Sabine Purfürst

Martinas Geschichte

Biografie eines adoptierten Lebens

Roman

Impressum

Umschlagsidee: Sabine Purfürst

Umschlaggestaltung: Harald Rockstuhl, Bad Langensalza

Titelbild: Katrin Hollandt

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-86777-874-9

Satz: Sabine Purfürst

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaber: Harald Rockstuhl

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Dies ist die Geschichte der Martina Montag.

Es ist nicht die Lebensgeschichte der Autorin.

Alle Namen sind frei erfunden und eine Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Menschen ist ungewollt und zufällig.

Aber die Erinnerungen beruhen auf wahren Begebenheiten.

Sabine Purfürst

1. KAPITEL: DIE WAHRHEIT KOMMT ANS LICHT

Jener Tag griff nach meinem Leben, stellte es auf den Kopf, schob mich in eine andere Richtung, verdrehte meine Welt.

Wann das passierte, weiß ich nicht mehr genau. Ich erinnere mich, dass der Sommer auf sich warten ließ, der Frühling aber bereits weggezogen war. Die Kirschbäume vor unserem Haus blühten nicht mehr. Dicke Regenwolken versperrten den Sonnenstrahlen den Weg.

Mutter stand am gusseisernen Herd und rührte in der Ziegenmilch. Mein Magen rebellierte. Der strenge Geruch stieg mir in die Nase. Ich drehte mich zur Seite, hielt die Luft an. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus.

Emmi verstand mich nicht. Alles, was sie mir anbot, war natürliche und gesunde Kost. Warum ich die ablehnte, begriff sie nicht.

„Du trinkst jetzt die gute Milch! Verstehst du! Nicht dieses künstliche Zeug!“

„Ich will nicht!“, trotzig stapfte ich mit dem rechten Fuß auf. Die Ohrfeige schallte. Heulend setzte ich mich auf den Stuhl und stierte zum Fenster hinaus. In der letzten Zeit stritten wir oft. Mit elf ließ ich mir nicht mehr alles erzählen. Der Einfluss der neuen Schule, in die ich ein halbes Jahr zuvor wechseln musste, war gewaltig.

Jeden Morgen lief das gleiche Ritual ab. Ich konnte die Zeiger der Küchenuhr danach stellen.

„Pünktlichkeit ist eine Zier ...“

Mutter hasste es, wenn ich zu spät kam. Ihr Leben teilte sie in Minuten ein. Geschah etwas nicht nach Plan, knurrte sie die ganze Familie an und stänkerte den Rest des Tages herum. Ich war nicht besser. Stur weigerte ich mich, die Ziegenmilch anzurühren.

Wütend stemmte Emmi die Arme in die Hüften und funkelte mich mit dunklen Augen an. Ihr Oberkörper baute sich wie eine Säule auf. Ihre Majestät duldete keinen Widerspruch.

„Trink jetzt!“, herrschte sie mich an. Ihre tiefe Stimme füllte die Küche aus. Selbst Erich, mein Vater, zog sich sofort zurück. Er konnte Ärger aus zehn Meter Entfernung riechen! Mich störte das nicht. Ich ließ sie noch eine Weile schimpfen, ehe ich den Becher anfasste und die warme Milch in mich hinein kippte. Voller Verachtung knallte ich das leere Gefäß auf die Tischplatte. Ein Windzug zerrte an der bunten Gardine am Küchenfenster.

Ich wollte aufstehen, da packten mich Emmis kräftige Hände und drückten mich auf den Stuhl. Sie griff nach meiner Haarspange, öffnete sie und zog an den dünnen Strähnen. Strubbelig, wie die waren, ließen sie sich kaum bändigen. Ich rührte mich nicht. Sollte sie sehen, wie sie mit diesen Fäden zurechtkam.

„Mir doch egal!“, dachte ich. Aber ihr strenger Blick, ihre braunen Augen, verfolgten mich wachsam. Emmi war nie etwas egal!

Mit einer groben Bürste striegelte sie mein feines Haar.

„In der Schule muss man ordentlich aussehen! Diese Zotteln werden geflochten! Hast du mich verstanden? Die werden nicht aufgemacht! Hörst du!“

Sie zwängte die Haarsträhnen in Gummis. Wie Striche sahen die Zöpfe aus.

„Schick musst du nicht sein! Aber korrekt!“

Manchmal drehte sie mir Locken oder steckte einen Dutt. Furchtbar!

