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Die Kriegssinfonie
Band 2

Söldner

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1. Auflage Februar 2015

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf - auch teilweise - nur mit

Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: BookDresses Irina Bolgert
Satz: Verlagshaus el Gato

Lektorat: Andrea el Gato
Druck: BooksPress

ISBN: 978-3-943596-77-9

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Die Kriegssinfonie

Band 2

Söldner

Lucie Müller

Verlagshaus el Gato

Verlagshaus el Gato

Personenregister

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Der Ring der Gehorsamen

Ash kann Feuerbälle schleudern

Cam kann sich unsichtbar machen

Faolan Aleta /Shade kann Tote zurückholen, befehligt Schatten

Flex kann sich verbiegen und strecken

Ivy/Kelis befehligt Pflanzen

Mythos Anführer des Rings, liest und

manipuliert Gedanken

Queen/ Kaori kann Gefühle manipulieren

Rock kann seine Haut zu Stein werden lassen

Rost kann Gegenstände bei Berührung zerfallen lassen

Tau / Lillie kann Wasser befehligen/ Mutter von Orion

Tide / Linus befehligt das Meer

Aristokratie Korins

ALewander aufständischer König des Südens

Antrim Sophias Gatte, König von Aeonor

Clara älteste Tochter, drittes Kind von

Thanatos und Emerald

Emerald Ehefrau des Hochkönigs

Gerold aufständischer König des Südens

Julian zweiter Sohn des Hochkönigs, Thronanwärter

Malik erster Sohn des Hochkönigs, wurde von der Familie verstoßen

Orion Malik und Taus / Lillies Sohn, kann die Gestalt von Tieren annehmen

Ragnar König der Provinz Soocul

Roban erster Hochkönig von Korin, Thanatos Urahne

Sophia jüngstes bzw. viertes Kind von Thanatos und Emerald

Suzanne Maerkyns Schwester

Thanatos Hochkönig von Korin

Warran aufständischer König des Südens

Militär Korins

Algier Voltan General des korintischen Militärs, Thanatos‘ Vertrauter

Drake Hauptmann der 44. Kompanie

Gridion Le Sage korintischer Lieutenant General, zuständig für den Palast des Hochkönigs

Iomelk Captain eines karmatischen Versorgungskonvois

Ivan Aleta Oberstlieutenant 317. Batallion,

Shades Bruder

Jeremiah Captain der 17. Kavallerie

Kart Foltermeister und Giftmischer des Militärs

Kreider Hauptmann der 45. Kompanie

Lord Gainsboro militärische Kontaktperson des Ringes

Luka Hauptmann der 46. Kompanie

Magnus Grimm korintischer Lieutenant General, Anwärter auf Voltans Posten

Paeon Prior Magus Wissenschaftler im Bunde mit dem Militär

Götter Korins

Adem Gott des Wissens

Bohal Gott des Wachstums

Qeb Totengott

Thion Gott des Krieges

Weitere Personen Korins

Adam Tanner alter, pensionierter Wissenschaftler, Maliks Freund

Aoidhe Frau aus der Hochebene, Bregas Versprochene

Argentin Hohepriester Korin, Nachfolger von Ville

Brega Mann eines Hochebenen-Clans

Crystal eine Hure, General Voltans Geliebte

Habsand Helfer im Suchtrupp von Linus

Jakob Flavia Drogendealer, karmatischer Untergrund

Lew Aufständischer König

Lloysel Arzt im Dienste von König Delay

Meister Flavio Chemiker des karmatischen Untergrunds

Priester Devoid ehrgeiziger Priester aus dem Totenkult von Qeb

Remey Lloysels Assistent

Rodderik Helfer in Linus‘ Suchtrupp

Seaghda Anführer der Rebellen der Hochebenen- Clane

Uinseann Schamane des Hochebenen-Dorfs, Grossvater von Brega

Ville Hoheprister des Götterkultes des Nordens

Yann ein Seher, Gefangener des Militärs

Aristokratie des Südens

Janan Samir Ilas und Keshets Tochter

Jena Ila Samir des vereinten Südreiches

Keshet Samir Ilas Frau

Militär des Südens

Al‘din Wahid der zwölften Hyänen-Einheit

Horo Maerkyns Offizier

Maerkyn Kilian König von Ionaen, Shades Freund, Ra‘ad der 75. Kavallerie des Samirs

Musma Zahir der Grenzfeste Golem

Rash Foltermeister von Maerkyns Trupp

Der Zauberer

Tamerlen, das kleine Königreich von König Delay lag am südlichsten Zipfel Korins. Wie viele andere Residenzen, die so weit von der Hauptstadt entfernt lagen, war es arm und unwichtig. Hinzu kam, dass König Delay nicht viel dazu beitrug, sein heruntergewirtschaftetes Königreich auf den Weg der Besserung zu führen. Delays Verschwendungssucht zehrte am erschöpften Familienerbe.

Vielleicht gerade deswegen hatten sich die dreisten Diebe dazu entschieden, ihn um einige seiner kostbarsten Stücke zu erleichtern.

Aber in dieser dunklen Nacht, in der sich der silberne Mond hinter dichten Wolken versteckt hielt, ging so einiges schief.

Männer trugen den schwerverletzten Dieb ins Haus des Arztes und legten ihn auf eine Bahre.

Der Heilkundige eilte herbei. Unter der Schürze trug er noch seine Nachtbekleidung. Das dichte, graue Haar war auf der einen Seite flach an den Kopf gedrückt und stand auf der anderen wirr ab. Die sterilen Hände vor sich erhoben, wies er Soldaten und König an, ihm Platz zu machen. Der Heiler trat neben den Unbekannten.

Aufgrund zweier Pfeile, die ihm im Rücken steckten, lag er auf der Seite. Neben den Schusswunden blutete er auch aus mehreren Schnittwunden. Zu seinem Glück war er nicht bei Bewusstsein. Ein dünner Blutfaden rann ihm aus dem halb geöffneten Mund und sein Atem ging flach.

Lloysel, der Arzt, erfasste rasch die Lage. Er war sich der erwartungsvollen Blicke bewusst, die ihm vor allem vom König immer wieder zugeworfen wurden, ließ sich davon jedoch nicht aus der Ruhe bringen.

„Remey!“ Sein Assistent drängte sich durch die Männer zu ihm hindurch. In den Händen trug er eine dampfende Wasserschüssel. Da er jedoch wie Espenlaub zitterte, verschüttete er viel zu viel Wasser.

„Stell das hin!“, befahl Lloysel. „Das Wasser soll in der Schüssel sein, nicht am Boden.“ Anschließend wandte er sich an den König.

„Mylord, am besten Ihr und Eure Leute lasst uns allein, während wir unsere Arbeit tun. Wir brauchen den Platz und müssen uns konzentrieren. Ihr werdet von uns hören, sobald wir den Patienten stabilisiert haben.“ Der Arzt verbeugte sich leicht vor seinem König und wollte sich abwenden, als ihn die behandschuhte Hand König Delays grob am Kinn packte und ihn zwang, in die dunkelbraunen Augen des Königs zu blicken.

