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Titel

Impressum

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

Fußnote

Cindy Kent,
ehemals Vikarin, jetzt Pfarrerin.
Und immer eine wunderbare Freundin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-772-2

© der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Copyright © 2013 Pam Rhodes. Original edition published in English under the title

Fisher of Men by Lion Hudson plc, Oxford, England

Übersetzt aus dem Englischen von Antje Balters

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfotos: fotolia © Jenifoto/​© andrewmroland

Satz: Brendow Web & Print, Moers

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.brendow-verlag.de

EINS

Das Erste, was Neil sah, war die Kirchturmspitze von St. Stephen's. Wenn nicht der Kirchturm gewesen wäre, der alle Dächer der Stadt überragte, hätte er noch einmal genauer auf die Karte auf seinem Schoß schauen müssen, um sich in dem Gewirr von Einbahnstraßen zurechtzufinden, das anscheinend wild entschlossen war, ihn gar nicht erst nach Dunbridge hereinzulassen. Den Haufen von Häusern und Läden – manche davon sehr alt, manche allerdings auch beängstigend neu – als »Stadt« zu bezeichnen schien mehr zu versprechen, als Dunbridge tatsächlich zu bieten hatte. Neil hatte gelesen, dass hier 6000 Menschen lebten. Als er wieder um eine Ecke bog, fragte er sich, wo wohl all diese Menschen waren.

Er merkte, wie ihm in einer Mischung aus Beklommenheit und Erwartung eng um die Brust wurde beim Anblick der großen alten Kirche, die trutzig an der Stirnseite des Marktplatzes stand und für alle Welt so aussah, als würde sie mit ebenso unverwandtem wie wohlmeinendem Blick die High Street hinunter auf ihre Herde schauen. Neil musste schlucken und spürte, wie sich auf seiner Oberlippe Schweiß bildete. Mit der einen Hand fuhr er sich einmal fest übers Gesicht und rief sich in Erinnerung, dass es absolut keinen Grund gab, sich Sorgen zu machen, denn schließlich war das hier nur ein erster Besuch. Er war hier, um herauszufinden, ob Pfarrerin Margaret Prowse ihn für einen passenden Vikar für ihre Gemeinde hielt, und auch, ob er selbst sich Dunbridge als sein neues Zuhause vorstellen konnte für die Zeit seines dreijährigen Vikariates.

War das hier nicht genau der Moment, auf den er so lange hingearbeitet hatte? In nicht einmal zwei Monaten würde er im Rahmen einer feierlichen Zeremonie zum Diakon ordiniert werden. Die Jahre der Sehnsucht, des Erkennens seiner Berufung, des Studiums und der Vorbereitung waren alle auf diesen Augenblick hinausgelaufen, in dem er sich endlich für die Gemeinde entschied, in der seinen Dienst beginnen würde. War das hier dieser Ort? Würde er Vikar Neil Fisher von der St. Stephen's Gemeinde in Dunbridge werden? In Gedanken sprach er die Worte »Vikar Neil Fisher« ein paar Mal aus und fand, dass es sich richtig gut anhörte.

Er schaute auf die Notizen neben sich auf dem Beifahrersitz. »Fahren Sie die Straße bis zur Kirche hinauf, biegen Sie rechts ab und folgen Sie dann dem Weg«, hatte Margaret ihn instruiert. »Das Pfarrhaus befindet sich dann an der ersten Abzweigung rechts. Sie können es gar nicht verfehlen!«

Er konnte es nicht leiden, wenn Leute das sagten, weil er sich noch mehr als Versager fühlte, wenn er den Beweis erbrachte, dass sie sich geirrt hatten.

Dieses Mal stimmte die Wegbeschreibung allerdings haargenau. Ein Schild an dem verwitterten Tor bestätigte, dass es sich tatsächlich um das Pfarrhaus handelte, ein großes, weitläufiges Gebäude aus der Zeit Edward des Siebten, dessen verblichener Glanz ein wenig getarnt war durch eine hohe Glyzinie auf der einen und eine leuchtend rote Jungfernrebe auf der anderen Seite. Er wusste nicht so genau, ob er auf der Einfahrt parken durfte, und kam letztlich zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich höflicher war, seinen Wagen ein Stück weiter die Straße hinauf unter der Krone einer riesigen Rosskastanie abzustellen. Neil nahm seinen Aktenkoffer, stieg aus dem Wagen und schloss ihn ab.

Als er wieder an dem alten Eingangstor zum Pfarrhaus ankam und es öffnete, quietschte es laut.

»Kommen Sie nach hinten!«, hörte er eine barsche Stimme irgendwo hoch oben über seinem Kopf. Neil schirmte mit der Hand seine Augen vor der noch tief stehenden Morgensonne ab und blinzelte nach oben.

»Gehen Sie seitlich am Haus entlang!«, sagte die Stimme wieder im Befehlston. »Die Hintertür ist nie abgeschlossen. Das ist vielleicht dumm, aber mir gefällt einfach die Vorstellung, ein offenes Haus zu haben.«

Neil konnte gegen das blendende Sonnenlicht nur den Umriss eines runden, von gepflegten Locken eingerahmten Frauengesichtes erkennen, das oben aus dem Giebelfenster schaute.

»Sie müssen Neil sein. Sie sind zu früh! Ich bin gleich unten. Setzen Sie doch schon mal Wasser auf. Ich brauch jetzt einen Kaffee …«

Und dann war der Kopf genauso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Es erwies sich als echte Herausforderung, auf die Rückseite des Hauses zu gelangen, denn Neil musste über zwei Fahrräder steigen und sich danach erst an einem Wohnwagen und dann noch an einem Weißdornstrauch vorbeiquetschen, dem es beinah gelungen war, den gesamten schmalen Weg am Haus entlang zu überwuchern. Irgendwann hatte Neil es dann doch bis zu der Tür geschafft, die offenbar der Hintereingang war, und die nicht nur unverschlossen war, sondern sperrangelweit offen stand. Nachdem er eingetreten war, zog er sie ordnungsgemäß wieder zu (er konnte einfach nicht anders) und betrat eine Küche, in der ein erschreckendes Durcheinander herrschte. Der Tisch, die Arbeitsflächen und sogar das Kochfeld des Herdes waren vollgeräumt mit allen möglichen Stapeln und Haufen von Tellern und Besteck bis hin zu Briefen, Zeitungen und Zeitschriften. Über dem Herd lag eine Bibel, auf der wiederum in riskantem Gleichgewicht ein Gebetbuch balancierte. Neil grinste. Kein Zweifel, hier wohnte eine Pfarrerin!