Endlich hörte sie auf, reichte mir die Brotbüchse mit den Leberwurststullen und ließ mich ziehen. Ich schnappte mir den hässlichen Schulranzen, drückte meiner Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange und stürmte am Herd vorbei. Ich riss die knarrende Tür auf und rannte aus dem Haus. Die grünen Blätter der Kirschbäume bewegten sich hektisch und es roch nach Komposterde.

Ich erinnere mich noch an den dunkelgrünen Faltenrock, den mir Emmi genäht hatte. Das karierte Muster im Stoff ließ sich schön in Falten legen. Der Rock reichte bis zu den Knien. Er piekte und juckte an den Beinen. Ständig kratzte ich mich.

Ich war froh, das Gartentor hinter mir schließen zu können. Das Genörgel meiner Mutter störte mich mehr als die Klamotten, die ich tragen musste. Ich wollte fort! Weg von zu Hause! Am liebsten für immer.

Der Kies unter meinen Füßen knirschte. Ich hüpfte eine Weile hin und her. Dabei schoss ich Steine in Nachbars Garten, genau in die Buchenhecken hinein. Ich freute mich diebisch. In den Blättern krabbelten sowieso keine Maikäfer mehr und Emmi konnte mich vom Fenster aus nicht sehen. Da aber niemand mit mir schimpfte, verlor ich bald das Interesse an Nachbars Gartenhecke.

In der Nacht hatte es geregnet. Die Quelle auf der gegenüberliegenden Seite sprudelte das Wasser auf den Feldweg. Ich nahm Anlauf und sprang über die Pfützen. Die letzte verpasste ich. Mein rechter Fuß patschte ins Nasse. Der Rock tropfte.

„Ach, was“, dachte ich. „Was stört‘s mich!“ und hüpfte weiter.

Mein Weg zur Schule dauerte nicht länger als fünf Minuten. Jeden Tag lief ich die gleiche Strecke. Pünktlich! Darauf achtete ich. Es gab keinen Tag, an dem ich zu spät kam.

Auch krank war ich kaum. Einmal plagten mich die Masern. Aber das war‘ s auch schon. Wehleidig war ich nicht.

Neben dem Schulweg, hüben und drüben, standen Einfamilienhäuser. Dazwischen schlängelte sich ein breiter Sandweg an Vorgärten und Zäunen vorbei. Ein ganz normaler Feldweg. Jetzt ist er geteert. Damals war er ein richtiger Dreckweg.

Nach einer steilen Kurve sah ich auf der rechten Seite einen Hügel. Ich zog die Schuhe aus und marschierte durchs Gras. Es war samtweich und duftete nach Regen. Am liebsten hätte ich mich hingelegt, doch die Zeit drängte. Ich lief weiter.

Die Ahornbäume, die wir heute sehen, gab es früher nicht. Hier befand sich der Kindergarten „Gänseblümchen“. Da spielten die Knirpse auf der Wiese. Ich durfte nicht rein. Oft stellte ich mich an den Zaun und drückte mein Gesicht ans Gitter. Ich wollte gern mitspielen, aber man ließ mich nicht hinein. Enttäuscht streckte ich die Zunge durch ein Loch. Das sahen die Kinder. Sie rannten wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen zu mir.

„Guck mal! Die da! Was macht die denn da!“ Tina beäugte mich.

Als ich mit den Fingern die Lippen verschob und schielte, kicherten die Kleinen. Aber leider kriegte das eine Erzieherin mit.

„Was wollt ihr dort?“ Sie scheuchte die Mädchen und Jungen fort und schimpfte mit mir. „Verschwinde hier! Sonst hole ich deine Mutter!“

Die Warnung saß, machte mir Angst. Ich trottete weiter. Da ich nicht nachtragend war, vergaß ich den Vorfall, hüpfte an den Feldern, an den frisch gemähten Wiesen entlang und meine Zöpfe hüpften mit.

Der Buchenbergweg führt an der Schule vorbei. Vor manchen Häusern sieht man heute noch Scheunentore. Wie meine Eltern lebten die meisten Leute von Ackerbau und Viehzucht. Mit dem Pferdewagen holten sie das Heu und fuhren es durch das Tor in die Scheune.

Unmittelbar vor dem Schulhaus, auf der linken Seite, existierte eine Flaschenbierhandlung. Davor wuchsen zwei Apfelbäume. Jetzt verdecken sie das Gebäude.

