Cover

Über dieses Buch:

Als einziges Kind König Cathals von Alba führt Lynn fernab der Hauptstadt ein wohlbehütetes Leben in einem Landschloss. Allerdings fällt ein Schatten auf ihr Dasein: Sie wird häufig von demselben Albtraum heimgesucht, der seltsam real erscheint. Von ihrem Umfeld wird dies jedoch als Hirngespinst abgetan. Lynns Weg ist vorgezeichnet: Sie soll den gutaussehenden Lord Duncan heiraten, den sie tatsächlich von Herzen liebt. Doch als ihr Vater mit einem Mal schwer erkrankt, muss sie nach und nach erkennen, dass ihr Leben ein einziges Lügengebilde ist.

Über die Autorin:

Kaitlyn Abington ist das Pseudonym einer erfolgreichen Autorin. Nach ihrem Studium der Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte hat sie unter ihrem Klarnamen mehrere erfolgreiche Krimis, historische Romane und Kinderbücher veröffentlicht.

Bei dotbooks erscheint Kaitlyn Abingtons Romantic-Fantasy-Reihe »Wolfsbraut«, die folgende Bände umfasst:

»Der Traum« – Erster Roman
»Der Fluch« – Zweiter Roman
»Die Entscheidung« – Dritter Roman
»Das Geheimnis« – Vierter Roman
»Die Erfüllung« – Fünfter Roman

***

Originalausgabe März 2015

Copyright © 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Yuri Zhuravov

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-036-0

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Wolfsbraut: Der Traum« an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Kaitlyn Abington

Wolfsbraut

Der Traum

Erster Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Lynn

Mein Puls hämmerte. Ich starrte in die Finsternis.

Mein Atem ging flach, während mir das Blut in den Ohren rauschte.

Was hatte mich geweckt?

Diese verdammte Stille!  

Was war mit der Funzel auf meinem Nachttisch passiert? War sie von allein erloschen? Oder hatte sie jemand gelöscht? Kaum denkbar. Aber dann schoss mir eine wirre Erinnerung ins Bewusstsein, eigentlich war es nicht viel mehr als der Nachklang eines komischen Gefühls, als ob ein Fremder mitten in der Nacht hier in meinem Zimmer gewesen wäre. Eine irritierende Vorstellung: Ich fühlte, dass da jemand war, der nicht hergehörte, und im nächsten Augenblick – bin ich wohl wieder eingeschlafen. Aber – war das in dieser Nacht gewesen? Ich war mir nicht sicher.

Vielleicht war es nur ein Albtraum. Schließlich konnte niemand so ohne weiteres bei mir eindringen.

Irgendwie beruhigten mich diese Überlegungen nicht. Im Gegenteil. Auf einmal stieg die Erinnerung an eine furchtbare Angst in mir auf und mir wurde siedend heiß.

Warum konnte ich mich nicht genauer erinnern?

Die Dunkelheit lastete wie eine zentnerschwere Decke auf mir, presste mich aufs Bett und hielt mich umklammert.

Jetzt war es nicht mehr ganz so still. Irgendetwas tat sich draußen auf dem Flur. Es hörte sich wie ein Scharren an, das sich langsam näherte. Es stoppte genau vor meiner Tür. Aus dem Scharren wurde ein Kratzen. Und dann folgte ein rasselndes Keuchen.

Mir wurde eiskalt.

Von draußen drang ein Knurren herein, tief, kehlig – nein, nicht von draußen, der Laut kam von hier, hier aus meinem Zimmer. Das war kein Albtraum. Ich war wach, ich war bestimmt wach und da knurrte es neben meinem Bett ...

Mein Verstand setzte aus. Die Angst überlief mich wie loderndes Feuer und versengte mir den Atem. Ich wollte schreien, aber es war, als drückte mir die Dunkelheit die Kehle zu. Ich konnte nur leise wimmern, dann schwanden mir die Sinne. Ich merkte kaum, wie mein Bewusstsein in einer Ohnmacht davonglitt.