„Ich brauche diesen Mann lebend!“, zischte dieser. „Flick ihn so zusammen, dass er einem Verhör standhält!“

„Ich werde mein Bestes geben, Mylord. Aber selbst ich kann Qebs Wille nicht ändern. Er ist schlimm verletzt und hat viel Blut verloren. Außerdem sind da noch die Schwellungen im Gesicht. Es könnte Tage dauern, bis er wieder fähig ist zu sprechen.“

Der König packte den Arzt noch ein wenig fester und murmelte: „Er wird überleben! Das ist der dritte Überfall dieser Art und ich will wissen, wer dahinter steckt!“

Lloysel nickte ergeben.

Während er und sein Assistent sich um den Verwundeten kümmerten, rauschte der König aus dem Raum. Er war ohnehin schon ein reizbarer Mann, doch die Überfälle auf seine Schatzkammer und neuerdings auch sein Familienerbe, hatten ihn zur Weißglut getrieben.

Der Arzt wandte sein ganzes Wissen an, um den Fremden durchzubringen. Er erkannte, dass es nicht gut um ihn stand. Die Schnitt- und Schusswunden hatte er gut verarzten können. Doch beim Sturz von seinem Pferd hatte sich der Fremde ein inneres Organ schwer verletzt. So wie es aussah, war die Milz gerissen. Lloysel konnte die innere Blutung nicht stoppen. Er und sein Assistent hatten den ganzen Tag versucht, das Leben, das in ihre Hände gelegt worden war, zu retten, doch am Abend war klar, dass der Mann sterben würde.

Der König war erneut vorbeigekommen und hatte den Verletzten angebrüllt. Dann hatten er und sein Berater anhand der Kleidung und der Waffe des Mannes versucht, dessen Herkunft zu ermitteln.

Lloysel hätte es lieber gesehen, wenn sein Patient in Ruhe gelassen worden wäre, aber er hütete sich davor, den König noch einmal zurechtzuweisen. Während er dem Mann die fiebrige Stirn mit einem kühlen Tuch abwischte, hörte er mit einem halben Ohr mit, was der König und sein Berater besprachen.

„Die Kleidung ist von guter Qualität. Einfach, aber nicht billig.“

„Ja, aber das Schwert. Es ist eine wertvolle Waffe. Rubinbesetzt … Die muss aus einer Adelsfamilie stammen, wenn nicht aus einem Königshaus.“

„Sie wird gestohlen sein. So wie man mich beraubt hat. Dieses Schwert wird mir als Ersatz für meinen eigenen Verlust dienen. Trotzdem wissen wir nicht mehr als vorher. Sie haben keine Spuren hinterlassen. Die Fährtenleser haben nichts gefunden.“

Der König starrte den inzwischen gewaschenen Verletzten an. Das blonde Haar schimmerte dort, wo es mit Blut in Berührung gekommen war, noch leicht rötlich. Das Gesicht war stark angeschwollen und die Prellungen schimmerten blau und violett. Trotzdem glaubte der König, dass ihm die Züge des Mannes vage vertraut erschienen.

„Es nützt nichts. Der ist hinüber.“

König Delay stieß einen unschönen Fluch aus und machte auf dem Absatz kehrt. Das rubinbesetzte Schwert nahmen seine Männer mit.

Erschöpft ließ sich Lloysel auf einem Hocker nieder. Nach einem ganzen Tag Arbeit fühlte er langsam sein Alter. Ein Blick auf seinen Assistenten veranlasste ihn jedoch sich zusammenzureißen, denn dieser sah noch schlimmer aus.

„Geh nach Hause, Junge. Du hast hier genug getan.“

„Aber Meister!“

„Geh. Ich begleite ihn in den Tod. Das ist nichts für dich. Überlass das dem Alten.“ Er lächelte halbherzig und machte eine verscheuchende Handbewegung.

Schließlich ging der Junge. Lloysel vernahm dessen erleichterndes Seufzen, als er auf den Gang hinaus trat. Der Arzt zog den Hocker näher zum Bett des Schwerverletzten. Da sich allmählich Dunkelheit über das Land legte, zündete er einige Kerzen an. Aus einem Schrank holte er wohlriechende Kräuter hervor, zerrieb sie zwischen den Fingern und streute sie über die Decken seines Patienten. Er murmelte ein Gebet und setzte sich wieder auf den Hocker.

Irgendwann schlief er ein. Als er am nächsten Morgen erwachte, war der Fremde tot.

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Shade wartete, auch wenn es ihm schwerfiel. Er wollte dem Alten nichts antun, weshalb er beschlossen hatte, auszuharren, bis dieser eingeschlafen war. Er wusste, dass Maerkyn schwer verletzt war und hoffte, dass sein Freund nicht starb, während er hier draußen in den Büschen hockte. Natürlich hätte Shade ihn zurückholen können, doch wenn es sich vermeiden ließ, dann verzichtete er gerne auf solche Strapazen. Er wurde zuweilen immer noch ohnmächtig und dieses Risiko wollte er hier nicht eingehen.

Maerkyns Gefangennahme hatte ihn zwar kurzfristig glauben lassen, dass es aus war mit den kleinen Spielen, doch dessen vermeintlicher Tod und die Gesichtsverletzungen waren wahrscheinlich für den König Grund genug, ihn schnell wieder zu vergessen.

Ein deutliches Schnarchen erreichte Shades Ohr. Vorsichtig stand er auf und streckte seine steifen Glieder. Er ging zum angelehnten Fenster, zog sich an der Fensterbank hoch und kletterte behände hinein. Im Raum roch es angenehm nach Kräutern. Shade musste auf einmal lächeln. Der alte Arzt war in Ordnung. Er würde ihn nicht bloßstellen und eine Schattenpuppe, die dem zerschundenen Maerkyn aufs Haar gleichen würde, zurücklassen. So bekäme Lloysel keine Probleme.

Er ging zum Bett hinüber und tastete am Hals nach dem Puls seines Freundes. Gerade eben spürte er ihn noch. Aber lange würde er es nicht mehr machen. Shade beeilte sich. Er löschte die Kerzen und rief die Schatten zu sich. Auf seinen Befehl hin schlüpften sie unter die Decke. Während er den echten Maerkyn aus dem Bett hervorzog, bildete sich exakt am gleichen Ort die Schattenpuppe.

Der ehemalige König von Ionaen war ziemlich schwer, sodass Shade ein wenig Hilfe benötigte, als er durch das Fenster kletterte. Während er sich selbst auf den Rahmen zog und auf der anderen Seite wieder hinuntersprang, glitt Maerkyn von weiteren Schatten getragen sanft durch die Fensteröffnung auf den Boden.

Khazan, ist die Luft rein?

„Alles klar. Es ist niemand zu sehen.“

Gut, dann los, zum Treffpunkt. Simbron wartet sicher schon.