Auch die Fassaden sah man kaum. Sie leuchteten früher nicht. Zu DDR-Zeiten hinterließen sie einen blassen Eindruck.

Vor dem Laden stand eine verwitterte Bank. Auf ihr saß ein alter Mann. Er hatte genau den gleichen Bart wie Rumpelstilzchen. Seine schmalen Augen grüßten uns schon von weitem. Während er sein Bier trank, erzählte er uns Kindern Geschichten. Wir fragten ihn tausend Löcher in den Bauch. Schmunzelnd ließ er sich das gefallen. Traurig schaute er uns nach, wenn wir keine Zeit hatten.

Ein Stück weiter, in Tante Claras Vorgarten, wuchsen Nelken, weiße Nelken. Die dufteten schon im Juni, Juli. Es waren kriechende, kleine Blumen. Clara pflanzte sie um die gesamte Wegeinfassung. Das sah herrlich aus.

Jetzt wuchern sie über die anderen Beete. Die sehen nicht mehr gepflegt aus. Aber die Nelken riechen heute noch so intensiv, dass ich sie nie vergessen werde. Und ich schleiche auch heute noch am Garten vorbei. Der Weg sollte nie enden, so betörend wirkt der Duft.

Nun entdecke ich das Schulhaus und den Sportplatz. Das Gebäude steht seit hundert Jahren. Ein altes Fachwerkhaus mit Schindeln auf dem Dach. Die Platten, die oben zu erkennen sind, baute man später nach. Aber die Fenster sind genauso vergittert wie damals.

Den Sportplatz bemerkt man kaum. Im Laufe der Jahrzehnte versteckte ihn eine Hecke. Einst standen Kohlenwagen an ihrer Stelle. Früher heizte man mit Holz und Kohlen. Sie lagen hinter dem Zaun. Die Bäume pflanzte man erst später an.

Ich laufe um die Ecke, sehe den Haupteingang der Schule, bleibe stehen. Ich weiß, dass wir hier kaum rein gingen. Die Treppenstufen durfte man wegen Einsturzgefahr nicht betreten. Deshalb nahmen wir den Hintereingang durch die Sporthalle. Auch heute noch.

Jedes Mal, wenn ich die Schultür öffne, höre ich die Geräusche. Hautnah! Die schreienden Kinder, die da durch die Gegend rennen.

Ich meine, so ein altes Haus atmet. Es strahlt etwas Besonderes aus. Dieses Gefühl ist urplötzlich wieder da, wenn du nach über dreißig Jahren zurückkommst. Das merkst du. Das knistert. Du hörst es überall quietschen, schreien, lachen, streiten. Klappernde Schuhe. Schritte hallen im Treppenhaus. Du stehst da, atmest den Bohnerwachsgeruch. Du lässt alles auf dich wirken, rührst dich nicht, bist wie in einem Traum gefangen. Das vergisst man nicht.

Und dann überfallen dich die Bilder deiner Schulzeit.

Damals lief ich zögernd durch die langen Gänge, griff mit der Hand nach dem Metallgeländer und stieg die Treppe hinauf. Die Latschen schlurften auf den Steinfliesen. Meine Finger glitten an den Reihen schräger Fragezeichen entlang. Gern spielte ich mit dem Treppengeländer. Ich zeichnete die Bögen und Muster mit dem Zeigefinger nach. Sie fühlten sich kühl und glatt an.

Die Wände hatte man weiß gestrichen. Die Schule wirkte nicht dunkel, nicht beängstigend. Hohe Flure, große Fenster luden das Sonnenlicht ein. Enge Nischen und Spinnweben gab es nicht und keine Dachböden, in denen es spukte.

Überall hingen Bilder und Wandzeitungen. Mein Name fand nie den Weg auf die „Straße der Besten!“ Null Chance! Dafür war ich nicht prädestiniert genug.

In der ersten Etage angekommen, wollte ich in den Deutschraum gehen, als Irene mir den Weg versperrte. Sie stellte sich vor die Fichtenholztür und ließ mich nicht durch.

„He! Was machst du hier? Für Zwerge ist kein Platz! Geh runter in die 1. Klasse! Dort gehörst du hin! Dich brauchen wir nicht!“

Das Mädchen gehörte nicht in meine Klasse. Sie war ein Außenseiter und älter als ich. Ich ärgerte mich über diese blöde Kuh. Obwohl ich einen Kopf kleiner war, schaffte ich es, an ihr vorbei zu schlüpfen. Geschwind riss ich die Tür auf, huschte in den Raum.

