Mit einem Nachwort von Felix Finkbeiner
Illustriert von Jens Bonnke
C.H.Beck
Wie können wir lernen, warmherzig zu sein? Wie werde ich glücklich? Was mache ich, wenn ich mit Worten oder körperlich angegriffen werde? Warum lassen wir zu, dass Menschen an Hunger sterben? Was halten Sie vom Islam? Haben Sie Angst vor dem Sterben? Waren Sie schon mal verliebt?
Diese und andere Fragen haben Schülerinnen und Schüler in Deutschland an den Dalai Lama gerichtet, der darauf kluge, visionäre, überraschende und immer ganz offenherzige Antworten gegeben hat. Claudia Rinke hat die Gespräche dokumentiert. Einleitend erzählt sie das Leben des Dalai Lama, der seine eigene Kindheit als Gottkönig verehrt im Potala-Palast verbracht hat, und erklärt für junge Leser die Grundzüge seiner Lehre und des Buddhismus.
Der Dalai Lama 1949 im Alter von vierzehn Jahren
© ullstein bild/Roger-Viollet
sowie 2009 in Indien nach einer buddhistischen Unterweisung
© ullstein bild/Roger-Viollet
Tenzin Gyatso, geb. 1935, als 14. Dalai Lama religiöses Oberhaupt der Tibeter, lebt seit 1959 im Exil in Nordindien. Von hier aus setzt er sich seit Jahrzehnten für die Förderung der menschlichen Werte, die Völkerverständigung, den Dialog der Religionen und den Umweltschutz ein. Der Friedensnobelpreisträger von 1989 legte 2011 die politische Führung des tibetischen Volkes nieder.
Claudia Rinke hat mehrere Jahre als Juristin und Projektmanagerin für die Vereinten Nationen in Afrika und New York gearbeitet. Sie ist derzeit für eine auf Dialogverfahren und Partizipation spezialisierte Beratungsgesellschaft in Berlin tätig.
© Jonas Maron
Jens Bonnke, geb. in Paris, studierte Visuelle Kommunikation in Berlin, wo er heute als freier Illustrator lebt. Er arbeitet u.a. für «Die Zeit», «New York Times», «SZ-Magazin», «Cicero». Zuletzt erschienen von ihm das Buch «Flugsaurier = Gaulfriseur. Tierische Anagramme» (2011) sowie «Der andere Wagen war absolut unsichtbar, und dann verschwand er wieder» (Reihe Tolle Hefte, 2012).
© Tobias Hase/picture alliance/dpa
Felix Finkbeiner, geb. 1997, startete mit neun Jahren die weltweite Aktion «Plant for the Planet» (www.plant-for-the-planet.org), wurde UN-Kinderbotschafter und kämpft für das Kinderwahlrecht.
Wie dieses Buch entstand
Erster Teil
Der Dalai Lama und seine Botschaft
1. Ozean der Weisheit
2. Der Junge auf dem Löwenthron
3. «Mögen alle Wesen glücklich sein» Die Grundlagen des Buddhismus
Zweiter Teil
Der Dalai Lama spricht
1. Rede des Dalai Lama an die Generation des 21. Jahrhunderts
2. Fragen an den Dalai Lama zu inneren Werten und einem guten Leben
3. Fragen zu Frieden und Gerechtigkeit
4. Fragen zur Religion
5. Fragen zum Leben des Dalai Lama
6. An die Eltern und Lehrer
Der Dalai Lama teilt unsere Hoffnung
Ein Nachwort von Felix Finkbeiner
Links und Tibetzentren
Literatur
Dank
Der Dalai Lama besucht auf der ganzen Welt Schulen und Universitäten, um mit jungen Menschen zu sprechen. Auch in Deutschland gibt es gelegentlich solche Veranstaltungen. So kam der Dalai Lama im September 2013 nach Norddeutschland. In Hannover und Steinhude durften insgesamt 1500 Kinder und Jugendliche den Friedensnobelpreisträger persönlich erleben, seine Botschaft an die junge Generation anhören und ihm anschließend Fragen stellen. Im Mai 2014 hatten in der Frankfurter Paulskirche 800 Schülerinnen und Schüler aus Hessen die Gelegenheit, mit dem Oberhaupt des tibetischen Buddhismus zu sprechen. Ich erhielt die Erlaubnis, an diesen – ansonsten nicht öffentlichen – Veranstaltungen teilzunehmen und Auszüge der Gespräche für dieses Buch zu verwenden. Dafür bedanke ich mich ganz herzlich. Außerdem durfte ich Äußerungen des Dalai Lama bei der Veranstaltung «Menschliche Werte leben» verwenden, die im August 2014 in Hamburg stattfand. Auch bei diesem Event durften Kinder und Jugendliche Fragen an den Dalai Lama richten.