Als etwas an seinem Hosenbein entlangstrich und er nach unten schaute, traf er auf den argwöhnischen Blick des größten und flauschigsten roten Katers, den er je gesehen hatte. Er wollte sich gerade herunterbeugen, um den kleinen Kerl ein bisschen unterm Kinn zu kraulen, da funkelten ihn ein Paar gelbe, böse Katzenaugen an. Der vierbeinige Bewohner zog zu Erkundungszwecken eine Acht um Neils Beine und ließ dabei keinen Zweifel daran, dass er keinen Besuch mochte. Neil zog sich rasch einen Hocker heran, der in der Nähe stand, setzte sich hin, presste seinen Aktenkoffer fest an sich und zog die Knie hoch, so weit er konnte.

»Frank!«

Dieselbe Stimme, die ihn gerade draußen angesprochen hatte, drang von irgendwo oben durchs ganze Haus, jetzt allerdings doppelt so laut.

»Sag ihm, wo der Tee ist, sei so lieb, ja? Ach, ich glaube, wir haben gar keine Plätzchen mehr.«

Fasziniert schaute Neil in Richtung der offen stehenden Küchentür, durch die das schlurfende Geräusch von Hausschuhen zu hören war. Und dann kam ein adretter kleiner Mann mit grauem Haar und überraschend buschigen dunklen Augenbrauen um die Ecke. Er verschaffte sich kurz einen Überblick über die Lage – die Position der Katze und des Mannes – und als er Neil schließlich anlächelte, hatte sein Blick etwas Mitfühlendes, Verständnisvolles.

»Tut mir leid«, sagte er. »Meine Frau ist gerade erst von einem unvorhergesehenen Besuch im Krankenhaus zurück. Sie kommt gleich herunter. Ich bin übrigens Frank. Und das da ist Archie. Der ist im Grunde ganz harmlos, auch wenn er immer ein bisschen grimmig aussieht. Was kann ich Ihnen anbieten? Tee?«

»Nein, vielen Dank«, sagte Neil, ohne seinen Blick von dem Raubtier zu seinen Füßen abzuwenden. »Ich möchte Ihnen wirklich keine Umstände machen.«

»Ach, in diesem Haus ist immer Teewasser heiß«, sagte Frank lächelnd. »Das müssen Sie lernen, wenn Sie zu uns stoßen. Dies ist Ihr erster Vorstellungstermin für eine Stelle als Vikar, oder? Sie werden es hier bestimmt gut haben. Margaret wird sich gut um Sie kümmern.«

»Hast du ihn gefunden, Frank?« Das war wieder die Stimme von vorhin.

»Ja, Liebes, es geht ihm gut. Archie hält ihn in Schach …«

»Ach du lieber Himmel, lass dem armen Mann noch ein bisschen Luft zum Atmen, Archie!«, sagte Pfarrerin Margaret Prowse, als sie mit einer Kiste voller Sammelbüchsen unter dem Arm in die Küche kam.

»Nimm mir die doch bitte mal ab, mein Lieber, bevor ich sie fallenlasse. Die hat Peter hergebracht, obwohl die eigentlich ins Gemeindehaus gehören – ich weiß auch nicht, was er sich dabei gedacht hat!«

Es herrschte kurz Verwirrung, bis die Kiste überreicht war. Unter ihrer Last wirkte Frank beinahe wie ein Zwerg, als er hinüberwankte zu einem der vielen Stapel, der noch nicht zu hoch war, um noch etwas darauf abzustellen.

»Margaret Prowse!«, sagte die Frau, schob ihre Brille ein bisschen weiter hoch auf die Nase, damit sie Neil etwas genauer betrachten konnte, und kam dann mit freundlicher Miene und ausgestreckter Hand auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.

»Wie schön, Sie kennenzulernen, Neil! Hatten Sie eine gute Anreise?«

»Ja, sehr gut. Der meiste Verkehr ging in die andere Richtung. Ich freue mich ebenfalls sehr, Sie kennenzulernen.«

Neil merkte, wie Margaret plötzlich durch einen Blick auf die große Wanduhr hinter ihm abgelenkt wurde.

»Ach du lieber Himmel! So spät schon?« Sie zog ein leicht zerknirschtes Gesicht in Neils Richtung. »Hören Sie, ich weiß, dass es nicht besonders gut passt, und ich hoffe, Sie halten mich nicht für unhöflich, aber ich muss noch mal kurz weg. Sie werden sicher schon bald merken, dass das Leben in einer Gemeinde nie vorhersehbar ist. Es dauert auch nicht lange. Ich habe heute Morgen einen Anruf von Violet bekommen, einem treuen Gemeindeglied. Es geht ihr sehr schlecht – ein Trauerfall, wissen Sie?«

»Ach«, sagte Neil. »Ein Familienangehöriger?«

»Ja und nein – es handelt sich um ihren Wellensittich Poppet. Wenn man fast neunzig ist und so ein Vogel die einzige Gesellschaft, dann ist der Verlust eines solchen Gefährten schon ein Schock. Violets Tochter kommt um halb zehn zur Beerdigung …«

Neil spürte, wie seine Augenbrauen fragend nach oben schossen.

»Nichts Offizielles natürlich. Poppet soll nur unter Violets Magnolie zur letzten Ruhe gebettet werden.«

»Hast du dir schon überlegt, was du sagen willst, Liebes?«, erkundigte sich Frank.

»Nein, noch nicht. Ich glaube, das mache ich am besten spontan. Ich habe gerade eben noch einmal einen Blick ins Gebetbuch geworfen und nachgeschaut, ob es zu diesem Anlass etwas Passendes gibt, habe aber leider nichts gefunden. Hätten Sie nicht vielleicht eine Idee, Neil?«

»Für die Beerdigung eines Wellensittichs?« Neil lockerte die Umklammerung um seinen Aktenkoffer ein wenig und stellte ihn dann hinter den Hocker, als er sah, dass Archie gelangweilt davonschlenderte. »Es ist gar nicht so einfach, wenn ein kurzer Abriss vom Leben und Wirken des lieben Verblichenen nicht in Frage kommt, wie bei einer normalen Beerdigung.«

»Ja, da haben Sie recht«, pflichtete Margaret ihm bei. »Aber Violet hat mir schon gesagt, dass sie zu dem Anlass ein Gedicht geschrieben hat. Vielleicht ist ja dann gar keine Ansprache mehr nötig. Und dann vielleicht noch ein Choral? Was meinen Sie?«

»›Geh aus mein Herz und suche Freud´?‹«, schlug Neil vor. »Da gibt es doch eine Zeile über Vögel und ihre Flügelein, wenn ich mich recht erinnere …«

Margaret grinste zustimmend. »Zwei Genies – ein Gedanke. Genau daran habe ich auch gedacht. Und dabei fällt mir ein, dass ich sogar die Instrumentalbegleitung für ›Geh aus mein Herz und suche Freud‹ auf meinem iPod habe. Ein bisschen Musik sorgt bestimmt für die richtige Atmosphäre. Weißt du, wo diese Lautsprecher sind, die wir mit im Urlaub hatten, Frank? Du weißt schon, die Dinger, die mit Batterie laufen.«

»Die sind oben im Schrank, glaube ich. Ich geh und seh' mal nach.«

»Wunderbar! Kannst du sie dann bitte gleich zur Hintertür bringen? Und Sie … vielleicht möchten Sie sich ja in der Zeit, in der ich weg bin, schon einmal die Kirche und die nähere Umgebung anschauen. Ich werde bestimmt nicht lange fort sein. Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie nicht mitnehmen kann, aber ich glaube, dass Violet im Moment mit neuen Gesichtern überfordert wäre.«

»Das verstehe ich. Und ich freue mich, dass ich so die Gelegenheit habe, mir die Kirche anzuschauen.«

»Gehen Sie einfach durch das Tor am Ende des Gartens und dann weiter geradeaus. Sie können sie gar nicht verfehlen.«

Nicht schon wieder!