Den Rücken an die Wand gedrückt, musterte ich meine Schulkameraden, ein wilder, bunt gemischter Haufen von Rabauken. Immer befand ich mich in dem Kreis, in dem die schlimmsten hockten. Nie kam ich in eine artige Gruppe. Bis hinauf zur Zehnten verfolgten die mich. Nur, dass ich mich am Anfang noch zurückhielt. In der 1. bis 3. Schulklasse fiel ich nicht auf. Erst später wurde ich aufmüpfig. Ich wählte die totale Opposition. Ich wehrte mich gegen alles Ordentliche. Genau dieser Tag, an den ich jetzt denken muss, dieser Tag war der Auslöser für alle zukünftigen Veränderungen in meinem Leben.

Ich schlich zu meinem Platz. Damals saßen wir auf gelb-braunen Holzbänken mit Tintenfässern in der Mitte. Sitz und Tisch baute man zusammen. Die Tischplatten ließen sich nach oben klappen. Wenn man sich setzte, schlug man die Platte runter. Zwei Sitzmöbel standen nebeneinander.

An all das kann ich mich erinnern. Aber von dem Unterricht weiß ich nichts mehr. Nur, dass ich gern aus dem Fenster schaute. Das Tal wies mir die Freiheit, die ich liebte. Dafür schwärmte ich.

In der Schule fühlte ich mich unbeobachtet. Das nahm ich zumindest an. Doch das war ein Irrtum. Meine Familie war immer in Reichweite.

Im Haus gegenüber wohnte Verwandtschaft meiner Mutter. Hinter den schmalen Fenstern, dort, wo die Gerbera wuchsen, da wackelten die Gardinen, da versteckte sich Emmi und passte auf mich auf. Ätzend! Das fand ich total bescheuert!

In der ersten oder zweiten Pause gab es Schulmilch. Natürlich durfte ich nichts trinken, das war alles giftig! In der Ecke befand sich ein Kasten mit Frucht- und Kakaomilch. Jeder, der Geld bezahlt hatte, konnte sich eine Flasche nehmen. Und ich besaß keinen Pfennig. Daheim gab es Ziegenmilch. Die hing mir zum Hals raus. Ich wollte was Neues ausprobieren.

Als mich niemand beobachtete, schlich ich zur Kiste und stibitzte mir ein Getränk. Das sah man sofort. Und schon ging es los: „Die hat geklaut! Die hat ´ne Milch gestohlen! Die hat den anderen Kindern die Milch weggetrunken!“

Emmi beschwerte sich später über mich: „Zu Hause kriegt die alles! Was nimmt die das giftige Zeug? Das schädliche! Das dünne ...! Soll lieber die gute Ziegenmilch trinken!“

Aber ich wollte einen fremden Geschmack im Mund haben. Damals tauschte ich sogar meine Hausmacher Leberwurstbrote gegen welche mit gekaufter Wurst ein. Die schmeckten mir besser!

Von halb zehn bis zehn war die Hofpause, die große Pause. Wir stürmten die Treppe hinunter. Im Gedränge schupste man mich. Erst nachdem ich auf dem Schulhof angekommen war, spürte ich, dass mir Irene gefolgt war. Sie baute sich dicht hinter mir auf. Ihr Atem klebte in meinem Nacken. Das kannte ich. Oft genug ärgerte sie mich und andere Kinder. Sie legte sich nur mit Schwächeren an. Nie mit den Starken. Sie suchte sich die aus, die man ausgeschlossen hatte, jene, die stotterten, die allein in der Ecke standen oder die sonst durch irgendetwas Besonderes auffielen.

Ich selber war zwar klein, aber nicht kontaktarm. Ich wollte mit dabei sein, wenn die Mädchen und Jungen über den Pausenhof rannten, wenn sie auf dem Kopfsteinpflaster „Fangeles“ spielten, wenn sie sich hinter den Papierkörben oder Büschen versteckten. Aber ich durfte nicht mitspielen. „Dich lassen wir nicht mitspielen! Du Blöde! Du kannst nichts!“, rief mir ein Bengel, der drei Köpfe größer war als ich, zu. „Geh zu Mama! Hau ab! Verschwinde!“

Plötzlich mischte sich Irene ein, schupste mich, zog an meinen dünnen Zöpfen.