Er nahm Maerkyn wieder selbst hoch und zusammen mit seinem Tamarin schlich er durch den Hof. Es war eine dunkle Nacht, was ihnen sehr gelegen kam. So konnten sie unbemerkt aus dem Königshaus schleichen. In der kleinen Stadt, die sich um die umfriedete Behausung gebildet hatte, mussten sie nicht mehr wirklich fürchten, erwischt zu werden. Trotzdem schleppte er seinen verletzten Freund durch leere, schmutzige Gässchen, um Begegnungen mit den Bürgern zu vermeiden. Schließlich gelangten sie zum Hintereingang einer kleinen Taverne, in der sie sich ein Zimmer gemietet hatten. Shade nahm eine Handvoll Schatten und warf sie gegen ein bestimmtes Fenster. Nach einem kurzen Augenblick wurde das Fenster geöffnet und ein dunkler Frauenkopf schob sich hindurch. „Simbron. Ich hab ihn.“

Shade zog weitere Schatten herbei, die Maerkyn sanft umfassten. Die Schatten bildeten eine stabile Säule unter dem ehemaligen König, die sich stetig verlängerte, bis sie zum Fenster reichte. Simbron lehnte sich gefährlich weit hinaus, packte den Verletzten und zog ihn unter angestrengtem Keuchen in das Zimmer hinein. Shade wartete, bis sie das Fenster geschlossen hatte und machte sich dann zum Haupteingang der Taverne auf.

Der Schankraum war noch gut gefüllt und Shade musste nicht nur einem gefährlich schwankenden Besucher ausweichen, um zur Treppe zu gelangen, die zu den Zimmern führte. Simbron und er hatten sich in Nummer vier eingemietet. Er klopfte und wartete, bis sie kam, um die Tür zu öffnen.

„Endlich“, flüsterte die dunkelhäutige Frau und bedeutete ihm, rasch hinein zu kommen.

„Ich dachte schon, du würdest es nicht schaffen.“

„Ich musste warten, bis der Arzt eingeschlafen war. Hast du das Schwert?“

„Natürlich. Zusammen mit einem netten Turnierkelch.“

„Das wird den König nicht freuen.“

„Nein, das wird es sicher nicht.“ Simbron entblößte ihre schneeweißen Zähne und grinste ihn an. „Aber der Kelch bringt uns Geld ein.“

„Auch wieder wahr“, seufzte Shade und ging zu Maerkyn hinüber, der auf dem einzigen vorhandenen Bett lag.

„Ich kümmere mich jetzt um ihn.“

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Simbron hockte sich auf den Fenstersims und beobachtete wie Shade konzentriert zu arbeiten begann. Er brachte einen Schattentopf mit Wasser über dem Kaminfeuer zum Kochen. An seinem Gürtel hing ein kleines Fläschchen, das ein Kräuterdestillat enthielt. Er löste es und träufelte Maerkyn einige Tropfen in den halb geöffneten Mund. Dann entfernte er sämtliche Bandagen, die der alte Arzt angelegt hatte und begann zuerst die Naht am Bauch aufzutrennen.

Die Frau, die aus den südlichen Steppen kam, war als Kriegerin abgehärtet und den Anblick von Blut und anderem gewöhnt. Trotzdem bekam sie ein mulmiges Gefühl, als sie sah, wie Shade, um dessen Hände sich Schatten wie Handschuhe gelegt hatten, in die Wunde griff. Manchmal murmelte er und gab den Schatten laute Anweisungen. Das machte er immer, wenn er konzentriert war.

Simbron lächelte. Sie kannte Shade nun seit geraumer Zeit. Seit drei Jahren waren sie in derselben Einheit im Heer des Herrschers des Südreiches und führten für den Samir Missionen durch. Doch noch immer versetzte Shades Fähigkeit sie in Staunen. Er war ein Zauberer, wie die Schamanen ihres Stammes es waren. Er konnte Dinge tun, die manche sich nicht einmal in den kühnsten Träumen vorstellen konnten. Auch sein kleiner Gefährte, den er als Tamarin bezeichnete, war ein Zauberwesen. Khazan war ein wunderliches kleines Ding, das viel redete und sich überall einmischte, wenn es konnte. Daneben eignete er sich auch zur Spionage. Jetzt war er wahrscheinlich in Shades Herzen, um ihn mit seinen Kräften zu unterstützen.

Simbron stand irgendwann auf und legte Feuerholz nach. Die Nacht neigte sich dem Morgen zu, doch Shade war noch immer am Arbeiten. Er war so von seiner Aufgabe in Anspruch genommen, dass er ihre Anwesenheit ganz vergessen zu haben schien.

Es war ihr Glück, dass Shade ein so fähiger Arzt war. In den letzten Jahren hatte er seine Gefährten mehrere Male zusammengeflickt.

Simbron konnte sich noch gut daran erinnern, als sie die beiden Männer das erste Mal gesehen hatte. Damals hatte sie die beiden von der Kaserne zum Übungslager am Strand gebracht. Ihr war bewusst gewesen, dass sie besonders sein mussten, wenn der Samir ihnen Zutritt zu diesem Ort des Lernens gewährte. Allerdings hatte sie angenommen, dass ihre Fähigkeiten in ihren außerordentlich guten Waffenfertigkeiten lagen.

Das wäre auch naheliegend gewesen.

Shade hatte es geschafft, seine Schattenkräfte und das Tamarin von den anderen geheim zu halten.

Die beiden Nordländer hatten mit den anderen Lagerbewohnern trainiert und ihr Können perfektioniert.

Und dann gab es den Vorfall mit Lionell.

Simbron wusste noch immer nicht genau, was damals passiert war und Shade hatte nie auch nur ein Wort darüber verloren. Jedes Mal, wenn sie das Thema angeschnitten hatte, wurde er abweisend. Irgendwann hatte sie aufgehört, ihn zu löchern.

Nachdem die beiden in das Zelt von Shonen, dem Oberbefehlshaber, zitiert worden waren, hatte sie niemand mehr im Lager gesehen. Simbron hatte angenommen, dass sie entweder zurück in die Kerker geschickt worden waren oder dass Shonen sie verbannt hatte.

Deswegen war sie ziemlich überrascht gewesen, als der Samir sie zu sich an den Hof gerufen hatte und sie gefragt hatte, ob sie Teil einer kleinen exklusiven Truppe sein wolle.

„Um was geht es dabei?“, hatte sie gefragt.

„Karma zu demütigen“, war die schlichte Antwort gewesen.

Mehr Argumente hatte der Samir ihr nicht liefern müssen. Und so kam es, dass sich ihr Weg erneut mit dem der beiden Krieger kreuzte. Unter ihnen machte Shade kein Geheimnis mehr aus seinen Kräften.

