe, die fast leere Schnapsflasche neben mir. Als die Mutter im Wochenbett entsetzt aufschrie, meinte Vater ungerührt: »Des wird des Maadla scho’ aushalten.«
Ich muss eine Alkoholvergiftung gehabt haben; am nächsten Tag fühlte ich mich, als müsste ich sterben.
Seither habe ich nie wieder Schnaps getrunken.
Ich wusste, dass sich mein Vater sehnlichst einen Buben gewünscht hatte, das sagte er mir oft genug. Nach Kräften bemühte ich mich, ihm den nicht vorhandenen Sohn zu ersetzen, wollte ihm alles recht machen, damit er stolz auf mich wäre.
Doch er war nicht nur so streng, wie ich bisher beschrieben habe, sondern andrerseits auch sehr großzügig.
Er besaß ein Motorrad mit Beiwagen und nahm mich oft auf Ausflüge mit, die er zusammen mit seinem Freund und dessen Sohn machte.
Wir setzten uns auf das Gefährt, fuhren los, und wenn ich fragte, wo es denn hinginge, meinte er nur: »Wirst schon sehen, ich weiß es selbst noch nedd.«
Ich erinnere mich an eine Fahrt nach Schloss Linderhof, nach Hohenschwangau und Neuschwanstein, die wir vier gemeinsam unternahmen.
Wir Kinder bekamen dann eine »Sinalco« – eine Zitronenlimonade – und eine Tafel Schokolade und waren zufrieden. Unsere Väter sahen wir geraume Zeit nicht mehr, die vergnügten sich auf ihre Weise.
Ich kann mich nicht erinnern, dass die Mutter jemals bei solchen Touren mit dabei war. Sie blieb meist zu Hause bei ihrer kleinen Tochter Anita, die als kränklich galt und der all ihre Liebe und Fürsorge gehörte, sofern die Arbeit Zeit dafür ließ.
Ich mochte meine kleine Schwester gern, auch wenn sie mir viel von der Zeit und Liebe meiner Mutter stahl.
Anita blieb stets Mamas Liebling, während ich »Vaters Kind« war. Auch wenn ich oft uneins mit ihm war, so hing ich doch an ihm.
Manchmal gingen wir miteinander wandern, im Spessart oder rund ums Dorf.
Immer, wenn wir auf der »Hofhöh« standen und unterhalb Partenstein liegen sahen, sagte mein Vater:
»Das Grundstück mag ich besonders gern, da liegt einem ganz Partenstein zu Füßen, und den Grund sollst später einmal du kriegen, Maria! Vielleicht kannst dir da mal ein Haus bauen, denn du bleibst ganz sicher in Partenstein, oder?«
Ich nickte. Partenstein und meinen Vater zu verlassen, war gänzlich unvorstellbar für mich. Wie anders alles kommen sollte, auch mit der Hofhöh, das konnte ich damals nicht ahnen.
Als ich elf war, wechselte ich nach der Volksschule an die Mittelschule in Lohr, die nächste größere Stadt, die mit dem Schulbus in fünfzehn Minuten zu erreichen war. Es war eine reine Mädchenschule. Den Mädchen in den höheren Klassen wuchsen bereits kleine Brüstchen, was mich besonders neugierig machte, da ich noch platt wie eine Flunder war.
»Du musst dir die Brust mit Zitrone einreiben, Maria, das bringt’s! Da kriegst einen schönen, großen Busen«, erzählte mir eine Freundin.
Da kaufte ich mir von meinem gesamten Taschengeld, immerhin zwei Mark, in einem Laden in Lohr Zitronen, um heimlich meine Brust einzureiben. Es hat, zu meiner großen Enttäuschung, zumindest nicht sofort genutzt. Aber meine Brüste wuchsen später recht stattlich – und das von ganz allein, ohne Zitronensaft.
Als ich die Schule mit der Mittleren Reife beendet hatte, war es selbstverständlich, dass ich den Beruf der Steinmetzin erlernen würde, und ich ging bei meinem Vater in die Lehre. Es war weiß Gott keine einfache Zeit, schwere Arbeit noch dazu. Aber ich schonte mich nicht, ich wollte arbeiten wie ein Mann, mein Vater sollte keinen Grund zur Klage haben.
»Der Apfel fällt nicht weit vom Birnbaum«, sagt man scherzhaft, und so war es auch mit mir und dem Vater. Ich hatte den gleichen Dickschädel wie er, so gerieten wir manches Mal aneinander – vor allem, wenn er wieder einmal zu despotisch und cholerisch wurde. Alles ließ ich mir inzwischen jedoch nicht mehr gefallen.
Meine Mutter schüttelte oft den Kopf über uns zwei Kampfhähne und seufzte: »Die Maria und der Vadder! Die können nedd miteinander und nedd ohne einander!«
Trotz allem möchte ich sagen, dass ich eine glückliche Kindheit hatte. Wir Kinder in Partenstein hatten damals noch viel Freilauf, waren unterwegs, draußen in der Natur, in Feld und Wald.
Ich wurde zwar streng gehalten, aber es war noch nicht so viel Druck, wie er heute oft auf Kindern lastet. Wir waren noch frei von Computern, Laptops oder Handys und hatten, trotz Schule und Arbeit daheim, viele freie Stunden zum Spielen.
Es war halt noch eine andere Zeit.
Nachdem ich meine Lehrzeit beendet hatte, arbeitete ich weiter als Gesellin im väterlichen Betrieb, bevor ich nach zwei Jahren nach Aschaffenburg auf die Meisterschule ging. Da war ich zum ersten Mal von daheim fort.
Ich war nicht nur die jüngste Absolventin des Jahrgangs, sondern auch die einzige Frau unter lauter Männern, die die Steinmetz-Meisterprüfung schaffte. Natürlich war mein Vater stolz auf mich, aber dreinreden in seinen Betrieb ließ er sich nicht von mir. Dabei war ich so voller Ideen und habe ihm viele Vorschläge zur Verbesserung gemacht, wie ich es eben auf der Meisterschule gelernt hatte. Egal ob im Hinblick auf neue Techniken oder Maschinen, die einem die Arbeit erleichtert hätten, es war nicht mit ihm zu reden, da blieb er stur. So, wie er es machte, so musste es richtig sein. Oft hat mich geärgert, dass er sich so gar nichts hat sagen lassen.
Ich war zu einem hübschen Mädchen herangewachsen, und die Burschen des Ortes – und nicht nur diese – drehten die Köpfe nach mir. Doch egal welchen jungen Mann ich mit nach Hause brachte, dem Vater war keiner recht.
»Hast du dem sei Mudder scho mal g’sehen? Des tät amal dei Schwiegermudder werden! Denk mal, Maria – des tät ich mir nedd an!«, klingen mir seine Worte heute noch im Ohr.
Ein anderer wiederum war evangelisch, und ein Protestant als Schwiegersohn in meiner erzkatholischen Familie, das ging zur damaligen Zeit gar nicht.