„Und überhaupt! Das sind ja gar nicht deine Eltern!“ Sie grinste mich an. „Ach! Geh nur heim! Hab dich nicht so! Stell dich nicht so an!“

Ihre dunklen kurzen Haare ließen das ohnehin runde Gesicht noch breiter wirken. Ihre Stupsnase zeigte leicht zur Seite. Ihre Stimme quäkte. Irene trug genauso altmodische Klamotten wie ich. Nur war sie wesentlich stabiler gebaut.

„Was fällt dir ein!“ Ich konnte sie nicht ausstehen! Wenn ihre Eltern mit ihr geschimpft hatten, musste sie das an uns auslassen. Sie gab ihre Wut an den Nächsten weiter. Das fand ich gemein. „Du bist blöd! Du alte Ziege!“, wehrte ich mich.

„Du bist aus dem Heim! Das weiß man doch! Mit Heimkindern spielt man nicht!“ Sie verschluckte sich an ihrer eigenen Spucke. „Du hast nicht mal richtige Eltern! Die haben dich überhaupt nicht lieb!“

Ich suchte nach einer passenden Antwort, als sie weiter schrie: „Ätsch! Noch nicht mal Geschwister hast du!“

„Du doch auch nicht! Du blöde Kuh! Pf ...! Ich habe vielleicht mehr als du denkst! Das weißt du doch gar nicht!“, brüllte ich. Es sollten alle Kinder hören. So klein, wie ich war, aber schreien konnte ich.

Obwohl ein Fachlehrer zur Hofaufsicht neben uns stand, griff er nicht ein. Ich kämpfte mit den Tränen. Ich denke, dass die Lehrer Bescheid wussten. Nie sagten die was. Absolut nicht! Die waren wohl der Meinung: „Lass die in Ruhe! Das machen die unter sich aus!“

Als ich nach der Hofpause zur Handarbeitslehrerin ging, mich beschweren wollte, hieß es abweisend: „Alte Petze! Das macht man nicht! Wir wollen keine Petzen haben!“

Die Lehrerin war im mittleren Alter. Ich fand sie steinalt. Ich mochte die nicht.

Im Prinzip konnte ich alle Lehrer leiden. Den einen mehr, den anderen weniger. Zwei oder drei fand ich nett. Aber, dass ich gegen irgendjemand einen abgrundtiefen Hass empfand, dass ich mich vor ihnen fürchtete, kann ich nicht sagen. Ich ging gern in die Schule. Am nächsten Tag hatte ich alles vergessen. Und wenn es hieß, Blödsinn zu verzapfen, war ich mit von der Partie. Wenn sich eine Gruppe bildete, so dass man zusammenhalten musste, war ich dabei. Ich verriet keinen. Also, das konnte ich nicht! Und wenn jemand zu mir sagte, ich sei eine Petze, blieb das hängen. Ich dachte: „Na ja, sagst halt lieber nichts mehr!“

Ich ging jedenfalls dadurch nicht verloren. Ich wehrte mich! Trotzdem sprach ich nach dem Unterricht mit niemandem mehr. Das reichte für heute. Es war Zeit heimzugehen!

„Nach Hause?“, fragte ich mich, „Ist das mein Zuhause, mein richtiges Zuhause?“

Obwohl ich noch jung war, begriff ich, dass hier einiges nicht stimmte, dass man mir nicht alles erzählt hatte.

Ich grübelte und sah den Weg nicht mehr. Auch der alte Mann saß nicht mehr auf der Bank. Die wunderbaren Nelken dufteten nicht mehr. Selbst die Kinder vom Kindergarten beeindruckten mich nicht. Ich sah und hörte nichts. Irenes Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Den ganzen Heimweg spukten sie in meinem Gedächtnis: „ ... sind nicht deine Eltern, haben dich nicht lieb!“

Tränen liefen über Mund und Nase, tropften auf die Jacke. Den Rotz schmierte ich mit dem Handrücken bis zu den Ohren.

Auch den Nachbarsjungen vom Fuhrmeisterhaus konnte ich nicht mehr sehen. Immer wollte ich mit ihm spielen. Stets fragte ich ihn: „Kommst du morgen?“

„Ja, ja! Ich komme!“ und dann kam er nicht. Da war ich enttäuscht. Schön war das nicht. Das waren die ersten traurigen Kindheitserinnerungen. Ich begriff, dass nicht alles stimmte, was man mir erzählte.