»Die Kirchentür ist nicht verschlossen, aber sie ist schwer zu öffnen. Achten Sie darauf, dass sie nicht hinter ihnen zufällt, wenn Sie in der Kirche sind, denn dann klemmt sie oft, und man bekommt sie gar nicht mehr auf. Ich bin bald zurück, und dann können wir das Organisatorische besprechen, ja?«

Neil nickte, war sich dabei aber nicht ganz sicher, mit welchem Teil der Flut von Worten er sich einverstanden erklärt hatte.

Margaret war ohnehin nicht mehr im Raum.

»Frank! Frank, ich mache mich jetzt auf den Weg! Wo sind denn jetzt die Lautsprecher? Ach, da stehen sie ja.«

Zu seiner Überraschung hörte Neil ein schmatzendes Kussgeräusch, gefolgt von einer Flut weiterer Instruktionen:

»Denk bitte daran, die Koteletts aus der Kühltruhe zu nehmen, und vergiss nicht, dass du deinen Zahnarzttermin von Freitag verschieben musst. Ach ja, und heute muss der Gelbe-Sack-Müll rausgestellt werden. Tschüss, mein Lieber, tschüss!«

Ein Luftzug war zu spüren, als die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde – und weg war sie.

»So«, sagte Frank, als er wieder in die Küche kam. »Jetzt haben wir ja beide unseren Marschbefehl. Die Kirche ist in die Richtung. Bis zum Ende des Gartens, durchs Tor, geradeaus ein kleines Stück die Straße hoch – und dann sind Sie auch schon da!«

Dieses Mal konnte Neil es wirklich nicht verfehlen. Schon in dem Augenblick, als er durch das Gartentor trat, sah er St. Stephen's vor sich aufragen. Er atmete einmal tief durch. Schon als kleiner Junge hatte er alte Bauwerke geliebt, ganz besonders Kirchen. Das lag wahrscheinlich daran, dass diese auch eine Leidenschaft seines Vaters gewesen waren. Besonders hatte es ihm immer gefallen, eine Kirche zu entdecken, die er noch nie besichtigt hatte. Wie »aufgeschlagene Geschichtenbücher« seien alte Kirchen, hatte sein Vater immer gesagt, und Neil erinnerte sich an die vielen glücklichen Stunden, in denen sie zu zweit erst um eine alte Kirche herumgelaufen waren, um sie von außen zu betrachten, und dann das Innere besichtigt und eine normannische Steinmetzarbeit hier und dort einen gotischen Bogen entdeckt hatten. An Wandverzierungen, im Taufbecken oder sogar ganz oben an Säulen hatten sie die persönlichen Zeichen der Steinmetze eingeritzt gefunden – Gesichter, die wahrscheinlich frappierende Ähnlichkeit hatten mit denen mancher Gemeindeglieder zur Zeit der Künstler. Sie hatten Türme mit Glocken besichtigt, die seit unzähligen Generationen jeden Sonntag läuteten (außer während des Zweiten Weltkrieges, wie ihm sein Vater erklärt hatte); sie hatten Wandteppiche gesehen und mittelalterliche Gemälde, auf denen biblische Geschichten dargestellt waren für die Menschen, die weder lesen noch schreiben konnten, und oft hatten sie sogar Schwalben gesehen, die seit Urzeiten unter den Dachüberständen nisteten.

Der kleine Neil hatte seinem Vater wie gebannt zugehört, hatte sich die Steinmetze bei der Arbeit vorgestellt und die Gläubigen in alten Zeiten, und staunend hatte er die gewaltigen Glocken betrachtet. Dem kleinen Jungen damals war es so vorgekommen, als ob sein Vater die Geschichte jeder Kirche wie aus einem Buch vorlesen konnte. Er kannte große und kleine Einzelheiten, die so viel über die Menschen aussagten, die vor ihnen dieses Gebäude gekannt hatten.

»Wenn diese Wände sprechen könnten …«

Neil hatte immer noch genau vor Augen, wie der Gesichtsausdruck seines Vaters ganz weich wurde, wenn er das sagte.

»… sie sind durchtränkt mit alldem, was hier drinnen passiert ist. Deshalb haben alte Kirchen eine so wunderbare Atmosphäre. Sie haben so viel gesehen, so viele Gefühle miterlebt, all die Sorgen, Hoffnungen, Freuden und den Kummer der Menschen, die im Laufe der Jahre hier zusammengekommen sind – diese Wände haben das alles aufgesogen. Die könnten vielleicht Geschichten erzählen …«

Neil merkte, wie er bei diesen Gedanken langsamer wurde. Sein Vater war mittlerweile schon seit fünfzehn Jahren tot, aber er vermisste ihn immer noch. Die letzte Krankheit hatte ihm die Lebensfreude und auch die Würde genommen. Jetzt hatte er seine Ruhe, dachte Neil mit einem schiefen Lächeln – zumindest Ruhe vor der scharfen Zunge seiner Frau!

Es hieß oft, Neil sähe seinem Vater so ähnlich, und diese Ähnlichkeit erkannte er auch selbst, allerdings nur bei dem drahtigen Haar, das er von seinem Vater geerbt hatte. Er trug es allerdings im Unterschied zu seinem Vater kurz geschnitten, sodass man kaum sah, wie lockig es eigentlich war. Vater und Sohn hatten außerdem das gleiche, etwas schiefe Grinsen gehabt, wenn sie lachten, was oft der Fall gewesen war, denn sie hatten auch einen ganz ähnlichen Humor. Doch darüber hinaus konnte Neil wenig Ähnlichkeit mit seinem Vater erkennen. Seine breiten Schultern und die etwas gedrungene Figur hatte er eher von der Seite seiner Mutter. Ihre Brüder waren alle erfolgreiche Rugbyspieler gewesen, was sie gern bei jeder passenden – und auch unpassenden – Gelegenheit erzählte. Von seiner Statur her wäre auch Neil ein perfekter Gedrängehalbspieler gewesen, aber schon allein der Gedanke, auch nur in die Nähe eines Knäuels von Angriffsspielern zu geraten, war für ihn ein Alptraum.