***

Als ich das nächste Mal erwachte, kroch grau die Morgendämmerung durch einen Spalt zwischen den Vorhängen ins Zimmer. Ich fühlte mich, als wäre ich die ganze Nacht gerannt und gerannt – genauer gesagt, vor etwas davongerannt. Jeder Muskel tat weh, sogar mein Nacken schmerzte, als ich zu dem Tischchen neben meinem Bett spähte. Ein halbes Jahr zuvor hatte ich das hübsche Kirschholztischchen auf dem Dachboden entdeckt und war direkt stolz darauf gewesen, es in mein Zimmer geschleppt zu haben. Allerdings hatte ich mir damit zwei Tage Zimmerarrest eingehandelt, weil ich unerlaubt auf dem Dachboden herumgestöbert hatte. Ich wusste bis dahin nicht, dass der Dachboden eine Art Sperrzone darstellte.

Auf der Platte stand das Glas mit meinem gewohnten Abenddrink, der einen eigenartigen Grünschimmer angenommen hatte. Eklig.

Ich starrte das Glas an und konnte dabei kaum einen klaren Gedanken fassen. Eadha würde ihr übliches Geschrei machen, wenn sie entdeckte, dass ich die Milch nicht getrunken hatte. Das kam bei meiner Schusseligkeit alle paar Monate mal vor. Schon deshalb streckte ich halbherzig die Hand nach dem Glas aus – und zuckte zurück. 

Neben dem Glas entdeckte ich das erloschene Nachtlicht. Ich liebte diese kleine Funzel, die dazu diente, meine Albträume in Schach zu halten. 

Ich nahm das Lämpchen vom Tisch und schüttelte es sacht. Es war noch Öl darin, ich hörte es gluckern. Von allein konnte es nicht erloschen sein.

Ich stellte die Lampe zurück und strich mir über die schweißnasse Stirn.

Ohne mir ganz klar zu sein, was ich tat, griff ich nach dem Glas. Gerade, als das Getränk meine Lippen benetzte, stieg mir ein leicht modriger Geruch in die Nase. Dennoch war mein Durst so groß, dass ich einen kleinen Schluck nahm, einen sehr kleinen Schluck, den ich sofort bereute, dabei schmeckte das Zeug beinahe wie sonst, das hieß, es lief brennend die Kehle hinunter. Aber der Ekel war nicht mehr zu bremsen. Nicht mal das Aroma von frischen Erdbeeren, mit denen Eadha das Getränk versetzt hatte, vertrieb die faulige Unternote.

Ich schüttelte mich und stellte das Glas zurück auf das Tischchen neben die erloschene Lampe.

Was für ein scheußlicher Tagesanfang.

Dabei war es kein Tag wie jeder andere. Als mein Blick auf das Kleid fiel, das mir gegenüber am Schrank hing –  ein Möbel, in dem sich ein Dutzend Einbrecher hätte verstecken können –, fiel mir ein, welch besondere Bedeutung dieser Tag für mich hatte.

Es handelte sich um ein Ballkleid aus himmelblauer Seide, über und über mit seltenen kleinen Perlen bestickt. Die Taille war tief angesetzt und darunter bauschte sich der Rock über sehr viel Tüll. Das enge Oberteil war so tief ausgeschnitten, dass der Ansatz des Busens enthüllt wurde – eines allerdings nicht gerade aufregenden Busens. Ich hätte gern mehr gehabt: genug, um die Blicke von meinem runden Puddinggesicht abzulenken.

Auf einmal durchströmte mich ein Glücksgefühl.

Wenn ich überhaupt einen Wunsch hatte – außer dem, nicht mehr von Albträumen heimgesucht zu werden –, dann den, mit Duncan am Abend den Ball zu eröffnen.

Vor lauter Sehnsucht seufzte ich seinen Namen. Ich wusste, dass er bereits eingetroffen sein musste, wenn auch zu spät, um ihn noch zu begrüßen. Außerdem bezweifelte ich, dass er mitten in der Nacht Wert auf meine Begrüßung gelegt hätte. Wahrscheinlich war er von Dùn Èideann bis hierher gehetzt und sofort todmüde ins Bett gefallen.