Und nun wollte er mit mir spielen.

Jetzt hatte ich keine Zeit! Ich ließ ihn stehen.

„Du hast mich auch vergessen!“, rief ich ihm nach.

Zum ersten Mal in meinem kleinen Leben fühlte ich mich verloren. Eine grenzenlose Einsamkeit erfasste mich. Sie trieb mir das Wasser in die Augen. Ich wusste nicht mehr, was und wem ich glauben sollte. Wo gehörte ich hin! Wer war meine Mutter, wer mein Vater? Ich kam mir verlassen vor. Wo kam ich her? Warum hatte man mich weggegeben?

Die Fragen stürzten auf mich ein wie ein tosender Wasserfall. Meine Augen brannten. Meine Gedanken kreisten wirr durcheinander. Das war zu viel. Ich wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus.

Durfte ich in das Haus gehen? Das waren nicht meine Eltern. Aber wo sollte ich sonst hin?

Mit hängenden Schultern trottete ich den Feldweg entlang. Ich lief wie ferngesteuert auf das Haus meiner Kindheit zu.

Natürlich kam ich zu spät. Emmi hatte garantiert zehnmal auf die Uhr geguckt und geschimpft: „Schule Schluss! Stundenplan abgearbeitet! Zack! Zack! Wo bleibt Martina?“

Mutter erschien auf der Matte und wartete.

„Wo bleibst du?“, vorwurfsvoll schaute sie mir ins Gesicht. „Was ist los mit dir? Komm rein! Iss was!“

Auf dem Tisch stand ein Teller mit Gemüsesuppe. Möhren, Erbsen und Bohnen bauten wir im eigenen Garten an. Stundenlang schnippelten und pulten wir das Gemüse in verschiedene Wannen. Emmi weckte alles ein. Den ganzen Winter über aßen wir davon. Doch es schmeckte matschig. Sie würzte kaum. Dafür konnte sie hervorragend backen. Aber manche Dinge beherrschte sie nicht.

Trotzdem musste ich alles, was auf den Tisch kam, essen.

Mein Vater arbeitete in der Mechanisierung. Mittags lief er nach Hause. Das war seine Pause. Mutter kochte nicht nur für uns zwei, sondern auch für ihre Eltern. Erich erschien um 12 Uhr und ich bekam meine Mahlzeit gegen Zwei.

Doch heute wurde meine Suppe kalt. Ich stand in der Küche und blickte Emmi von unten nach oben an. Die Worte warf ich ihr an den Kopf: „Die haben gesagt, ihr seid nicht meine Eltern! Auf euch brauche ich gar nicht hören!“

Ihre Lippen wurden schmal: „Wer sagt das?“

„Die Kinder in der Schule!“ Ich schrie ihr das ins Gesicht. Doch auf ihre Reaktion war ich nicht gefasst. Ich hatte nichts falsch gemacht. Ihre Antwort verstand ich nicht.

Mit einem Handgriff packte sie mich, legte mich übers Knie. Ruckartig pflanzte sie sich auf den Schemel. Mit der bloßen Hand drosch sie auf meinen Hintern ein. Das zwiebelte. Den Schmerz spürte ich nicht. Daran erinnere ich mich kaum. Doch meine Enttäuschung werde ich nie vergessen. Warum schlug sie mich? Haben mich die Kinder belogen? Ich begriff nicht, weshalb Emmi mich verprügelte. Sie war nicht im Recht. Ich hatte nichts ausgefressen, nichts verbockt.

Das Schlimmste an der Sache war eigentlich die Wucht. Und, dass das Thema tabu war. Kein Wort hörte ich mehr. Ich stellte auch keine weiteren Fragen.

„Das bringt eh nix! Was soll ich da noch sagen?“

Wenn mich dann die anderen hänselten, wehrte ich mich nicht. Klar war ich traurig! Aber nicht so ...!

Die Welt brach erst zu Hause zusammen. Das war das Bitterste.