Über ihre Herkunft schwiegen die Männer, und was sie vor ihrem Dienst beim Samir getan hatten, war ein gut gehütetes Geheimnis, das ihnen Simbron bis dahin nicht hatte entlocken können. Alles, was sie sich bis zu diesem Zeitpunkt hatte zusammenreimen können, war, dass die beiden aus Korin stammten und mit verbissener Wut gegen Karma kämpften. Im Moment beschränkte sich der Samir darauf, kleine Störaktionen an der Grenze durchführen zu lassen – so wie diese hier in Tamerlen. Aber Simbron wusste, wenn es zum Krieg zwischen Karma und dem Süden kommen würde, wären Shade und Maerkyn die ersten, die an vorderster Front kämpfen würden.

Endlich lehnte sich Shade zurück und ließ einen lauten Seufzer hören. Simbron war sofort an seiner Seite und reichte ihm eine Flasche mit Wasser.

„Danke“, meinte er leicht außer Atem.

„Kein Problem.“ Sie ließ sich ebenfalls auf dem Bett nieder und fragte: „Und wie geht es ihm? Wird er es schaffen?“

„Ich denke schon. Ich habe den Riss in seiner Milz gefunden und die Blutung gestoppt. Wenn sich nichts entzündet, dann ist er in einem Monat wieder vollständig auf den Beinen. Er muss es dieses Mal langsam angehen lassen. Da wird nichts daran vorbeiführen.“ Er lächelte erschöpft.

„Dann müssen wir ihn zurückbringen, nicht wahr?“, wollte Simbron wissen und strich ihrem Freund eine blonde Strähne aus der feuchten Stirn.

hhh

Es war ein schöner, heißer Nachmittag mitten in der Trockenzeit. Samir Ila hatte es sich mit seiner Frau auf einer Terrasse seines Palastes gemütlich gemacht. Bunte Baldachine schützten die beiden vor den gleißenden Sonnenstrahlen. Der Herrscher der vereinten Südreiche und seine Ehefrau lagen dicht beieinander auf zahlreichen Kissen. Einige Schritte von ihnen entfernt, im Schatten einer großen Säule, saß ein Musiker und zupfte zart an seiner Laute. Neben dem Paar stand ein niedriges Tischchen, auf dem reife Früchte in einer Schale lagen. Eisgekühlter Süßwein knisterte in zwei Kristallgläsern.

Der Samir, der mit Vorname Jena hieß, spielte verträumt mit der dunklen Locke seiner Frau. Sie war ein wunderschönes Wesen. Groß, mit einer Haut, die wie heller Milchkaffee schimmerte und aufreizenden Kurven, verdrehte sie ihm schon seit Jahren den Kopf. Oft sahen sie sich nicht. Sein Reich war groß und er musste viel reisen, um nach dem Rechten zu sehen. Als oberster Heerführer war es ihm nicht bestimmt, faul im Palast zu sitzen. Er war gerne unterwegs, denn er hatte zwei Liebhaberinnen: die eine war seine Frau, die andere war sein Land. Er musste beide pflegen, damit sie gediehen.

„Jena“, murmelte seine Frau mit ihrer tiefen, melodiösen Stimme. „Bist du am Träumen?“

„Ja. Deine Schönheit verzaubert mich jeden Tag aufs Neue.“ Er gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss und kümmerte sich nicht um all die zahlreichen Diener, die in diskreten Abstand um sie herumstanden, um ihnen ihre Wünsche von den Lippen abzulesen.

„Genug, genug!“ Sie stieß ihn von sich, lächelte jedoch glücklich. „Man könnte meinen, nach fünfundzwanzig Jahren würdest du von deiner Frau genug haben!“

„Keshet, ich werde nie genug von dir haben“, beteuerte der Samir und strich ihr mit den Lippen über die Stirn.

Darauf erwiderte sie nichts, sondern kuschelte sich nur noch enger in seine Arme. Für einen süßen Augenblick war die Welt perfekt. Er spürte ihren Herzschlag an seiner Brust und ihr Atem streichelte sanft seine Haut. Er hatte seine Hände in ihrem wilden, dunkelbraunen Locken vergraben und sog den Duft von Moschus und Jasmin ein.

Ein herbeieilender Diener beendete die Idylle. Er warf sich vor dem Paar auf den Boden. „Samir Ila. Ich bitte demütigst um Verzeihung für die Störung, aber Ihr habt mir aufgetragen sofort zu melden, wenn der Zauberer da ist, Herr. Er ist soeben eingetroffen.“

Keshet regte sich in seinen Armen und begann sich von ihm zu lösen. Auch er setzte sich in eine halbwegs gerade Position.

„Ich empfange ihn sofort. Wir sehen uns beim Abendessen, meine Liebe?“

„Natürlich“, hauchte sie, stand auf und rief nach ihren Dienstmädchen.

Nachdem er sich umgezogen hatte, machte der Samir sich auf den Weg zu seinem Gast. Dem Wunsch seines Besuchers entsprechend, war er ganz in Weiß gekleidet und hatte sämtlichen Schmuck abgelegt. Für diese Begegnung war er zudem waffenlos und ging barfuß über die Marmorplatten. Der Sommerpalast war ein großes, weitläufiges Gebäude und sein ganzes Innere wurde von zahlreichen Innenhöfen durchsetzt. Jena war nun zum größten unterwegs. Im Innenhof war ein kleiner Park angelegt worden. Wasser plätscherte in einem Zierbrunnen, floss dann über den Rand des Gefäßes in einen künstlich angelegten Bach, der gurgelnd in einem Gitter am Rande des Hofes Richtung Keller verschwand. Palmen in großen Zubern spendeten Schatten und rauschten leise im Wind. Eine großzügige Voliere beherbergte zahlreiche Vogelarten, die alle munter durcheinander zwitscherten. Sein Besucher hatte sich bislang stets geweigert, unter einem Dach mit ihm zu sprechen.

Der Zauberer hockte auf einen eiförmigen Felsblock. Er hatte die Füße angezogen und die Arme um die Knie geschlungen. Sein struppig weißer Bart quoll zu beiden Seiten der Beine hervor. Er beobachtete den Samir mit großen blauen Augen beim Näherkommen.

Auch wenn das Verhalten des Zauberers manchmal ein wenig kindisch und unberechenbar war, hatte der Samir noch nie den Fehler gemacht, ihn nicht ernst zu nehmen. Jena hielt zwei Schritte vom alten Mann entfernt inne und ging in die Knie. Er führte beide Handflächen zusammen, und neigte sie und sein Haupt zu Boden. Anschließend richtete er sich wieder auf. Der Alte hatte die Begrüßungszeremonie mit seinen wässrigen blauen Augen, die sich so von seiner runzligen, schokoladenbraunen Haut abhoben, beobachtet. Er hob den Kopf ein wenig und ein Lächeln teilte seine schmalen Lippen. Trotz seines schäbigen Aussehens schimmerten dem Samir zwei makellos weiße Zahnreihen entgegen.