Genüsslich stellte ich mir vor, wie sich seine Augen vor Bewunderung weiteten, wenn ich in meinem Kleid die Treppe herabschwebte, die von einer Galerie im ersten Stock direkt in den über zwei Stockwerke reichenden Ballsaal hinabführte. Sehr viel wahrscheinlicher war aber, dass ich in meinen neuen Schuhen mit den hohen Hacken stolperte und die halbe Treppe hinabfiel.

Lord Duncan war der schönste Mann, den ich in meinem Leben gesehen habe. Bei jeder Begegnung wurden mir die Knie weich und das Herz tat weh. Trotz der irrsinnigen Verliebtheit machte ich mir nichts vor. Ein wohlbekannter Schmerz meldete sich in meiner Brust. Man musste uns ja nur zusammen sehen. Und außerdem: Duncan war elf Jahre älter als ich. Gegen ihn war ich bloß ein Kind, zumindest gab mir hier jeder dieses Gefühl – und er leider auch.

Aber jetzt betrug der Altersabstand rein rechnerisch nur noch zehn Jahre, fiel mir ein, denn heute war mein sechzehnter Geburtstag. War das wirklich der sechzehnte? Hatte ich den nicht letztes Jahr schon gefeiert?

Irgendwie trat ich altersmäßig auf der Stelle. Oder nicht? Zumindest kam es mir so vor.

Was das nicht völliger Blödsinn? Aber wieso beschäftigte es mich dann so etwas?

„Dacht‘ ich’s mir, du bist wach“, unterbrach Eadhas Stimme meine Gedanken.

Rasch schloss ich die Augen und drehte den Kopf zur Seite, um das Gegenteil zu beweisen. Ich hatte sie nicht hereinkommen gehört.

„Hier ist dein Frühtrank“, fuhr Eadha unbeirrt fort. „Setz dich auf und plempere nicht damit rum wie gestern Morgen.“

Unwillig beäugte ich das Glas in ihrer Hand. Die Flüssigkeit schimmerte bläulich, und ich tippte auf Blaubeeren als Geschmackszutat. Ich mochte Blaubeeren, aber nicht jeden zweiten Morgen. Irgendwann musste mal Schluss damit sein. Warum nicht heute?

„Ich will Kaffee“, krächzte ich. „Schwarz, ohne Milch und Zucker. Ich hab nachgerechnet, ich bin sechzehn. Seit heute.“

Eadha beäugte mich verblüfft, dann lachte sie kehlig auf. Inzwischen hatte sie das Bett erreicht und hielt mir gebieterisch das Glas entgegen. „Solange ich für dich verantwortlich bin, trinkst du das hier. Kaffee ist was für Erwachsene. Ich hab dich letzte Nacht nicht schreien gehört.“

Eadhas Blick wurde lauernd. Für mich war sie, seit ich mich erinnern konnte, sowohl Kindermädchen als auch persönliche Dienerin. Sie schlief immer noch im Nebenzimmer, und die Verbindungstür blieb nachts angelehnt. Diese Angewohnheit aus Kindertagen sollte ich endlich abschaffen, bloß war ich bisher zu träge dazu gewesen. Ich konnte mich einfach nicht dazu aufraffen, nachdrücklicher zu erklären, dass ich nicht mehr wie eine Fünfjährige behandelt werden wollte.

Ich wusste nicht, was an diesem Tag mit mir los war. Normalerweise dachte ich nicht so viel nach. Längere Zeit nachzudenken, machte mich hundemüde. Und dann erst erfasste ich Eadhas letzte Bemerkung so richtig.

Mit einem leisen Ausruf des Erstaunens legte ich die Hand an die Kehle. „Jetzt weiß ich’s. Ich hatte ...“ Ich suchte nach den passenden Worten. Allein schon die Erinnerung ließ Panik aufkommen, die ich aber notdürftig unterdrückte. „Es ist vorbei“, sagte ich schließlich gefasst. „Mit sechzehn hat man keine Albträume mehr.“ Wieder so eine dumme Bemerkung.