„Du hast nichts gesagt!“, meinte ich. Von dem Tag an begann ich zu grübeln. „Da stimmt was nicht! Ich muss gucken, was da los ist!“

Und wenn die Erwachsenen erzählten, horchte ich genauer hin. Da passte ich auf und quetschte hinterher die Verwandten aus. Doch die antworteten nur: „Frag deine Mutter! Frag deine Eltern! Die werden dir das schon sagen!“

Nix sagten die! Keiner redete mit mir! Neugierig belauschte ich sie. Von da an begann ich zu suchen. Ich stöberte in den Sachen meiner Leute. Jetzt entwickelte ich kriminelle Energie. Von diesem Moment an wählte ich die Opposition, die totale Opposition. Ich wehrte mich gegen alles, was ordentlich, was normal war. Ich begehrte auf.

Voller Wut dachte ich: „Die haben mich gehauen! Da gehste fort! Die werden sehen, was sie davon haben, wenn ich nicht mehr zurückkomme!“

Genau das, was man als Kind in dieser Situation denkt. Ich riss aus. Ich ließ die Hausaufgaben, die Hausarbeit, alle Pflichten hinter mir. Ich pfiff auf alles.

„Mir doch egal!“

Ich rannte den Kiesweg entlang, klingelte Marlies, meine Freundin, aus dem Haus. Gemeinsam stiegen wir den Buchenberg hinauf. Die Sonne schob die Wolkendecke zur Seite, schaute auf die Erde und leckte alles Wasser vom Boden. Endlich wärmte sie unsere Gesichter. Bereitwillig streckten wir sie ihr entgegen.

„Ich habe nix angestellt! Nix falsch gemacht! Ich habe doch nur gesagt, was die Kinder mir erzählt haben!“, heulend berichtete ich ihr von meinen Erlebnissen. Völlig außer mir schimpfte ich auf meine Mutter.

„Stell dir vor, Marlies! Nichts hat die erklärt! Nicht ein Wort! Die hat zugeschlagen! Ohne Grund! Und ich weiß nicht, warum!“ Verständnislos wischte ich mir die Tränen von den Wangen.

Wir saßen im Gras und beobachteten die Schmetterlinge mit den schwarzen Augen und die Bienen mit ihren gelb-braunen Körpern. Waldameisen krabbelten emsig um uns herum. Kohlmeisen schwirrten in den türkisfarbenen Himmel hinein. Es summte, brummte, piepste. Alles lebte. Doch wir spürten es kaum. Wir hockten dicht beieinander und versuchten uns gegenseitig zu trösten.

Marlies war meine beste Freundin. Sie erzählte mir oft von ihren Sorgen: „Weißt du, meine Eltern wollen sich scheiden lassen! Nie haben die Zeit für mich! Was meinst du, wie oft ich meinen Vater sehe? Geld kriege ich von ihm! Aber einen Kuss hat er mir noch nie gegeben! Nicht einmal gedrückt hat er mich!“

Sie zupfte Grashalme aus der Erde und warf sie über die Schulter. „Die Erwachsenen sind komisch! Da wollen die immer so schlau sein! Alles wissen! Alles können! Aber mit uns reden! Auf die Idee kommen die nicht!“

„Genau! Keiner sagt was! Auch die Verwandtschaft verrät nix! Die halten zusammen! Wenn ich da frage, wenn ich die Tanten frage, da gibt es keine Antwort! Nur Schweigen! Oder die sagen: ‚Frage deine Eltern! Das geht uns nix an!’ Toll! Und die reden nicht! Schon gar nicht mit mir!“

Ich richtete mich auf und schaute Marlies in die Augen. Der Wind spielte mit ihren blonden Locken.

„Neulich saß ich mucksmäuschenstill, rührte mich nicht! Aber das nützte nichts. Die schickten mich trotzdem ins Bett. Gern hätte ich länger zugehört. Aber ich musste schlafen gehen. Das Schlüsselloch hängten die zu. Noch nicht mal was sehen konnte ich! Stell dir vor! Es gab kein Pardon!“

Meine Freundin hörte mir aufmerksam zu, verfolgte jedes Wort. Sie verstand mich. Nur sie allein.

Bis zum 15. Lebensjahr schlief ich bei den Eltern im Zimmer. Oft genug klebte ich am Schlüsselloch, um die Geheimnisse meiner Leute zu lüften. Doch, so sehr ich auch lauschte und forschte, ich bekam nicht viel mit. Alles musste ich mir schwer erarbeiten.

Wenigstens mit Marlies konnte ich mich austauschen. Sie war wie eine Schwester für mich, wie eine Seelenverwandte.

Heute weiß ich, dass wir uns gegenseitig stützten, dass echte Freunde selten sind. Dass sie das Wichtigste neben einem Partner und Kindern im Leben sind.