Der Friedhof war richtig schön. Es war vielleicht etwas seltsam, das über einen Friedhof zu denken, aber er hatte Friedhöfe schon immer faszinierend gefunden, besonders weil er als Kind stundenlang über sie geschlendert war und die Inschriften auf den Grabsteinen gelesen hatte. Neil warf auch jetzt einen kurzen Blick auf die Steine, die direkt am Weg standen, und nahm dabei vage wahr, dass die Kirchturmuhr gerade zwölf Uhr schlug, als er den gotischen Bogen des Eingangsportals erreichte. Trotz Margarets Vorwarnung war das Portal ganz leicht zu öffnen. Neil brauchte nur leicht am Knauf zu drehen, und es ließ sich mühelos aufdrücken, sodass er die Kirche betreten konnte.

Nachdem er einen Augenblick stehen geblieben war, um das Wesen des Gebäudes tief in sich aufzunehmen, ging er an der hintersten Kirchenbank entlang und bog dann in den Mittelgang. Erst da merkte er, wie warm es draußen in der Spätfrühlingssonne gewesen war. Im Innern der Kirche war es still und kühl, eine Oase der Ruhe, die aber das emsige Treiben der Stadt mit ihrem Marktplatz nicht vollständig aussperrte. Er konnte immer noch den Verkehrslärm hören, Kinderstimmen aus der nahegelegenen Schule und sogar leises Vogelgezwitscher, aber es fühlte sich an, als wäre eine Decke über das Gebäude gebreitet, die alle Geräusche dämpfte, sodass sie weit weg schienen.

Würde diese Kirche sein geistliches Zuhause werden können? Das überlegte er, als er nach vorn zum Altarraum ging und dabei das große geschnitzte hölzerne Kreuz über dem Altar im Blick hatte.

War das hier das Richtige? Würde er dieser Gemeinde etwas zu geben haben? Würde das, was er als Vikar einbringen konnte, die Gemeinde positiv verändern? Würde er hier glücklich werden und ein erfülltes Leben führen können?

Plötzlich spürte er, wie einen Seufzer, einen kalten Luftzug im Rücken – und im selben Moment schlug durch eben diesen Luftzug die schwere Kirchentür zu und machte dem Frieden ein Ende. Das Echo hallte durch das gesamte alte Gemäuer bis hoch hinauf in die Dachsparren.

***

Frank ging sofort nach dem ersten Läuten an den Apparat.

»Ach Frank, mein Lieber, bin ich froh, dass ich dich erreiche!« Margaret wartete gar nicht erst, bis ihr Mann sich gemeldet hatte, sondern redete sofort drauflos:

»Diese Wellensittichgeschichte erweist sich doch als ein bisschen komplizierter, als ich gedacht habe. Violet lebt in einer Wohnanlage für betreutes Wohnen, die, wie du ja weißt, von einem kommunalen Träger betrieben wird. Violet möchte ihren Wellensittich gern in ihrer Nähe begraben haben, also irgendwo im Park der Anlage, aber irgend so ein Paragraphenreiter sagt, dass wir eine schriftliche Genehmigung brauchen, wenn der Wellensittich auf kommunalem Grund und Boden begraben werden soll. Das ist doch nicht zu fassen, oder? Jedenfalls ist Violet völlig mit ihrer Trauer beschäftigt, und ihre Tochter droht damit, die Presse einzuschalten. Ich muss also noch ein bisschen hierbleiben, um die Wogen zu glätten.«

»Und vielleicht ja sogar noch, um Weihwasser auf kommunalen Grund und Boden zu sprenkeln!«, gluckste Frank. »Ach, du Ärmste. Aber wenn irgendjemand das geregelt bekommt, dann du.«

»Es geht nur darum, dass Neil, der neue Vikar – also hoffentlich unser neuer Vikar, wenn ich ihn überzeugen kann, zu uns zu kommen – sich ja fragen muss, wieso ich ausgerechnet heute so viel zu tun habe, wo ich doch gewusst habe, dass er extra den ganzen weiten Weg herkommt …«

»Na ja, dann bekommt er wenigstens gleich eine Vorstellung davon, wie viel hier zu tun ist und wie dringend er gebraucht wird, oder?«, antwortete Frank.

»Könntest du es ihm vielleicht erklären und ihn um Verständnis bitten? Sag ihm, er kann ja inzwischen schon mal einen Blick auf die Protokolle der letzten Kirchenvorstandssitzungen werfen. Und dann ruf Peter an und sag ihm, er soll vorbeikommen und Neil erzählen, wie aktiv der Kirchenvorstand von St. Stephen's ist.«

»Aber er ist gar nicht hier, Margaret«, sagte Frank ein wenig ratlos. »Er ist gegen zwölf rüber in die Kirche gegangen, wie du vorgeschlagen hast. Ich bin eine ganze Weile weg gewesen, aber ich glaube nicht, dass er noch einmal vorbeigekommen ist. Ich bin zur Sicherheit sogar noch einmal zur Kirche gegangen, um nachzuschauen, ob er vielleicht noch dort ist, hab reingeschaut und ihn ein paar Mal gerufen, aber da war keine Spur von ihm. Ich glaube, er ist wieder nach Hause gefahren.«

»Das ist aber merkwürdig! Sein Brief klang so, als hätte er wirklich Interesse an der Stelle. Na ja, wahrscheinlich hat er einen Blick auf die Kirche geworfen – und auf uns – und ist dann zu dem Schluss gekommen, dass es nichts für ihn ist!«

»Sein Pech.«

»Ja, absolut.«

»Trotzdem merkwürdig.«

»Ja, wirklich.«

»Also gut, ich muss jetzt hier weitermachen. Viel Glück mit dem Wellensittich, Liebes.«

»Ach, mit dem Wellensittich werde ich schon fertig. Das Schwierigste sind die Offiziellen von der Kommunalverwaltung. Die muss man wirklich mit Samthandschuhen anfassen.«

»Sie kennen dich noch nicht, oder? Mit denen wirst du schon fertig.«

Frank konnte praktisch durchs Telefon hören, wie sie am anderen Ende der Leitung lächelte.

»Ich komme, so bald ich kann. Tschüss, mein Lieber.«

Und dann war die Leitung tot.

***

Die größte Erleichterung war, dass er eine Toilette gefunden hatte. Es waren drei Stunden vergangen, seit das Eingangsportal zugeschlagen und er eingesperrt war. Obwohl er gerufen, dagegen getreten und gebetet hatte, gab die gewaltige alte Tür nicht nach, und er saß hier fest. Am schlimmsten von allem war der Augenblick etwa fünf Minuten nach dem Zufallen der Tür gewesen, als er gemerkt hatte, dass sein Aktenkoffer immer noch hinter dem Hocker in Margarets Küche stand, auf dem er von Kater Archie in Schach gehalten worden war. Darin befand sich nämlich sein Handy, und ohne Handy hatte er keine Chance, sich bemerkbar zu machen.