Eadha hatte die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen, hielt den Kopf schräg und betrachtete mich forschend. In den letzten Jahren war sie ganz schön dick geworden. Sie hatte ein breiteres Gesicht als ich. Sein meist gutmütiger Ausdruck flößte Vertrauen ein und täuschte glatt darüber hinweg, dass sie mich liebend gern herumkommandierte.

„Keine Albträume mehr“, wiederholte ich nüchtern. „Das hoffe ich wenigstens“, schob ich zögernd nach. Mit einem Schaudern drängte ich die Erinnerung an die letzte Nacht noch tiefer in die Schatten des Vergessens.

Eadhas Blick wurde stechend. „Du hast nicht von riesigen Wölfen geträumt, die dich durchs Schloss jagen und am Ende kriegen und zerreißen?“

Unversehens sah ich es deutlich vor mir:

Gelb glühende Augen über mir, ein mächtiger, weit aufgerissener Kiefer, blutige Lefzen, Geifer, der aus der Schnauze auf mein Gesicht tropft, und dieses Knurren …

Meine Augen hatten sich geschlossen, ich riss sie aber wieder auf, um den grauenhaften Bildern zu entgehen. Ein unkontrollierbares Zittern befiel mich.

„Nein, hab ich nicht“, krächzte ich entsetzt.

„Trink!“ Resolut hielt mir Eadha wieder das Glas entgegen. 

„Und was ist das da?“ Eadha hatte das fast volle Glas vom Abend auf dem Tisch entdeckt. Anklagend wies sie mit der freien Hand darauf. „Wie oft habe ich dir gesagt, dass dieses Getränk wichtig für deine schwache Gesundheit ist? Na? Ist das zu viel verlangt, morgens und abends ein Glas davon zu trinken, damit du gesund und bei Verstand bleibst?“

Ich hörte gar nicht richtig zu, so oft hatte sie das schon zu mir gesagt. Aber auf einmal erstarrte ich.

„Was ist?“ Eadha betrachtete mich misstrauisch.

„Der Schuh der Glücksfee ist nicht mehr da“, flüsterte ich und strich mir über die Kehle, tastete sogar mehrmals den Hals bis zur Brust ab.

Zu meiner Verblüffung schwankte Eadhas Hand, die das Glas hielt. Etwas Flüssigkeit schwappte heraus und ergoss sich auf meine Bettdecke. Eadha hatte den Kopf gesenkt, als ob sie verbergen wollte, was in ihr vorging. Aber dann hob sie ihn und runzelte die Stirn.

„Na, und? Wahrscheinlich ist das Band gerissen, als du dich die ganze Nacht im Bett herumgewälzt hast. Du wirst deinen Anhänger wiederfinden, und wenn nicht, ist es auch egal. Mach dich nicht lächerlich. Ein Schuh der Glücksfee! So was gehört zur Kindheit, und deine ist ab heute vorbei. Sagst du ja selbst.“ Ein leichter Anflug von Hinterhältigkeit huschte über ihr Gesicht, so rasch, dass ich ihn für Einbildung halten konnte. Leider war es fast immer schwierig für mich, Einbildung und Wirklichkeit auseinander zu halten. Sobald ich anfing, über die Wirklichkeit nachzugrübeln, entglitt sie mir wie in einem Zauberspiegel. Und längeres Nachdenken weckte in mir Ängste und vage Erinnerungen, über die ich lieber nichts Genaues wissen wollte.

Meine Stimme zitterte, als ich wieder sprach. „Du hast recht. Na, dann her mit dem Glas.“ Ich wollte es hinter mich bringen. Heute Morgen mit Eadha zu streiten, machte noch weniger Sinn als sonst, denn meistens zog ich doch den Kürzeren.

Ich trank das Glas in einem Zug leer. Nach dem letzten Schluck stellte sich Ekel ein, wie seit Wochen schon. Ich konnte mir diese Reaktion nicht erklären und versuchte, sie sofort zu vergessen. Das hieß, ich würde am folgenden Tag noch einmal um Kaffee bitten – bloß energischer. Wenn ich mich nicht endlich wenigstens bei solchen Lächerlichkeiten wie dem täglichen Zwangsgesöff zur Gegenwehr aufraffte, würde sich nie etwas ändern.