„Jena-Junge, ich bin gereist. Ich habe mit dem Land gesprochen und habe dem Wind zugehört.“

Samir Ila setzte sich auf den Kiesboden, als wäre er ein Schüler, der seinem Meister lauschte. Er war ein würdevoller Mann, der viel von Protokoll und höfischer Sitte hielt. Aber er wusste, wann es Zeit war, Rang und Namen abzulegen. Zu Beginn seiner Zeit als Herrscher machte er die Bekanntschaft des Alten mithilfe einer seiner Elitekriegerinnen. Diesem ersten Treffen folgten noch viele weitere. Es war jedoch keine Regelmäßigkeit zu erkennen. Der Alte war ein Freigeist und tauchte immer dann auf, wenn es ihm passte. Jena hatte lange auf diesen Besuch gewartet, denn er wollte dem Zauberer von Shade erzählen.

„Das Land hat mir erzählt, dass es ihm gut geht. Die Sonne scheint warm und die Regenzeit wird dieses Jahr zur richtigen Zeit einsetzen. Die Ernten sind nicht in Gefahr. Mutter Erde ist gutmütig. Sie schenkt dir Überfluss, den du aber weise einsetzen musst. Mache so viel wie möglich haltbar. Verdopple deine Vorräte.“

Die Augenbrauen des Samirs wanderten dessen Stirn ein gutes Stück empor. Das war eine eindeutige Warnung. Es war selten, dass der Alte so deutlich wurde. Obwohl ihm eine Frage auf der Zunge lag, hielt er sich zurück. Fragen konnte er später noch. Er würde zuerst hören, was der Zauberer noch zu sagen hatte.

„Der Wind ist unruhig. Es ist sein Wesen rastlos zu sein, musst du verstehen, Jena-Junge. Er verweilt nicht. Nie. Aber er hat mir keine gute Kunde gebracht. Du musst deine Krieger bereit machen. Härte das Eisen, spitze die Pfeile und öle deine Schwerter. Der Krieg wird wie eine Welle über dich hineinbrechen.“

Ila presste die Lippen zusammen. Dies war nichts Neues für ihn. Seine Spione hatten ihm schon vor einigen Jahren berichtet, dass das Hochkönigtum zu einem großen Krieg aufrüstete. Gerüchte von magischen Kampfwesen und Zauberern machten die Runde, die er bis zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht hatte konkretisieren können. Er zischte: „Karma!“ und ballte die Fäuste.

„Hör mir zu, Jena-Junge. Du musst so lange wie möglich abwarten. Du darfst nicht lospreschen wie ein wilder Steppenhengst und meinen, du könntest den Feind besiegen. Der Wind sagt, du wirst untergehen, wenn du das tust. Stattdessen musst du sein wie ein Geier, der hoch über seiner Beute kreist und sie niemals aus dem scharfen Auge lässt. Du musst warten. Warten, bis du angreifen kannst. Du musst kleine Wunden ertragen, bis die Zeit reif ist! Hörst du, Jena-Junge?“ Die Stimme des Alten war eindringlich.

„Ja, ich habe verstanden. Aber kannst du mir sagen, warum ich nur meine Grenzen verteidigen soll? Warum soll ich nicht weitergehen? Ich habe das größte zusammenhängende Reich des Südens erschaffen. Meine Armeen sind groß und stark. Und meine Späher erzählen mir, dass die südlichen Provinzen nach wie vor mit ihrer Treue dem Hochkönig gegenüber hadern. Wäre es nicht klug …“

„Wäre es nicht! Auf keinen Fall! Du musst warten, sonst gehst du unter, Jena-Junge. Der Wind erzählt mir, dass deine Geduld belohnt wird. Du hast noch nicht die richtige Waffe zum Kämpfen.“

„Vielleicht doch“, meinte der Samir. „Ich habe einen neuen Krieger. Sein Name ist Shade. Er ist sehr mächtig.“

„Nicht mächtig genug, Jena-Junge!“

„Du hast ihn doch noch gar nicht kennengelernt!“, brauste der Samir auf, bereute jedoch in dem Moment, in dem die Worte seinen Mund verlassen hatten, dass er überhaupt etwas gesagt hatte.

Der Zauberer schürzte die Lippen. „Du bist jung, Jena-Junge. Du bist ein kleiner Elefant, der noch nichts mit seinem Rüssel anfangen kann.“

„Vergib mir meine Ungeduld“, bat Jena demütig. „Aber du wirst sicherlich verstehen, warum es mir schwer fallen wird, nur zuzusehen, wie diese Bastarde meine Grenzen bedrängen. Ich weiß, ich könnte dem ein Ende setzen – ein für alle Mal!“ Er bemerkte den strengen Blick und fügte rasch hinzu: „Aber ich werde mich zurückhalten.“ Der alte Mann lächelte ihn erfreut an.

„Das wirst du“, bestätigte er.

„Wie lange muss ich warten? Ich muss meinem Volk etwas geben, ihnen klar machen, dass wir nicht feige sind.“

„Die Erde wird sich mehrere Male erneuern, dann sollte das Himmelsgeschenk an deine Ufer gelangen.“

Der Samir nickte nachdenklich. Er hatte keine konkreten Zahlen erwartet. Der Zauberer hatte eine andere, ganz eigene Zeitrechnung.

„Dann also in den nächsten Jahren.“

Eine Weile herrschte ein freundliches Schweigen zwischen den beiden ungleichen Männern, dann fragte der Zauberer: „Dieser Krieger, Shade, ist er tapfer?“

Überrascht vom plötzlichen Themawechsel meinte der Samir: „Er ist fähig. Bis jetzt hab ich ihn nie an der Front oder in einer Schlacht erlebt. Ich habe ihn immer kleine Missionen ausführen lassen, bei der es auf Schnelligkeit und Präzision ankommt. Noch hat er mich nie enttäuscht. Er ist mit deinem Schützling unterwegs.“

„Simbron.“

„Genau. Sie und sein Freund, Maerkyn, geben ein erfolgreiches Trio ab. Im Moment sind sie unterwegs, um mir die Familienerbstücke eines kleinen Königs aus der Randprovinz Korins zu bringen.“

„Was willst du damit, Jena-Junge? Funkelnde Steine und glänzendes Metall befriedigen die Sinne nicht!“

„Ich weiß, Ehrenwerter. Aber das eine ist ein Säbel, den sein dreister Vorfahre bei einem Raubzug in den Steppen gestohlen hatte. Der Säbel von Jaja-Ne. Er ist eine mächtige Waffe, dir müssten die Geschichten, die darüber erzählt werden, bekannt sein. Ich beabsichtige den Säbel zu tragen, wenn wir gegen Korin ziehen – zum richtigen Zeitpunkt versteht sich. Das Volk wird den Glauben in mich bestärkt wissen, wenn sie sehen, dass ich den Säbel eines Gottes trage.“

Der Alte lachte laut auf und klopfte sich auf die Knie. „Das war schlau von dir, Jena-Junge. Aber wird dieser König nicht misstrauisch, wenn er sieht, was du gestohlen hast?“

„Um den Schein gewöhnlicher Diebe zu wahren, haben sie mehrere Dinge aus dem Familienschatz gestohlen. Eine hübsche Summe Gold sowie einigen wertvollen Plunder, den ich gut auf den Märkten in den Wüstenstädten verkaufen kann. Eigentlich müssten sie bald hier sein. Aber warum fragst du nach ihm?“, wollte Samir Ila neugierig wissen.