Zusätzlich habe ich Aufzeichnungen von Veranstaltungen mit dem tibetischen Oberhaupt sowie Interviews und andere Berichterstattung als Informationsquellen herangezogen; ebenso Bücher, die der Dalai Lama selbst verfasst hat oder die andere über ihn geschrieben haben. Bei den tibetischen Kulturtagen im Tibetzentrum Hannover im Juli 2014 konnte ich Mönche der Klosteruniversität Sera Jey kennenlernen und Praxis und Rituale des tibetischen Buddhismus erleben.
Die Vermittlung von ethischen Fragen und Antworten an junge Menschen liegt mir seit langem am Herzen. Ich habe viele Gespräche mit Schülern, Lehrern, Ethikern und Kennern des Buddhismus geführt. Dass mir die Schulleitung der Integrierten Gesamtschule List in Hannover im Schuljahr 2013/14 die Gelegenheit gab, die Schülerinnen und Schüler des Kurses «Internationale Politik» bei ihren Projekten zum Besuch des Dalai Lama zu begleiten, hat mich besonders gefreut. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen sind ebenfalls in dieses Buch eingeflossen. An einigen Stellen kommen die Schülerinnen und Schüler auch selbst zu Wort.
Die in diesem Buch enthaltene «Rede des Dalai Lama an die Generation des 21. Jahrhunderts» ist eine Zusammenfassung von verschiedenen Vorträgen, die der Dalai Lama vor jungen Menschen gehalten hat – auch bei den Veranstaltungen in Norddeutschland und Frankfurt. Dabei hat sich der Dalai Lama auch auf die Situation in Deutschland bezogen, so wie er in anderen Ländern auf die dortige Lage eingeht. Davon abgesehen ist aber seine Botschaft für Jugendliche überall auf der Welt die gleiche. Die Generation des 21. Jahrhunderts ist eine globale Generation, und global ist auch die Botschaft des Dalai Lama.
Ich danke dem Tibet Bureau in Genf für die Unterstützung und die Genehmigung, die Gespräche des Dalai Lama mit Kindern aufzuzeichnen und in diesem Buch wiederzugeben.
Die Welt ist jung. Fast 45 Prozent der zurzeit auf diesem Planeten lebenden Menschen sind jünger als 25 Jahre. Das sind annähernd 3 Milliarden Menschen. Es gibt einzelne Länder, in denen es überwiegend ältere Menschen gibt – Deutschland gehört dazu. Insgesamt bevölkert jedoch die größte Jugendgeneration aller Zeiten diesen Planeten. Bereits diese Zahl zeigt, dass die Zukunft der Welt buchstäblich in den Händen von Kindern liegt.
Die Menschheit steht in den kommenden Jahrzehnten vor großen Herausforderungen, die auch und gerade die junge Generation betreffen. «Die größte Aufgabe des Menschen im 21. Jahrhundert ist die Rettung unseres Planeten vor der Zerstörung», formulierte es Michail Gorbatschow, der ehemalige Staatspräsident der Sowjetunion. Nahezu alle Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, wie Klimawandel, Bevölkerungswachstum, Umweltverschmutzung, Kriege und Hunger, wurden von Menschen verursacht. So schlimm das ist – es gibt uns zumindest die Chance, das zu verändern. Wir sollten mit der Welt, in der wir leben, besser umgehen. Andererseits lässt es uns hoffen, dass wir auch Lösungen finden können. In allen Ländern sind Regierungen, Wissenschaftler, Unternehmen, Aktivisten, Nichtregierungsorganisationen (so wie Greenpeace oder Amnesty International) und andere engagierte Personen damit beschäftigt, Strategien für eine nachhaltige Entwicklung der Menschheit zu entwerfen. Unter Nachhaltigkeit versteht man, dass sich jede Generation bemüht, diesen Planeten in einem guten Zustand an die nächste Generation zu übergeben. Er sollte nicht weniger wert sein als vorher.