„Ich werde dir jetzt dein Bad bereiten“, sagte Eadha zufrieden, griff nach dem leeren Glas, nahm auch das andere mit und strebte zur Tür. Bevor sie sie erreichte, wandte sie sich um und lächelte mich warmherzig an. „Und was ich noch sagen wollte: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Zu deinem sechzehnten.“

Vermutlich meinte sie es aufrichtig. Das brachte mich dazu, einer weiteren kindlichen Anwandlung nachzugeben.

„Danke, Eadha. Und – der Anhänger war doch nicht wirklich ein Schuh der Glücksfee, oder? Du hast gesagt, es ist einer, aber das war ein Scherz, nicht wahr?“ Schließlich sah der Anhänger nicht einmal wie ein Schuh aus, sondern wie ein formloser Klumpen geschmolzenes Blei. Und Glücksfeen gehörten ins Märchenland. Tatsächlich standen mir zum Lesen seit Jahren nur Märchen- und ein paar Erbauungsbücher zur Verfügung, ich kannte sie alle in- und auswendig. Ich war fit in Sachen Märchen und Legenden, zeitweise regelrecht fixiert darauf. Aber dass ich nun diese Frage stellte, musste Eadha davon überzeugen, dass mich die übliche Dummheit gepackt hatte und ich den restlichen Tag leicht zu lenken sein würde.

Dennoch: Dieser Klumpen hatte etwas mit meiner Vergangenheit zu tun, mit jener, an die ich mich nicht genau erinnern konnte.

Statt zu antworten, schielte Eadha zum Fenster hinaus. „Es wird ein schöner Tag“, murmelte sie, „und es wird einen klaren Abend und eine Nacht voller Sterne geben. Eine wundervolle Ballnacht.“ Ihre Stimme nahm einen drängenden Ton an. „Pass auf, dass du nichts Falsches tust oder sagst, bevor es Nacht wird.“ Ohne sich noch einmal umzuwenden, ging sie hinaus und ließ mich ratlos zurück. Was sollte denn diese Drohung bedeuten? War das nur einer ihrer üblichen Einschüchterungsversuche oder war mehr daran?

Sobald ich allein war, begann ich meine Kissen zu durchwühlen auf der Suche nach etwas, das mir auf einmal wieder wichtig und kostbar erschien. Ein kleines Ding, das nicht an einen Schuh erinnerte und das beim Zubettgehen noch dagewesen war.

Was war in der vergangenen Nacht geschehen? Dunkel und unscharf stellte sich eine Erinnerung ein und entglitt mir wieder. Alles, was blieb, war erstaunlicherweise eine vage Vorstellung von Mondlicht und Kühle.

Tatsächlich strich frische Luft durch das angelehnte Fenster herein und fesselte schließlich meine Aufmerksamkeit. Ich glitt aus dem Bett, lief hinüber, riss die Vorhänge zur Seite, stieß die beiden Fensterflügel weit auf und begann gierig die Luft einzuatmen, die mir über das erhitzte Gesicht strich und schließlich unter mein dünnes Nachthemd fuhr. Für einen Moment schloss ich die Augen, um die Erfrischung in vollen Zügen zu genießen. Als ich die Augen wieder öffnete, glitt mein Blick über den weitläufigen Schlossgarten. Rasenflächen bestimmten ihn und hohe alte Bäume, die ihre mächtigen Kronen in den Himmel reckten. Es war ein schönes vertrautes Bild in satten Grüntönen.

Ich meinte, mal etwas von üppigen Rosenbeeten gehört zu haben, die es früher gegeben hatte, von denen aber keine Spur mehr vorhanden war. Es gab nichts Blühendes, nicht einmal das Rhododendrongehölz am Ende des Gartens trieb Blüten. Lediglich ein fahles Gewächs, das sich kriechend am Fuß der Schlossmauern ausbreitete, direkt unterhalb der Fenster, produzierte Rispen giftgelber, scheußlich riechender Blüten, und ich wünschte mir nicht zum ersten Mal, dass die Gärtner das widerliche Zeug endlich ausreißen würden.