Einen kurzen, hoffnungsvollen Moment lang hatte er geglaubt, jemanden an der Tür gehört zu haben, aber genau zu dem Zeitpunkt war er in der Sakristei gewesen und hatte sich dort die Papiere auf dem Schreibtisch und die Bücher in den Regalen angeschaut, um sich die Zeit zu vertreiben. Er hatte gerade ein Gesangbuch aufgeschlagen in der Hoffnung, dass vielleicht eine Strophe von »Großer Gott wir loben dich« seine Stimmung ein bisschen heben würde, da war ihm gewesen, als hätte er etwas gehört – vielleicht Schritte; und war da nicht auch eine Stimme gewesen, die seinen Namen gerufen hatte? Er war ins Hauptschiff gerannt und den Mittelgang entlang nach hinten zur Eingangstür, hatte gerufen, so laut er konnte, und dann so fest er konnte mit den Fäusten gegen die schwere alte Tür gehämmert, die ihn gefangen hielt und sich keinen Millimeter bewegte – aber nichts. Keine erleichterte Stimme von draußen, niemand, der die Tür geöffnet hätte. Gar nichts!

Vor lauter Frust ganz erschöpft, war Neil zurück Richtung Altarraum gewankt und hatte sich an das alte steinerne Taufbecken gelehnt. Wie konnte es sein, dass sie ihn gar nicht vermissten? Wo war Margaret? Wunderte sich Frank denn gar nicht, dass er noch nicht wieder zurück war?

Was hatte Margaret noch gleich über die Tür gesagt? Dass sie klemmte? Dass sie nur schwer wieder aufzubekommen war? Neil ließ sich in die hinterste Bankreihe fallen, entnervt und erschöpft von einem weiteren erfolglosen Versuch, die Tür durch Zerren, Betteln, Drücken und sogar Treten aufzubekommen. Sie gab keinen Millimeter nach.

Er schlug die Hände vors Gesicht, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und verstand einfach nicht, wieso niemand kam und nach ihm suchte. Konnten das Margaret oder Frank gewesen sein, die er vorhin zu hören geglaubt hatte? Dachten sie vielleicht, dass er einfach wieder abgefahren war, ohne sich auch nur zu verabschieden? Sie mussten doch seinen Aktenkoffer in der Küche entdeckt haben. Ihm kam der Anblick der Küche wieder in den Sinn mit all den Stapeln und Haufen von Sachen auf jeder nur denkbar freien Fläche. Er hatte seinen Aktenkoffer hinter den Hocker gestellt, auf dem er gesessen hatte. Ob sie ihn dort überhaupt entdecken würden? Doch – sie würden ihn sicher finden! Allerdings fragte er sich auch mit leicht gerunzelter Stirn, ob sie in dem Durcheinander dort überhaupt jemals etwas fanden.

Aber da war ja auch noch sein Wagen! Er stöhnte laut auf, als ihm klar wurde, dass er den ja ein Stück weiter die Straße hinauf geparkt hatte, um nicht die Einfahrt zum Pfarrhaus zu blockieren. Margaret und Frank wussten also gar nicht, dass der Wagen, der dort abgestellt war, ihm gehörte, und deshalb würde er ihnen wahrscheinlich auch nicht weiter auffallen.

Wann wohl die Kirche das nächste Mal wieder für eine Veranstaltung geöffnet werden würde? Vielleicht zur Abendandacht? Allerdings fielen in kleinen Gemeinden wie dieser mit nur einem hauptamtlichen Pfarrer die Andachten auch oft aus, weil der Pfarrer zu den festgesetzten Zeiten andere Termine hatte. Margaret war an diesem Tag den ganzen Nachmittag mit der Beerdigung des Wellensittichs beschäftigt. Wie lange es wohl dauern würde? Ob sie heute wohl noch Zeit für die Abendandacht haben würde?

Plötzlich bemerkte Neil ein tiefes, grummelndes Geräusch, das bei genauerem Hinhören von seinem Magen kam. Er war kein Mensch, der einfach Mahlzeiten auslassen konnte, ohne es zu merken. Sehnsuchtsvoll erinnerte er sich an das gekochte Ei und den Toast, die er morgens um acht verzehrt hatte. Als er jetzt auf seine Uhr schaute, stellte er fest, dass er mittlerweile seit beinah vier Stunden in der Kirche festsaß. Kein Wunder, dass sich sein Magen beschwerte. Er brauchte etwas zu essen, und zwar sofort! Wie ein Fuchs auf nächtlichem Beutezug beschloss Neil, jeden Winkel der Kirche nach etwas Essbarem abzusuchen. Es musste hier doch irgendwo ein paar Kekse geben! Schließlich wurden in jeder Gemeinde nach dem Gottesdienst Tee und Plätzchen angeboten!

Und so machte er sich wieder auf den Weg zur Sakristei – ein Mann mit einer Mission.

***

Es war schon nach sechs, als Frank Margarets Schlüssel im Schloss hörte.

»Melde Vollzug«, sagte sie grinsend. »Poppet hat doch noch einen sehr schönen stillen Abschied und ein würdevolles Begräbnis bekommen. Wir haben in Violets Wohnung ›Geh aus mein Herz … ‹ gesungen, und ich habe ein paar Worte gesagt, dann sind wir schnell nach unten in den Park geflitzt und haben den Frevel begangen, als der Verwaltungsmensch Feierabend hatte und uns deshalb nicht dabei sehen konnte.«

»Gut gemacht, meine Liebe. Ich wusste doch, dass dir etwas einfallen würde.«

»Immer noch kein Lebenszeichen von Neil?«

»Nein, nichts.«

»Merkwürdig.«

»Ja, das finde ich auch.«

»Kommt dieser verführerische Duft von den Koteletts?«

»Mit Backäpfeln, genauso, wie du sie magst.«

»Und mit Bratkartoffeln?«

»Womit denn sonst?«

»Ich bin am Verhungern! Gib mir fünf Minuten, um mich ein bisschen zu sammeln, dann komme ich und decke den Tisch.«

»Wie wäre es denn mit dem ganz besonderen Vergnügen, auf dem Sofa vor dem Fernseher zu essen?«, schlug Frank vor. »Dann können wir dabei die Nachrichten schauen.«

»Perfekt«, stimmte Margaret zu und war schon unterwegs nach oben.

Ein paar Minuten später kam sie wieder in die Küche, wo Frank gerade ein letztes Mal die Soße abschmeckte und umrührte. Beim Duft der Äpfel und Koteletts, die Frank auf zwei Tellern anrichtete, lief Margaret das Wasser im Mund zusammen, aber als sie nach den Tabletts griff, die auf dem Fußboden neben der Kommode standen, hielt sie plötzlich verblüfft inne und sagte: »Sieh doch mal, Frank!«

Als er tat, was sie sagte, wurden seine Augen ganz groß vor Schreck.