Kinder und Jugendliche haben noch eine lange Lebenszeit vor sich, und sie wollen sie unter möglichst guten Bedingungen verbringen. Gute Lebensbedingungen sind nicht selbstverständlich. Es ist daher sehr gut, dass sich immer mehr Menschen für die Erhaltung unseres Planeten und für gerechte Chancen für alle Menschen einsetzen. Darunter sind zahlreiche Jugendliche. Einige sind durch ihr Engagement bereits international bekannt geworden. Die pakistanische Schülerin Malala Yousafzai kämpfte dafür, dass in Pakistan auch Mädchen und nicht nur Jungen zur Schule gehen dürfen. Nach einem Mordanschlag auf sie floh sie mit ihrer Familie ins englische Birmingham. 2014 erhielt sie im Alter von siebzehn Jahren den Friedensnobelpreis. Der aus Bayern stammende Felix Finkbeiner, der das Nachwort zu diesem Buch geschrieben hat, gründete als Viertklässler im Jahr 2006 die Umweltinitiative «Plant for the Planet». Der heute siebzehnjährige Felix und seine Mitstreiter haben das Ziel, in jedem Land dieser Erde mindestens eine Million Bäume zu pflanzen. Dies soll die CO2–Emissionen in der Atmosphäre so weit wie möglich absorbieren und damit dem Klimawandel entgegenwirken. Fast 14 Milliarden Bäume sind es bisher. Diese beeindruckende Zahl zeigt, dass Kinder tatsächlich sehr viel bewirken können.
Bei mir hat es deutlich länger gedauert, bis mir klar wurde, dass ich meine Arbeit als Juristin und Mediatorin der internationalen Zusammenarbeit widmen und auf diese Weise etwas für die Welt tun möchte. Ich war schon Mitte dreißig, als ich einige Zeit für die Vereinten Nationen in Südafrika und New York gearbeitet habe. In der UNO haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg viele Staaten der Welt zusammengeschlossen, um künftige Kriege zu verhindern und Zusammenarbeit zu gewährleisten. 193 Länder sind Mitglieder dieses Staatenbündnisses. Es treffen dort Menschen aus allen Kulturen und Religionen aufeinander. Sie sprechen verschiedene Sprachen und haben unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die Welt aussehen sollte. Das ist ein Grund, warum es in der Regel ziemlich lange dauert, bis in den Gremien der Vereinten Nationen Entscheidungen getroffen werden. Es ist schwierig, gemeinsame Lösungen zu finden, wenn man aufgrund kultureller Unterschiede andere Sichtweisen hat und die Sprache oder das Verhalten des Gegenübers nicht versteht.
Seitdem ich diese Erfahrungen gemacht habe, frage ich mich, wie die junge Generation, auf die es so sehr ankommen wird, besser darauf vorbereitet werden kann, Unterschiede zwischen den Kulturen und Weltanschauungen zu überwinden und gemeinsam Lösungen für die Erhaltung unseres Planeten zu entwickeln. Jemand müsste ihr zeigen, wie das geht. Einen Weg weisen. Früher, und in einigen Kulturen auch heute noch, gab oder gibt es tatsächlich solche «Wegweiser» für die junge Generation. Wissende Erwachsene – man nennt sie die Ältesten – versammeln junge Stammesmitglieder unter einem Baum oder an einem Feuer und teilen mit ihnen ihre Erlebnisse und Erfahrungen. Sie erklären, worauf es bei dem Weg in die Zukunft ankommt, warnen vor Gefahren und sprechen Mut zu. Wäre es nicht gut, auch in unserer Zeit einen solchen weisen Ratgeber an der Seite zu haben? Jemanden, der Antworten auf die großen Zukunftsfragen hat und auch für alltägliche Probleme – wie zum Beispiel ständigen Streit mit Geschwistern oder Stress in der Schule – eine Lösung weiß.