Ich starrte hinunter und fing ungläubig an zu blinzeln. Vom taubenetzten Rasen her zog sich eine Spur durch das Gewächs, die direkt unter meinem Fenster endete. Am Abend zuvor hatte es dort keine Spur gegeben, da war ich mir ziemlich sicher. Ich beugte mich weit hinaus. Die Mauern unseres verwinkelten Schlosses bestanden in diesem Trakt aus grauen Natursteinen, zwischen denen breite Mörtelfugen klafften. Für einen geschickten Fassadenkletterer  bildeten diese Fugen geradezu eine Einladung. Warum war mir das nicht früher aufgefallen?

Weil ich bisher noch keinen unbekannten nächtlichen Besucher im Schlafzimmer gehabt hatte!

In den Sommernächten standen meine Fenster offen, obwohl Eadha sie jeden Abend sorgfältig schloss. Aber sobald sie das Zimmer verlassen hatte und ich ihr Schnarchen aus dem Nebenraum hörte, riss ich die Fenster trotz der Mückenplage wieder auf und schloss sie erst im Morgengrauen, möglichst bevor Eadha zu mir hereinkam. Im Hochsommer konnte es im Zimmer ganz schön stickig werden. 

Jetzt musste ich mich der Frage stellen, ob jemand in der Nacht zwei Stockwerke hochgeklettert und bei mir eingestiegen war.

Der springende Punkt für mich war, ob das Keuchen neben meinem Bett Teil eines Albtraums oder Wirklichkeit gewesen war.

Aufgeschreckt rannte ich zu der Tür, die auf den Flur hinausging, und prüfte, ob sie abgeschlossen war. Ja, diese Tür war verriegelt. Von dort war niemand bei mir eingedrungen. Langsam schloss ich sie auf, drehte mich wieder um und lehnte mich gegen die Tür. Plötzlich meldete sich die Erinnerung mit Macht und löschte jeden Zweifel aus. Jemand war bei mir im Zimmer gewesen, mitten in der Nacht, aber er war vom Garten hereingekommen, nicht vom Flur.

War so etwas möglich, ohne mich zu wecken?

Aber ich war doch wach geworden, oder?

Und was war mit diesen Geräuschen, die vom Flur hereingedrungen waren? Kratzen an der Tür, Knurren.

Einbildung oder Traum?

Meine Erinnerung, die gerade noch so klar gewesen war, verwischte, machte der nur allzu vertrauten Verwirrung und Hilflosigkeit Platz. Halluzinationen, Albträume. Ich hätte einen schwachen Verstand, erklärte mir Eadha immer wieder und oft genug glaubte ich ihr. Aber die Fußspuren draußen waren doch real!

Ich rannte zurück zum Fenster.

Da waren sie, die Spuren, die sich vom Rasen durch das Kraut zogen, klar und deutlich erkennbar. 

Die Kühle auf meiner Haut war nicht mehr angenehm und ließ mich schaudern.

Eadha rief.

Wahrscheinlich wollte sie mich mahnen, endlich ins Badezimmer zu kommen. Die Hand auf mein wild pochendes Herz gepresst, versuchte ich, mich zu beruhigen. Schließlich war mir vergangene Nacht ja nichts passiert.

Eadha rief wieder, diesmal eindeutig ärgerlich.

Zitternd und frierend schloss ich das Fenster und nahm mir fest vor, es nie wieder für die Nacht zu öffnen, selbst wenn mich Erstickungsanfälle befielen. Solange sie mich nicht umbrachten, würde ich damit fertig werden. Ich dachte wieder über den Eindringling nach. Was hatte er gewollt? Auf einer Kommode stand ein hübsches Kästchen mit silbernen Beschlägen, die meine paar Schmuckstücke enthielt. Ich klappte es auf und sah hinein. Es war alles noch da. Ich raffte meinen Morgenrock vom Sessel neben der Kommode und streifte ihn achtlos über. Während ich ihn zuband, fiel mir der verschwundene Talisman wieder ein. Aber wegen dieses wertlosen Dings würde kein Dieb ein Risiko auf sich nehmen. Und außerdem hätte er dann erst mal von der Existenz dieses Anhängers wissen müssen. Hatte mir jemand einen Streich gespielt, der wusste, wie leicht ich in Panik geriet und dass mir der Anhänger etwas bedeutete?