»Neils Aktenkoffer! Er hat ihn hiergelassen!«

»Aber warum ist er nicht noch einmal hergekommen, um ihn zu holen?«, fragte Margaret.

»Vielleicht hat er es einfach vergessen.«

Ein paar Sekunden lang starrten sie einander nur an und hatten dabei offenbar den gleichen Gedanken.

»Oder«, sagte Margaret langsam, »er ist noch gar nicht weg.«

»Aber in der Kirche kann er nicht sein … da war ich nämlich. Ich habe gerufen, und es kam keine Antwort.«

»Hast du denn auch in der Sakristei nachgesehen?«

»Nein, was hätte er denn da zu suchen gehabt?«

»Na, vielleicht ist ihm kalt geworden oder langweilig, oder er musste zur Toilette. Er kann aber nicht mehr in der Kirche sein, Frank, oder?«

»Diese vermaledeite Tür!«

Und mit diesen Worten stürzten sie gleichzeitig aus der Küche und den Gartenweg hinunter. Als sie über den Friedhof zur Kirche rannten, entdeckte Frank das Licht.

»Das habe ich ganz sicher nicht angelassen!«, rief Margaret. »Das muss er angemacht haben.«

Innerhalb von Sekunden waren sie an dem großen Portal, und Frank griff nach dem Eisenring, mit dem der Riegel der uralten Tür geöffnet wurde. Seltsamerweise funktionierte das von außen tadellos, aber von innen musste man genau den richtigen Dreh heraushaben. Warum um Himmels willen hatte sie Neil das nicht besser erklärt?

Sie stürzten praktisch gleichzeitig durch das alte Portal in die Kirche, aber ihr Rufen traf auf absolute Stille. Neil war nirgends zu sehen. Es brannte zwar ein kleines Licht, aber die Kirche war leer.

»Vielleicht ist er ja in der Sakristei«, meinte Frank. »Ich geh und schau nach.«

»Frank«, sagte Margaret jetzt nur noch flüsternd. »Was ist das für ein Geräusch?«

Frank blieb stehen, legte den Kopf ein bisschen schräg und horchte intensiv.

»Was auch immer es ist, es kommt von irgendwo hier drinnen«, sagte Frank und schaute sich im Kirchenschiff um. »Ich glaube, von da vorne.«

»Sei vorsichtig, Schatz. Vielleicht ist er es ja gar nicht.«

Frank legte seinen Zeigefinger auf die Lippen als Zeichen, dass sie sich ruhig verhalten sollte, ging dann auf Zehenspitzen den Mittelgang entlang nach vorne und blieb abrupt stehen, als er auf Höhe der zweiten Bankreihe angelangt war. Schweigend bewegte er sich daran entlang und beugte sich irgendwann vor, um auf die Sitzfläche vor sich zu schauen.

Dann drehte er sich zu ihr um und sagte lächelnd: »Komm mal her und schau dir das an!«

Was sie sah, als sie kurz darauf neben ihm stand, brachte auch sie zum Lächeln, denn sie schauten hinunter auf den friedlich schlummernden Neil, der lang ausgestreckt auf der Bank lag, den Kopf auf einen Betschemel gebettet, und mit halb offenem Mund laut schnarchte. Auf dem Fußboden unter ihm lag eine offene Schachtel mit Abendmahlsoblaten – oder jedenfalls dem, was davon noch übrig war – und auch den Abendmahlswein hatte er anscheinend gefunden denn der Silberkelch, den sie im Sonntagsgottesdienst benutzten, und in dem nur noch ein letzter kleiner Schluck eben den Boden bedeckte, stand neben seinem herunterbaumelnden Arm.

»Verhungert ist er jedenfalls nicht«, sagte Frank. »Das ist ja schon mal beruhigend.«

Beim Geräusch ihrer Stimmen öffnete Neil ruckartig die Augen, und für einen kurzen Moment war deutlich zu merken, dass er nicht mehr wusste, wo er war.

»Also dann«, sagte Margaret in ihrem nüchternen Ton, den er später noch so gut kennenlernen sollte. »Es gibt Schweinekoteletts zum Abendessen. Kommen Sie?«

ZWEI

»Ich bin schließlich deine Mutter, Neil. Ich weiß das!«

Durch den Bluetooth-Ohrhörer, den Neil während der Fahrt benutzte, war Iris Fishers Stimme nicht ganz so penetrant. Er war trotzdem versucht, zusätzlich die Lautstärke herunterzudrehen, aber jahrelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass, wenn er auch nur eine einzige, scheinbar noch so unwichtige Einzelheit aus den täglichen Monologen seiner Mutter verpasste, sie noch monatelang darauf herumhacken würde, wenn sie es merkte.

»Du bist immer so voreilig.« Sie war jetzt richtig in Fahrt. »Nie lässt du dir die Zeit, deine Alternativen zu bedenken – und du siehst ja, wohin das dieses Mal geführt hat! Wer hat denn schon jemals von einem entlegenen Kaff namens Dumbridge gehört?«

»Es heißt Dunbridge, Mutter, und es ist ganz und gar nicht entlegen, sondern nur anderthalb Kilometer von der A1 entfernt und deshalb auch gut ausgeschildert.«

»An der Straße nach jwd, und das ist genau die Straße, auf der du auch gerade unterwegs bist. Also ehrlich, Neil, werd' endlich erwachsen. Ein Posten als Vikar in einem Ort, den kein Mensch kennt …?«

»Vielleicht kennst du ihn nicht, aber es gibt viele, die ihn sehr wohl kennen – zum Beispiel die sechstausend Menschen, die dort wohnen.«

»Was kann denn das schon für eine Gemeinde sein in einem so entlegenen Nest? Wie willst du es da jemals schaffen, an höherer Stelle auf dich aufmerksam zu machen? Hast du denn gar keinen Ehrgeiz weiterzukommen? Wenn du in so einem Provinznest anfängst, dann bleibst du da hängen, lass dir das von mir gesagt sein!«

Neils Fingerknöchel waren schon ganz weiß, so fest umklammerte er das Lenkrad, und er merkte, wie er ganz langsam und lange ausatmete. Iris dagegen holte anscheinend überhaupt nicht Luft.