Es gibt tatsächlich jemanden, der besonders weise ist. Für viele Menschen auf der ganzen Welt ist er der «Älteste» der ganzen Menschheit – der Dalai Lama. Er führt das Wort «Weisheit» nicht nur im Titel (Dalai Lama bedeutet frei übersetzt «Ozean der Weisheit»; eigentlich «Lehrer, der dem Ozean (der Weisheit) gleich ist»), sondern wird in Umfragen immer wieder als weisester lebender Mensch gewählt. Mehr als 40 Prozent der Deutschen benennen ihn als Vorbild. Er ist das Oberhaupt der Buddhisten weltweit und gilt als wichtigster Brückenbauer zwischen den Kulturen und Religionen. Auf seinen Reisen in mittlerweile über fünfzig Länder und bei Begegnungen mit Politikern und religiösen Führern wirbt der Dalai Lama für eine friedliche Lösung der Konflikte auf der Welt und auch der vielen Probleme, die mit Klima- und Umweltfragen zu tun haben. Die wichtigste Botschaft des Dalai Lama ist die Bedeutung menschlicher Werte wie Warmherzigkeit und Mitgefühl.
Der Dalai Lama erregt auf seinen Reisen immer wieder große Aufmerksamkeit und erweckt bei vielen Menschen Sympathie. Dazu tragen seine positive Ausstrahlung und große Herzenswärme bei. Der Dalai Lama inspiriert durch natürliche Freundlichkeit, viel Humor und beeindruckt durch umfangreiches Wissen, klares Denken und die Fähigkeit, sich selbst und auch seine Religion distanziert zu betrachten. Viele Wochen im Jahr reist er um die Welt, um auf Bitten der Menschen die traditionellen buddhistischen Texte zu erklären oder Vorträge über ein «gutes» Leben zu halten.
Dieser internationale «Superstar» der Lebensweisheit ist bestimmt so beschäftigt, dass er keine Zeit für Kinder und Jugendliche hat, könnte man denken. Es stimmt, er ist sehr beschäftigt. Der Dalai Lama nimmt sich trotzdem Zeit, weil die junge Generation ihm am Herzen liegt, sehr sogar. Den Satz «Wenn du glaubst, dass du zu klein bist, um etwas zu bewirken, hattest du noch nie eine Mücke im Schlafzimmer» zitiert er gern. Es ist ihm ein großes Anliegen, die junge Generation auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Er weiß um ihre Probleme und möchte ihr helfen, eigene Visionen zu entwickeln und tatkräftig daran mitzuwirken, dass die Welt ein glücklicherer, friedvollerer und mitfühlenderer Ort wird. Ihm ist wichtig, jungen Menschen ein Gefühl der universalen Verantwortung – von «global citizenship» – für diesen Planeten zu vermitteln.
Anders als traditionelle Stammesälteste versammelt dieser «globale Älteste» junge Menschen nicht unter einem Baum – obwohl ihm das wahrscheinlich gut gefallen würde. Der Dalai Lama besucht auf der ganzen Welt Schulen, Universitäten und tritt auch gelegentlich in großen Hallen mit bis zu fünftausend Jugendlichen auf. Diese bejubeln den tibetischen Mönch mit der rot-gelben Robe wie einen Star. «Der Dalai Lama ist cool» (Wassia), «Er hat eine enorme Glaubwürdigkeit» (Luzie), «Er ist ein gutes Vorbild» und «Er erschien mir auf eine sehr witzige und gelassene Art heilig und weise» (Nele) sind Eindrücke von Teenagern, die ihn live erlebt haben.