Aber war denn wirklich jemand eingestiegen? Das Parkett schimmerte überall gleichmäßig. Hätte jemand, der von draußen eingedrungen wäre, nicht eine Schmutzspur hinterlassen: etwas Staub, Reste zertretener Blätter und gelber Blüten?

„Das Badewasser wird kalt. Bist du wieder eingeschlafen?“ Eadha war in der Tür erschienen.

Ich hatte mich neben dem Kleid an den Schrank gelehnt und antwortete nicht sogleich.

„Was ist? Was trödelst du hier herum?“

„Ich hab ...“ Ich schluckte, setzte neu an und versuchte, nicht zu angespannt zu klingen. „Ich hab nur überall nach dem Talisman gesucht, blöd, nicht?“

„Du kriegst ihn wieder“, meinte Eadha, „nichts geht wirklich verloren in dieser Welt.“

Ich zuckte zusammen. Nichts geht wirklich verloren in dieser Welt, klang wie ein Echo, aber es war eine andere Stimme als die Eadhas, die ich innerlich hörte. Eine zärtliche, warme Stimme aus einer tiefen Vergangenheit, die wie durch dichten Nebel zu mir drang. Das war nicht das erste Mal, dass da etwas in mir emporstieg. Bilder, Gesichter, Stimmen, Klänge. Mein Blick verschleierte sich, heftete sich auf den Boden, auf den nun der erste Lichtstrahl der Sonne fiel, und in dieser glänzenden Sonnenbahn meinte ich, den schwachen, kaum erkennbaren Abdruck einer riesigen Pfote wahrzunehmen.

Ein seltsames Schwindelgefühl ergriff von mir Besitz, die Wirklichkeit entglitt mir, Finsternis breitete sich aus und schließlich hörte ich einen furchtbaren Schrei. Meinen eigenen Schrei.

„Trink, trink, Herzchen, gleich geht es dir besser.“

Eadha hielt mir ein Glas an die Lippen und ich trank durstig. Wieder dieses in der Kehle brennende Zeug, diesmal mit einem deutlich bitteren Beigeschmack.

„Danke.“ Ich setzte das Glas ab und stellte fest, dass Eadha mich ins Badezimmer geführt und mir bereits aus dem Morgenmantel geholfen hatte. Ich ärgerte mich über mich selbst. Immer diese Schwäche! Aber ich wollte keine Schwäche zeigen, nicht heute, nicht an diesem besonderen Tag. Ich presste eine Hand zur Faust zusammen und grub mir die Nägel ins Fleisch. Der Schmerz sollte mir dabei helfen, einigermaßen beherrscht zu bleiben.

„Kein Albtraum in der Nacht, aber dafür dieser lästiger Schwindel. Wieso überkommt der mich immer wieder? Bin ich krank?“, fragte ich halbwegs gefasst.

„Ich hab’s dir schon oft gesagt, und sag es dir noch mal: Das passiert jungen Leuten, die noch im Wachstum sind. Kein Grund zur Beunruhigung.“ Es war großherzig von ihr, dass sie diesmal nicht auf meinen schwachen Verstand hinwies.

Ich sah skeptisch an mir hinunter. „Zehn Zentimeter mehr würden mir schon gefallen. Ich will nicht mein Leben lang so ein Zwerg bleiben.“ Das Getränk half wie immer. Ein wenig spürte ich noch das Grauen, aber es begann sich zu verflüchtigen, zusammen mit den verstörenden Erinnerungen. Dankbar glitt ich in das warme Wasser der Wanne.