»Und noch etwas. Meinst du, das hätte sich dein Vater für dich vorgestellt? Hast du daran schon mal gedacht? Er war ein Mann mit Format und hatte etwas erreicht, als er in den Ruhestand ging – Seniorpartner bei Hewitt, Manley und Fisher war er. Was würde er wohl davon halten, wenn sein einziger Sohn sich sämtliche Chancen verbaut, um ausgerechnet Pfarrer zu werden?«

»Also ich glaube, es hätte ihm ganz gut gefallen …«

»Die Vorstellung, dass sein Sohn – in welcher Form auch immer – unter seinen Möglichkeiten bleibt, hätte ihm ganz und gar nicht gefallen. Und dabei hättest du dich für so vielversprechende, viel eindrucksvollere Berufe entscheiden können, Neil. Berufe, in denen du Karriere machen könntest und die deiner würdig wären, und deines Vaters – und meiner.«

»Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, Mutter, und ich kann mir schon ganz gut selbst Gedanken machen …«

»Dann tu das doch gefälligst auch mal, Neil! Sieh endlich ein, dass diese Schnapsidee, Pfarrer zu werden, ja vielleicht ganz lustig ist, aber unsinnig – und der Gedanke, dass du in irgendeinem Provinznest namens Dumbridge versauerst, ist doch lächerlich.«

»Es heißt Dunbridge, Mutter – und außerdem ist die Entscheidung schon gefallen. Ich sitze in meinem vollgepackten Wagen und bin schon fast da. In ein paar Minuten bin ich bei meinem neuen Haus.«

»Dann halt an, Neil, halte sofort an! Kehr um, komm nach Hause und lass mich eine schöne Stelle als Steuerberater für dich organisieren. Das hätte sich auch dein Vater gewünscht.«

»Entschuldige, Mutter, aber die Verbindung ist gerade ganz schlecht. Ich rufe dich morgen wieder an.«

Eine kleine Notlüge, ein schnelles Gebet um Vergebung, und Neil schaltete mit einem Seufzer der Verzweiflung sein Handy ab. Das Gespräch – so man es denn überhaupt so bezeichnen konnte – das er gerade mit seiner Mutter geführt hatte, war wie eine Endlosschleife, die sie unablässig spielte seit dem Moment vor vier Jahren, als er ihr zum ersten Mal von seinem Entschluss erzählt hatte, seiner Berufung zu folgen und Pfarrer zu werden. Trotz des eindringlichen, tränenreichen, manchmal boshaften und oft herzerweichenden Widerstandes seiner Mutter hatte er sich für die Ausbildung zum Gemeindepfarrer entschieden und sich nach dem Studium um eine Vikarstelle beworben. Doch sie hatte trotzdem weiter so heftig argumentiert, gezetert, gebettelt und geschluchzt – dass es ihr körperlich wirklich sehr zusetzte und sie Neil versicherte, dass es auf jeden Fall seine Schuld sei, wenn sie stürbe (was, wie sie behauptete, unmittelbar bevorstand). Doch er war standhaft geblieben – und sie am Leben. Er brachte Bewerbungsgespräch um Bewerbungsgespräch hinter sich bis zu dem wundervollen Tag, an dem er die Nachricht bekommen hatte, dass er für die praktische Ausbildung in der Gemeinde angenommen worden sei. Er war begeistert und überwältigt von dem Gefühl, jetzt endlich seiner Bestimmung gerecht zu werden. Seine Mutter war untröstlich gewesen und hatte dann beschlossen, die Schweigestrategie zum Einsatz zu bringen, und zwar drei volle Tage lang – was Neil allerdings, ehrlich gesagt, wie ein Gottesgeschenk vorgekommen war. Er wusste, dass er seiner Berufung folgen und bei seinem Entschluss bleiben musste, und deshalb konnte ihn auch ihr geballter Widerstand nicht aufhalten.

Ja, und da saß er jetzt also in seinem bis zum Dach vollgepackten Wagen, und St. Stephen's schaute von der Stirnseite des Marktplatzes auf ihn herab. Seine Stimmung verbesserte sich zusehends, und er hielt kurz an, um die Kulisse vor sich ganz bewusst aufzunehmen. Wahrscheinlich hatte sich der Charakter dieses Platzes seit Jahrhunderten nicht wesentlich verändert. Es gab zwar an den Straßen um den Marktplatz moderne Läden mit den bekannten Logos, die es in den Hauptstraßen der Städte im ganzen Land gab, aber sie befanden sich zwischen eher traditionellen Geschäften, die aussahen, als befänden sie sich schon seit Generationen dort. Es gab auf der einen Seite des Marktplatzes eine Pferdetränke und auf der anderen eine Postkutschenstation – beides erinnerte an Zeiten, als die Menschen noch mit Pferdekutschen und nicht mit Autos unterwegs waren. Bei seiner Ankunft herrschte emsiges Treiben auf dem Marktplatz, und viele Menschen saßen an Tischen in der Mitte des Platzes im Freien und tranken Kaffee. Alles kam ihm so gesetzt und behaglich vor, und er spürte instinktiv, dass er sich hier zu Hause fühlen würde. Mit diesem Gefühl startete er seinen Wagen wieder, fuhr weiter am Marktplatz entlang hinauf zur Kirche und bog dann rechts ab, wo er das Anwesen fand, das künftig sein Zuhause sein würde. Seine Adresse war Pfarrgarten 96. Wie passend für einen frisch gebackenen Vikar.

Von dem Haus hatte er noch an jenem schönen Abend erfahren, den er nach dem peinlichen »Kirchentürzwischenfall« schließlich doch noch bei Schweinekoteletts und Bratkartoffeln mit Margaret und Frank verbracht hatte. Eine Woche später hatten Margaret und er sich dann noch einmal für einen Tag getroffen, um alle möglichen Details seiner Arbeit zu klären, zum Beispiel, wo genau er wohnen würde, welche Aufgaben er übernehmen sollte und wie seine weitere Ausbildung organisiert sein würde. Sein Kopf war so voll gewesen mit Fakten, Namen, Terminen und Orten, dass selbst die Notizen, die er sich gemacht hatte, ein einziges Durcheinander gewesen waren. Es gab so viel zu erfahren, zu bedenken und sich zu merken. Doch immer eins nach dem anderen! Zum x-ten Mal griff er jetzt in seine Tasche, um sich zu vergewissern, dass der Schlüssel noch da war, den er ein paar Tage zuvor mit der Post bekommen hatte. Er hatte in einem Briefumschlag gesteckt, zusammen mit einer Karte, die unterschrieben war mit »Peter Fellowes, 1. Vorsitzender des Kirchenvorstandes«. So weit, so gut!

Als er in den Pfarrgarten einbog, war er vom ersten Eindruck der Nummer 96 angenehm überrascht. Es war ein relativ neues, frei stehendes Haus, vermutlich aus den 80er Jahren, schätzte er, denn dem mit Sträuchern und Bäumen bepflanzten Garten um das Haus herum war anzusehen, dass er nicht frisch angelegt war. Über dem großen Erkerfenster an der Frontseite des Hauses befanden sich im Obergeschoss zwei weitere Fenster, die vermutlich zu den Schlafzimmern gehörten. Neil musste plötzlich lächeln, als er feststellte, dass die Haustür in einem dunklen Purpur gestrichen war, fast exakt dem Farbton einer Bischofsrobe. Das würde seiner Mutter mit Sicherheit gefallen. Sie würde es als Zeichen werten, dass ihrem einzigen Sohn noch Großes bevorstand.