Der Dalai Lama hat die besondere Fähigkeit, selbst in kurzen Begegnungen Warmherzigkeit und Anteilnahme zu vermitteln. Das spüren auch junge Gesprächspartner. «Er spricht ganz anders mit uns, als wir es von Erwachsenen kennen – nicht so von oben herab», beschreibt die fünfzehnjährige Sonja ihre Erfahrung. Ein anderer Schüler, Anouar, meint: «Durch seine entspannte Art entstand eine lockere und angenehme Atmosphäre.» «Sein Lachen ist voll ansteckend. In seiner Nähe hat man ein großes Glücksgefühl», bestätigt seine Mitschülerin Julika.
Bei seinen Treffen mit jungen Menschen erklärt der Dalai Lama, wie es zu Konflikten und Kriegen kommt. Er spricht davon, was jeder Einzelne tun kann, um mit anderen Menschen gute Beziehungen zu haben und mit allen, auch mit der Natur, in Harmonie zu leben. Er übermittelt der jungen Generation eine anspruchsvolle und gleichzeitig leicht verständliche Botschaft über universale Werte, mit denen Jugendliche – und damit alle Menschen – die Zukunft positiv gestalten können. Anschließend haben die Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit, den Dalai Lama alles fragen zu dürfen, und sie sprechen Themen an wie «Weltfrieden», «Nationalstaaten», «Umgang mit Wut», «gerechte Verteilung von Reichtum» und «Angst vor dem Tod». Sie interessieren sich aber auch dafür, ob Seine Heiligkeit gerne Erdnussbutter isst und ob er ein Handy hat. Die Fragen der jungen Menschen zeugen von Klugheit und dass sie die Probleme (und möglichen Lösungen) der Zukunft erkennen. Andere Fragen zeigen, dass die Kinder wissen, dass auch der Spaß nicht zu kurz kommen darf. Die deutschen Jugendlichen beeindrucken den Dalai Lama sehr. Nach Veranstaltungen in Deutschland lobte der Dalai Lama ihre besondere Fröhlichkeit und Tiefgründigkeit.
Es wäre schön, wenn alle Jugendlichen den Dalai Lama treffen und ihm persönlich Fragen stellen könnten. Das geht leider nicht. Ich freue mich sehr, dass ich Auszüge aus seinen Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen für dieses Buch verwenden darf. Ich hoffe, dass die ausgewählten Fragen und Antworten für viele junge Leserinnen und Leser interessant sind. Ich wünsche mir, dass ihnen dieses Buch die große Weisheit und Warmherzigkeit des Dalai Lama nahebringt und sie auf dem Weg in die Zukunft unterstützt.
Eine buddhistische Weisheit besagt: «Folge dem Weisen wie einem Mann, der dir Schätze zeigt!»
Ein Schwerpunkt der Tätigkeit des «globalen Ältesten» ist die Verständigung der Völker und der Religionen. «Ich bin ein Mann der Religion», sagt er, «aber die Religion allein kann nicht all unsere Probleme lösen.» In den letzten Jahren hat er sich vermehrt für eine weltliche Ethik jenseits der Religionen starkgemacht und immer wieder betont, warum wir gemeinsame Werte brauchen und globale Verantwortung tragen.
Das Wort «Ethik» stammt aus dem Griechischen und hatte ursprünglich die Bedeutung von «Sitte», «Gewohnheit» oder «Brauch». Die Begriffe «Sitte» und «sittlich» verwenden wir heute nur noch selten. Sie klingen nach erhobenem Zeigefinger. Warum ist es dennoch sinnvoll, sich in der heutigen Zeit damit zu beschäftigen? Wir benutzen zwar mittlerweile andere Begriffe, stellen uns aber ansonsten noch dieselben Fragen wie vor zweitausend oder dreitausend Jahren. Seit es Menschen gibt, versuchen sie zu bestimmen, welches Verhalten richtig oder falsch, recht oder unrecht, gut oder böse ist. Sie fragen sich: «Was sollen wir tun, was dürfen wir nicht tun?», «Wie sieht ein gutes Leben aus?» oder «Wie können wir gut zusammenleben?»