„Wenn die Erde mit Krieg überzogen wird, dann musst du standhalten. Vielleicht wäre es an der Zeit den Löwen zurück an den Hof zu holen.“

Nun war es am Samir, zu lachen. Doch als er sah, dass es dem Zauberer ernst damit war, hörte er schlagartig auf. Ihm wurde klar, dass sein Gegenüber keinen Witz machte.

„Aber der Löwe … Er hat am Hof meines größten Feindes gedient. Hier, als Samir Fazz noch geherrscht hat. Er hat dem Krieg und seinem Handwerk abgeschworen und der Welt seinen Rücken gekehrt. Wenn man den Gerüchten glaubt, dann ist er nun ein Bauer.“

„Er hat gesagt, er komme zurück, wenn es je einen Krieger geben würde, der ihn besiegen könnte.“

„Und du meinst, Shade …?“

„Er ist mit meiner Simbron unterwegs und sie achtet ihn, nicht wahr? Das sagt einiges über ihn aus, Jena-Junge.“ Der Zauberer schwieg kurz und fuhr dann nachdenklich fort: „Auch wenn der Wind uns Hilfe verspricht, müssen wir doch auch für uns selbst sorgen. Der Wind kann drehen und ich will mich nicht plötzlich fühlen wie ein flügellahmer Adler. Der Löwe ist genauso listig wie du, Jena-Junge. Wenn du ihn für deine Sache gewinnen könntest, dann seid ihr zwei Männer, die dem Sturm aus dem Norden die Stirn bieten. Du wirst ihn brauchen.“

Samir Ila seufzte. Das gefiel ihm nicht. Aber er kam nicht umhin, die Wahrheit in den Worten des Alten zu akzeptieren. Er war ein guter Herrscher, aber er war alleine. Keiner seiner Berater reichte mit dem Geist an den seinen heran.

Der Löwe … wenn er seinem Ruf gerecht wird, wäre er eine unschätzbare Ergänzung zu mir.

„Dann soll ich Shade und die anderen beiden also in die Wüste schicken?“

„Diese Entscheidung überlasse ich dir, Jena-Junge.“

„Sie werden eine Weile weg sein und die Wüste ist ein gefährlicher Ort.“

„Er reist mit Simbron“, fauchte der Alte ein wenig gekränkt.

„Natürlich.“

Trotzdem. Ich würde ihn lieber in der Nähe wissen, wenn die Grenzen bedroht sind.

Die blauen Augen starrten in die dunkelbraunen des Samirs. Plötzlich fühlte Samir Ila sich schwach und unwissend wie ein Kind. Es stand ihm nicht zu, an der Weisheit des Zauberers zu zweifeln. Schließlich wäre er nie so weit gekommen, hätte er sich nicht stets an die Ratschläge seines treuen Beraters gehalten.

„Ich schicke sie so schnell wieder los, wie ich kann“, versprach er ergeben.

„Das ist eine gute Entscheidung, Jena-Junge.“

hhh

Die Insel, auf der sich die pompöse Hauptstadt erhob, war größer als es den Anschein erweckte. Hinter den extravaganten Häuserreihen der Stadt erstreckte sich eine öde Steinlandschaft, die nur von kleinen Flecken Vegetation durchbrochen wurde. Lediglich wenige Menschen lebten an diesem tristen Ort. Nahe den Klippen und an der anderen Seite von hohen Wällen umgeben, kauerte eine Anstalt für Geisteskranke. Den Insassen war es so unmöglich abzuhauen. Etwas weiter im Landesinneren fanden sich vereinzelte Villen, die zum größten Teil leer standen. Wer noch weiter ging, fand noch weiter im Land zwei bewohnte Behausungen. Sie standen in großzügigem Abstand voneinander entfernt, da Platz hier in Hülle und Fülle vorhanden war. In einer der beiden Villen hauste ein betagter Wissenschaftler, der in diese Abgeschiedenheit geflohen war, um in Ruhe dem Studium der Sterne nachzugehen. Einmal in der Woche kam eine alte Karre, gezogen von einem noch älteren Esel und seinem krummbeinigen Besitzer in die Öde gerattert. Sie versorgte den Wissenschaftler mit Lebensmitteln und andern Gütern, die er nicht selbst beschaffen konnte. Der alte Wissenschaftler, Adam, hatte bis dahin ein beschauliches Leben geführt. Es hatte nur ihn, seine Arbeit und seinen gutmütigen Hund Zottel gegeben. Doch dann war eine Familie in das benachbarte Haus eingezogen.

Der alte Wissenschaftler konnte sich noch gut an diesen Tag erinnern. Er hatte wie üblich bis zur Mittagsstunde geschlafen, da er seine Nächte meistens in seinem Observatorium verbrachte und den Himmel studierte, als Zottel in sein unordentliches Schlafzimmer gestürmt kam. Der Hund hatte nie gelernt zu bellen, stattdessen erzeugte er ein asthmatisch klingendes Husten und Schnauben. Der Rüde war zum Kopfende des Bettes getappt, hustete aufgeregt und winselte seinem Herrchen ins Ohr. Dieser wachte dementsprechend schlecht gelaunt auf und versuchte dem Hund klarzumachen, dass er noch nicht aufstehen wollte. Adam schickte Zottel in die Küche hinunter, wo er sein Morgenfressen selbst zusammenstellen sollte. Aber der Hund hatte nicht locker gelassen und schließlich war der Wissenschaftler widerwillig aufgestanden. Da hatte er die Stimmen zum ersten Mal gehört. Wie versteinert kauerte er zwischen seinen Laken und lauschte nach draußen. Das war nicht der alte Tom, der ihm das Essen brachte. Es waren die Stimmen mehrerer unbekannter Menschen! Und war das etwa ein Baby, das schrie? Hastig kletterte Adam aus seinem Bett und huschte in seinem Nachtgewand zu den Fenstern, die alle fest verschlossen und deren Fensterläden noch verriegelt waren. Er öffnete ein Fenster mit einem Quietschen und stellte die Lamellen der Läden so ein, dass er einen Blick nach draußen werfen konnte.

Tatsächlich. Er hatte sich nicht getäuscht. Zwei Wagen und eine Kutsche waren vorgefahren. Aus der Kutsche waren soeben zwei Menschen ausgestiegen: ein Mann und eine Frau, die ein Kleinkind auf den Armen hielt. Der Mann stützte sich auf einen Stock, sah jedoch nicht wirklich alt aus. Die Frau war klein und hatte ihr weißblondes Haar zu einem Zopf geflochten, der ihr nun über den Rücken fiel. Beide starrten zweifelnd die verschmutzte Villa an. Offenbar war ihnen nicht ganz wohl beim Gedanken, dass das baufällige Haus nun ihr neues Heim war. Das Bündel in den Armen der Frau fing wieder an zu schreien, und Adam zuckte auf seinem Beobachtungsposten zusammen. Was für ein grässliches Geräusch! Was machten diese Leute hier? Warum im Namen aller Sterne wollten sie sich hier niederlassen? Abwesend tätschelte er den Kopf von Zottel.