Die Straße vor dem Haus war ziemlich schmal, und weil er wusste, dass er einiges aus dem Wagen auszuladen hatte, parkte Neil auf dem Grünstreifen direkt vor dem Haus. Doch zunächst einmal lud er noch nichts aus, sondern stieg aus und ging durch den Garten zur Haustür.

Diesen Moment muss ich richtig auskosten, dachte er. Das hier ist ein bedeutendes Ereignis.

»Hallo, Sie da, ist das Ihr Auto?«

Neil drehte sich um und sah einen alten Mann in Hausschuhen vor der Haustür des Nachbarhauses, der ihn wütend anstarrte. Überrascht und erschrocken über die feindselige Haltung des Mannes erinnerte er sich rasch an das Gebot »Liebe deinen Nächsten«, bevor er sein nettestes Lächeln aufsetzte, auf den Zaun zwischen den beiden Grundstücken zuging und seine Hand ausstreckte, um den neuen Nachbarn zu begrüßen.

»Freut mich, Sie kennenzulernen!«, sagte Neil. »Ich bin Ihr neuer Nachbar. Gut, dass wir uns so schnell kennenlernen. Ich bin Vikar Neil …«

»Es ist mir schnurzegal, wer Sie sind!«, sagte der Mann. »Sie können jedenfalls den Wagen da nicht stehen lassen, also weg damit!«

Ein bisschen verunsichert warf Neil einen Blick auf das angeblich falsch abgestellte Fahrzeug und sagte dann: »Ich parke den Wagen woanders, so schnell es geht, aber ich muss erst noch ein paar schwere Sachen …«

»Sofort! Sofort weg damit! Sie ruinieren ja den ganzen Grünstreifen!«

»Ach ja?«, stotterte Neil. »Na ja, wenn das so ist, können Sie mir ja vielleicht sagen, wo mein Parkplatz ist.«

»Sie haben keinen!«

Neil schaute auf der ziemlich ruhigen und leeren Straße erst nach rechts und dann nach links und wandte sich dann wieder an den Mann.

»Anscheinend gibt es ja genügend Parkplätze. Deshalb bin ich davon ausgegangen, dass der freie Platz vor meinem Haus auch mein Parkplatz ist.«

»Nein, das ist meiner.«

»Gut«, entgegnete Neil mit einem Nicken, war allerdings immer noch ein bisschen irritiert beim Anblick des alten Volvos, der in der Nähe parkte. »Und wem gehört dann das Auto dort vor Ihrem Haus?«

»Das ist auch meins.«

»Dann haben Sie also zwei Parkplätze?«

»Nein, ich habe einen Parkplatz – und den Grünstreifen.«

»Auf dem Sie ebenfalls parken …?«

»Nein!«, kam umgehend die verächtliche Antwort. »Nur Idioten parken auf Grünstreifen!«

»Ach so, dann kümmern Sie sich also um den Grünstreifen vor dem Haus?«

»Ich kümmere mich um diesen hier und den da und um die die ganze Straße hinunter.« Dabei gestikulierte der Mann wild mit den Armen, um all die Grünstreifen beiderseits der Straße zu erfassen. »Die Straße heißt schließlich Pfarrgarten und nicht Pfarrparkplatz! In Gärten wächst Grün, und ein Grünstreifen ist kein Parkplatz. So, und jetzt machen Sie schon! Wirdś bald?«

»Tja, hmmm …« Neil sah sich um und überlegte ein bisschen beklommen, wo er jetzt seinen Wagen abstellen sollte, ohne für Ärger zu sorgen, aber auch so nah an seiner neuen Bleibe, dass er seine etwas schwereren Habseligkeiten ohne allzu viel Mühe aus dem Wagen ins Haus tragen konnte.

»Alf!«, war eine Frauenstimme durch die offene Haustür des Nachbarhauses bis hinaus in den Garten zu hören. »Sie machen doch nicht etwa dem neuen Vikar schon jetzt das Leben schwer, oder?«

Eine zierliche Frau mittleren Alters tauchte in der Haustür auf und kam dann zügig auf die beiden Männer zu.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich muss mich wirklich entschuldigen. Was für eine schreckliche Begrüßung für Sie!«

»Ach, das macht doch nichts«, antwortete Neil erleichtert. »Ich bin Neil Fisher, der neue Vikar.«

»Und ich bin Maureen Allen, Alfs Betreuerin vom Pflegedienst. Ich komme zwei Mal am Tag, um ihn zu versorgen – aber er ist mir entwischt, als ich ganz kurz nicht aufgepasst habe. Ich hoffe, er hat Sie nicht schon herumkommandiert, bevor sie auch nur Ihre Haustür aufgeschlossen haben.«

»Ach nein! Er hat mir nur ein paar hilfreiche Tipps gegeben.«

Maureens Stimme war streng, als sie sich an den alten Herrn wandte und sagte:

»Sie haben sich mal wieder als Herr über die Grünstreifen aufgespielt, stimmtś, Alf?«

Alfs Miene nahm einen Ausdruck kummervollen Ärgers an.

»So, und jetzt kommen Sie wieder ins Haus, Sie verrückter alter Knabe. Ich habe Ihnen Ihren Tee gemacht – und wie wäre es mit einem Stück von Ihrem Lieblingskuchen dazu?«

Diesem Vorschlag konnte Alf allem Anschein nach denn doch nicht widerstehen, denn er machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück ins Haus.

»Und was ist mit Ihnen, Herr Pfarrer? Möchten Sie vielleicht auch einen Tee und ein Stück Kuchen?«

»Vielen Dank, das ist sehr freundlich, aber jetzt lieber nicht«, antwortete Neil lächelnd. »Bleibt allerdings immer noch die Frage, wo ich meinen Wagen abstellen kann.«

»Genau da, wo er jetzt steht. Ignorieren Sie ihn einfach. Tschüss, Herr Pfarrer.«

Und mit diesen Worten verschwand Maureen wieder im Haus und schloss die Tür von innen. Neil setzte den kurzen Weg zu seiner eigenen Haustür fort, und mit einem Gefühl tiefer Befriedigung darüber, etwas geleistet zu haben, steckte er den Schlüssel ins Schloss der Tür zu seinem neuen Zuhause und zu einem ganz neuen Leben.

Was ihm als Erstes auffiel, war der helle Flur, in den durch ein Seitenfenster auf halber Höhe der Treppe Sonnenlicht fiel. Das Haus roch nach frischer Farbe und Putzmittel mit Zitronenduft. Hier war seinetwegen eindeutig schwer geschuftet worden, eine Vorstellung, die ihn rührte und ihm das Gefühl gab, wirklich willkommen zu sein.