Die Beantwortung der Frage nach dem «richtigen» Verhalten hängt davon ab, wie die jeweilige Gruppe von Menschen die Angelegenheit beurteilen würde – was also dort Sitte oder Brauch ist. «Ethik» wird daher auch als die Wissenschaft von sittlichen Werten und Handlungen bezeichnet. Sie beschreibt einen Spielraum für richtiges Verhalten. Ethik oder auch Moral bedeutet nicht, auf die Einhaltung von Regeln zu pochen oder diese gar erzwingen zu wollen. Der Dalai Lama beschreibt den Sinn der Ethik folgendermaßen: «Wir können Ethik als Hilfe für die innere Selbstkontrolle zur Förderung jener Aspekte unseres Wesens begreifen, die wir als förderlich für unser eigenes Wohl und für das unserer Mitmenschen erkannt haben.» Ethische Leitlinien bieten uns also eine Orientierungshilfe, indem sie aufzeigen, welche Möglichkeiten für «gutes» oder «richtiges» Verhalten es in der jeweiligen Situation gibt. Die Entscheidung, welche dieser Möglichkeiten gewählt wird, trifft jeder selbst. So verstandene Ethik braucht keinen erhobenen Zeigefinger.
Warum ist es überhaupt so wichtig zu wissen, was «gut» und was «schlecht» ist? Könnten nicht alle das machen, wozu sie gerade Lust haben? Nein. Menschen brauchen gemeinsame Spielregeln, um friedlich und harmonisch zusammenzuleben. Anderenfalls herrscht Chaos. Jede Familie trifft Absprachen über Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und respektvollen Umgang miteinander. Wenn größere Gruppen von Menschen zusammenkommen, wie in der Schule, beim Sport, am Arbeitsplatz oder als Bürger eines Staates, sorgen ethische Grundsätze ebenfalls für ein angenehmes und reibungsloses Miteinander. Die Einigung auf gemeinsame Werte ist schwieriger, wenn Menschen aus unterschiedlichen Kulturen oder Religionen aufeinandertreffen. Die Vorstellung von «gut und böse» oder «moralisch und unmoralisch» unterscheidet sich von Land zu Land und von Kulturkreis zu Kulturkreis erheblich. Beispielsweise ist es in der westlichen Welt mittlerweile Brauch, dass Frauen Hosen tragen. Das war nicht immer so. Es ist kaum hundert Jahre her, dass in Europa Frauen, die eine Art «Hosenkleid» – einen Vorläufer der Hose – trugen, angefeindet wurden. In einigen Ländern wie Afghanistan oder in Teilen der Türkei gelten Hosen für Frauen auch heute noch als unmoralisch. In einigen islamischen Ländern müssen Frauen ihren Körper und ihr Gesicht mit einem Umhang, der Burka genannt wird, verhüllen.
Wenn die Wertvorstellungen der Menschen bereits in so einfachen Fragen wie dem Kleidungsstil auseinandergehen, wie schwierig ist es da, sich bei großen Themen zu einigen, wie «Welches ist das richtige Wirtschafts- und Finanzsystem?», «Wie sollen wir mit der Natur und ihren Ressourcen umgehen?» oder «Wie können wir alle unsere persönlichen und religiösen Freiheiten in angemessener Weise verwirklichen?»
Verschärft wird das Problem dadurch, dass der Streit um Werte und abweichende Auffassungen von «gut und böse», «richtig und falsch» zunehmend zu Krieg, Terror und anderen gewaltsamen Auseinandersetzungen führen. Es gibt zu viele Menschen, die davon überzeugt sind, dass nur ihre moralischen Vorstellungen richtig sind. Einige schrecken nicht davor zurück, diese mit Gewalt durchzusetzen. Das ist in einer immer stärker vernetzten und voneinander abhängigen Welt sehr riskant und kann zu einer Gefahr für alle werden.
So lässt sich als zentrales Thema des 21. Jahrhunderts folgende Frage formulieren: «Wie kann ein gutes Leben, verbunden mit einem angemessenen Anteil an unserem Planeten Erde, für möglichst alle