Wenn das nur gut endete.

Die Jahre vergingen und Adam stellte mit Erleichterung fest, dass man ihn in Ruhe ließ. In den ersten Monaten herrschte ein Höllenlärm, da zahlreiche Bauarbeiten an und in der Nachbarvilla ausgeführt wurden. Als diese endlich beendet waren, kehrte wieder Ruhe ein. Das Baby in den Armen der Frau entpuppte sich als kleiner, lebhafter Junge. In den ersten zwei Jahren hörte Adam ihn noch einige Male schreien, wenn er vielleicht über seine dicken Beinchen gestolpert war oder sich an einem Gegenstand verschluckt hatte, oder was Kinder sonst auch noch so gerne taten, um ihre Eltern und alle in Hörweite zur Weißglut zu treiben. Doch auch diese kleinen Familiendramen nahmen mit der Zeit immer mehr ab. Seinen Nachbarn war er in den fünf Jahren, in denen sie nun schon neben ihm wohnten, nur wenige Male aus der Ferne begegnet.

Zottel hingegen hatte ein weniger glückliches Los gezogen. Wie sich herausgestellt hatte, gehörten dem neuen Haushalt drei Katzen an. Der Rüde hatte für gewöhnlich nichts mit anderen Tieren am Hut, doch die schwarzhaarige und die dreifarbige Katze brachten es fertig, ihn so zu ärgern, dass er sich gezwungen sah, sie asthmatisch keuchend und hustend von seinem Grundstück zu vertreiben. Adam hatte den betagten Hund ausgelacht, als er ihm zum ersten Mal dabei beobachtet hatte, wie er seine Hundeehre verteidigte – dafür hatte es am Abend eine extragroße Portion Fleisch für seinen Zottel gegeben.

Abend für Abend studierte Adam den Himmel und dessen Himmelskörper, beobachtete ihre Umlaufbahnen, ihr Erscheinen und Verschwinden. Nach dem Aufstehen und dem Erledigen der absolut notwendigen Haushaltspflichten setzte er sich stets an sein großes Eichenpult und begann die Ergebnisse der Nacht auszuwerten.

Jetzt war es Sommer und er hatte die Türen, die auf die Veranda hinausführten, geöffnet, damit ein wenig frische Luft in das muffige Haus drang. Gerade brütete er über einer Formel, die offenkundig falsch war. Eigentlich sollte sie die perfekte Umlaufbahn eines Planeten ermitteln. Das Ergebnis war jedoch mehr als unbrauchbar. Ungeduldig knabberte er am Ende seines Stiftes, als ihn das unangenehme Gefühl überkam, beobachtet zu werden.

Er wandte sich in seinem Sessel um und blickte über die Schulter zur offenen Verandatür. Ein Junge stand dort. Er war in ein altmodisches Hemd gekleidet, das ihm ein wenig zu groß war und hatte braune Baumwollhosen an. Seine bloßen Füße starrten vor Dreck. Mit seinen unnatürlich großen, graugrünen Augen starrte er den alten Mann neugierig an.

„Oh, nein!“, knurrte Adam und stand mühsam auf. „Man stielt sich nicht einfach so in fremde Häuser! Haben dir das deine Eltern nicht beigebracht?“ Er baute sich zu seiner vollen Größe auf und hoffte, den Jungen damit einzuschüchtern. Aber dieser zeigte sich unbeeindruckt. Er wandte seine Aufmerksamkeit den Büchern und geometrischen Messgeräten zu, die unordentlich herumlagen. Seine großen Augen schienen jedes Detail in sich hineinzusaugen. Er machte einen Schritt auf ein überladenes Salontischchen zu.

„Halt!“ Adam machte einen Ausfallschritt, verharrte dann jedoch, als ihn der Junge fragend ansah. „Diese Dinge sind persönlicher Natur“, brummte der Alte. Die Augen verengten sich leicht. Der kleine Eindringling hob langsam die Hand, wobei er Adam nicht aus den Augen ließ und zupfte an einem Notizblatt. Dem Wissenschaftler verschlug es die Sprache ob dieser Dreistigkeit und ihm blieb der Protest im Hals stecken. Der Junge zog das vollgekritzelte Blatt ganz heraus. Es war eine schematische Darstellung der momentan sichtbaren Sternbilder. Aufmerksam studierte der Junge das Blatt.

Als ob er etwas davon verstehen würde! Ha!

Zottel trottete in den Raum und blieb abrupt stehen, als er den Fremden sah.

„Du hättest mich warnen können! Dafür habe ich dich doch! Du hast aber jämmerlich versagt, Zottel“, beschwerte sich Adam. Sein Blick glitt zu seinem jungen Besucher zurück, der immer noch auf das Blatt starrte. Gerade fuhr er mit einem kleinen Finger einer eingezeichneten Linie nach.

Er kann nicht mehr als fünf sein.

„Gib mir dieses Blatt zurück.“

„Warum?“, wollte der Junge mit einer hohen, kindlichen Stimme wissen.

„Weil du nichts davon verstehst. Das sind keine Kinderzeichnungen, sondern wissenschaftliche Fakten und Zahlen. Ich brauche das für meine Arbeit“, knurrte der Alte.

„Das sind Sternbilder“, meinte der Junge nüchtern.

„Das … stimmt.“ Adam war ehrlich erstaunt. Doch dann riss er sich zusammen und befahl scharf: „Und jetzt gib mir dieses Dokument zurück.“

„Es hat aber einen Fehler darauf.“

„Es hat was? Wie willst du das wissen, du frecher Bengel!“

„Papi hat mir solche Dinge gemalt. Und sie sehen anders aus.“

„Dein Papi ...“

„Orion!“

Eine neue Stimme erklang im unordentlichen Arbeitszimmer.

Adam sah auf und bemerkte die Frau, die in der Verandatür stand.

„Komm her!“

Sie streckte eine Hand nach ihrem Jungen aus, der das Papier achtlos zu Boden gleiten ließ. Mit gerunzelter Stirn musterte der Alte die Mutter des Jungen. Sie war klein und unglaublich dünn. Wie es aussah, hatte sie ihrem Kind die großen Augen, die bei ihr in einem intensiven Grün strahlten, vererbt. Ihr Haar war weißblond und fiel ihr lang über den Rücken. Auf den ersten Blick sah sie klein und verletzlich aus, doch sie stand aufrecht und selbstsicher im Raum. Ihre Augen blitzten, als sie Adam scharf beobachtete. Dieser fühlte sich zunehmend unwohl. Er hob die Hand und kratzte sich am Hinterkopf. „Ich… er stand einfach da. Ich wollte nicht …“ Er brach ab.