Die Enttäuschung über meine Eltern fraß sich in all den Jahren in mein Gedächtnis ein. Ich finde, es wäre schöner gewesen, wenn sie mit mir geredet hätten. Aber sie waren zu altmodisch, zu verschlossen.

Ich bin der Meinung, es soll vom ersten Tag an ehrlich zugehen! Das war ich damals nicht. Ich habe geschwindelt, was das Zeug hielt. Doch eine Grundehrlichkeit muss man entwickeln. Schwindeln darf man ab und zu, aber so selten wie möglich.

Ich dachte, wenn du jetzt weiter lügst, da kommst du nicht mehr raus. Am Ende weißt du nicht, wem du was erzählt hast. Du verhaspelst dich, blamierst dich unsterblich! Das lässt du! Sagst lieber gleich die Wahrheit, musst dir den Schluss nicht merken! Das ist so ein Schlüsselerlebnis gewesen, das muss man nicht haben. Da denke ich heute anders drüber, gehe anders damit um.

Es dämmerte schon und der Regen hatte die Sonne verscheucht, als wir den Berg herunterkletterten und den Feldweg nach Hause liefen. In meinem Kopf spukten die wildesten Geschichten herum. Und daheim ging die Sucherei los.

Da war ein Geheimnis! Da musste ich hin! Das Rätsel wollte ich lösen! Ich hatte keine Ruhe mehr! Meine Neugier war geboren!

2. KAPITEL: DIE SUCHE NACH DEN BRIEFEN

Meine Eltern hatten ihr Haus einfach und praktisch eingerichtet. Alles gradlinig und anspruchslos. Am Küchenfenster stand ein Kanapee und gegenüber vom Herd ein Schrank, ein Büfett mit Glasfensterchen. In der Mitte des Raumes befand sich ein rechteckiger Tisch. In ihm hingen zwei weiße Emaille Schüsseln, die Emmi zum Abwaschen herauszog. War sie fertig damit, schob sie sie zurück und schlug den Deckel zu.

Die andere Ecke füllte der Ofen aus. Gleich daneben hockte der Kohlenkasten. Den Herd nutzte Mutter selten. Sie kochte mit Großmutter zusammen im oberen Teil des Gebäudes. Da Oma Ilse und Opa Otto dort wohnten, verbrachten sie den Vormittag im Obergeschoss.

Kam ich später von der Schule, aß ich in unserer Küche. Hier erledigte ich meine Schularbeiten. War ich damit fertig, diktierte mir Mutter oft Briefe.

Emmi holte aus dem Küchenschrank ein Kästchen. Rote und schwarze Perlen umrahmten die ockerfarbene Schatulle, die jeweils acht Kreise darstellten. Sie stand auf vier Füßen. Den Deckel schmückte eine rot-schwarze Margerite, die wie eine Schlange lauernd und reglos den Kasten bewachte.

Nachdem Emmi die Kassette auf den Tisch gestellt hatte, öffnete sie in der Mitte des Küchenbuffets eine winzige Klappe und nahm Briefpapier heraus.

„Martina! Du schreibst heute einen Brief an Onkel Ernst! Setz dich bitte! Ich diktiere!“

Der Füller kratzte auf dem Briefbogen. Ich versuchte mich zu konzentrieren, doch die Blumenschatulle war wesentlich interessanter. Ich schielte in die Richtung, da spürte ich Emmis Ellenbogen in meinen Rippen. Ich zuckte zusammen.

„Schmiere nicht!“, befahl sie.

Aus den Augenwinkeln entdeckte ich andere Schriftstücke im Kasten. Sie weckten meine Neugier. Was stand da drin? Doch es war nicht leicht, an sie heranzukommen. Mutter schloss alles gleich wieder weg. Ich fand keine Zeit zum Nachlesen. Das wollte ich später tun.

Doch später fand ich nur noch Konsummarken, Rechnungen, kleine Fahrzeugbücher und Versicherungskärtchen. Die Briefe waren verschwunden. Entweder Emmi hatte sie weggeschmissen oder versteckt. Aber wohin? Das war die spannende Frage, die mich eine Ewigkeit beschäftigte.

Jedes Mal, wenn ich zwei Minuten ohne Aufsicht herumsaß, fing ich an zu stöbern. Leider ließ man mich nie lange allein. Einer bewachte mich immer. Auch die Großeltern fühlten sich für mich verantwortlich.