***

Als ich eine Stunde später, fertig angezogen für einen kleinen Ausritt, die große Eingangshalle durchquerte, begegnete mir Sir Cormac. Er war ein großer hagerer Mann, stets in Schwarz gekleidet, das durch den strengen Schnitt seines Anzugs umso finsterer wirkte.

Sobald er mich bemerkte, blickte er mich von oben herab an und näselte: „Guten Morgen. Wie ich sehe, wollen Sie ausreiten. In Hosen.“ Ein leichter Tadel schwang in seiner Stimme mit, der mich augenblicklich verdross.

Cormac hatte die Oberaufsicht über den Haushalt, mehr aber auch nicht. Mir hatte er eigentlich nichts zu sagen. Versuchte es aber trotzdem immer wieder. Auf seine ganz eigene Weise verstand er es, mir jede Handhabe zu nehmen, mich dagegen zu wehren. Sein leichenfahles, schmales Gesicht zog sich noch mehr in die Länge und die Brauen, die wie ein halbiertes O nach oben geschwungen waren, unterstrichen das zusätzlich. Ich ging dem Mann gern aus dem Weg.

„Ja, Sir Cormac, ein kleiner Ausritt stählt den Körper, wie mein Vater immer sagt. Ist er schon auf?“

„Es ist ja auch noch recht früh.“ Cormac stockte, als würde er gewaltsam eine Erinnerung zurückdrängen. Dann fuhr er gelassener fort: „Ich wünsche Ihnen einen schönen Ausritt und ...“, wieder machte er eine Pause, aber diesmal verneigte er sich gemessen, „... und ich wünsche alles Gute zum Geburtstag – wenn ich mir das erlauben darf.“

„Aber natürlich, Sie dürfen.“ Ich nickte dem alten Widerling knapp zu und wollte davoneilen, blieb aber, einem plötzlichen Impuls nachgebend, stehen.

„Ist“, ich stockte, „ist Lord Duncan schon hier?“ Warum fiel es mir so schwer, seinen Namen vor anderen auszusprechen? Wahrscheinlich, weil ich fürchtete, dass es mir nicht gelang, meiner Stimme einen unbeteiligten Klang zu geben.

Cormac schüttelte bedauernd den Kopf. „Er müsste aber jeden Augenblick eintreffen, das ist sicher.“

„Ganz sicher“, mischte sich eine melodische Stimme ein. „Ich weiß es, er ist lange vor dem Mittagessen da.“

Ich schaute zur Treppe.

Mit unnachahmlich lässiger Grazie kam Fiona, eine Cousine dritten oder vierten Grades von mir die Stufen herab. Wie genau es sich mit unserer Verwandtschaft verhielt, wusste ich nicht und es interessierte mich auch nicht. Es genügte mir vollauf, ein bis zweimal im Jahr ihrem umwerfenden Charme ausgesetzt zu sein.

Ihr Aussehen sprach ganz klar dafür, dass wir nur entfernt verwandt waren. Wir waren uns kein bisschen ähnlich. Fionas Figur wies Kurven an genau den richtigen Stellen auf, dabei war sie beneidenswert groß und sehr, sehr schlank. Gegen ihre aufreizend langen, schönen Beine wirkten meine wie Kartoffelstampfer und mein kupferrotes, unordentliches Lockenhaar neben Fionas glatter, schimmernder schwarzer Haarpracht ähnlich attraktiv wie ein Wischmopp.

Fiona hatte die unterste Stufe erreicht und kam zu mir herüber. Sie trug ein enges dunkelrotes Kleid, das sich wie eine Schlangenhaut an ihre Figur schmiegte.

„Wieso weißt du es?“, fragte ich.

Cormac starrte Fiona unverhohlen bewundernd an, selbst diesen Stockfisch brachte ihr Anblick in Wallung.

„Weil wir uns hier verabredet haben. Heute findet doch dein erster Ball statt, deshalb kommen wir alle.“ Fiona bedeutete Cormac mit einem beiläufigen Wink, uns allein zu lassen, und er gehorchte augenblicklich. Mir würde das nie gelingen, selbst wenn ich täglich bis zum Umfallen übte.