Sie hatte die Hand beschützend auf die Schulter ihres Sohnes gelegt. Etwas Lauerndes hatte sich in ihre Haltung geschlichen, was Adam das Gefühl gab, gleich angegriffen zu werden.

„Mein Name ist Adam Tanner und das hier ist Zottel. Ihr müsst meine Nachbarin sein.“ Er versuchte sich an einem Lächeln, obwohl seine Gesichtsmuskeln ob der seltenen Bewegung protestierten.

„Lillie. Mein Name ist Lillie und das ist Orion.“

Unvermittelt packte sie ihren Sohn, hob ihn mit verblüffender Leichtigkeit hoch und hastete aus der Villa.

„Freut mich auch“, brummte Adam. Sein Blick fiel auf das auf dem Boden liegenden Papier. Sein Rücken protestierte schmerzhaft, als er sich bückte, um es aufzuheben.

„Tss. Fehler, von wegen! Dieser Bengel.“ Er stockte. Dann fluchte er leise.

Heer in Bewegung

„Hallo, ist jemand zu Hause?! Mutter, Vater?“ Der junge Mann stieß die Tür auf, weil niemand auf sein Klopfen reagiert hatte.

Das Haus war zweistöckig, doch sofern niemand das Krankenbett hütete, hielt sich niemand im oberen Stock auf. Er warf nur einen raschen Blick auf die verlassene Kochnische und die kalte Feuerstelle.

Niemand da.

Also ging er wieder hinaus ins Sonnenlicht. Es war beinahe Mittag und eigentlich hätte er sich an einem ganz anderen Ort befinden sollen. Aus einem Impuls heraus machte er sich daran, das einfache Haus zu umrunden. Vielleicht war sie ja im Gemüsegarten. Er folgte dem Trampelpfad und zupfte nervös an seinem Umhang. Seine Rüstung war auf Hochglanz poliert und funkelte in der gleißenden Sonne. Den Helm trug er unter dem Arm. Er kam um die Ecke und da war sie. Erleichterung durchflutete ihn und in seinem Herz bereitete sich eine angenehme Wärme aus. Seine Mutter kniete auf dem Boden und war dabei, Karotten aus der Erde zu ziehen. Sie sah auf und das Gemüse fiel aus ihren Händen. Erkennen zeichnete sich auf ihren Gesichtszügen ab, gefolgt von einem Ausdruck der Trauer, der wie ein Schatten über ihre Miene huschte. Dann hellten sich ihre Züge jedoch wieder auf, sie erhob sich und wischte sich die erdverschmierten Hände an der Schürze ab. „Mein Sohn, endlich!“ Sie breitete ihre Arme aus und forderte ihn auf: „Komm her, mein Junge!“

Ivan tat ihr den Gefallen und eilte rasch zu seiner Mutter. Vorsichtig, um ihr mit der Rüstung nicht weh zu tun, umarmte er sie. Es tat gut, den ihm so vertrauten, aber lange entbehrten Duft ihrer Haare einzuatmen und die Wärme ihrer Haut zu spüren. Sie lösten sich voneinander und seine Mutter beäugte ihn kritisch. Ivan wusste, dass sie nicht viel vom Militär und vor allem vom Kriegsgeschäft hielt. Als Ivan seinem älteren Bruder ins Militär gefolgt war, hatte sie ihn nicht gerne gehen lassen.

„Hast du Zeit, etwas zu trinken?“, fragte sie und schickte sich an, den Korb mit den Rüben aufzuheben. Ivan kam ihr zuvor und folgte ihr dann zurück ins Haus. „Nur kurz“, gestand er.

Seine Mutter murmelte etwas und verschwand im Hauseingang. Sie war bereits mit Tassen und Tee am Hantieren, als er eintrat.

„Komm wieder nach draußen! Wir sollten das Wetter genießen, solange wir noch können.“ Ihr Sohn gehorchte, stellte den Korb auf den grob gezimmerten Esstisch und eilte ihr nach.

Sie hat sich nicht verändert.

Neben dem Eingang stand eine Bank, auf der sie sich niederließen. Seine Mutter goss ihm den kalten Aufguss aus Zitronenmelisse und Pfefferminze in seine Tasse und füllte sich dann selbst eine.

Für eine Weile schwiegen sie. Ivan starrte in seine Tasse, seine Mutter hatte den Blick in die Ferne gerichtet.

„Du wirst lange wegbleiben“, stellte sie schließlich fest.

„Wenn alles gut läuft schon. Dieser Krieg wird seit Jahren geplant. Wir haben fast eine halbe Million Männer ausgebildet. In der ganzen korintischen Geschichte hat es nie ein so großes und schlagkräftiges Heer gegeben.“

„Wenn es nur auf die Größe und Anzahl der Krieger alleine ankommen würde ...“

„Du musst dir keine Sorgen machen, Mutter“, versuchte Ivan sie zu beruhigen.

„Natürlich muss ich das! Das tu ich, seit du auf der Welt bist und daran wird sich nichts ändern, bis du mir genommen wirst!“

Ivan konnte nicht anders, er musste sie einfach umarmen. „Ich werde zurückkommen!“, versprach er ihr.

„Ach Ivan, mein Junge. Das hat dein Bruder auch gesagt. So lange haben wir nun nichts mehr von ihm gehört.“

„Ich werde ihn finden und zu dir zurückbringen. Die Fronten werden riesig sein, aber ich werde einen Weg finden, ihn zu finden.“

Sie lächelte ihn halbherzig an.

„Wo ist Vater?“, wollte er wissen, um das Thema zu wechseln.

„In der Praxis. Gehst du ihn ebenfalls besuchen?“

„Nein. Er wird mich nicht in Uniform sehen wollen“, meinte er bitter.

„Es ist nicht einfach für ihn. Er vermisst seine Söhne.“

Darauf erwiderte Ivan nichts. Er blickte zu seinem Pferd hinüber, das er an den Gartenzaun angebunden hatte.

„Langsam wird es Zeit zum Abschiednehmen. Ich muss los, Mutter.“ Er stand auf. „Ich werde dir schreiben und wenn der Krieg vorbei ist, kehre ich nach Hause zurück und bringe meinen großen Bruder mit. Er ist irgendwo da draußen, das wissen wir beide.“

Sie blieb sitzen und musterte ihn auf eine Weise, wie es nur Mütter tun: kritisch, liebevoll, mit einem Hauch von Stolz. „Sie steht dir gut, die Uniform.“ Dann erhob auch sie sich und warf sich ihm schluchzend um den Hals. „Ich werde dich so vermissen, mein Kleiner.“

„Shade, Tau, kehrt zurück!“

Das Donnern verhallte im Äther und hinterließ Stille in seinem Kopf. Zufrieden mit dem Ergebnis verließ auch er den Bau. Er konnte kein Durcheinander in seinen Gedanken gebrauchen, schließlich waren sie seine stärkste Waffe.